Psychotherapie: Praxis Verhaltenstherapiemanual Bearbeitet von Michael Linden, Martin Hautzinger 8., vollständig überarbeitete Auflage 2015. Buch. XXI, 629 S. Kartoniert ISBN 978 3 642 55209 0 Format (B x L): 16,8 x 24 cm Weitere Fachgebiete > Psychologie > Psychotherapie / Klinische Psychologie > Verhaltenstherapie Zu Inhaltsverzeichnis schnell und portofrei erhältlich bei Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft. Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programm durch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr als 8 Millionen Produkte. 7 2 Diagnostik in der Verhaltenstherapie M. Hautzinger M. Linden, M. Hautzinger (Hrsg.), Verhaltenstherapiemanual, Psychotherapie: Praxis, DOI 10.1007/978-3-642-55210-6_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 2.1 Allgemeine Beschreibung Psychodiagnostik steht im Dienste der angewandten Psychologie und damit vor allem auch im Dienste der klinischen Psychologie und der Psychotherapie. Die Funktionen psychologischer Diagnostik lassen sich einteilen in indikationsorientierte Diagnostik, in Verlaufs- bzw. Prozessdiagnostik und in evaluative Diagnostik (Laireiter 2000; Hautzinger 2001). In jeder Phase erfüllt die Diagnostik unterschiedliche Aufgaben (. Abb. 2.1): 55 Vor Beginn der Therapie geht es um die Bestimmung und Deskription der Ausgangslage des Patienten, die Klassifikation der Symptomatik, die Erklärung und Genese der Symptomatik (funktionale Analyse), die therapeutischen Problemstellungen (Fallkonzeption, 7 Kap. 3, 7 Kap. 37 und 7 Kap. 38), die Selektion und Beschreibung therapeutischer Problem- und Zielbereiche, die Selektion angemessener Interventionsstrategien und spezifischer Vorgehensweisen (differenzielle und selektive Indikation), die Abschätzung der Veränderbarkeit der Symptomatik sowie des Entwicklungsverlaufs der Therapie (Prognose). 55 Während der Behandlung erfüllt die Diagnostik Funktionen der Qualitäts- und Prozesskontrolle sowie der Therapiesteuerung (adaptive Indikation, 7 Kap. 6 und 7 Kap. 8). 55 Nach Abschluss der Behandlung leistet psychologische Diagnostik die Beurteilung des Erfolges und der Effektivität der Therapie (Evaluation). Neben diesen phasenspezifischen Aufgaben erfüllt die Diagnostik weitere Funktionen. Diese sind die Dokumentation des Behandlungsverlaufs, die Unterstützung der Supervision (7 Kap. 6), die Unterstützung der Kommunikation innerhalb von und zwischen den Fachdisziplinen sowie die Planung der Nachbehandlungsphase. Nicht zuletzt erfüllt die Psychodiagnostik immer auch eine therapeutische Funktion (7 Kap. 78; Schulte 1974). Als Grundlage der interventionsbezogenen Diagnostik gilt das Prinzip der Multimodalität (Seidenstücker u. Baumann 1987). Eine multimodale Diagnostik sollte verschiedene (möglichst alle) Aspekte innerhalb der folgenden Kategorien berücksichtigen: 55 verschiedene Datenebenen (biologisch/somatisch, psychisch/psychologisch, sozial, ökologisch), 55 unterschiedliche Datenquellen (befragte Person selbst, andere Personen, apparative Verfahren, Testdiagnostik im Leistungs-, Intelligenz-, Persönlichkeitsbereich), 55 unterschiedliche Untersuchungsverfahren (Selbstbeobachtung, Fremdbeobachtung, Interview, Felderhebung, apparative Verfahren, inhaltsanalytische Verfahren). Ziel interventionsorientierter Diagnostik ist die Sammlung von Informationen über einen Patienten und seine Lebensumstände, die Entscheidungen darüber erlauben, wie unerwünschte Ausgangszustände (Diagnosen, Probleme) mithilfe psychologischer Interventionen (Verhaltenstherapie) auf erwünschte Zielzustände hin verändert werden können (GrosseHoltforth et al. 2009). >> Ziel interventionsorientierter Diagnostik ist die Sammlung von Informationen über einen Patienten und seine Lebensumstände, die Entscheidungen darüber erlauben, wie unerwünschte Ausgangszustände (Diagnosen, Probleme) mithilfe psychologischer Interventionen (Verhaltenstherapie) auf erwünschte Zielzustände hin verändert werden können (Grosse-Holtforth et al. 2009). 2.2Indikationen Verhaltenstherapie ist, wie jede Psychotherapie, ohne ausführliche vorausgehende und abschließende zuverlässige und objektive Psychodiagnostik (. Abb. 2.1) 8 Kapitel 2 • Diagnostik in der Verhaltenstherapie Voranalyse, Erstgespräch, Orientierung, Planung der Informationserhebung 2 Abklärung körperlicher Faktoren Biografische Daten, Analyse von Lebensbedingungen Beschreibung der Symptome, Diagnose Physiologie, Endokrinologie, Laboranalysen körperlicher Parameter; Kooperation mit Psychiater, Psychophysiologe, Labormediziner, Allgemeinarzt usw. Persönliche Entwicklung, Lebens-, Krankengeschichte, objektive Bedingungen ökonomischer, sozialer, räumlicher, ökologischer, gesellschaftlicher Art, aktueller, chronischer Stress, Zurechtkommen mit bzw. Management der Belastungen und Lebensbedingungen; soziale Stützsysteme; Anamnese Beschwerden und Symptome auf der Ebene des Erlebens, des Fühlens, des Denkens, des Verhaltens, der Motorik, des Körpers; Klassifikation und diagnostische Entscheidungen, Komorbidität; Schwere und Dauer der Symptome; Entwicklung und Verlauf z.B. Cortisol, EEG, Schlafparameter, Schilddrüse usw. Funktionale Mikro-, MakroProblemanalyse Status-, Eigenschaftsdiagnostik Bedingungsanalyse Neuropsychologische relevanter VerhaltensDiagnostik, und Problembereiche, Leistungs- und funktionale Fähigkeitsdiagnostik, Beziehungen Ressourcen, verschiedener Persönlichkeit, Traits, Verhaltensmodalitäten Temperament zu Reizmerkmalen, Einstellungen und z.B. Aufmerksamkeit, Plänen sowie zu Gedächtnis, Konsequenzen des Neurotizismus, Verhaltens; negative Affektivität Zielanalyse und usw. Behandlungsplan; Selbstkontrolle Indikationsentscheidung, Prognose, Erfolgsbeurteilung, Therapieplanung, ausreichendes Änderungswissen, Therapie- und Veränderungsmotivation Psychoedukation, Verhaltenstherapie, Behandlungsdurchführung Kontrollmessungen: Prozess- und Verlaufsdiagnostik Erfolgsbeurteilung, Zielerreichung, Wirksamkeit, Effektivität, unerwünschte Wirkungen . Abb. 2.1 Ablaufschema der Diagnostik in der Verhaltenstherapie (aus Hautzinger 2001; mit freundlicher Genehmigung des Thieme-Verlags, Stuttgart) undenkbar, unethisch, unverantwortlich, eben ein professionelles Fehlverhalten. Daher ist Psychodiagnostik vor jeder Psychotherapie indiziert, auch wenn diese Aussage nicht durch kontrollierte wissenschaftliche Studien belegt ist. Doch ist es eine Tatsache, die auf einer von allen verantwortlich klinisch Tätigen geteilten Erfahrung beruht und sich daher auch in allen Versorgungs- und Behandlungsleitlinien findet. Entsprechend und auf die Besonderheit der Psychotherapie zugeschnitten, stehen jedem Therapeuten und damit jedem Patienten unter dem Begriff »probatorische Sitzungen«, ergänzt um die biografische Anamnese und weitere Testuntersuchungen, von den Krankenkassen bezahlte diagnostische Sitzungen zu, um die 2.4 • Vorgehen und technische Durchführung nachfolgende Psychotherapie angemessen zu begründen und erreichbare Therapieziele zu definieren. Es stehen jedem Psychotherapeuten weiterhin im Verlauf und zum Abschluss einer Psychotherapie wiederholte diagnostische Untersuchungen zu, die unabhängig von den Behandlungsstunden abrechenbar sind. 2.3Kontraindikationen Kontraindikationen sind nicht bekannt. Selbst in akuten Krisen (z. B. Suizidalität, akuter psychotischer Zustand, akute Traumatisierung, deliranter Zustand) ist ein Minimum an Diagnostik erforderlich, etwa Abschätzung der Hoffnungslosigkeit, der Bewusstseinstrübung, der Orientiertheit oder der sozialen Lage, um in dieser zugespitzten Situation eine (therapeutische) Entscheidung, etwa stationäre Aufnahme oder die Unterlassung von professioneller Betreuung, treffen zu können. Im Rahmen einer ambulanten Psychotherapie ist eine Kontraindikation der Psychodiagnostik kaum vorstellbar. Widerstand oder Ablehnung seitens der Patienten gegenüber bestimmten diagnostischen Maßnahmen (z. B. einer häuslichen Verhaltensbeobachtung oder einer Partnerbefragung) begründen niemals den Verzicht auf diagnostische Maßnahmen, bestenfalls werden diese aufgeschoben oder über andere Modalitäten möglich. 2.4 Vorgehen und technische Durchführung 2.4.1 Eingangs- und Entscheidungsdiagnostik Zur Bestimmung des Ausgangszustandes einer Therapie gehört zunächst die Erhebung von Informationen über Voraussetzungen und Umstände des Therapiebegehrens, was meist in einem relativ wenig formalisierten Erstinterinterview (u. U. sogar am Telefon) geschieht. In einem therapeutischen Erstgespräch versucht der Kliniker, möglichst schnell einen umfassenden Überblick über die wichtigsten Informationen zu Person, Problematik, Problemgeschichte, Biografie, Therapieanlass, aktueller Lebenssituation sowie zum Störungsmodell des Patienten, zu Erwartungen an die Therapie, Motivationslage und Therapiezielen zu erhalten. Bei der Erhebung der Lebensgeschichte des Patienten versucht ein Kliniker sich ein möglichst systematisches Bild davon zu machen, wie die individuelle 9 2 Entwicklung bisher verlaufen ist, welche biografischen Einflussfaktoren für die Entwicklung von psychischen Störungen eine Rolle spielen und wie sie ggf. in die Therapieplanung einbezogen werden müssen. Zur Vorbereitung lassen sich Fragebögen, Überweisungsberichte und Krankenakten nutzen. Das Vorliegen einer oder mehrerer psychischer Störungen ist das Hauptindikationskriterium für eine Psychotherapie. Die Linderung der Störung ist das zentrale Kriterium für den Erfolg. Folglich gehören das Erkennen und die Erfassung psychischer Störungen zu den wichtigsten Anliegen der interventionsbezogenen Diagnostik. Ziel klassifikatorischer und kategorialer Diagnostik ist es, die Vielfalt der Erscheinungsformen psychischer Auffälligkeiten anhand markanter, wissenschaftlich bestätigter Merkmale zu ordnen und überschaubarer zu machen. Zur Klassifikation psychischer Störungen existieren die 10. Revision der Internationalen Klassifikation der Krankheiten der World Health Organization (ICD10, Kap. V, Abschn. F) und das Diagnostische Manual Psychischer Störungen (DSM-5) der American Psychiatric Association. Die Kodierungen von ICD10 und DSM sind weitgehend ineinander überführbar. Zur objektiven und zuverlässigen Diagnostik mit ihrer Vielzahl von Einschluss- und Ausschlusskriterien sind verschiedene diagnostische Interviews und Checklisten entwickelt worden. Bei der Entscheidung, welches Verfahren im Einzelfall zur Anwendung kommen sollte, müssen Präzision und Reliabilität gegen Effizienz und Flexibilität der infrage kommenden Verfahren abgewogen werden. Manche Verfahren decken das ganze Spektrum psychischer Störungen ab (z. B. SKID, MINI, DIA-X), während andere nur bestimmte Bereiche oder bestimmte Zielgruppen berücksichtigen (z. B. SKID-II, MINI-Kids). In strukturierten Interviews werden systematisch alle Diagnosebereiche mit vorformulierten Fragen erfasst. Die Reihenfolge der Fragen sowie die Sprungregeln und Antwortkategorien sind vorgegeben, aber die Fragen selbst können bei Verständnisproblemen umformuliert, erklärt oder ergänzt werden. Die Anwendung dieser strukturierten Interviews ist in jedem Fall den freieren Diagnosechecklisten vorzuziehen. Zur objektiven und genaueren Erfassung der Ausprägung (Schweregrad) von Symptomen können verschiedene standardisierte Selbst- und Fremdbeurteilungsverfahren angewendet werden. Es liegen zahlreiche gut bewährte, psychometrisch überzeugende und normierte störungsübergreifende und eine noch größere Zahl störungsspezifischer Instrumente vor (Hautzinger 2001; Grosse-Holtforth et al. 2009). Weit 10 2 Kapitel 2 • Diagnostik in der Verhaltenstherapie verbreitet als störungsübergreifendes Instrument ist etwa die SCL-90, die jedoch zur Erfassung der globalen Belastung (GSI) durch psychische Symptome in einer Kurzform (10 Items) völlig ausreichend ist. Fragebogen (etwa WHO-5, CAGE) können auch zur groben Vorauswahl (Screening) von Personen mit psychischen Störungen verwendet werden. Soziale Anpassung bezeichnet das »Funktionieren« eines Individuums in spezifischen sozialen Rollen einer Gesellschaft. Meist werden zur Erfassung des sozialen Funktionsniveaus globale Beurteilungen, etwa GAF, verwendet. Die GAF ist eine Skala von 0 bis 100 und berücksichtigt bei der Beurteilung mittels eines globalen Werts unterschiedlichste Aspekte der Selbstfürsorge, der Hygiene, der sozialen Beziehungen, der Aktivität, der Arbeitsfähigkeit, der Bewältigung von alltäglichen Anforderungen. Belastende Ereignisse lassen sich hinsichtlich der Valenz, des Anpassungsaufwandes, der Intensität, der Vorhersehbarkeit, der Normativität und der Unabhängigkeit der Ereignisse unterscheiden. Lebensereignisse (z. B. Trennung, Verluste) sind diskrete Ereignisse, die eine erhebliche Neuorganisation im Verhalten und Erleben der Person erfordern und im Individuum nachhaltige emotionale Reaktionen hervorrufen. Trauma bezeichnet das Erleben oder Miterleben einer Situation, die Tod oder eine schwerwiegende Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit (z. B. Unfall, Überfall) beinhaltet. Chronische Belastungen hingegen definieren sich durch das Anhalten der Belastung und betreffen in erster Linie die Bereiche Arbeit, Familie (z. B. Pflege von Angehörigen) und Lebensumstände (z. B. Arbeitslosigkeit). Alltagsbelastungen (z. B. Schichtarbeit, Kleinkinder, Ehekonflikte) erfordern eine hohe Wiederanpassungsleistung, aber eine geringe Anpassungszeit. Zwischenmenschliche Faktoren können zur Entstehung und zur Aufrechterhaltung von psychischen Störungen und Problemen beitragen, können selbst Hauptproblem und Behandlungsanliegen sein, können jedoch auch eine wichtige Ressource bei der Überwindung von Störungen sein. Soziale Unterstützung lässt sich definieren als das Erleben, geliebt, geachtet, anerkannt, umsorgt und Teil einer sozialen Gruppe zu sein. Das soziale Netz wird definiert als die Anzahl der (regelmäßigen) sozialen (familiären, selbst erworbenen) Kontakte. Familien- und Partnerschaftsbeziehungen zeigen sich ebenso wie der internalisierte Bindungsstil im Interaktions- und Kommunikationsverhalten (7 Kap. 73), während die Bindungserfahrun- gen mithilfe von Selbstauskünften oder szenischen Rekonstruktionen zugänglich werden. Ressourcen sind Merkmale der Person und der Umwelt, die es erlauben, mit belastenden Lebensumständen und Problemen konstruktiv umzugehen. Coping oder auch Selbstkontrollfähigkeit (7 Kap. 81) sind kognitive und behaviorale Fertigkeiten, die es einer Person ermöglichen, externe und interne Anforderungen ohne größere Störung zu bewältigen. Überdauernde Merkmale der Person (Ressourcen, Fähigkeiten, Persönlichkeit, Temperament, Reaktionsmuster) zeigen sich im Verhalten in kritischen Situationen (7 Kap. 60), in experimentellen Verhaltenstests (z. B. Arbeitsproben, Belastungstests), in neuropsychologischen Tests (z. B. Aufmerksamkeit, Gedächtnis) oder über Fremd- bzw. Selbstauskünfte mittels objektiven Tests (z. B. Intelligenz, Persönlichkeitsfaktoren, Stressverarbeitung). Bei jeder psychischen Störung, jedoch ganz besonders bei chronischen organischen Erkrankungen (sog. psychophysiologischen Störungen), bedarf es immer auch einer Abklärung somatischer Faktoren (zentralnervöse, endokrinologische, immunologische, vegetative Indikatoren). Dies erfordert konsiliarische Zusammenarbeit mit Haus- bzw. Fachärzten sowie ggf. den Einsatz von bildgebenden und labormedizinischen Verfahren. Ganz entscheidend für die Therapieplanung und Fallkonzeption ist die Erarbeitung eines individuellen Erklärungsmodells zur Entstehung und Aufrechterhaltung einer Störung (7 Kap 78). Aus der Fallkonzeption wird das therapeutische Vorgehen abgeleitet (Ziele, Interventionen, 7 Kap. 3). Im Rahmen der Verhaltenstherapie ist hierfür die funktionale Diagnostik, die Verhaltens- und Problemanalyse, entscheidend. Die Mikro- und Makro-Verhaltensanalyse (7 Kap. 37 und 7 Kap. 38) erarbeitet gemeinsam mit den Patienten funktionale Zusammenhänge der verschiedenen Problemverhalten (beobachtbares, motorisches, interaktives Verhalten, physiologische Reaktionen, affektive und kognitive Prozesse), mit vorausgehenden und nachfolgenden Bedingungen (Stimuli und Konsequenzen) auf horizontaler Ebene (Verhalten in Situationen) und mit Entwicklungserfahrungen, mit Überzeugungen bzw. Einstellungen auf vertikaler Ebene (Plan- und Schemaanalyse). Therapieziele werden basierend auf der funktionalen Verhaltensanalyse in freier Form erfasst (. Abb. 2.2) und zur Verlaufsund Erfolgskontrolle der Behandlung eingesetzt. Ziele 2 11 2.4 • Vorgehen und technische Durchführung Wichtigkeit/ Machbarkeit Zielerreichung 100% 75% 50% 25% 0 0 1 2 3 4 5 6 7 8 Zeitpunkte . Abb. 2.2 Arbeitsblatt: Ziele und Zielerreichung 2.4.2Therapiebegleitende Diagnostik Die therapiebegleitende Diagnostik umfasst Prozessund Verlaufsdiagnostik und ermöglicht die Erstellung von Verlaufs- und Ergebnisprognosen, sodass problematische Entwicklungen früh erkannt werden können und die Behandlung entsprechend angepasst werden kann. Die Ergebnisse der therapiebegleitenden Diagnostik können für die Supervision genutzt werden und sind Bestandteil der Qualitätssicherung. Das am weitesten verbreitete Verfahren der Prozessdiagnostik ist die freie Dokumentation der Therapiesitzungen mithilfe von Dokumentationsbögen, Ton- oder Videoaufnahmen. Neben diesen qualitativen Verfahren sind verschiedene standardisierte Verfahren zur Beziehungsbeurteilung (Patient und Therapeut), zur Symptombzw. Belastungsbeurteilung (Patient) und zur Adhärenz- bzw. Kompetenzbeurteilung (Supervision, unabhängige Beurteiler) verfügbar. Es empfiehlt sich beim heutigen Stand der Technik, von jeder Therapiesitzung eine Bandaufnahme zu machen und diese ggf. in der Therapie zu nutzen. Es empfiehlt sich weiterhin, nach jeder zweiten Sitzung eine Symptom- bzw. Belastungsbeurteilung von dem Patienten zu erbitten. Auch dies kann heute problem- los am Computer umgesetzt werden – mit der Möglichkeit, anschauliche Kurvenverläufe auszudrucken und während der Therapie zu besprechen. 2.4.3Evaluative Diagnostik Mit Recht interessiert Patienten und Angehörige, doch auch Überweiser, Mitbehandler, Kostenträger und Therapeuten die Wirksamkeit einer Therapie. Dazu sollten objektive und zuverlässige diagnostische Methoden (z. B. Interviews, Fremd- und Selbstbeurteilungen, Verhaltensbeobachtung, physiologische Indikatoren), die bereits bei der Eingangsuntersuchung zur Anwendung kamen, eingesetzt werden. Diese direkte, idealerweise unabhängige Erfolgsmessung lässt sich gut Patienten rückmelden und im Behandlungsbericht darstellen. Zielerreichungsskalierungen als Erfolgsmaß zeichnen sich durch die große Nähe zum therapeutischen Geschehen aus, doch sind sie weniger objektiv. Dabei sind gerade die auf den individuellen Fall zugeschnittenen Zielformulierungen und deren Erreichung (. Abb. 2.2) aussagekräftiger und für die Aufrechterhaltung des Erreichten durch die Patienten motivierender als allein ein Differenzwert auf einer Skala. Besonders relevant für die Bewertung des The- 12 Kapitel 2 • Diagnostik in der Verhaltenstherapie rapieerfolges ist die Stabilität der Effekte über das Therapieende hinaus. Katamnesen im Abstand von sechs Monaten sollten eingeplant und durchgeführt werden. 2 2.5 Grad der empirischen Absicherung und persönliche Bewertung Die Qualität der Psychodiagnostik bestimmt sich allein durch die Qualität der Messungen und die Multimodalität der Erhebungen. Eine gute und angemessene Psychodiagnostik im Rahmen der Verhaltenstherapie benutzt möglichst objektive und reliable Instrumente. Dies gilt für Interviews ebenso wie für Selbst- und Fremdbeurteilungen, Tests und Verhaltensbeobachtungen. Im Setting einer psychotherapeutischen Praxis oder einer Klinik sollte zumindest folgende minimale Psychodiagnostik stattfinden: 55 Eingangsuntersuchung und Indikationsstellung: Biografie und Anamnese, strukturierte Interviews zur Diagnosestellung, störungsübergreifende und störungsspezifische Selbst- und Fremdbeurteilungen, Beurteilung des sozialen Funktionsniveaus, Verhaltensbeobachtung in der Lebenswelt, Verhaltensanalyse (Mikro- und Makroanalyse), Vereinbarung von Therapiezielen. Fakultativ: Persönlichkeits-, Intelligenz- und neuropsychologische Funktionstests. 55 Verlaufsdokumentation: Bandaufzeichnungen der Sitzungen, Zielerreichungsbeurteilung, störungsspezifisches Verlaufsmaß. 55 Evaluation und Enderhebung: Wiederholung der störungsübergreifenden und störungsspezifischen Eingangsdiagnostik (Selbst- und Fremdbeurteilung), Beurteilung des sozialen Funktionsniveaus, Beurteilung der Zielerreichung. Es wäre falsch, anzunehmen, dass diese Standards Patienten irritieren bzw. überfordern. Patienten haben ein Recht auf eine angemessene, zuverlässige und möglichst valide Eingangs-, Verlaufs- und Enddiagnostik. Dabei darf es einerseits natürlich nicht zu Überforderungen kommen, andererseits sollte nur das an Diagnostik gemacht werden, was unbedingt sein muss (Minimalprinzip) und was für die Verhaltenstherapie (Indikation, Prognose, Effekt) nützlich bzw. erforderlich ist. Eine wichtige Entscheidung in jeder Psychotherapie umfasst die Frage nach der selektiven und dif- ferenziellen Indikation. Dabei spielen diagnostische Informationen (. Abb. 2.1) eine wesentliche Rolle. Die selektive Indikation betrifft die Frage, ob, und wenn ja, welche Art der Psychotherapie bei einem Patienten indiziert ist. Dabei sind normalerweise folgende Fragen abzuklären: 1. Ist bei einem Patienten mit der jeweils gegebenen spezifischen Problematik eine Psychotherapie überhaupt indiziert? Indikative Entscheidungen sind nicht unabhängig vom jeweiligen sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Kontext des Patienten und des Therapeuten zu treffen. In der Psychotherapie geht es zumeist um eine Veränderung der persönlichen Lebensgestaltung der Menschen, die um therapeutische Hilfe nachsuchen. Dabei unterscheiden sich die jeweils möglichen Therapieangebote in ihren grundlegenden Wert- und Zielvorstellungen z. T. erheblich. Die Frage, welche Form der psychosozialen Hilfestellung bei einem Patienten geeignet scheint, beinhaltet deshalb immer zugleich eine Reihe wesentlicher Wertentscheidungen. Diese müssten günstigenfalls vorab ausführlich mit dem Patienten besprochen werden (z. B. die Frage realistischer Therapieerwartungen, Unterschiede zwischen den Ansprüchen des Patienten und denen seiner Angehörigen an einen Therapieerfolg o. Ä.). 2. Ist die von einem Therapeuten vertretene Therapierichtung für die Behandlung der jeweiligen Probleme eines Patienten geeignet? Die Entscheidung für ein bestimmtes psychotherapeutisches Verfahren kann immer nur mit Blick auf die jeweils betroffene Person in ihrer konkreten Lebenssituation unter Berücksichtigung all ihrer individuellen Besonderheiten getroffen werden. Psychotherapeuten sind meist bestimmten Therapierichtungen verpflichtet. Dennoch sollte die Frage, ob die Überweisung an einen Fachkollegen nicht eine bessere Behandlungsperspektive eröffnen könnte, bei jeder selbstkritischen Prüfung des Einzelfalls mit beantwortet werden. 3. Ist bei einem Patienten mit der jeweils gegebenen Problematik eine Verhaltenstherapie sinnvoll? Es ist vor allem einigen entscheidenden Verbesserungen in der psychiatrischen Diagnostik zu verdanken, dass zunehmend störungsspezifische Behandlungskonzepte entwickelt wurden und werden. Vor allem in der Verhaltenstherapie gibt es heute für die meisten eindeutig definierbaren Störungsbilder differenziert ausgearbeitete 13 Literatur und gut evaluierte Behandlungsprogramme, die zumeist bereits in Manualform vorliegen (7 Sektion IV dieses Buches). Da insbesondere die störungsspezifischen Behandlungskonzepte zumeist in der Verhaltenstherapieforschung entwickelt und evaluiert wurden, ist eine selektive Indikation zur Verhaltenstherapie immer dort sinnvoll, wo die psychischen Probleme der Patienten eindeutig definierbar sind. 4. Sind unabhängig oder ergänzend zur Psychotherapie weitere Möglichkeiten psychosozialer Hilfeleistung sinnvoll oder sogar notwendig? In vielen Fällen ist die Psychotherapie nur eine von mehreren Möglichkeiten, die zur Änderung der Probleme, die den Patienten in die Psychotherapie geführt haben, in Betracht gezogen werden müssen. Sind z. B. körperliche Ursachen für die Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Störungen nicht auszuschließen, ist die konsultierende Kooperation des Psychotherapeuten mit einem Fachmediziner selbstverständlich. Eine Reihe von Problemen erfordert zwingend die Hinzuziehung weiterer Spezialisten oder die Ergänzung der Psychotherapie um eigenständige Behandlungsanteile, etwa durch Juristen, Sozialarbeiter, Berufsberater, Ämter usw. Die differenzielle Indikation betrifft die Entscheidung, welches therapeutische Vorgehen und welches konkrete Behandlungssetting bei den jeweils gegebenen Problemen eines Patienten die besten Behandlungseffekte versprechen. Dies beinhaltet vor allem die Frage, ob die Therapie mit einem Patienten ambulant oder stationär erfolgen sollte bzw. ob und wann man mit dem Patienten allein (Einzelbehandlung) oder mit einem erweiterten Personenkreis (z. B. Gruppen-, Angehörigen- oder Familientherapie) arbeiten sollte. Die Diagnosestellung führt in der Folge einer störungsspezifischen Eingangsdiagnostik (. Abb. 2.1) zu der Entscheidung, Patienten die zumeist längerfristige Teilnahme an einer störungsspezifischen Verhaltenstherapie zu empfehlen. In störungsspezifischen Therapieprogrammen werden die für die Behandlung einer spezifischen psychischen Störung als sinnvoll erachteten Maßnahmen üblicherweise in sog. multimodalen oder Breitspektrumtherapien für den Einzelfall zusammengestellt und aufeinander abgestimmt. Die meisten dieser Behandlungsprogramme eignen sich zugleich für verhaltenstherapeutische Gruppen, in denen Patienten mit gleicher Problematik das jeweilige Behandlungsprogramm gemeinsam absolvieren. Die Verhaltenstherapie darf heute als die Psychotherapie für sog. schwere Störungen gelten. Gemeint 2 sind damit vor allem psychische Probleme, die durch extreme Verhaltensdefizite und eine starke Motivationsproblematik gekennzeichnet sind und bei denen die Betroffenen vielfach die Einsicht in die eigene Notlage verloren haben und unter chronifizierten Störungsverläufen leiden. Die Schwere der Störung führt dann vielfach zu der Entscheidung, dass eine Psychotherapie stationär durchgeführt werden sollte. >> Eindeutige, zweifelsfreie oder gar wissenschaftlich überzeugend belegbare (differenzielle und selektive) Indikationen im Rahmen einer Psychotherapie fehlen jedoch oft noch. Es bleibt eine wichtige Forschungsaufgabe, die Frage nach den »Moderatoren« (Indikatoren) für bestimmte Behandlungsprogramme bzw. bestimmte Therapiestrategien zu klären. Literatur Grosse-Holtforth, M., Lutz, W., & Grawe, K. (2009). Interventionsbezogene Diagnostik. In M. Hautzinger & P. Pauli (Hrsg.), Psychotherapeutische Methoden. Enzyklopädie der Psychologie. Göttingen: Hogrefe. Hautzinger, M. (2001). Diagnostik in der Psychotherapie. In R. D. Stieglitz, U. Baumann & H. J Freyberger (Hrsg.), Psychodiagnostik in der Klinischen Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie (2. Aufl.). Stuttgart: Thieme. Laireiter, A. R. (2000). Diagnostik in der Psychotherapie. Wien: Springer. Schulte, D. (1974). Der diagnostisch-therapeutische Prozess in der Verhaltenstherapie. In D. Schulte (Hrsg.), Diagnostik in der Verhaltenstherapie. München: Urban & Schwarzenberg. Seidenstücker, G., & Baumann, U. (1987). Multimodale Diagnostik als Standard in der Klinischen Psychologie. Diagnostica, 33, 243–258. http://www.springer.com/978-3-642-55209-0