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2. Lerneinheit: Gefäßsystem
2.1 Anatomisch-physiologische Grundlagen zum Aufbau
und zur Funktion des Gefäßsystems
Das Gefäß- bzw. Kreislaufsystem stellt ein Transport- und Verteilersystem dar, das mit
Hilfe des Blutes alle Körperorgane zu einer funktionellen Einheit verbindet. Die Blutgefäße bilden ein geschlossenes Röhrensystem, das Blut vom Herzen in das Gewebe und
aus dem Gewebe zurück zum Herzen transportiert. Die Blutströmung kommt vor allem
durch die Pumpleistung des Herzens zustande. Die Durchflussmenge richtet sich nach den
Stoffwechselbedürfnissen der Organe (z.B. arbeitender Muskel) und wird durch lokale,
chemische und übergeordnete nervöse Mechanismen, welche zu einer Gefäßweitstellung
(Vasodilatation) oder Engstellung (Vasokonstriktion) führen, geregelt.
Anatomisch und funktionell unterscheidet man Arterien, Arteriolen und Kapillaren sowie
Venolen und Venen.
Die Aufgabe der Arterien, der Arteriolen sowie der Venolen und Venen liegen ausschließlich im Transport des Blutes. Der Austausch der Gase, der Nährstoffe, der Elektrolyte und
des Wassers hingegen erfolgt nur in den Kapillaren.
2.1.1 Aufbau und Funktion des arteriellen Gefäßsystems
Arterien und Venen sind prinzipiell gleich aufgebaut. Aufgrund ihrer unterschiedlichen
mechanischen Beanspruchung und Funktion weisen sie jedoch in der Feinstruktur charakteristische Unterschiede auf.
- Arterien und Arteriolen
Die Arterienwand ist aus drei Schichten aufgebaut. Die innere Schicht bildet das Endothel,
eine spiegelglatte Auskleidung der Gefäße, die für geringen Reibungswiderstand sorgt; sie
hat keine eigene Blutversorgung und wird per Diffusion aus dem Blutstrom versorgt. Die
mittlere Schicht setzt sich aus glatter Muskulatur - ihre Spannungs- und Längenveränderungen spielen bei der Durchblutungsregulation eine wichtige Rolle - und elastischen
Fasern zusammen, die ring-, spiral- und längsförmig angeordnet sind. Mit zunehmendem
Alter und geringerer funktioneller Beanspruchung werden die elastischen Fasern in kollagene umgewandelt und führen damit zu einer allgemeinen Elastizitätsabnahme der arteriellen Gefäße. Die äußere Schicht schließlich besteht aus lockerem Bindegewebe, das die
Gefäße vor mechanischer Überdehnung schützt und sie mit dem umgebenden Gewebe
verbindet.
Je nach Überwiegen der einzelnen Bestandteile unterscheidet man Arterien vom elastischen bzw. muskulösen Typ.
Die herznahen Arterien sind Arterien vom elastischen Typ. Für die Windkesselfunktion
der großen Arterien, vor allem der Aorta, ist dies von größter Bedeutung. Wie aus Abb.18
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hervorgeht, wird während der Systole Energie in Form der elastischen Spannung der
Gefäßwände gespeichert, die während der Diastole des Herzens wieder abgegeben werden
kann (Umwandlung der potentiellen in kinetische Energie). Dadurch wird der rhythmisch
pulsierende Blutstrom in einen kontinuierlichen, gleichmäßigen Blutstrom umgewandelt.
a)
b)
Abb. 18: Schematische Darstellung der Windkesselfunktion der Aorta. Links: Dehnung der
Gefäßwand während der Systole des Herzens, rechts: Rückkehr der gedehnten elastischen Elemente in die Ausgangslage und damit Weitertreibung des gespeicherten Blutes
in die Kreislaufperipherie während der Diastole
Mit zunehmender Entfernung vom Herzen sinkt der Anteil der elastischen Fasern, der
Anteil der glatten Muskelfasern hingegen steigt zunehmend an. Kleine herzferne Arterien
und Arteriolen werden daher Arterien vom muskulösen Typ genannt.
Da sich die Arteriolen - es handelt sich um kleine arterielle Gefäße - je nach Bedarf der
betreffenden Organe aktiv weit- und engstellen können, werden sie auch als Widerstandsgefäße bezeichnet.
Die Arteriolen spielen eine entscheidende Rolle bei der Regulierung des peripheren
Widerstandes und auf diesem Wege für die Durchblutung der Körpergewebe.
Das Hagen-Poiseuille Gesetz beschreibt die Beziehung zwischen Strömung in einem
engen langen Rohr (vergleichbar mit einem Blutgefäß), der Viskosität (innere Reibung)
der Flüssigkeit und dem Radius des Rohres:
gegenüber
R ( Widerstand
) =
der Strömung
8ηL
π r4
Da sich die Strömung direkt und der Widerstand indirekt und proportional mit der 4.
Potenz des Radius ändern, werden Blutströmung und Widerstand stark durch Durchmesseränderungen der Gefäße beeinflusst. Eine Radiuszunahme um z.B. nur 16 % bewirkt in
einem Blutgefäß eine Verdoppelung des Strömungsvolumens, das heißt eine Radiusverdoppelung vermindert den Widerstand auf ein Sechzehntel des Ausgangswertes. Daher
wird die Organdurchblutung durch kleinste Durchmesserveränderungen der Arteriolen
wirksam gesteuert.
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- Kapillaren
An ihrem Ende verzweigen sich die Arteriolen in kleinste Haargefäße, die als Kapillaren
bezeichnet werden. Ihre Wand ist außergewöhnlich dünn und besteht nur noch aus einer
einzigen Schicht, dem Endothel, das den Stoff- und Flüssigkeitsaustausch - die Hauptfunktion der Kapillaren - zwischen Blut und Gewebe ermöglicht.
Der Stoff- und Flüssigkeitsaustausch vollzieht sich weitgehend über Diffusions- , in geringerem Maße über Filtrationsvorgänge. Dabei erfolgt die Diffusion über feinste Poren bzw.
"Fenster" im Kapillarendothel: Die kleinmolekularen Natrium- und Chlorionen passieren
sie leicht, die größeren Zuckermoleküle schwerer und die großen Eiweißmoleküle nur in
ganz geringem Umfang. Sauerstoff und Kohlendioxid diffundieren überall durch die Kapillarwand.
In welchem Maße und in welche Richtung die verschiedenen Moleküle aus dem Innenraum der Kapillare in den Außenraum (z.B. Interstitium = Zwischenzellraum) diffundieren, hängt vom jeweiligen Konzentrationsgefälle ab.
Beispiel: Aufgrund der hohen Konzentration von Sauerstoff im arteriellen Schenkel der
Kapillare diffundiert der Sauerstoff durch die Kapillarwand ins Interstitium und dann in
die jeweilige Zelle. Beim Kohlendioxid ist es genau umgekehrt: Es diffundiert aus der
Zelle über den Zwischenzellraum in die Kapillare.
Die Filtration zwischen Blut und Gewebe ist abhängig von den an der Kapillarwand einwirkenden Drücken. Der hydrostatische Druck in den Kapillaren - er entspricht dem Blutdruck - presst Flüssigkeit aus der Blutbahn (arterieller Schenkel der Kapillare) in den
Zwischenzellraum; dabei wirkt ihm der dort herrschende Gewebsdruck entgegen.
Der kolloidosmotische Druck - der so genannte Eiweißdruck - entsteht durch die im Blut
befindlichen Eiweißkörper, welche wegen ihrer Größe die Gefäßbahn nicht verlassen können. Der kolloidosmotische Druck zieht Flüssigkeit im venösen Schenkel der Kapillare
gefäßeinwärts.
Da der hydrostatische Druck im Bereich des Kapillareinganges - man spricht vom arteriellen Schenkel der Kapillare - etwa 40 mm Hg, der kolloidosmotische Gegendruck jedoch
nur etwa 25 mm Hg beträgt, kommt es zu einem Flüssigkeitsstrom aus der Kapillare in das
Gewebe. Im Bereich des Kapillarausganges - man spricht vom venösen Schenkel der
Kapillare - jedoch ergibt sich ein Flüssigkeitsrückstrom aus dem Gewebe in die Kapillare,
da nun der kolloidosmotische Druck größer ist als der hydrostatische (s. Abb. 19).
Die durch die Kapillarwände des Organismus verschobenen Flüssigkeitsmengen sind
außergewöhnlich groß und betragen etwa 60 l pro Minute. Unter normalen Bedingungen
herrscht ein Gleichgewicht zwischen auswärts und einwärts gerichteter Filtration. Überwiegt die Auswärtsfiltration, dann kommt es zur Ödembildung (Wasseransammlung im
Zwischenzellraum) wie dies bei bestimmten Krankheiten, z.B. Lebererkrankungen, der
Fall sein kann: Die Leber kann in diesem Fall nicht mehr ausreichend kolloidosmotisch
wirksame Eiweißkörper (vor allem Albumine) bilden, wodurch das Wasser nicht mehr in
den Gefäßen gehalten werden kann und in den Zwischenzellraum übertritt.
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Kapillare
arterieller Schenkel
40 mm Hg
25 mm Hg
Nährstoffe
Wasser
venöser Schenkel
O2
Blutdruck > kolloidosmotischer Druck
kleinmolekulare Schlacken
Wasser
CO2
hydrostat. Druck < kolloidosmot. Druck
Abb. 19: Die Filtrationsvorgänge zwischen Blut und Gewebe in Abhängigkeit von hydrostatischem und kolloidosmotischem Druck
Die Gesamtzahl der Kapillaren beläuft sich auf etwa 5 Milliarden. Obwohl ihre durchschnittliche Länge nur 0,5 - 1 mm beträgt, bilden sie mit einer Gesamtlänge von etwa
100 000 km den Hauptteil des menschlichen Gefäßsystems.
Die Kapillardichte in den einzelnen Organen ist aufgrund des jeweils unterschiedlichen
Blutbedarfs sehr verschieden: Eine starke Kapillarisierung findet sich u.a. in der Netzhaut
des Auges, der grauen Substanz des Zentralnervensystems und in den Muskeln (im
Skelettmuskel liegt ein Verhältnis von Kapillaren zu Muskelfasern von 1 zu 1,77 vor, im
Herzmuskel von 1 zu 0,94), eine wesentlich schwächere in den so genannten bradytrophen
Geweben (Gewebe mit geringer Sauerstoffversorgung und verlangsamtem Stoffwechsel),
wie z.B. den Sehnen, Bändern und Faszien.
Da die Gesamtmenge des Blutes nicht ausreicht, um alle Organbezirke gleichzeitig optimal mit sauerstoffhaltigem Blut zu versorgen, wird die Anzahl der durchbluteten Kapillaren nach dem Bedarf der Gewebe reguliert.
Bei körperlicher Ruhe werden zahlreiche Kanäle der Mikrozirkulation zugunsten einer
verbesserten Gewebedurchblutung in anderen Bereichen geschlossen. Durch den Verschluss der den Kapillaren vorgeschalteten Sphinkter (ringförmiger "Verschlussmuskel")
können damit ganze Kapillargebiete zeitweilig völlig von der Durchblutung ausgeschlossen werden: So sind z.B. in Ruhe drei Viertel aller Muskelkapillaren verschlossen und
somit nicht von Blut durchströmt.
Bei körperlicher Belastung ergeben sich wesentliche Verschiebungen in der Durchblutung
der verschiedenen Organsysteme (s. Tab.5).
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Herz / MagenHerz
Nieren Knochen Gehirn Haut SkelettLunge Darm- (Herzmuskel
mukulaTrakt
-versorgung)
tur
Ruhe
100
25-30
4-5
25-30
3-5
4-5
5
15-20
Belastung
100
3-5
5-7
2-3
0,5-1
6-7
9
70-75
Tab.5: Durchblutungsgrößen (in Prozent der Gesamtdurchblutung) wichtiger Organbereiche im Ruhezustand (HMV 5 l/Min) und bei Belastung (HMV 20 l/Min)
Während die Durchblutung lebenswichtiger Organe sowohl in Ruhe als auch bei Belastung in etwa gleichbleibt, kommt es in den "Leistungsorganen" zu einer gewaltigen
Durchblutungszunahme: Bei einem Anstieg des Herzminutenvolumens (HMV) von etwa
6 l (Ruhe) auf 24 l (Belastung) steigert sich das Blutstromvolumen im Gehirn um das
Doppelte, im Koronarkreislauf von 250 ml auf 1000 ml um das Vierfache und in der
Skelettmuskulatur von 650 ml auf 20850 ml um das 32-fache!
Da die Verdauungsorgane nach dem Essen besonders stark durchblutet werden, ist es ungünstig, größere Muskelgruppen und damit den Gesamtorganismus unmittelbar nach der
Einnahme einer größeren Mahlzeit intensiv zu belasten. Auch die bekannte Lebensweisheit "ein voller Bauch studiert nicht gern" (infolge einer verringerten Gehirndurchblutung) lässt sich dadurch erklären.
2.1.2 Aufbau und Funktion des venösen Gefäßsystems
(Venen und Venolen)
Die Venen und Venolen (kleinste Venen) weisen im Gegensatz zu den Arterien eine relativ dünne Gefäßwand auf, die außerordentlich gut dehnbar ist. Aufgrund ihres außergewöhnlich großen Fassungsvermögens - unter Ruhebedingungen befindet sich etwa die
Hälfte des gesamten Blutes in ihnen - dienen sie als Blutreservoir des gesamten
Kreislaufes. Sie werden deshalb auch als Kapazitätsgefäße bezeichnet. Durch die Fähigkeit, sich aktiv verengen zu können, sind sie in der Lage, das Herzzeitvolumen durch ein
vermehrtes venöses Angebot zu erhöhen.
Die Venen - ihre Zahl ist wesentlich größer als die der Arterien (zumeist gehören zu einer
Arterie zwei Venen) - besitzen im Extremitätenbereich Klappen, die ein Zurückfließen des
Blutes in die Peripherie verhindern und somit den Rückstrom des Blutes regulieren. Durch
die so genannte "Muskelpumpe" wird der Rückfluss des venösen Blutes unterstützt:
Unter Muskelpumpe ist dabei zu verstehen, dass durch die Kontraktion der Arbeitsmuskulatur - hier ist vor allem die Beinmuskulatur von besonderer Bedeutung - auch Druck
auf die Venen ausgeübt wird und bei intakten Venenklappen das Blut ausschließlich Richtung Herz gepumpt wird (vgl. Abb. 20).
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in Herzrichtung
Venenklappen
geschlossen
Venenklappen
geöffnet
durch Druck geöffnete
Venenklappen
durch Druck geschlossene
Venenklappen
Abb. 20: Die "Muskelpumpe" als wichtiger Faktor für den venösen Rückstrom. Durch die
Kontraktion der Muskulatur wird das Blut herzwärts gepumpt, da sich die Venenklappen
unter Druck nur in dieser Richtung öffnen.
Die Bedeutung der Muskelpumpe für den venösen Rückstrom nicht nur während, sondern
auch nach Belastung lässt sich an einem Beispiel aus dem Sportalltag verdeutlichen:
Nach intensiven Lauf- und Sprungaktivitäten (z.B. Hocksprungserien) erhöht sich die
Durchblutung der unteren Extremitäten sehr stark. Wird nach Belastung durch Stehen
bleiben die "Muskelpumpe" nicht weiter unterstützend für den venösen Rückstrom eingesetzt, dann "versackt" das Blut in der Peripherie (Beine) in den weitgestellten Gefäßen und
es kann aufgrund eines unzureichenden venösen Rückstromes zu einer vorübergehenden
Blutleere im Gehirn und damit zu einem Kollaps kommen. Aus diesem Grunde sollte vor
allem nach intensiven Lauf- bzw. Sprungbelastungen stets weitergetrabt oder -gegangen
werden, damit die Muskelpumpe aktiv bleibt.
Während sich die Arterien über die Aorta, die großen Arterien, die Arterienäste, die Arteriolen und Kapillaren in immer kleinere Gefäße aufzweigen, sammeln umgekehrt kleinste Venen (Venolen) postkapillär, also nach dem Durchfließen der Kapillaren, das Blut
wieder und leiten es über die Venenäste in die großen Venen, die schließlich mittels der
oberen und unteren Hohlvene im rechten Vorhof münden.
Zwischen dem arteriellen und dem venösen System bestehen Kurzschlussverbindungen so genannte arteriovenöse Anastomosen - , die viele Arteriolen mit den kleinen Venen
(Venolen) verbinden. Unter Ruhebedingungen fließt das Blut durch diese Kurzschlussverbindungen unter Umgehung des Kapillarbettes direkt aus den Arteriolen in die Veno-
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len. Bei Belastung hingegen werden diese Kurzschlussverbindungen geschlossen, das
Blut durchfließt das Kapillarbett und die arbeitenden Gewebe können entsprechend ihrem
erhöhten Bedarf mehr Sauerstoff aufnehmen.
2.1.3 Das Lymphgefäßsystem
Ergänzend zum Blutkreislaufsystem besitzt der Körper noch das Lymphgefäßsystem,
ohne das der Blutkreislauf nicht funktionieren würde.
Das Lymphgefäßsystem stellt eine Art "Abwasserkanal-System" dar: Die Lymphgefäße
transportieren all jene Stoffe und Flüssigkeiten ab, die sich in den Zwischenzellräumen
ansammeln, was jeden Tag etwa 2 Liter ausmacht.
Bei der im Blut-Kapillarnetz stattfindenden Filtration sickern Nährstoffe (z.B. Zucker,
Aminosäuren und Fettsäuren), Immunzellen und Gase (u.a. der für die Zellatmung wichtige Sauerstoff) in Flüssigkeit gelöst ins Interstitium und von dort zur Zelle, welche die
benötigten Nährstoffe bzw. den Sauerstoff aufnehmen. Wie bereits dargestellt, wird der
größte Teil des filtrierten Wassers im venösen Schenkel der Kapillare wieder rückresorbiert. Ein Teil der abgegebenen großmolekularen Nährstoffpartikel und Flüssigkeit bleibt
jedoch im Zwischenzellraum ebenso zurück wie große Eiweißmoleküle, Fremdkörper und
Bakterien. Es ist nun die Aufgabe des Lymphsystems diese Reststoffe aus dem Zwischenzellraum aufzunehmen und parallel zum venösen System in Richtung rechtes Herz
zurückzubefördern. Dies erfolgt zu Beginn durch winzige Lymphgefäße - sie werden als
Lymphkapillaren bezeichnet - , die sich zu immer größeren Lymphgefäßen zusammenschließen und die Lymphe durch eigene aktive Pumpbewegungen herzwärts treiben. Dies
geschieht über die so genannten "Lymphherzchen", die durch Klappen voneinander
getrennt sind und wie bei den Venenklappen des Blutgefäßsystems die Flüssigkeit nur in
eine Richtung passieren lassen. Zwischengeschaltete Lymphknoten wirken dabei wie biologische Filter, die Bakterien und andere Fremdkörper unschädlich machen.
Beachten Sie: Würden die Lymphknoten die Bakterien passieren lassen - was bei massiver Bakterieninvasion bisweilen der Fall ist - dann kann es zur so genannten Blutvergiftung kommen.
Schließlich gelangt die Lymphflüssigkeit im Bereich des oberen Brustkorbes über die großen Lymphgefäße (z.B. den Ductus thoracicus) in die obere Hohlvene und damit wieder
in das Blutgefäßsystem.
Beachten Sie: Bei bestimmten infektiösen Krankheiten oder nach Bestrahlung (z.B. bei
der Krebstherapie) kann es zur Schädigung des Lymphgefäßsystems und damit zu
Störungen im Flüssigkeits-Rücktransport kommen. Als Konsequenz bilden sich Ödeme
(Wasseransammlungen), die dann "dicke" Beine oder Arme zur Folge haben. Das Extrembild einer derartigen Erkrankung bezeichnet man als "Elephantiasis".
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2.2 Anpassung des Gefäßsystems an Belastung
Die Energiebereitstellung bzw. -umwandlung in der Muskelzelle ist abhängig vom Sauerstoff- und Substrattransport zum Muskel und vom Abtransport der Stoffwechselschlacken
über die Kapillaren. Eine wesentliche Größe für die metabolische (den Stoffwechsel
betreffende) Leistungsfähigkeit des Muskels ist demnach die vermehrte Durchblutung
durch die Vergrößerung der kapillaren Austauschfläche in der Peripherie (Arbeitsmuskulatur).
Eine Vergrößerung des Sauerstoffangebotes und damit der aeroben Leistungsfähigkeit ist
demzufolge in starkem Maße von hämodynamischen (die Blutzirkulation betreffenden)
Faktoren wie verbesserter Kapillarisierung, Kollateralentwicklung und zweckmäßiger
intramuskulärer Blutverteilung abhängig.
- Verbesserte Kapillarisierung
Der Begriff der Kapillarisierung wird in unterschiedlichen Zusammenhängen verwendet.
Es kann sich hierbei um eine Öffnung von Ruhekapillaren, eine Verlängerung und Erweiterung vorhandener Kapillaren oder um eine echte Kapillarneubildung handeln.
Der Kapillarisierungsbegriff sollte vor allem im Zusammenhang mit der Kapillarneubildung verwendet werden!
Akute Anpassung
Während in Ruhe nur etwa 3 - 5 % der vorhandenen Kapillaren der Muskulatur geöffnet
sind, werden bei Ausdauerbelastungen sämtliche Kapillaren geöffnet und zusätzlich
erweitert. Die Zahl der offenen Kapillaren steigt auf das 30-50fache an. Die gleichzeitige
Kapillarerweiterung vergrößert die Gesamtoberfläche auf etwa das 100fache!
Dadurch ist gewährleistet, dass trotz der gewaltig angestiegenen Durchströmung und der
auf das Doppelte beschleunigten Kreislaufzeit die Verweilzeit des Blutes in den Kapillaren
normal bleibt und somit optimale Bedingungen für den Sauerstoff- und Substrataustausch
vorherrschen:
In Ruhe wird das Blutvolumen einmal pro Minute durch den Kreislauf geschickt (HF 70
x SV 70 ml = 4900 ml, was ungefähr der Blutmenge einer männlichen erwachsenen
Normalperson entspricht), bei Belastung durchfließt das Blut den Kreislauf mit doppelter
Geschwindigkeit .
Längerfristige Anpassung
Ausdauertraining führt zu einer Erhöhung der Kapillardichte bzw. -oberfläche durch die
Kapillarneubildung und leistet damit einen wesentlichen Beitrag zur Optimierung des
Stoffaustausches.
Beachten Sie: In den ST-Fasern ("Ausdauerspezialisten") ist die Kapillardichte höher als
in den FT-Fasern. Zur Kapillarisierung kommt es nur bei einem ausreichend intensiven
und genügend langen Ausdauertraining bzw. Kraftausdauertraining, nicht jedoch bei
einem Maximalkrafttraining, da es hier zu einer Gefäßkompression kommt.
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- Kollateralbildung
Neben der Kapillarneubildung kommt es auf Dauer auch zur Ausbildung von Kollateralen
- es handelt sich hierbei um zusätzliche Querverbindungen im Bereich der Arteriolen -,
was zu einer weiteren Verbesserung des Versorgungsnetzes bzw. der Optimierung der
Blutumverteilung (s. unten) beiträgt. Dies ist auch aus gesundheitlicher, präventiver Sicht
von Bedeutung: Bei einem arteriosklerotisch bedingten Verschluss einer Hauptarterie können kleinere Gefäßstämme die Hauptströmung übernehmen (s. Abb. 21).
Abb. 21: Entwicklung eines Kollateralkreislaufes während bzw. nach Verschluss eines
Gefäßes
- Blutverteilung / Blutumverteilung
Schließlich führt Ausdauertraining auch noch zu einer verbesserten intramuskulären
Blutverteilung und einer beschleunigten allgemeinen Blutumverteilung bei Belastungsbeginn.
Das bei untrainierten Personen häufig zu beobachtende Seitenstechen beruht auf einer unzureichend schnellen Umverteilung des Blutes aus den so genannten "Blutspeichern", wie
z.B. Milz, Leber, Verdauungstrakt etc., in die "Leistungsmuskulatur" des Zwerchfells.
Dadurch kommt es zu einer mangelhaften Sauerstoffversorgung des Zwerchfells - es ist
der "Motor" für die Atmung schlechthin - und auf diesem Wege zu einem Stechen in dieser großflächigen Muskelplatte.
Ursächlich ist meist ein schlechter Trainingszustand, ein ungenügendes Warmlaufen oder
eine unzureichende Atemtechnik (z.B. beim Reden während des Laufens) für das Entstehen des Seitenstechens festzustellen. Aber auch bei Belastungen nach umfangreichen
Mahlzeiten tritt dieses Phänomen des öfteren auf, da durch die Verdauungstätigkeit das in
den Magen-Darmtrakt verlagerte Blut erst wieder in die Leistungsmuskulatur umverteilt
werden muss.
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2.3 Zusammenfassung
Das Gefäßsystem ist ein Verteilersystem und setzt sich aus den verschiedenen arteriellen
und venösen Gefäßen zusammen. Dabei stellt der Kapillarbereich die Übergangsstrecke
vom arteriellen zum venösen System dar und ist für den Stoff- und Gasaustausch verantwortlich.
Durch Ausdauertraining kommt es zu einer Vergrößerung und Verdichtung des
Kapillarnetzes und damit zu einer Optimierung der Gewebeversorgung. Dies stellt eine
wesentliche Voraussetzung für die Steigerung der sportlichen Leistungsfähigkeit dar.
2.4 Lernerfolgskontrolle
- Erläutern Sie kurz Aufbau und Funktion des arteriellen Blutgefäßsystems!
- Definieren und beschreiben Sie die Funktion der so genannten "Windkesselfunktion”!
- Stellen Sie die Funktion der arteriellen Gefäße vom "muskulären Typ" dar!
- Beschreiben Sie die Bedeutung der Arteriolen für den arteriellen Blutfluss unter Verwendung der Hagen-Poiseuille-Formel!
- Erläutern Sie die Bedeutung des hydrostatischen und kolloidosmotischen Druckes für
den Wasseraustausch im Bereich des Kapillarbettes!
- Erklären Sie, warum Lebererkrankungen zu Ödemen führen können!
- Erläutern Sie das Phänomen der "Blutumverteilung" und beschreiben Sie deren Bedeutung für die sportliche Leistungsfähigkeit!
- Stellen Sie die Bedeutung der Muskelpumpe dar und erklären Sie ihr Funktionieren!
- Erklären Sie den Sinn der so genannten arteriovenösen Kurzschlussverbindungen!
- Erläutern Sie den Begriff "Kapillarisierung"!
- Erklären Sie den Sinn einer Kollateralbildung!
- Stellen Sie dar, wie sich das Gefäßsystem an Ausdauerbelastungen anpasst!
- Beschreiben Sie die Vorteile der Fähigkeit einer optimalen "Blutumverteilung" und stellen Sie in diesem Zusammenhang das Phänomen des "Seitenstechens" dar!
- Nennen Sie und begründen Sie die Hauptursachen für das "Seitenstechen"!
- Begründen Sie, warum es vor allem bei einem Ausdauertraining zu einer Kapillarisierung kommt!
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