30 CME-Fortbildung Wie erkenne ich als Praktiker craniomandibuläre Dysfunktionen? Lernziele Der Leser sollte nach Durcharbeiten des Beitrags • sein Wissen über die Anatomie des Kiefergelenks sowie über die Funktionen der beteiligten Strukturen vertieft haben, • craniomandibuläre Dysfunktionen klinisch schnell und sicher diagnostizieren können, • seinen Kenntnisstand über weiterführende diagnostische Möglichkeiten erweitert haben und • häufig vorkommende craniomandibuläre Dysfunktionen und deren aktuelle wissenschaftliche Bewertung kennengelernt haben. Craniomandibuläre Dysfunktionen (CMD) sind Fehlfunktionen im Bereich des Kauapparats, die auf ein gestörtes Zusammenspiel von Muskulatur, Zähnen und Kiefergelenken zurückzuführen sind. Dies macht sich in einer Vielzahl von Symptomen und auch in deren Kombination bemerkbar. Typische Symptome sind z. B. nicht altersgerechte Abrasionen der Zähne (Abb. 1) und Schmerzen in der Kaumuskulatur und im Kopfbereich [17, 31]. Die Ätiologie der CMD ist bisher immer noch nicht vollständig geklärt und wird derzeit kontrovers diskutiert [23]. Zahlreiche Faktoren fördern die Entstehung einer CMD, wobei eine multifaktorielle Genese wahrscheinlich ist [25, 27]. Zur Prävalenz von CMD finden sich unterschiedliche Angaben in der Literatur [10, 25, 27]. Gene- Abb. 1 Schlifffacetten eines 31-jährigen Patienten mit CMD-Problematik. rell lässt sich festhalten, dass Dysfunktionen bei Erwachsenen verbreiteter sind, aber auch bei Kindern auftreten können [10]. Faktoren, die mit der Entstehung von Dysfunktionen korrelieren, sind z. B. eine gestörte Okklusion, Bruxismus und Traumata im Kiefergelenkbereich [9, 12, 19, 27]. In einigen Studien konnte außerdem ein Zusammenhang zwischen dem weiblichen Geschlecht und der Entwicklung von dysfunktionellen Beschwerden hergestellt werden [12, 25, 32]. Stress scheint dabei ebenfalls ein begünstigender Faktor zu sein [26, 27, 29]. Anatomie Um CMD diagnostizieren und therapieren zu können, ist es für den Praktiker unerlässlich, ein solides Wissen über die beteiligten anatomischen Strukturen zu haben. Im Folgenden soll auf die einzelnen Bestandteile des Kiefergelenks eingegangen werden. Das Kiefergelenk (Articulatio temporomandibularis) ist eine Diarthrose, ein „echtes Gelenk“, das sich aus knöchernen Anteilen des Os temporale und der Mandibula zusammensetzt [30]. Es wird durch den Discus articularis in eine obere (discotemporale) und eine untere (discomandibuläre) Gelenkkammer geteilt [23, 30]. Die Bewegung des Kiefergelenks ist eine Dreh-/Gleitbewegung, die sich dementsprechend in 2 Phasen un- Heruntergeladen von: Thieme Verlagsgruppe. Urheberrechtlich geschützt. Küpper C., Savvaidis S., Küpper H. Jena Abb. 2 Vermessung der Breite zweier Finger als Vergleichswert für die Prüfung der aktiven Mundöffnung. ZWR ̶ Das Deutsche Zahnärzteblatt 2012; 121 (1+2) ZWR_1+2_12.indb 30 02.02.2012 16:06:22 terteilen lässt. Die 1. Phase der Bewegung ist gekennzeichnet durch eine Rotation, die 2. Phase durch eine Translation [11, 13, 22, 30]. Die sich im Gelenkspalt befindende Synovialflüssigkeit ermöglicht dabei ein reibungsfreies Gleiten [23]. Die wichtigsten zugehörigen knöchernen Gelenk­ anteile des Os temporale sind die Fossa articularis sowie das Tuberculum articulare. Sie stellen die Endpunkte der Kieferbewegung dar. Der Übergang von der Fossa zum Tuberculum wird durch die Protuberantia articularis gebildet [5]. Aufgrund der mechanischen Belastung, der die beiden letzteren Strukturen widerstehen müssen, sind ihre Gelenkflächen mit Faserknorpel überzogen [5, 13]. Der Processus condylaris kann in Form und Größe sehr variabel sein. Auch hier findet sich infolge hoher Belastungen eine bedeckende Schicht aus Faserknorpel [5, 11, 13]. Der Discus articularis sitzt dem Processus condylaris auf und zeichnet sich durch seine bikonkave Form aus. Er besteht aus kollagenem Bindegewebe und Faserknorpel [5]. Funktionell lässt er sich in 3 Bereiche unterteilen: Pars anterior, Pars intermedia und Pars posterior [30]. Die Position des Discus articularis auf dem Processus condylaris wird zum einen durch seine Form gesichert und zum anderen über das Stratum inferius, das aus der bilaminären Zone in die Pars posterior einstrahlt [5, 13]. In die Pars anterior inserieren zudem auch einige Fasern des M. pterygoideus lateralis [1, 13, 30]. Die bilaminäre Zone ist der dorsale Anteil des Kiefergelenks und dient der Anheftung des Discus articularis an die Schädelbasis und an den Kondylus [11, 13]. Sie besteht im Wesentlichen aus lockerem Bindegewebe, das mit zahlreichen Nervenendigungen und Blutgefäßen versetzt ist (Genu vasculosum). Dieser Teil ist u. a. für die Nutrition des Discus articularis zuständig [5, 11, ORBATduo_drittelQ_zwr_januar2012.pdf 1 25.01.2012 11:35:56 13]. Neben dem Stratum inferius, das überwie- gend aus kollagenen Faserbündeln besteht, findet sich in der bilaminären Zone zudem ein Stratum superius, das durch einen hohen Anteil an elastischen Fasern gekennzeichnet ist [5, 30]. Die Gelenkkapsel umgibt die knöchernen Anteile des Kiefergelenks. Sie besteht aus straffem Bindegewebe und stabilisiert somit das Gelenk. In die Kapsel strahlen verschiedene Ligamente ein, die sie zusätzlich verstärken [13]. Es gibt 4 Ligamente, die zum Bandapparat des Kiefergelenks gehören [30]. Das Ligamentum laterale inseriert in die Gelenkkapsel und verhindert somit eine zu starke Auslenkung des Kiefergelenks während der Bewegung. Das Ligamentum mediale ist das innere Korrelat dazu. Beide sichern zudem noch den Sitz des Diskus auf dem Processus condylaris [1]. Das Ligamentum stylomandibulare und das Ligamentum sphenomandibulare stellen ihrerseits eine Verbindung vom Os temporale zur Mandibula dar und sind in ihrer Wirkung synergistisch. Sie limitieren und führen die Bewegungen des Gelenks [5]. Zu den Kaumuskeln gehören der M. temporalis, M. masseter, M. pterygoideus lateralis und M. pterygoideus medialis, wobei die letzten beiden Muskeln direkt am Kiefergelenk inserieren [13]. Der M. temporalis gehört zu den Mundschließern und bewirkt zusätzlich auch eine Retrusion des Kiefers. Der M. masseter ist ebenfalls ein Mundschließer, ermöglicht aber auch eine Laterotrusion und bis zu einem gewissen Grad auch eine Protrusion. Der M. pterygoideus medialis bildet eine Schlinge mit dem M. masseter und wirkt synergistisch zu ihm. Der M. pterygoideus lateralis ist ein Mundöffner und ermöglicht außerdem noch eine laterotrusive und eine protrusive Bewegung [1]. Der Kau- und Schluckakt wird dabei noch von der suprahyoidalen Muskulatur unterstützt. Sie bewirkt eine Mundöffnung und auch eine Retru- 31 Heruntergeladen von: Thieme Verlagsgruppe. Urheberrechtlich geschützt. CME-Fortbildung ZWR ̶ Das Deutsche Zahnärzteblatt 2012; 121 (1+2) ZWR_1+2_12.indb 31 02.02.2012 16:06:22 CME-Fortbildung Abb. 3 Prüfung der Mundöffnung auf Asymmetrie (Sonde als Orientierungshilfe). Abb. 4 Palpation des M. temporalis, Pars anterior. sion, besonders auch der Venter posterior des M. digastricus [1]. Screening des stomatognathen Systems Bei jedem neuen Patienten und auch vor okklusionsverändernden Maßnahmen, wie z. B. umfangreichen restaurativen Rehabilitationen, aber auch vor kieferorthopädischen Behandlungen, sollte ein Anamnesegespräch, ein kurzes Screening der Strukturen des stomatognathen Systems in Anlehnung an den CMD-Kurzbefund nach Ahlers und Jakstat [1, 2, 23] und die radiologische Beurteilung des Kiefergelenks anhand der Panoramaschichtaufnahme (OPG) erfolgen. Das OPG dient zunächst nur der Übersicht über die knöchernen Strukturen des Kiefergelenks, wobei primär deutliche Formveränderungen des Processus condylaris beurteilt werden können [1, 23]. Des Weiteren können Befunde ausgeschlossen werden, die beim Patienten ebenfalls eine Schmerzsymptomatik auslösen, deren Ursache jedoch nicht im Bereich der Kiefergelenke oder der Kaumuskulatur liegt, wie z. B. Sinusitiden, Knochentumoren oder entzündete Zähne und Wurzelreste [30]. Die Anamnese wird in der Regel nach verschiedenen Gesichtspunkten gegliedert. Zunächst sollten bestehende Allgemeinerkrankungen, die das Kiefergelenk beeinflussen können (beispielsweise Rheuma, Arthritis, Osteoporose), erfasst werden. Weiterhin ist es wichtig, auch nach vorangegangenen Traumata [2], einem bestehenden Tinnitus [4] und nach bestehenden Schmerzen im Kopfbereich zu fragen. Da Patienten mit dysfunktionellen Beschwerden oftmals von Schmerzen in die zahnärztliche Praxis getrieben werden, empfiehlt es sich, eine gezielte Schmerz­ anamnese [1, 2, 23] zu erheben. Dabei sollte allgemein erfasst werden, ob der Schmerz akut oder chronisch ist, welche Region des Kopf-/ Abb. 5 Palpation des M. masseter, Pars superficialis. Hals-Bereichs betroffen ist, und wie stark der Patient den bestehenden Schmerz empfindet. Dabei muss sich der Behandler auf die subjektive Aussage des Patienten verlassen. Um den Patienten besser einschätzen zu können und da Stress mit CMD in hohem Maße zu korrelieren scheint, sollte auch eine kurze psychosomatische Anamnese erfolgen, um vorliegende Stresssituationen und die Belastbarkeit des Patienten entsprechend erfassen zu können [2, 29]. Abschließend ist auch ein orthopädischer Kurzbefund des Patienten zu erheben [11, 23]. Da orthopädische Funktionsstörungen in enger Wechselwirkung mit dem Kauorgan stehen, gibt die Körperhaltung des Patienten oftmals schon Aufschluss über bestehende Okklusionsstörungen, die zu Dysfunktionen führen können. Das Screening sollte folgende Punkte umfassen: Zur Beurteilung der Mobilität des Unterkiefers werden die Grenzbewegungen des Unterkiefers herangezogen, d. h. die aktive und passive Mundöffnung, Laterotrusion, Protrusion und Retrusion. Schwerpunktmäßig sollte hierbei die Mund­öffnung des Patienten untersucht werden (Abb. 2). Für eine physiologische Mundöffnung finden sich in der Literatur Werte im Bereich von 38–52 mm [1, 20, 22]. Sie unterliegen starken individuellen Unterschieden [5]. Die Unterkieferbewegung wird bei der passiven Mundöffnung durch den Behandler weitergeführt. Meist nimmt die Schneidekantendistanz dann noch einmal um einen geringen Betrag zu. Mit der Erhebung dieses sogenannten Endgefühls kann der Behandler den Zustand von Bändern und Kapseln überprüfen [5, 17, 18, 20] und kontrollieren, ob Limitationen vorliegen, die die Kieferbewegung einschränken. Für die Laterotrusion werden ebenfalls verschiedene Werte angegeben [5, 11, 18, 20]. Vereinfacht kann man davon ausgehen, dass das Ver- Heruntergeladen von: Thieme Verlagsgruppe. Urheberrechtlich geschützt. 32 ZWR ̶ Das Deutsche Zahnärzteblatt 2012; 121 (1+2) ZWR_1+2_12.indb 32 02.02.2012 16:06:24 hältnis von Mundöffnung zu Laterotrusion 4:1 beträgt [20]. Ergänzend muss noch überprüft werden, ob die Mundöffnungsbewegung symmetrisch ist oder ob eine Abweichung des Kiefers zu einer Seite vorliegt (Abb. 3). Eine asymmetrische Mundöffnungsbewegung von über 2 mm kann wahrgenommen und als dysfunktionell angesehen werden [1]. Dabei lässt sich noch unterscheiden, ob die Unterkieferabweichung am Ende der Bewegung korrigiert ist (Deviation) [1, 8] oder ob die Bewegung unkorrigiert bleibt (Deflexion) [1, 8]. Asymmetrische Mundöffnungsbahnen können sowohl myogen als auch arthrogen bedingt sein [1, 18], was differenzialdiagnostisch weiter untersucht werden muss [20]. Der Zustand eines Muskels wird mittels Palpation erfasst [1, 5, 17, 18, 20]. Dieser gilt als physiologisch, wenn der Muskel nicht druckdolent und nicht verhärtet ist. Der Behandler sollte hierbei den Zustand des M. temporalis, Pars anterior (Abb. 4), des M. masseter, Pars superficialis (Abb. 5), und des M. digastricus, Venter posterior (Abb. 6), untersuchen. Diese Muskeln sind leicht zugänglich und können besser aufgefunden werden, wenn der Patient leicht zubeißt oder schluckt. Positive palpatorische Befunde dieser Muskeln stehen beispielhaft für typische Belastungsrichtungen bei vorliegender CMD-Problematik [1]. Die Palpation erfolgt immer quer zum Längsverlauf der Muskelfasern. Da bei physiologischer Funktion des Kiefergelenks keine Geräusche auftreten, ist deren Auftreten als Dysfunktion zu werten [2]. Unter dem Begriff „Kiefergelenkgeräusche“ werden Reiben (Krepitation) und Knackgeräusche zusammengefasst. Die Untersuchung erfolgt durch bimanuelle Palpation der beiden Kiefergelenke (Abb. 7), während der Patient den Mund öffnet und schließt [1, 2, 23]. Knackgeräusche können meist problemlos detektiert und einem genauen Zeitpunkt während der Öffnungs- oder Schließbewegung (initial, intermediär oder terminal) zugeordnet werden (Geräusch analog eines Knackens, das in den Fingergelenken provoziert werden kann [21]). Krepitationen sind allerdings schwerer zu erfassen. Hier muss der Behandler oft ein Stethoskop zu Hilfe nehmen [1, 14] (Geräusch ist vergleichbar mit dem „eines fahrenden Autos auf Rollsplit“ [21]). Bei der okklusalen Befundung werden die Zahnflächen auf altersuntypische Schlifffacetten (Abb. 8), keilförmige Defekte und Rezessionen untersucht, die im Zusammenhang mit der Entstehung von CMD stehen können sowie die oralen Weichgewebe auf Anzeichen für Parafunktionen, wie z. B. Cheilophagien oder eine Morsicatio labiorum/buccarum [1, 2, 3, 9, 17, 23]. Bei noch glänzenden und nicht abgerundeten Schlifffacetten der Zähne sind diese erst kürzlich entstan- Abb. 6 Palpation des M. digastricus, Venter posterior. Abb. 7 Bimanuelle Palpation der Kiefergelenke zur Detektion von Gelenkgeräuschen. Abb. 8 Traumatische Exzentrik: Gesucht wird hierbei nach nicht altersgerechten Abrasionen in dynamischer Okklusion. Abb. 9 Asynchrone Okklusionsgeräusche: Der schnelle Zusammenbiss soll ein kurzes und einzeitiges Geräusch erzeugen. den, was für eine aktuell vorliegende parafunktionelle Gebissbelastung spricht. Alle diese Befunde können für eine traumatische Exzentik sprechen. Weiterhin werden asynchrone Okklusionsgeräusche detektiert: Beim Zubeißen sollte nur ein kurzes, einzeitiges Geräusch zu hören sein [1] (Abb. 9). Das Screening soll dem Behandler helfen, die Patienten in Gruppen einzuordnen. Die eine Gruppe umfasst einerseits Patienten, die Beschwerden aufweisen und zur genauen Diagnosestellung weiter untersucht werden müssen, und grenzt diese andererseits von Patienten ab, bei denen die Ausbildung von dysfunktionellen Beschwerden im craniomandibulären System eher unwahrscheinlich ist [1, 23]. Zwei oder mehr als 2 positive Befunde aus dem Kurz-Screening deuten auf das mögliche Vorliegen einer CMD hin [1, 23], sodass sich eine umfas- 33 Heruntergeladen von: Thieme Verlagsgruppe. Urheberrechtlich geschützt. CME-Fortbildung ZWR ̶ Das Deutsche Zahnärzteblatt 2012; 121 (1+2) ZWR_1+2_12.indb 33 02.02.2012 16:06:25 CME-Fortbildung sende klinische Funktionsanalyse anschließen muss, um das Ergebnis zu validieren und zu differenzieren. Darüber hinaus erfolgt eine manuelle Funktionsanalyse nach Bumann und Landeweer, die genau den Zustand aller Strukturen und ihr Zusammenspiel im craniomandibulären System erfasst [7], und eine instrumentelle Funktionsanalyse, die mittels Modellmontage in den Artikulator und verschiedener messtechnischer Registrierungen den Zustand der artikulären und dentalen Führungskomponenten untersucht [6]. Ggf. ist auch noch eine weiterführende bildgebende Diagnostik in Form einer MRT-Aufnahme erforderlich [5, 20]. Mit Zunahme der positiven Befunde aus dem Screening wird das Vorliegen einer CMD immer wahrscheinlicher [1, 2, 23]. Dabei gilt es, ein generelles Prinzip zu beachten: Vor Beginn einer jeglichen restaurativen bzw. kieferorthopädischen Therapie muss der Patient in einen schmerzfreien Zustand überführt worden sein [5]. Die häufigsten craniomandibulären Dysfunktionen Eine ungestörte Kiefergelenkfunktion ist immer dann gegeben, wenn keine Schmerzen und Kiefergelenkgeräusche während der Unterkieferbewegung auftreten und die Bewegungsfreiheit des Gelenks nicht limitiert ist. Zudem sollte eine physiologische Kondylus-Fossa-Relation vorliegen. Dabei steht die Pars intermedia des Discus articularis zwischen der Protuberantia articularis und dem ventrokranialen Rand des Processus condylaris [5, 23]. Die häufigsten klinischen Symptome im Zusammenhang mit CMD, die dem Behandler im Praxis­ alltag begegnen, sind meist Gelenkgeräusche, Bewegungslimitationen und Schmerzen [24]. Das Leitsymptom für degenerative Erkrankungen des Kiefergelenks ist das Reibegeräusch (Krepitation) während der Bewegung [1, 14, 23] und entsteht durch den Kontakt zweier Knochenflächen [2]. Tritt die Krepitation ohne Schmerz auf, dann liegt eine Arthrose, d. h. eine nicht entzündliche, degenerative Erkrankung des Gelenks, vor [5, 18]. Weist der Patient zusätzlich zur Krepitation noch eine akute Schmerzsymptomatik auf, dann deutet dies auf eine Arthritis hin, die durch ein akutes Entzündungsgeschehen gekennzeichnet ist [5, 18]. Sowohl die Arthrose als auch die Arthritis zählen zu den primären Gelenkerkrankungen, deren Ursache endogene, infektiöse oder systemische Faktoren sind [14]. Die Behandlung dieser Erkrankungen erfolgt in spezialisierten Einrichtungen [5]. Das Leitsymptom „Kiefergelenkknacken“ ist oft mit einer anterioren Diskusverlagerung und -reposition vergesellschaftet [23]. In den meisten Fällen ist der Diskus nach anteromedial verlagert [5, 16]. Das Knacken kommt dadurch zustande, dass zu Beginn der Bewegung der Diskus dem Kondylus gar nicht oder nur teilweise aufliegt. Wird der Unterkiefer nun nach anterior bewegt, schiebt sich der Kondylus wieder unter den Diskus, was das typische Knackgeräusch erzeugt [1, 23]. Die nun erreichte physiologische DiskusKondylus-Relation kann am Ende der Schließbewegung wieder instabil werden. Springt der Diskus erneut vom Kondylus ab, entsteht ein weiteres Knackgeräusch, man spricht hier von einem reziproken Knacken [5]. Das Knackgeräusch entsteht dann also initial bei der Öffnungsbewegung und terminal bei der Schließbewegung [1]. Auffällig ist auch die manchmal auftretende Deviation bei der Mundöffnungsbewegung [18]. Ist zuvor ein Kiefergelenkknacken aufgetreten, vielleicht auch sogar nur einmalig, und ist die Mundöffnung des Patienten plötzlich stark eingeschränkt und schmerzhaft, dann liegt meist eine anteriore Diskusverlagerung ohne Reposition vor [16, 18]. Während einer Exkursivbewegung lässt sich der Diskus dann nicht mehr auf den Kondylus reponieren [1, 23]. Manchmal kann man in diesem Fall auch eine Deflexion zur erkrankten Seite feststellen [18]. Die Diskusverlagerung ohne Reposition kann aus einer Diskusverlagerung mit Reposition resultieren [5, 16]. Strukturell liegt der anterioren Diskusverlagerung eine Überdehnung des Stratum inferius der bilaminären Zone [5, 16] oder eine Formveränderung des Discus articularis zugrunde [5]. Dehnungen der elastischen Strukturen durch andauernde Zugbelastung von über 10 % können schon zu einer irreversiblen Schädigung führen [15]. Knackgeräusche können auch mit einer vergrößerten Mundöffnung einhergehen. Dabei sind zusätzlich unkoordinierte Öffnungsbewegungen zu erkennen [1, 15]. Diese Symptome sprechen für eine Kondylushypermobilität. Der DiskusKondylus-Komplex bewegt sich dabei bis zum Tuberculum articulare bzw. darüber hinaus [1, 5], bevor der Band- und Kapselapparat die Bewegung abfedern kann. Der Diskus kann gegen Ende der Öffnungsbewegung vom Kondylus ab(terminales Knacken) und zu Beginn der Schließbewegung wieder aufspringen (initiales Knacken) [1]. Differenzialdiagnostisch wichtig ist hierbei, dass die Möglichkeit der Selbstreposition des Diskus besteht [5] und das Geräusch bei der Bewegung „sich wie ein feuchtes Geschirrtuch anhört, das ausgeschlagen wird“ [21]. Auch hier liegt ursächlich eine Überdehnung des Band- und Kapselsystems vor [15]. Da die bilaminäre Zone und die Gelenkkapsel strukturell eng miteinander verbunden sind, bezieht sich der Begriff „Kapsulitis“ auf beide Strukturen und deutet auf ein entzündliches Geschehen hin. Damit einhergehend klagen die Patienten über starke Schmerzen, die sowohl in Heruntergeladen von: Thieme Verlagsgruppe. Urheberrechtlich geschützt. 34 ZWR ̶ Das Deutsche Zahnärzteblatt 2012; 121 (1+2) ZWR_1+2_12.indb 34 02.02.2012 16:06:26 CME-Fortbildung Zusammenfassung Craniomandibulären Dysfunktionen liegen ein gestörtes Zusammenspiel der Kaumuskulatur, Zähne und des Kiefergelenks zugrunde. Sie können durch eine Vielzahl von klinischen Symptomen imponieren. Die Ätiologie von CMD scheint multifaktoriell bedingt zu sein und wird aktuell nach wie vor kontrovers diskutiert. Bei Neuaufnahmen von Patienten und vor umfangreichen okklusionsverändernden Maßnahmen muss der Zustand des craniomandibulären Systems erfasst werden, um zunächst einen Überblick über die beteiligten Strukturen zu erlangen. Das CMD-Kurz-Screening in Anlehnung an Ahlers und Jakstat hat sich dabei bewährt [1, 23]. Die Ergebnisse des Screenings des stomatognathen Systems erlauben die Einteilung der Patienten in 2 Gruppen. Die eine Gruppe beinhaltet die gesunden Patienten ohne CMD (kein bzw. nur ein positives Ergebnis aus dem Screening). Zur anderen Gruppe gehören die Patienten, bei denen die Ausbildung einer dysfunktionellen Symptomatik wahrscheinlich ist bzw. die schon mit konkreten Beschwerden die Praxis aufsuchen und als krank zu bewerten sind (2 oder mehr positive Befunde aus dem Screening). Bei diesen Patienten muss eine vollständige klini- sche Funktionsanalyse inklusive manueller und instrumenteller Funktionsanalyse erfolgen, um das Ergebnis des Kurzbefunds zu validieren und zu differenzieren. Dieser Artikel soll zunächst helfen, orale Funktionsstörungen sicher zu erkennen und einen Überblick über häufig auftretende Beschwerdebilder zu bekommen. Da die Behandlung von CMD mit einem speziellen Befund korreliert, der sich aus der klinischen Funktionsanalyse ergibt, sei an dieser Stelle auf die entsprechende Literatur zur weiterführenden Therapie verwiesen. Interessenkonflikt Kein Interessenkonflikt angegeben. Literatur 1 Ahlers MO, Jakstat HA. Klinische Funktionsanalyse. Interdisziplinäres Vorgehen mit optimierten Befundbögen. 2. Auflage. Hamburg: dentaConcept Verlag; 2001 2 Ahlers MO, Jakstat HA. Klinische und instrumentelle Funktionsdiagnostik vor und während kieferorthopädischer Behandlungen. In: Sander FG, Schwenzer N, Ehrenfeld M (Hrsg.). Zahn- Mund- Kieferheilkunde, Kieferorthopädie. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2011 3 Bernhardt O, Schwahn C, Kocher T et al. Prevalence of wedge-shaped lesions. J Craniomand Func 2010; 2: 289–310 4 Bösel C, Mazurek B, Haupt H et al. Chronic tinnitus and craniomandibular disorders. Effectiveness of functional therapy on perceived tinnitus distress. HNO 2008; 56: 707–713 5 Bumann A, Lotzmann U. Funktionsdiagnostik und Therapieprinzipien. 1. Auflage. Stuttgart: Thieme; 1999 6 Deutsche Gesellschaft für Funktionsdiagnostik und -therapie. Stellungnahme „Instrumentelle Funktionsanalyse. Prinzipien und Anwendung“. 2002 7 Deutsche Gesellschaft für Funktionsdiagnostik und -therapie. Stellungnahme „Klinische Funktionsdiagnostik“. 2003 8 Deutsche Gesellschaft für Funktionsdiagnostik und -therapie. Stellungnahme „Terminologie und Nomenklatur“. 2005 9 Deutsche Gesellschaft für Zahn-, Mund-, Kieferheilkunde. Stellungnahme „Zähneknirschen und Zähnepressen – wie wirken sich solche Gewohnheiten auf unsere Gesundheit aus?“. 1999 10 Emodi-Perlman A, Eli I, Friedman-Rubin P et al. Bruxism, oral parafunctions, anamnestic and clinical findings of temporomandibular disorders in children. J Oral Rehabil 2011 [Epub ahead of print] 11 Ernst A, Freesmeyer WB. Funktionsstörungen im Kopf-Hals-Bereich. 1. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2008 12 Foreman PA. Current concepts of diagnosis and treatment in temporomandibular joint and myofascial pain dysfunction. Anesth Prog 1989; 36: 201– 203 Heruntergeladen von: Thieme Verlagsgruppe. Urheberrechtlich geschützt. Ruhe als auch unter Belastung auftreten, gelegentlich kann auch die Unterkieferbewegung eingeschränkt sein [18, 23]. Oft ist auch die Palpation des Kiefergelenks allein schon schmerzhaft [1, 18]. Klagt der Patient über einen dumpfen, nicht genau zu lokalisierenden Schmerz im Kiefergelenkbereich, der sich bei der Palpation der Kaumuskulatur oder unter Belastung verstärkt, dann liegt ein myofazialer Schmerz vor [1, 28]. Diesem liegt meist ein gesteigerter Muskeltonus zugrunde [1]. Manchmal lassen sich auch bei der Palpation Verspannungen und Verhärtungen erfassen [2]. Schmerzbedingte Einschränkungen oder auch Positionsveränderungen des Unterkiefers sind als Adaptationen an den Schmerzzustand zu werten [1, 28]. Bei limitierter Bewegungsmöglichkeit des Unterkiefers ist immer die Bewegungsart eingeschränkt, bei welcher der betroffene Muskel antagonistisch wirkt [1]. Myofaziale Schmerzen können oft bei der Palpation durch Aktivierung sogenannter Triggerpunkte in andere Regionen des Kopfes ausstrahlen, man spricht bei diesem Befund von einem übertragenen Schmerz [5, 23]. In seltenen Fällen kann ein myofazialer Schmerz durch andauernde psychische Belastung auch chronifizieren [28]. Myofaziale Schmerzen lassen sich in der Regel gut physiotherapeutisch in Kombination mit einer Relaxationsschiene behandeln [1, 5, 28]. 35 Werden Sie Gutachter der IMB Consult Zahnärztliche Gutachter gesucht! Arbeiten Sie mit beim Marktführer in der Beratung der PKV. Wir suchen Untersuchungsgutachter im Bereich Zahn­me­ ­ ­ein­ ZWR ̶ Das Deutsche Zahnärzteblatt 2012; 121 (1+2) ZWR_1+2_12.indb 35 02.02.2012 16:06:26 CME-Fortbildung 13 Freesmeyer WB. Was man vom Kiefergelenk des Menschen wissen sollte. Manuelle Medizin 2000; 38: 316–321 14 Freesmeyer WB. Was man vom Kiefergelenk des Menschen wissen sollte, Teil II: Erkrankungen der Kiefergelenke (Arthropathien). Man Med Osteopath Med 2001; 39: 79–85 15 Freesmeyer WB. Was man vom Kiefergelenk des Menschen wissen sollte, Teil III: Erkrankungen der Kiefergelenke (sekundäre Arthropathien). Man Med Osteopath Med 2001; 39: 126–132 16 Freesmeyer WB. Was man vom Kiefergelenk des Menschen wissen sollte, Teil IV: Erkrankungen des Kiefergelenks (intrakapsuläre Verlagerungen). Man Med Osteopath Med 2001; 39: 188–194 17 Gutowski A. Kompendium der funktionsorientierten und ästhetischen Zahnheilkunde. 8. Auflage. Gutowski Seminare; 2003 18 Hahnel S, Behr M, Handel G. Klinische Basisdiagnostik und -therapie von craniomandibulären Dysfunktionen. ZWR – Das Deutsche Zahnärzteblatt 2010; 119: 7–8 19 Kim HI, Lee JY, Kim YK et al. Clinical and psychological characteristics of TMD patients with trauma history. Oral Dis 2010; 16: 188–192 20 Kopp S, Sebald WG, Plato G. Erkennen und Bewerten von Dysfunktionen und Schmerzphänomenen im kraniomandibulären System. Manuelle Medizin 2000; 38: 329–334 21 Küpper H. Persönliche Mitteilung. 2011 22 Lehmann KM, Hellwig E, Wenz HJ. Zahnärztliche Propädeutik. 12. Auflage. Köln: Deutscher Zahnärzteverlag; 2012 23 Leder S. 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Die CME-Beiträge in der ZWR wurden durch die Zahnärztekammer Baden-Württemberg anerkannt. Die ZWR ist zur Vergabe der Fortbildungspunkte für diese Fortbildungseinheit berechtigt. Die Fortbildungspunkte der Zahnärztekammer Baden-Württemberg werden von anderen zertifizierenden Zahnärztekammern anerkannt. Heruntergeladen von: Thieme Verlagsgruppe. Urheberrechtlich geschützt. 36 Teilnahmebedingungen Für eine Fortbildungseinheit erhalten Sie 1 Fortbildungspunkt. Hierfür müssen 70 % der Fragen richtig beantwortet sein. Die Teilnahme ist im Internet unter http://cme.thieme.de möglich. Im Internet muss man sich registrieren, wobei die Teilnahme für Abonnenten ohne Zusatzkosten möglich ist. Jede Zahnärztin und jeder Zahnarzt soll das Fortbildungszertifikat erlangen können. Deshalb ist die Teilnahme am CME-Programm der ZWR nicht an ein Abonnement geknüpft! Teilnehmer, die nicht Abonnenten ZWR sind, können für die Internet-Teilnahme dort direkt ein Guthaben einrichten, von dem pro Teilnahme ein Unkostenbeitrag abgebucht wird. Datenschutz Ihre Daten werden ausschließlich für die Bearbeitung der Fortbildungseinheit verwendet. Es erfolgt keine Speicherung der Ergebnisse über die für die Bearbeitung der Fortbildungseinheit notwendige Zeit hinaus. Die Daten werden nach Versand der Testate anonymisiert. Namens- und Adressangaben dienen nur dem Versand der Testate. Die Angaben zur Person dienen nur statistischen Zwecken und werden von den Adressangaben getrennt und anonymisiert verarbeitet. Teilnahme online unter http://cme.thieme.de ZWR ̶ Das Deutsche Zahnärzteblatt 2012; 121 (1+2) ZWR_1+2_12.indb 36 02.02.2012 16:06:26