als nur Überbleibsel einer vergessenen RNA-Welt - Wiley-VCH

Werbung
|
G E N O M FO R S C H U N G
|
npcRNAs: Mehr als nur Überbleibsel
einer vergessenen RNA-Welt
In den vergangenen Jahren rückte eine Gruppe von Molekülen ins Rampenlicht, die zuvor – im Vergleich zur DNA und den Proteinen - weitgehend vernachlässigt wurde: die so genannten nicht-proteincodierenden
RNAs, also RNA-Moleküle, die keine Bauanleitung für Proteine enthalten
(engl.: „non-protein-coding RNA“, abgekürzt npcRNA).
In der Biologie gibt es eine Variante
des Henne-Ei-Problems: Was war zuerst da? Gab es zuerst die DNA, die ja
die genetische Information für den
Zusammenbau von Proteinen enthält?
Oder sind zuerst die Proteine entstanden, ohne die wiederum Nukleinsäuren wie die DNA gar nicht synthetisiert werden können?
Neue Erkenntnisse deuten darauf
hin, dass weder Proteine noch die
DNA zuerst existierten, sondern eine
andere Molekül-Gruppe: die RNA.
Sie kann - anders als die DNA oder
Proteine - zwei Funktionen wahrnehmen: RNA kann zum einen genetische Information speichern und vervielfältigen, zum anderen kann sie
auch die katalytische Aktivität eines
Enzyms haben. Möglicherweise ist
am Anfang der Evolution in einer bestimmten physikalischen und chemischen Umgebung zufällig einmal ein
RNA-(ähnliches) Molekül entstanden,
das in der Lage war, zuerst sich selbst
zu reproduzieren und später auch
andere RNA-Moleküle nachzubilden.
Auf diese Weise entstanden nach und
nach immer mehr RNA-Moleküle, die
bestimmte Enzym-Funktionen hatten.
Gleichzeitig entstand zufällig eine
Membran, die die RNAs zusammenhielt: das war die Geburt der ersten
primitiven Zelle [1, 3, 7]. Dann entwickelte sich in dieser Zelle aus einem der RNA-Moleküle ein primitives
Ribosom, das die Synthese von kleinen Protein-Fragmenten ermöglichte.
Die Proteine bildeten also wahrscheinlich die zweite große Gruppe
von Molekülen, die auf dem Schauplatz der Zellentwicklung erschien.
Nach und nach übernahmen die
Proteine die katalytischen Funktionen der RNAs und entwickelten sich
zu schnellen und effizienten Enzymen, die den Grundstein für einen
weiteren wichtigen Evolutionsschritt
legten. Die Proteine machten es möglich, die in der RNA verschlüsselte genetische Information in ein DNA-Molekül umzuschreiben (Reverse Transkription) und umgekehrt konnten sie
die DNA als Matrize nutzen, um die
© 2006 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim
T R E F F P U N K T FO R SC H U N G
genetische Information der DNA in
ein RNA-Molekül umzukopieren
(Transkription). Auf diese Weise ging
die Funktion, genetische Information
zu speichern, allmählich von der RNA
auf die DNA über. Der Vorgang der
Reversen Transkription findet heute
noch bei vielen Viren statt, beispielsweise beim HIV-Virus. Diese Viren
schreiben mit Hilfe bestimmter Enzyme ihr RNA-Erbgut in ein DNA-Molekül um und sind so in der Lage, ihre
Virus-Erbinformation in das SäugetierGenom einzuschleusen.
Obwohl bereits mehrere Milliarden Jahre vergangen sind, seit die
DNA anstatt der RNA zum Träger der
genetischen Information wurde,
nutzen auch heute noch viele Organismen die zelluläre RNA als Nachbildungsmatrize, und zwar nicht nur die
RNA-Viren, sondern auch Lebewesen
mit Zellkern (Eukaryoten). So besteht
mit insgesamt 42 Prozent ein beeindruckend großer Anteil des menschlichen Erbgutes aus Elementen, die
ursprünglich einmal RNA-Moleküle
waren, dann in DNA umgeschrieben
wurden und sich schließlich in das
menschliche Genom integrierten.
Dieser Prozess ähnelt der Reversen
Transkription der Viren und wird
„Retroposition“ genannt. Eine
Gruppe dieser Retropositions-Sequenzen sind die SINEs. Die Abkürzung steht für den englischen Ausdruck Short Interspersed Elements
(= kurze, verstreute Elemente). Etwa
13 Prozent des menschlichen Erbguts
www.biuz.de
2/2006 (36)
|
Biol. Unserer Zeit
|
77
T R E F F P U N K T FO R SC H U N G
|
stammen von den SINES ab, weitere
29 Prozent leiten sich von Long Interspersed Elements (LINEs) und anderen Retropositions-Elementen ab.
Man schätzt, dass etwa 15 Prozent aller menschlichen proteincodierenden
Gene durch Retroposition von mRNA
entstanden sein könnten. Man könnte erwarten, dass ein ähnlich großer
Anteil von nicht proteincodierenden
RNA-Genen (npcRNA) durch Retroposition entstanden ist.
A B B . Wie aus Alu-Elementen neue proteincodierende Exons entstehen können:
Exons sind als blaue, Spleiß-Erkennungsstellen sind als rote Kästchen dargestellt.
Weiße Linien repräsentieren DNA-Bereiche, die keine Bauinformation für Proteine
oder npcRNA enthalten; grüne Linien kennzeichnen RNA-Moleküle. Bereiche dieser
RNA-Moleküle, die durch das Spleißen herausgeschnitten werden, sind gepunktet
dargestellt. P = Promoter (Sequenz, die die Genaktivität steuert). Im Laufe der Evolution wird eine Alu-RNA in DNA (gelbes Kästchen) umgeschrieben und integriert
sich dabei in das menschliche Genom. Dieser Vorgang wird Retroposition genannt.
Das Alu-Element enthält mindestens zwei Sequenzen, die Spleißstellen ähneln, so
dass die Spleißwerkzeuge der Zelle an diesen Stellen gelegentlich schneiden. Das
translatierte Protein enthält somit eine zusätzliche Domäne, die von einem Stück
eines Alu-Elements codiert wird. Auf diese Weise entsteht zusätzlich zum ursprünglichen Genprodukt eine neue mRNA-Form, die ein neues zusätzliches Exon enthält,
das von der Alu-Sequenz stammt.
78
|
Biol. Unserer Zeit
|
2/2006 (36)
www.biuz.de
Retroposition – ein wichtiges
Element der Evolution
Die Retroposition ist äußerst wichtig
für die Evolution, denn dieser Vorgang ermöglicht genetische Diversität. Vergleicht man das Erbgut der
Maus und des Menschen miteinander,
so findet man fast 25.000 proteincodierende Sequenzen, die in beiden
Genomen vorkommen, aber nur 300
Gene, die entweder nur im Erbgut
der Maus oder nur im Genom des
Menschen existieren. Das ist erstaunlich, wenn man bedenkt, dass sich
die evolutionären Wege von Mensch
und Maus vor über 80 Millionen Jahren trennten.
Was also ist der genetische Grund
für die Unterschiede zwischen
Mensch, Maus und anderen Säugetieren? Die Antwort liegt zum einen
darin, dass sich die Aktivitäten von
identischen oder ähnlichen Genen in
Mensch und Maus in Bezug auf den
Ort und den Zeitpunkt ihrer Expression unterscheiden. Ein anderer
Grund ist, dass die Evolution zufällig
und blind, aber kontinuierlich an der
RNA- und Protein-Bauanleitung „herumbastelt“ und mal ein Stück einfügt,
ein anderes Mal ein Stück herausnimmt, so dass Proteine mit teilweise
neuen Domänen entstehen können.
Diese beiden Vorgänge der Evolution werden nicht nur durch Mutationen (d.h. Nukleotidaustausch oder
Einfügen/Verlust eines Teils der
Gensequenz) verursacht, sondern sie
werden auch maßgeblich durch die
Retroposition beeinflusst, die neue
Module in Gene oder in die Nähe von
Genen bringt. Dabei stellen RNASequenzen, die eigenständig keine
Bauinformation für Proteine enthalten und die deshalb häufig unzutreffend als “Junk-DNA” bezeichnet werden, ein Repertoire dar, aus dem
neue Gen-Module rekrutiert werden
können:
Die Protein-Bauanleitung der
Gene liegt meist gestückelt vor. Zwischen Bereichen mit wichtiger Information für die Herstellung eines Proteins (Exons) liegen immer wieder
Abschnitte ohne Bauinformation,
deren Funktion noch weitgehend un-
© 2006 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim
|
bekannt ist (Introns). Zur Proteinherstellung wird zunächst eine durchgängige Kopie des gesamten Gens erstellt. Aus dieser Kopie werden dann
alle Bereiche ohne Information herausgeschnitten. Dieser Mechanismus
wird in der Fachsprache als „Spleißen“ bezeichnet. An den Nahtstellen
von Exons und Introns gibt es SpleißErkennungsstellen, die markieren,
welche Teile der mRNA herausgeschnitten werden sollen.
Unsere Arbeitsgruppe vom Institut für Experimentelle Pathologie der
Universität Münster hat 153 Exons im
Genom untersucht, an deren Entstehung wahrscheinlich Alu-Elemente
beteiligt waren. Alu-Elemente sind
etwa 300 Basen lang, gehören zur Familie der SINEs und sind spezifisch
für Primaten. Alu-Elemente stammen
von einer npcRNA ab, die wiederum
der 7SL-RNA ähnlich ist. Letztere ist
in der Zelle für den Transport von
Proteinen zuständig.
Alu-Elemente enthalten mehr als
ein Dutzend Sequenzen, die Spleißstellen so stark ähneln, dass sie unter
Umständen das Spleißen einleiten
können. So wurden zusätzliche codierende Domänen in die Proteinbauanleitung eingefügt. Unsere Arbeitsgruppe hat vier ausgewählte Beispiele zwischen Primatenarten
(Halbaffen, Neuweltaffen, Altweltaffen und Menschenaffen) verglichen.
Wir konnten auf diese Weise die evolutionären Schritte rekonstruieren,
die bei den unterschiedlichen Spezies abgelaufen sind. Die Untersuchungen zeigen, dass die Entstehung
neuer Exons mithilfe der Alu-Sequenzen ein wichtiger Mechanismus der
Evolution ist. Der evolutive Vorteil
liegt darin, dass das Spleißen
zunächst ineffektiv ist. Deshalb wird
zunächst hauptsächlich noch das ursprüngliche Genprodukt hergestellt,
während die neue Form, die beispielsweise ein neues zusätzliches
Exon enthält, nur einen kleinen Anteil des Genproduktes ausmacht
(siehe Abbildung). So kann das neue
Genprodukt „getestet“ werden, während das alte weiterhin eingesetzt
wird. Bietet die neue Spleißvariante
dem Organismus keinen Vorteil, geht
sie nach Generationen wahrscheinlich verloren. Wenn aber die veränderte Genproduktvariante nützlich
ist, dann setzt sie sich im weiteren
Verlauf der Evolution durch, indem
die ineffektive Spleiß-Erkennungsstelle in dem Alu-Element über Mutationen (Nukleotid-Austausche) in
eine effektive Spleiß-Erkennungsstelle verwandelt wird. Oft sind beide
Protein-Varianten für die Zelle nützlich. In diesem Fall werden beide Protein-Bauanleitungen hergestellt, eine
Situation, die in der Fachsprache
„Alternatives Spleißen“ genannt wird.
Aber nicht nur neue Protein-Module können aus dieser Verfügungsmasse der Genome hergestellt werden, sondern es werden auch immer
wieder ganze Gene erzeugt und getestet, die in nicht-proteincodierende
RNAs übersetzt werden.
Welche Funktionen haben die
npcRNAs in der Zelle?
In einem Explorativen Projekt, das
Teil des Nationalen Genomforschungsnetzes ist, suchen wir mit experimentellen und bioinformatischen
Verfahren nach potenziellen Genen,
die für npcRNAs codieren. Das Ergebnis dieser Computeranalyse lässt darauf schließen, dass im SäugetierGenom eine enorm große Anzahl
von RNA-Transkripten vorhanden ist,
nämlich schätzungsweise über
T R E F F P U N K T FO R SC H U N G
50.000. Mit Hilfe experimenteller
Gen-Chip-Daten [4] lässt sich überprüfen, ob die Gene auch tatsächlich
aktiv sind. Dabei zeigt sich, dass mindestens zehn Prozent der von uns
vorhergesagten npcRNA-Gene mit
verlässlichen Methoden detektierbar
sind. Das bedeutet, dass es im Säugetier-Genom mehr Gene gibt, die
für npcRNAs codieren, als man sich
jemals vorstellen konnte.
In weiteren Experimenten untersuchen wir, in welchen Geweben bestimmte npcRNA-Gene aktiv sind,
in welchen Zellkompartimenten die
npcRNA-Gene lokalisiert sind und ob
die npcRNAs mit Proteinen wechselwirken. Mit diesen Daten können wir
dann die Frage beantworten, wie
viele der npcRNAs eine biologische
Funktion innerhalb der Zelle haben.
Einige Wissenschaftler glauben, dass
viele der npcRNAs überhaupt keine
Funktion haben. Aber ganz gleich,
wieviele der RNAs funktionstüchtig
oder Nebenprodukte der Transkription sind, schon jetzt ist klar, dass
die Anzahl der funktionell aktiven
npcRNAs verblüffend groß ist. Seit
den 1990er Jahren wird immer deutlicher, dass das Funktionsspektrum der
RNAs deutlich über ihre Rolle bei der
Transkription und Translation hinausgeht. Insbesondere die sehr kurzen
npcRNA-Moleküle, die so genannten
siRNAs (21-25 Nukleotide) und
microRNAs (21-23 Nukleotide), sind
PROJ E K T E D E S N G F N : E X PLO R AT I V E PROJ E K T E
Einen weiteren
Artikel zum Thema
„Junk-DNA“ finden
Sie in BIUZ 3/2006,
die Anfang Juni
2006 erscheint.
|
Ein wichtiges Strukturelement des Nationalen Genomforschungsnetzes (NGFN) sind die Explorativen Projekte.
In einem dieser Projekte durchforsten NGFN-Wissenschaftler systematisch das Genom hochbetagter Menschen, um nach den „Langlebigkeits-Genen“ zu suchen. Die Ergebnisse dieses Projektes könnten zu neuen Ansätzen für die Behandlung altersbedingter Krankheiten führen. In einem anderen Explorativen Projekt werden
Stammzellen aus dem menschlichen Knochenmark untersucht. Die NGFN-Forscher wollen herausfinden, welche Faktoren im genetischen Programm diejenigen Prozesse steuern, die bewirken, dass sich die Stammzellen
nach einigen Zellteilungen zu spezialisierten Zellen, beispielsweise Knochen-, Nerven- oder Blutzellen entwickeln.
Der nebenstehende Artikel gibt einen ausführlichen Einblick in ein weiteres Exploratives Projekt: Wissenschaftler um den Münsteraner Professor Jürgen Brosius wollen das Geheimnis lüften, welche Aufgabe die vielen tausend RNA-Transkripte haben, die nicht für Proteine codieren.
Informationen zu den Forschungsarbeiten über npcRNAs am Institut für Experimentelle Pathologie, Universität
Münster: http://zmbe2.uni-muenster.de/expath/frames.htm
Informationen zum Nationalen Genomforschungsnetz unter www.ngfn.de
© 2006 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim
www.biuz.de
2/2006 (36)
|
Biol. Unserer Zeit
|
79
T R E F F P U N K T FO R SC H U N G
|
für viele molekularbiologische Vorgänge in der Zelle enorm wichtig, vor
allem bei Entwicklungsprozessen. Sie
sind an der Regulation der Fettspeicherung, der Insulin-Sekretion, des
programmierten Zelltodes, an der
Herzentwicklung und vielen anderen
Prozessen beteiligt.
Auch bei der Entstehung genetischer Krankheiten spielen die
npcRNAs eine Rolle, wie folgendes
Beispiel zeigt: Das Fehlen eines bestimmten Bereiches von Chromosoms 15 verursacht das Prader-WilliSyndrom, eine Erkrankung des Nervensystems. Wenn man bei Mäusen
durch gentechnische Methoden jedes
einzelne in dieser Region liegende
80
|
Biol. Unserer Zeit
|
2/2006 (36)
proteincodierende Gen ausschaltet,
so kommt es trotzdem nicht zu der
Krankheit. Also kann ausgeschlossen
werden, dass proteincodierende
Gene am Prader-Willi-Syndrom beteiligt sind. In dem betreffenden Bereich befindet sich allerdings auch
eine Gruppe von Genen, die für gehirnspezifische npcRNAs codieren.
Die laufenden Forschungsarbeiten
konzentrieren sich deshalb auf diese
npcRNAs.
In den nächsten Jahren und Jahrzehnten warten noch zahlreiche
Überraschungen auf uns, die die
Vielseitigkeit der npcRNAs vorführen werden. Die RNA-Welt ist auch
noch drei bis viereinhalb Milliarden
www.biuz.de
Jahre nach ihrer Entstehung sehr
lebendig.
[1] D. P. Bartel, P. J. Unrau, Trends in Cell Biology 1999, 9, M9–M13.
[2] J. Brosius, Trends in Biochemical Sciences
2001, 26, 653–656.
[3] J. Brosius, Journal of Structural and Functional Genomics 2003, 3, 1–17.
[4] J. Cheng, P. Kapranov, J. Drenkow et al.,
Science 2005, 308(5725), 1149-54..
[5] C. Guerrier-Takada, K. Gardiner, T. Marsh,
N. Pace, S. Altman, Cell 1983, 35, 849–857.
[6] K. Kruger, P. J. Grabowski, A. J. Zaug,
J. Sands, D. E. Gottschling, T. R. Cech, Cell
1982, 31, 147–157.
[7] J. W. Szostak, D. P. Bartel, P. L. Luisi, Nature
2001, 409(Suppl.), 387–390.
[8] C. R. Woese, RNA 2001, 7, 1055–1067.
Jürgen Brosius, Münster
© 2006 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim
Herunterladen