In: Widerspruch Nr. 33 Wagnis Utopie (1999), S. 113-117 Autor: Reinhard Meiners Rezension Hans-Martin Schönherr-Mann Postmoderne Perspektiven des Ethischen. Politische Streitkultur - Gelassenheit - Existentialismus, München 1997 (Fink-Verlag), br., 183 S., 38.- DM. Es ist nicht zu übersehen: Die Zeiten haben sich rasant geändert, die Welt ist undurchschaubarer und unübersichtlicher geworden. Die traditionellen Werte und Maßstäbe sind brüchig geworden und geben, im wahrsten Sinne des Wortes, langsam aber sicher ihren Geist auf. Orientierungslos den ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen ausgeliefert, müssen sich die Menschen ihren eigenen Weg suchen, müssen die Individuen ihre Identität selber konstruieren, müssen selbständig Entscheidungen treffen und Lebensentwürfe wählen und gestalten. Schönherr-Mann wird in seinem Buch „Postmoderne Perspektiven des Ethischen“ nicht müde, den instabilen und schwankenden Charakter der postmodernen Existenz mit allen Gefahren und Chancen hervorzuheben. Er konstatiert, daß im Verlaufe und besonders zum Ende unseres Jahrhunderts zwei gegensätzliche Richtungen in der philosophischen Ethik sich diesem Problem gestellt haben. Eine fundamentalistische Richtung, die der allgemeinen Orientierungslosigkeit und dem Verfall der Werte durch einen Rückgriff auf traditionalistische Ansätze (gekennzeichnet durch einen normativen Grundrahmen für Handlungsregeln, Wertmaßstäbe und Sinngebung) begegnen will. Auf der anderen Seite steht eine Konzeption der Ethik, die aus dem Chaos der Gegenwart und der Unübersichtlichkeit der gegenwärtigen Verhältnisse neue Formen des Menschlichen und des Miteinander entwickeln will. Dieses Bemühen um eine „Wende in der Ethik“, um die Meiners: Schönherr-Mann Selbständigkeit der Ethik vor der Ontologie (im Gegensatz zu Aristoteles), dies versucht Schönherr-Mann entwicklungs- und ideengeschichtlich nachzuzeichnen und weiterführende Perspektiven für eine neue Ethik, für eine „zweite Philosophie“ (Manfred Riedel) nach der traditionellen ersten Philosophie zu entwickeln. Nietzsche, Heidegger und Wittgenstein werden von Schönherr-Mann als Wegbereiter der postmodernen Wende (er markiert den Beginn dieser postmodernen Wende mit dem Buch „Differenz und Wiederholung“ von Gilles Deleuze aus dem Jahre 1968) in der Ethik interpretiert. Nietzsches Rückbesinnung auf den „Sinn der Erde“ und Heideggers spätphilosophische Konzeption des „Ereignisses“, in der Menschlichkeit nicht mehr allgemein, sondern als veränderlich, vielfältig und situativ bestimmt wird, ebnen den Weg für die postmoderne Kritik an traditionelle, ethische und technische Handlungskonzeptionen. Wittgensteins Sprachphilosophie ist ein weiterer Schritt auf dem Weg in die Postmoderne. In den „Philosophischen Untersuchungen“ versucht Wittgenstein, Menschlichkeit im Begriff des „Sprachspiels“ neu zu denken. Dem instabilen und schwankenden Charakter der Wirklichkeit entspricht der oszillierende Charakter der Sprache. Das „Sprachspiel“ entzieht sich der überlieferten Forderung nach Präzision und Fixierung und verweigert sich allen Formen der Verallgemeinerung. Eine Vielzahl von „Sprachspielen“ tritt deskriptiv an die Stelle der traditionellen normativ-praktischen Ethik. Die Vertreter der Postmoderne setzen diese Kritik an der traditionellen Ethik fort: E. Levinas (Gerechtigkeit, Andersheit des Anderen), J. Derrida (Dekonstruktion), G. Deleuze u. F. Guattari (Rhizom, flüchtiges Ich), U. Eco (topologisches Labyrinth der Zeichen), G. Vattimo (Pietät, Philosophie als schwaches Denken), J.-F. Lyotard (kleine Erzählungen, Dissens, Streitkultur) und J. Baudrillard (Differenz-Denken) versuchen in ihren Ansätzen der schnellebigen und chaotischen Struktur der Welt gerecht zu werden. Weiter setzt Schönherr-Mann sich mit dem amerikanischen Pragmatismus (W. James, J. Dewey) auseinander, sowie mit Rawls’ „Theorie der Gerechtigkeit und Rortys Versuch, analytische Philosophie und Postmodernismus zu verbinden. An J. Habermas (kommunikative Vernunft), G. Patzig (Begrenzung der Gültigkeit und Reichweite ethischer Normen) und N. Luhmann (Ethik kann kein umfassendes Problemlösungssystem für alle Teilbereiche sein) wird noch einmal der Unterschied zur traditionellen normativen Ethik (z.B. Kants Suche nach einem formalen Prinzip in der Ethik) verdeutlicht. Neuerscheinungen Die postmodernen Ansätze sind aber noch zu sehr bestimmt durch die kritische Abwendung von der traditionellen Ethik. Statt eines wirklichen Neubeginns kommt es lediglich zu einer Umkehr der Beziehung von Ethik und Ontologie. Dagegen fordert Schönherr-Mann eine Neuanfang jenseits der Postmoderne, jenseits der Aufhebung der aristotelischen Ableitung der Ethik aus der Ontologie und der postmodernen Scheidung von Ethik und Ontologie. Neben der Wende zur Sprache ist dazu eine Rückbesinnung auf die vorsokratischen Anfänge des Denkens bei Parmenides nötig, dessen Denken die Einheit von Ontologie und Ethik, von Theorie und Praxis, von Denken und Handeln beinhaltet. Während die Postmoderne nur das Ende der Moderne, das Ende des Versuchs denkt, eine universale, widerspruchsfreie und objektiv begründete Ethik zu entwerfen (die ökologische „Verantwortungs“-Ethik gilt unserem Autor als die letzte und aktuellste Variante der traditionellen abendländischen Ethik), sieht Schönherr-Mann in Heideggers Konzeption des „Ereignisses“ den Wegbereiter für einen Neuanfang der Philosophie jenseits der Postmoderne. Die über die Postmoderne hinausweisende Perspektive sieht er in der Verbindung von Hermeneutik und Ethik („praktische Hermeneutik“), die von Manfred Riedel im Anschluß an die „Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik“ von Hans-Georg Gadamer weiterentwickelt worden ist. An die Stelle des rationalen Konsenses tritt das Bemühen, im Gespräch und im Hören, den Anderen als Anderen zu begreifen, die Andersheit zu akzeptieren und den bestehenden Unübersichtlichkeiten und Differenzen mit „Gelassenheit“ (R. Margreiter) zu begegnen. Aus dieser Konzeption der Menschlichkeit bzw. Zwischenmenschlichkeit, die sich nicht mehr einfach auf allgemeine Grundsätze berufen kann, entwickelt sich quasi zwangsläufig eine veränderte Haltung zur Natur und zur Umwelt, die so zur „Mitwelt“ wird. Die postmodemen Orientierungspunkte einer neuen Ethik wie Sprachspiel, Ereignis, Differenz, Pietät, Streitkultur werden in der posttraditionalen Epoche durch Denken, Gelassenheit, Offenheit, Lebendigkeit, Freundschaft (M. Foucault), Hören und Gespräch weiterentwickelt. Versucht werden muß, in der posttraditionalen Gesellschaft neue Formen „der lebendigen Zwischenmenschlichkeit“ zu finden und das „diesseitige Gespräch“ zu entwickeln. „Der Blick des Anderen wie seine Ansprache, die mich aus ihrem ereignishaften Charakter heraus in die Verantwortung rufen, mich auffordern, auf sie zu achten, ihnen nachzusinnen - eine andere Lesart der unendlichen Andersheit des Anderen, die also mit der Sinnlichkeit verknüpft ist - eröffnen mir erst die Möglichkeit zu einer äußerst diesseitigen, Meiners: Schönherr-Mann sozialen, also zwischenmenschlichen Beziehung. In ihr begegnet mir der Andere wirklich als Anderer, den ich weder als Mittel, noch als Zweck oder als Objekt und als Widerstand begreife“. (162) Das posttraditionale moralische Selbst ist gefordert, und es wird für die Menschen schwierig werden, diesen Forderungen gerecht zu werden, zumal sie sich gleichzeitig mit der Realität der noch bestehenden traditionellen Werte auseinander setzen müssen. Schönherr-Mann spricht in diesem Zusammenhang von der „Übermenschlichkeit“ einer neuen Ethik, von der „unendlichen Komplexität“ des Ethischen, die eine extreme Herausforderung für die Menschen sein wird. Schönherr-Mann versucht die Frage zu beantworten, wie der Mensch „in einer instabilen schwingenden Existenz ohne traditionelle Orientierungen zu leben vermag“. (13) Seiner Feststellung, daß die traditionalistische Ethik versagt und ihre Ansprüche vielfach nicht eingelöst hat (vielleicht auch nicht einlösen konnte), ist in groben Zügen zuzustimmen. Sie kann immer weniger der rasanten gesellschaftlichen Entwicklung (Stichworte: Individualisierung, Informationsgesellschaft, Risikogesellschaft, multikulturelle Zivilisationsperspektive) gerecht werden. Dennoch finden sich viele ihrer normativen Elemente institutionalisiert auf den verschiedenen Ebenen wie Staat, Religion, Ehe, Familie, Beruf u.s.w. wieder, und entwickeln dort auch heute noch eine viel stärkere orientierende und bindende Kraft als die von unserem Autor in seinem Buch dargestellte. Ohne hier auf die gut und verständlich dargestellten postmodernen und posttraditionalistischen Ansätze und Perspektiven im einzelnen eingehen zu wollen, bleibt das Hauptproblem aller Ausführungen, daß sich SchönherrMann die Reduktion des Handlungsbegriffes im Sinne Heideggers zu eigen macht. In seiner Kritik am technischen und ethischen Handeln, das die Welt nach eigenen Vorstellungen geplant umzugestalten versucht, geht es Heidegger nicht mehr um die Frage, was wir tun sollen, sondern um die Frage, wie wir denken sollen. Das Denken wird somit zum eigentlichen Handeln. Das Verhältnis von Theorie und Praxis wird auf die Frage nach dem Verstehen reduziert. Hinsichtlich der von Schönherr-Mann entwickelten Perspektiven für eine posttraditionale Ethik bzw. für eine zweite Philosophie gilt es festzustellen, daß die Beziehung zwischen Denken/Verstehen und Handeln in einer veränderten und sich ständig verändernden Welt unklar bleibt. Lediglich durch den Begriff der Andersheit des Anderen wird die Richtung einer möglichen Entwicklung angezeigt. Der einzelne Handelnde könnte dabei wirklich ratund orientierungslos auf sein eigenes Denken bezogen zurückbleiben. Neuerscheinungen Möglicherweise liegt das Problem aber auch in der veränderten und sich rasch verändernden Welt, die vielleicht doch noch nicht so weit ist, um den posttraditionalen Perspektiven der Ethik gerecht zu werden. In diesem Sinne ist vielleicht auf die von Schönherr-Mann einige Male erwähnte Hegelsche Eule der Minerva zu verweisen, die in den „Perspektiven“ nicht in der Abenddämmerung, sondern vielleicht ein wenig verfrüht am Morgen, spätestens aber am Mittag ihren Flug zu beginnen scheint. Reinhard Meiners