Wie erkenne ich als Praktiker craniomandibuläre

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Wie erkenne ich als Praktiker
craniomandibuläre Dysfunktionen?
Lernziele
Der Leser sollte nach Durcharbeiten des Beitrags
• sein Wissen über die Anatomie des Kiefergelenks sowie über die Funktionen der beteiligten Strukturen vertieft haben,
• craniomandibuläre Dysfunktionen klinisch schnell und sicher diagnostizieren können,
• seinen Kenntnisstand über weiterführende diagnostische Möglichkeiten
erweitert haben und
• häufig vorkommende craniomandibuläre Dysfunktionen und deren aktuelle wissenschaftliche Bewertung kennengelernt haben.
Craniomandibuläre Dysfunktionen (CMD) sind
Fehlfunktionen im Bereich des Kauapparats, die
auf ein gestörtes Zusammenspiel von Muskulatur, Zähnen und Kiefergelenken zurückzuführen
sind. Dies macht sich in einer Vielzahl von Symptomen und auch in deren Kombination bemerkbar. Typische Symptome sind z. B. nicht altersgerechte Abrasionen der Zähne (Abb. 1) und
Schmerzen in der Kaumuskulatur und im Kopfbereich [17, 31]. Die Ätiologie der CMD ist bisher
immer noch nicht vollständig geklärt und wird
derzeit kontrovers diskutiert [23]. Zahlreiche
Faktoren fördern die Entstehung einer CMD, wobei eine multifaktorielle Genese wahrscheinlich
ist [25, 27].
Zur Prävalenz von CMD finden sich unterschiedliche Angaben in der Literatur [10, 25, 27]. Gene-
Abb. 1 Schlifffacetten eines 31-jährigen Patienten mit
CMD-Problematik.
rell lässt sich festhalten, dass Dysfunktionen bei
Erwachsenen verbreiteter sind, aber auch bei
Kindern auftreten können [10].
Faktoren, die mit der Entstehung von Dysfunktionen korrelieren, sind z. B. eine gestörte Okklusion, Bruxismus und Traumata im Kiefergelenkbereich [9, 12, 19, 27]. In einigen Studien konnte
außerdem ein Zusammenhang zwischen dem
weiblichen Geschlecht und der Entwicklung von
dysfunktionellen Beschwerden hergestellt werden [12, 25, 32]. Stress scheint dabei ebenfalls
ein begünstigender Faktor zu sein [26, 27, 29].
Anatomie
Um CMD diagnostizieren und therapieren zu
können, ist es für den Praktiker unerlässlich, ein
solides Wissen über die beteiligten anatomischen Strukturen zu haben. Im Folgenden soll
auf die einzelnen Bestandteile des Kiefergelenks
eingegangen werden.
Das Kiefergelenk (Articulatio temporomandibularis) ist eine Diarthrose, ein „echtes Gelenk“, das
sich aus knöchernen Anteilen des Os temporale
und der Mandibula zusammensetzt [30]. Es wird
durch den Discus articularis in eine obere (discotemporale) und eine untere (discomandibuläre) Gelenkkammer geteilt [23, 30]. Die Bewegung des Kiefergelenks ist eine Dreh-/Gleitbewegung, die sich dementsprechend in 2 Phasen un-
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Küpper C., Savvaidis S., Küpper H.
Jena
Abb. 2 Vermessung der Breite zweier Finger als Vergleichswert für die Prüfung der aktiven Mundöffnung.
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terteilen lässt. Die 1. Phase der Bewegung ist gekennzeichnet durch eine Rotation, die 2. Phase
durch eine Translation [11, 13, 22, 30]. Die sich
im Gelenkspalt befindende Synovialflüssigkeit
ermöglicht dabei ein reibungsfreies Gleiten [23].
Die wichtigsten zugehörigen knöchernen Gelenk­
anteile des Os temporale sind die Fossa articularis sowie das Tuberculum articulare. Sie stellen
die Endpunkte der Kieferbewegung dar. Der
Übergang von der Fossa zum Tuberculum wird
durch die Protuberantia articularis gebildet [5].
Aufgrund der mechanischen Belastung, der die
beiden letzteren Strukturen widerstehen müssen, sind ihre Gelenkflächen mit Faserknorpel
überzogen [5, 13]. Der Processus condylaris kann
in Form und Größe sehr variabel sein. Auch hier
findet sich infolge hoher Belastungen eine bedeckende Schicht aus Faserknorpel [5, 11, 13].
Der Discus articularis sitzt dem Processus condylaris auf und zeichnet sich durch seine bikonkave Form aus. Er besteht aus kollagenem Bindegewebe und Faserknorpel [5]. Funktionell lässt er
sich in 3 Bereiche unterteilen: Pars anterior, Pars
intermedia und Pars posterior [30]. Die Position
des Discus articularis auf dem Processus condylaris wird zum einen durch seine Form gesichert und zum anderen über das Stratum inferius, das aus der bilaminären Zone in die Pars
posterior einstrahlt [5, 13]. In die Pars anterior
inserieren zudem auch einige Fasern des M. pterygoideus lateralis [1, 13, 30].
Die bilaminäre Zone ist der dorsale Anteil des
Kiefergelenks und dient der Anheftung des Discus articularis an die Schädelbasis und an den
Kondylus [11, 13]. Sie besteht im Wesentlichen
aus lockerem Bindegewebe, das mit zahlreichen
Nervenendigungen und Blutgefäßen versetzt ist
(Genu vasculosum). Dieser Teil ist u. a. für die
Nutrition des Discus articularis zuständig [5, 11,
ORBATduo_drittelQ_zwr_januar2012.pdf
1 25.01.2012
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13]. Neben dem Stratum
inferius,
das überwie-
gend aus kollagenen Faserbündeln besteht, findet sich in der bilaminären Zone zudem ein Stratum superius, das durch einen hohen Anteil an
elastischen Fasern gekennzeichnet ist [5, 30].
Die Gelenkkapsel umgibt die knöchernen Anteile
des Kiefergelenks. Sie besteht aus straffem Bindegewebe und stabilisiert somit das Gelenk. In
die Kapsel strahlen verschiedene Ligamente ein,
die sie zusätzlich verstärken [13].
Es gibt 4 Ligamente, die zum Bandapparat des
Kiefergelenks gehören [30]. Das Ligamentum laterale inseriert in die Gelenkkapsel und verhindert somit eine zu starke Auslenkung des Kiefergelenks während der Bewegung. Das Ligamentum mediale ist das innere Korrelat dazu. Beide
sichern zudem noch den Sitz des Diskus auf dem
Processus condylaris [1]. Das Ligamentum stylomandibulare und das Ligamentum sphenomandibulare stellen ihrerseits eine Verbindung vom
Os temporale zur Mandibula dar und sind in ihrer Wirkung synergistisch. Sie limitieren und
führen die Bewegungen des Gelenks [5].
Zu den Kaumuskeln gehören der M. temporalis,
M. masseter, M. pterygoideus lateralis und M.
pterygoideus medialis, wobei die letzten beiden
Muskeln direkt am Kiefergelenk inserieren [13].
Der M. temporalis gehört zu den Mundschließern und bewirkt zusätzlich auch eine Retrusion
des Kiefers. Der M. masseter ist ebenfalls ein
Mundschließer, ermöglicht aber auch eine Laterotrusion und bis zu einem gewissen Grad
auch eine Protrusion. Der M. pterygoideus medialis bildet eine Schlinge mit dem M. masseter
und wirkt synergistisch zu ihm. Der M. pterygoideus lateralis ist ein Mundöffner und ermöglicht
außerdem noch eine laterotrusive und eine protrusive Bewegung [1].
Der Kau- und Schluckakt wird dabei noch von
der suprahyoidalen Muskulatur unterstützt. Sie
bewirkt eine Mundöffnung und auch eine Retru-
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Abb. 3 Prüfung der Mundöffnung auf
Asymmetrie (Sonde als Orientierungshilfe).
Abb. 4 Palpation des M. temporalis, Pars
anterior.
sion, besonders auch der Venter posterior des M.
digastricus [1].
Screening des stomatognathen Systems
Bei jedem neuen Patienten und auch vor okklusionsverändernden Maßnahmen, wie z. B. umfangreichen restaurativen Rehabilitationen, aber
auch vor kieferorthopädischen Behandlungen,
sollte ein Anamnesegespräch, ein kurzes Screening der Strukturen des stomatognathen Systems in Anlehnung an den CMD-Kurzbefund
nach Ahlers und Jakstat [1, 2, 23] und die radiologische Beurteilung des Kiefergelenks anhand
der Panoramaschichtaufnahme (OPG) erfolgen.
Das OPG dient zunächst nur der Übersicht über
die knöchernen Strukturen des Kiefergelenks,
wobei primär deutliche Formveränderungen des
Processus condylaris beurteilt werden können
[1, 23]. Des Weiteren können Befunde ausgeschlossen werden, die beim Patienten ebenfalls
eine Schmerzsymptomatik auslösen, deren Ursache jedoch nicht im Bereich der Kiefergelenke
oder der Kaumuskulatur liegt, wie z. B. Sinusitiden, Knochentumoren oder entzündete Zähne
und Wurzelreste [30].
Die Anamnese wird in der Regel nach verschiedenen Gesichtspunkten gegliedert. Zunächst
sollten bestehende Allgemeinerkrankungen, die
das Kiefergelenk beeinflussen können (beispielsweise Rheuma, Arthritis, Osteoporose), erfasst
werden. Weiterhin ist es wichtig, auch nach vorangegangenen Traumata [2], einem bestehenden
Tinnitus [4] und nach bestehenden Schmerzen
im Kopfbereich zu fragen. Da Patienten mit dysfunktionellen Beschwerden oftmals von Schmerzen in die zahnärztliche Praxis getrieben werden, empfiehlt es sich, eine gezielte Schmerz­
anamnese [1, 2, 23] zu erheben. Dabei sollte allgemein erfasst werden, ob der Schmerz akut
oder chronisch ist, welche Region des Kopf-/
Abb. 5 Palpation des M. masseter, Pars
superficialis.
Hals-Bereichs betroffen ist, und wie stark der Patient den bestehenden Schmerz empfindet. Dabei muss sich der Behandler auf die subjektive
Aussage des Patienten verlassen. Um den Patienten besser einschätzen zu können und da Stress
mit CMD in hohem Maße zu korrelieren scheint,
sollte auch eine kurze psychosomatische Anamnese erfolgen, um vorliegende Stresssituationen
und die Belastbarkeit des Patienten entsprechend erfassen zu können [2, 29]. Abschließend
ist auch ein orthopädischer Kurzbefund des Patienten zu erheben [11, 23]. Da orthopädische
Funktionsstörungen in enger Wechselwirkung
mit dem Kauorgan stehen, gibt die Körperhaltung des Patienten oftmals schon Aufschluss
über bestehende Okklusionsstörungen, die zu
Dysfunktionen führen können.
Das Screening sollte folgende Punkte umfassen:
Zur Beurteilung der Mobilität des Unterkiefers
werden die Grenzbewegungen des Unterkiefers
herangezogen, d. h. die aktive und passive Mundöffnung, Laterotrusion, Protrusion und Retrusion. Schwerpunktmäßig sollte hierbei die
Mund­öffnung des Patienten untersucht werden
(Abb. 2). Für eine physiologische Mundöffnung
finden sich in der Literatur Werte im Bereich von
38–52 mm [1, 20, 22]. Sie unterliegen starken individuellen Unterschieden [5]. Die Unterkieferbewegung wird bei der passiven Mundöffnung
durch den Behandler weitergeführt. Meist
nimmt die Schneidekantendistanz dann noch
einmal um einen geringen Betrag zu. Mit der Erhebung dieses sogenannten Endgefühls kann der
Behandler den Zustand von Bändern und Kapseln überprüfen [5, 17, 18, 20] und kontrollieren,
ob Limitationen vorliegen, die die Kieferbewegung einschränken.
Für die Laterotrusion werden ebenfalls verschiedene Werte angegeben [5, 11, 18, 20]. Vereinfacht kann man davon ausgehen, dass das Ver-
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hältnis von Mundöffnung zu Laterotrusion 4:1
beträgt [20].
Ergänzend muss noch überprüft werden, ob die
Mundöffnungsbewegung symmetrisch ist oder
ob eine Abweichung des Kiefers zu einer Seite
vorliegt (Abb. 3). Eine asymmetrische Mundöffnungsbewegung von über 2 mm kann wahrgenommen und als dysfunktionell angesehen werden [1]. Dabei lässt sich noch unterscheiden, ob
die Unterkieferabweichung am Ende der Bewegung korrigiert ist (Deviation) [1, 8] oder ob die
Bewegung unkorrigiert bleibt (Deflexion) [1, 8].
Asymmetrische Mundöffnungsbahnen können
sowohl myogen als auch arthrogen bedingt sein
[1, 18], was differenzialdiagnostisch weiter untersucht werden muss [20].
Der Zustand eines Muskels wird mittels Palpation erfasst [1, 5, 17, 18, 20]. Dieser gilt als physiologisch, wenn der Muskel nicht druckdolent
und nicht verhärtet ist. Der Behandler sollte
hierbei den Zustand des M. temporalis, Pars anterior (Abb. 4), des M. masseter, Pars superficialis
(Abb. 5), und des M. digastricus, Venter posterior
(Abb. 6), untersuchen. Diese Muskeln sind leicht
zugänglich und können besser aufgefunden werden, wenn der Patient leicht zubeißt oder
schluckt. Positive palpatorische Befunde dieser
Muskeln stehen beispielhaft für typische Belastungsrichtungen bei vorliegender CMD-Problematik [1]. Die Palpation erfolgt immer quer zum
Längsverlauf der Muskelfasern.
Da bei physiologischer Funktion des Kiefergelenks keine Geräusche auftreten, ist deren Auftreten als Dysfunktion zu werten [2]. Unter dem
Begriff „Kiefergelenkgeräusche“ werden Reiben
(Krepitation) und Knackgeräusche zusammengefasst. Die Untersuchung erfolgt durch bimanuelle Palpation der beiden Kiefergelenke (Abb. 7),
während der Patient den Mund öffnet und
schließt [1, 2, 23]. Knackgeräusche können meist
problemlos detektiert und einem genauen Zeitpunkt während der Öffnungs- oder Schließbewegung (initial, intermediär oder terminal) zugeordnet werden (Geräusch analog eines Knackens, das in den Fingergelenken provoziert werden kann [21]). Krepitationen sind allerdings
schwerer zu erfassen. Hier muss der Behandler
oft ein Stethoskop zu Hilfe nehmen [1, 14] (Geräusch ist vergleichbar mit dem „eines fahrenden Autos auf Rollsplit“ [21]).
Bei der okklusalen Befundung werden die Zahnflächen auf altersuntypische Schlifffacetten (Abb.
8), keilförmige Defekte und Rezessionen untersucht, die im Zusammenhang mit der Entstehung von CMD stehen können sowie die oralen
Weichgewebe auf Anzeichen für Parafunktionen,
wie z. B. Cheilophagien oder eine Morsicatio labiorum/buccarum [1, 2, 3, 9, 17, 23]. Bei noch
glänzenden und nicht abgerundeten Schlifffacetten der Zähne sind diese erst kürzlich entstan-
Abb. 6 Palpation des M. digastricus, Venter posterior.
Abb. 7 Bimanuelle Palpation der Kiefergelenke zur Detektion von Gelenkgeräuschen.
Abb. 8 Traumatische Exzentrik: Gesucht
wird hierbei nach nicht altersgerechten
Abrasionen in dynamischer Okklusion.
Abb. 9 Asynchrone Okklusionsgeräusche:
Der schnelle Zusammenbiss soll ein kurzes
und einzeitiges Geräusch erzeugen.
den, was für eine aktuell vorliegende parafunktionelle Gebissbelastung spricht. Alle diese Befunde können für eine traumatische Exzentik
sprechen.
Weiterhin werden asynchrone Okklusionsgeräusche detektiert: Beim Zubeißen sollte nur ein
kurzes, einzeitiges Geräusch zu hören sein [1]
(Abb. 9).
Das Screening soll dem Behandler helfen, die Patienten in Gruppen einzuordnen. Die eine
Gruppe umfasst einerseits Patienten, die Beschwerden aufweisen und zur genauen Diagnosestellung weiter untersucht werden müssen,
und grenzt diese andererseits von Patienten ab,
bei denen die Ausbildung von dysfunktionellen
Beschwerden im craniomandibulären System
eher unwahrscheinlich ist [1, 23].
Zwei oder mehr als 2 positive Befunde aus dem
Kurz-Screening deuten auf das mögliche Vorliegen einer CMD hin [1, 23], sodass sich eine umfas-
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sende klinische Funktionsanalyse anschließen
muss, um das Ergebnis zu validieren und zu differenzieren. Darüber hinaus erfolgt eine manuelle
Funktionsanalyse nach Bumann und Landeweer,
die genau den Zustand aller Strukturen und ihr
Zusammenspiel im craniomandibulären System
erfasst [7], und eine instrumentelle Funktionsanalyse, die mittels Modellmontage in den Artikulator und verschiedener messtechnischer Registrierungen den Zustand der artikulären und
dentalen Führungskomponenten untersucht [6].
Ggf. ist auch noch eine weiterführende bildgebende Diagnostik in Form einer MRT-Aufnahme
erforderlich [5, 20]. Mit Zunahme der positiven
Befunde aus dem Screening wird das Vorliegen
einer CMD immer wahrscheinlicher [1, 2, 23].
Dabei gilt es, ein generelles Prinzip zu beachten:
Vor Beginn einer jeglichen restaurativen bzw.
kieferorthopädischen Therapie muss der Patient
in einen schmerzfreien Zustand überführt worden sein [5].
Die häufigsten craniomandibulären
Dysfunktionen
Eine ungestörte Kiefergelenkfunktion ist immer
dann gegeben, wenn keine Schmerzen und Kiefergelenkgeräusche während der Unterkieferbewegung auftreten und die Bewegungsfreiheit
des Gelenks nicht limitiert ist. Zudem sollte eine
physiologische Kondylus-Fossa-Relation vorliegen. Dabei steht die Pars intermedia des Discus
articularis zwischen der Protuberantia articularis und dem ventrokranialen Rand des Processus
condylaris [5, 23].
Die häufigsten klinischen Symptome im Zusammenhang mit CMD, die dem Behandler im Praxis­
alltag begegnen, sind meist Gelenkgeräusche, Bewegungslimitationen und Schmerzen [24].
Das Leitsymptom für degenerative Erkrankungen
des Kiefergelenks ist das Reibegeräusch (Krepitation) während der Bewegung [1, 14, 23] und entsteht durch den Kontakt zweier Knochenflächen
[2]. Tritt die Krepitation ohne Schmerz auf, dann
liegt eine Arthrose, d. h. eine nicht entzündliche,
degenerative Erkrankung des Gelenks, vor [5, 18].
Weist der Patient zusätzlich zur Krepitation noch
eine akute Schmerzsymptomatik auf, dann deutet
dies auf eine Arthritis hin, die durch ein akutes
Entzündungsgeschehen gekennzeichnet ist [5,
18]. Sowohl die Arthrose als auch die Arthritis
zählen zu den primären Gelenkerkrankungen, deren Ursache endogene, infektiöse oder systemische Faktoren sind [14]. Die Behandlung dieser
Erkrankungen erfolgt in spezialisierten Einrichtungen [5].
Das Leitsymptom „Kiefergelenkknacken“ ist oft
mit einer anterioren Diskusverlagerung und -reposition vergesellschaftet [23]. In den meisten
Fällen ist der Diskus nach anteromedial verlagert
[5, 16]. Das Knacken kommt dadurch zustande,
dass zu Beginn der Bewegung der Diskus dem
Kondylus gar nicht oder nur teilweise aufliegt.
Wird der Unterkiefer nun nach anterior bewegt,
schiebt sich der Kondylus wieder unter den Diskus, was das typische Knackgeräusch erzeugt [1,
23]. Die nun erreichte physiologische DiskusKondylus-Relation kann am Ende der Schließbewegung wieder instabil werden. Springt der Diskus erneut vom Kondylus ab, entsteht ein weiteres Knackgeräusch, man spricht hier von einem
reziproken Knacken [5]. Das Knackgeräusch entsteht dann also initial bei der Öffnungsbewegung
und terminal bei der Schließbewegung [1]. Auffällig ist auch die manchmal auftretende Deviation bei der Mundöffnungsbewegung [18].
Ist zuvor ein Kiefergelenkknacken aufgetreten,
vielleicht auch sogar nur einmalig, und ist die
Mundöffnung des Patienten plötzlich stark eingeschränkt und schmerzhaft, dann liegt meist
eine anteriore Diskusverlagerung ohne Reposition vor [16, 18]. Während einer Exkursivbewegung lässt sich der Diskus dann nicht mehr auf
den Kondylus reponieren [1, 23]. Manchmal
kann man in diesem Fall auch eine Deflexion
zur erkrankten Seite feststellen [18]. Die Diskusverlagerung ohne Reposition kann aus einer
Diskusverlagerung mit Reposition resultieren
[5, 16]. Strukturell liegt der anterioren Diskusverlagerung eine Überdehnung des Stratum inferius der bilaminären Zone [5, 16] oder eine
Formveränderung des Discus articularis zugrunde [5]. Dehnungen der elastischen Strukturen durch andauernde Zugbelastung von über
10 % können schon zu einer irreversiblen Schädigung führen [15].
Knackgeräusche können auch mit einer vergrößerten Mundöffnung einhergehen. Dabei sind
zusätzlich unkoordinierte Öffnungsbewegungen
zu erkennen [1, 15]. Diese Symptome sprechen
für eine Kondylushypermobilität. Der DiskusKondylus-Komplex bewegt sich dabei bis zum
Tuberculum articulare bzw. darüber hinaus [1,
5], bevor der Band- und Kapselapparat die Bewegung abfedern kann. Der Diskus kann gegen
Ende der Öffnungsbewegung vom Kondylus ab(terminales Knacken) und zu Beginn der Schließbewegung wieder aufspringen (initiales Knacken) [1]. Differenzialdiagnostisch wichtig ist
hierbei, dass die Möglichkeit der Selbstreposition des Diskus besteht [5] und das Geräusch bei
der Bewegung „sich wie ein feuchtes Geschirrtuch anhört, das ausgeschlagen wird“ [21]. Auch
hier liegt ursächlich eine Überdehnung des
Band- und Kapselsystems vor [15].
Da die bilaminäre Zone und die Gelenkkapsel
strukturell eng miteinander verbunden sind, bezieht sich der Begriff „Kapsulitis“ auf beide
Strukturen und deutet auf ein entzündliches Geschehen hin. Damit einhergehend klagen die Patienten über starke Schmerzen, die sowohl in
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Zusammenfassung
Craniomandibulären Dysfunktionen liegen ein
gestörtes Zusammenspiel der Kaumuskulatur,
Zähne und des Kiefergelenks zugrunde. Sie können durch eine Vielzahl von klinischen Symptomen imponieren.
Die Ätiologie von CMD scheint multifaktoriell
bedingt zu sein und wird aktuell nach wie vor
kontrovers diskutiert.
Bei Neuaufnahmen von Patienten und vor umfangreichen okklusionsverändernden Maßnahmen muss der Zustand des craniomandibulären
Systems erfasst werden, um zunächst einen Überblick über die beteiligten Strukturen zu erlangen.
Das CMD-Kurz-Screening in Anlehnung an Ahlers
und Jakstat hat sich dabei bewährt [1, 23].
Die Ergebnisse des Screenings des stomatognathen Systems erlauben die Einteilung der Patienten in 2 Gruppen.
Die eine Gruppe beinhaltet die gesunden Patienten ohne CMD (kein bzw. nur ein positives Ergebnis aus dem Screening).
Zur anderen Gruppe gehören die Patienten, bei
denen die Ausbildung einer dysfunktionellen
Symptomatik wahrscheinlich ist bzw. die schon
mit konkreten Beschwerden die Praxis aufsuchen und als krank zu bewerten sind (2 oder
mehr positive Befunde aus dem Screening). Bei
diesen Patienten muss eine vollständige klini-
sche Funktionsanalyse inklusive manueller und
instrumenteller Funktionsanalyse erfolgen, um
das Ergebnis des Kurzbefunds zu validieren und
zu differenzieren.
Dieser Artikel soll zunächst helfen, orale Funktionsstörungen sicher zu erkennen und einen
Überblick über häufig auftretende Beschwerdebilder zu bekommen. Da die Behandlung von
CMD mit einem speziellen Befund korreliert, der
sich aus der klinischen Funktionsanalyse ergibt,
sei an dieser Stelle auf die entsprechende Literatur zur weiterführenden Therapie verwiesen.
Interessenkonflikt
Kein Interessenkonflikt angegeben.
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Ruhe als auch unter Belastung auftreten, gelegentlich kann auch die Unterkieferbewegung
eingeschränkt sein [18, 23]. Oft ist auch die Palpation des Kiefergelenks allein schon schmerzhaft [1, 18].
Klagt der Patient über einen dumpfen, nicht genau zu lokalisierenden Schmerz im Kiefergelenkbereich, der sich bei der Palpation der Kaumuskulatur oder unter Belastung verstärkt, dann
liegt ein myofazialer Schmerz vor [1, 28]. Diesem
liegt meist ein gesteigerter Muskeltonus zugrunde [1]. Manchmal lassen sich auch bei der
Palpation Verspannungen und Verhärtungen erfassen [2]. Schmerzbedingte Einschränkungen
oder auch Positionsveränderungen des Unterkiefers sind als Adaptationen an den Schmerzzustand zu werten [1, 28]. Bei limitierter Bewegungsmöglichkeit des Unterkiefers ist immer die
Bewegungsart eingeschränkt, bei welcher der
betroffene Muskel antagonistisch wirkt [1]. Myofaziale Schmerzen können oft bei der Palpation
durch Aktivierung sogenannter Triggerpunkte in
andere Regionen des Kopfes ausstrahlen, man
spricht bei diesem Befund von einem übertragenen Schmerz [5, 23]. In seltenen Fällen kann ein
myofazialer Schmerz durch andauernde psychische Belastung auch chronifizieren [28]. Myofaziale Schmerzen lassen sich in der Regel gut physiotherapeutisch in Kombination mit einer Relaxationsschiene behandeln [1, 5, 28].
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Korrespondenzadresse
Dr. Christine Küpper
Fachzahnärztin für Kieferorthopädie
Zentrum für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde
Klinikum der Friedrich-Schiller-Universität Jena
GD Direktor: Univ.-Prof. H. Küpper
An der alten Post 4
07743 Jena
E-Mail: [email protected]
CME-Fortbildung
mit der ZWR
Zertifizierte Fortbildung
Hinter der Abkürzung CME verbirgt
sich „continuing medical education“,
also kontinuierliche medizinische Fortund Weiterbildung. Die CME-Beiträge
in der ZWR wurden durch die Zahnärztekammer Baden-Württemberg anerkannt. Die ZWR ist zur Vergabe der
Fortbildungspunkte für diese Fortbildungseinheit berechtigt. Die Fortbildungspunkte der Zahnärztekammer
Baden-Württemberg werden von anderen zertifizierenden Zahnärztekammern anerkannt.
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Teilnahmebedingungen
Für eine Fortbildungseinheit erhalten
Sie 1 Fortbildungspunkt. Hierfür müssen
70 % der Fragen richtig beantwortet sein.
Die Teilnahme ist im Internet unter
http://cme.thieme.de möglich. Im Internet muss man sich registrieren, wobei
die Teilnahme für Abonnenten ohne Zusatzkosten möglich ist. Jede Zahnärztin
und jeder Zahnarzt soll das Fortbildungszertifikat erlangen können. Deshalb ist die Teilnahme am CME-Programm der ZWR nicht an ein Abonnement geknüpft! Teilnehmer, die nicht
Abonnenten ZWR sind, können für die
Internet-Teilnahme dort direkt ein Guthaben einrichten, von dem pro Teilnahme ein Unkostenbeitrag abgebucht
wird.
Datenschutz
Ihre Daten werden ausschließlich für die
Bearbeitung der Fortbildungseinheit
verwendet. Es erfolgt keine Speicherung
der Ergebnisse über die für die Bearbeitung der Fortbildungseinheit notwendige Zeit hinaus. Die Daten werden nach
Versand der Testate anonymisiert. Namens- und Adressangaben dienen nur
dem Versand der Testate. Die Angaben
zur Person dienen nur statistischen
Zwecken und werden von den Adressangaben getrennt und anonymisiert verarbeitet.
Teilnahme online unter
http://cme.thieme.de
ZWR ̶ Das Deutsche Zahnärzteblatt 2012; 121 (1+2)
ZWR_1+2_12.indb 36
02.02.2012 16:06:26
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