Grenztruppen zwischen mir und der Freiheit

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LEBENSRAUM KIRCHE
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Grenztruppen zwischen mir und der Freiheit
Dr. Matthias Walter, 12.10.2014
Predigttext: Lukas 8,26-39
Liebe Gemeinde,
dass die Burg, auf die man sich gerettet hat [Gemeindelied vorher: "Ein feste Burg ist unser
Gott"], nicht zur Falle wird, das hoffen alle, die auf was für Burgen auch immer Schutz und
Rettung suchen. Dass einem da die Fesseln gelöst werden und einem nicht etwa welche
angelegt werden. Am Freitag beim Offenen Abend hörten wir von einem Psychologen, der mit
traumatisierten Folteropfern arbeitet, was alles zu dieser unsagbar schlimmen Erfahrung gehört,
die sich so in sie eingebrannt hat, dass sie sie auch danach nicht mehr loswerden.
Eine Sache hat sich mir da besonders eingeprägt: dass nämlich das Folteropfer erleben muss,
wie ihm, so sagte der Therapeut, „von Menschenhand mit Plan und Absicht“ Böses angetan
wurde. Nicht nur zufällig also eine Erfahrung der Gewalt und Willkür gemacht. Sondern mein
Mitmensch wurde zu einem, der mich systematisch quält. Eine Welt bricht zusammen, die
Ordnung der Dinge fliegt auseinander, das Vertrauen in das Leben ist zerstört.
Und gefesselt an diese Erfahrung und gefesselt durch diese Erfahrung gehe ich weiter durchs
Leben, nicht mehr wirklich bei mir und auch nicht mehr bei den anderen. Aus der Ordnung
gefallen. Der Freiheit beraubt, meinen Ort zu finden im Leben und meinen Platz einzunehmen.
Und die Menschen, die mir das angetan haben, werden zu Dämonen, die mich besetzen und
steuern, und ich kann nichts dagegen tun.
Das alles ist kilometerweit entfernt von unseren Erfahrungen. Keiner von uns hier heute morgen
dürfte je gefoltert worden sein. Ich meine nicht, von einem schlechten Fernsehprogramm,
sondern wirklich. Wir werden uns nicht hineinversetzen können in die, die den Folterkammern
dieser Welt entkommen sind, die sie überlebt haben. Auch wird keiner ernsthaft behaupten
wollen, wenn wir hier in diesem Gottesdienst an den Freitagabend erinnern, dass der Glaube an
Jesus Christus einfach ein Rezept zur Traumabewältigung wäre.
Trotzdem haben wir uns in der Vorbereitung gefragt: Wo können unsere Erfahrungen vielleicht
anschließen? Und wird vielleicht irgendwo in der Bibel davon berichtet, wie es einer, der
gebunden und nicht mehr Herr seiner selbst ist, von sich selbst entfremdet und von den
anderen getrennt, besetzt von etwas, was mächtiger ist als er selbst, wo wird vielleicht in der
Bibel von so einem berichtet, dass er Jesus begegnet.
Und uns fiel eine Geschichte ein, die so drastisch ist und so anschaulich, gleichermaßen so
verstörend wie befreiend, dass wir dachten: Die hat die Kraft, diese Not in der Welt in Worte zu
fassen, und die ist zugleich von einer Behutsamkeit, uns vorsichtig Hoffnung schöpfen zu
lassen. Diese Geschichte hat es nur auf einen absoluten Randplatz in der Ordnung der
Predigttexte geschafft, nur in extrem seltenen kalendarischen Konstellationen schafft sie es,
dranzukommen. Als hätte man sich nicht getraut, sie ganz wegzulassen, sei aber auch froh
gewesen, sie so gut verstecken zu können. Es ist eine ein wenig längere Erzählung. Ich lese
aus Lukas 8:
Und sie fuhren weiter in die Gegend der Gerasener, die Galiläa gegenüberliegt. Und als er ans
Land trat, begegnete ihm ein Mann aus der Stadt, der hatte böse Geister. Er trug seit langer
Zeit keine Kleider mehr und blieb in keinem Hause, sondern in den Grabhöhlen. Als er aber
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Jesus sah, schrie er auf und fiel vor ihm nieder und rief laut: „Was willst du von mir, Jesus, du
Sohn Gottes des Allerhöchsten? Ich bitte dich: Quäle mich nicht!“ Denn Jesus hatte dem
unreinen Geist geboten, aus dem Menschen auszufahren. Denn der hatte ihn lange Zeit
geplagt. Und er wurde mit Ketten und Fesseln gebunden und gefangengehalten, doch er zerriss
seine Fesseln und wurde von dem bösen Geist in die Wüste getrieben.
Und Jesus fragte ihn: „Wie heißt du?“ Er antwortete: „Legion.“ Denn es waren viele böse Geist
in ihn gefahren. Und sie baten ihn, dass er ihnen nicht gebiete, in den Abgrund zu fahren. Es
war aber dort auf dem Berg eine große Herde Säue auf der Weide. Und sie baten ihn, dass er
ihnen erlaube, in die Säue zu fahren. Und er erlaubte es ihnen. Da fuhren die bösen Geister
von dem Menschen aus und fuhren in die Säue. Und die Herde stürmte den Abhang hinunter in
den See und ersoff.
Als aber die Hirten sahen, was da geschah, flohen sie und verkündeten es in der Stadt und in
den Dörfern. Da gingen die Leute hinaus, um zu sehen, was geschehen war, und kamen zu
Jesus und fanden den Menschen, von dem die bösen Geister ausgefahren waren, sitzend zu
den Füßen Jesu, bekleidet und vernünftig, und sie erschraken. Und die es gesehen hatten,
verkündeten ihnen, wie der Besessene gesund geworden war. Und die ganze Menge aus dem
umliegenden Land der Gerasener bat ihn, von ihnen fortzugehen, denn es hatte sie große
Furcht ergriffen. Und er stieg ins Boot und kehrte zurück.
Aber der Mann, von dem die bösen Geister ausgefahren waren, bat ihn, dass er bei ihm bleiben
dürfe. Aber Jesus schickte ihn fort und sprach: „Geh wieder heim und sage, wie große Dinge
Gott an dir getan hat!“ Und er ging hin und verkündigte überall in der Stadt, wie große Dinge
Jesus an ihm getan hatte.
Liebe Gemeinde,
lassen wir die Schweine jetzt erst einmal weg. Und überhaupt, solange wir unser Kotelett zu
Preisen kaufen wollen, wegen denen mit unseren Schweinen weitaus schlimmer umgesprungen
wird als hier, sind unser Mitleid und Empörung hier auch nicht wirklich angebracht. Lassen wir
die Schweine also erst mal weg.
Und sehen wir uns diesen Mann an. Aber da haben wir wiederum den Eindruck: Wir sind von
den Schweinen nicht so ganz weit entfernt. Nur noch wenig Menschliches ist an ihm. Nackt läuft
er herum, in Grabhöhlen haust er, wovon er lebt, wollen wir lieber gar nicht so genau wissen.
Wird er mal wieder gefesselt, wissen wir nicht, wen die Menschen schützen wollen: den Mann
vor sich selbst oder sich vor dem Mann. Ist auch nicht so wichtig, denn lange halten die Stricke
eh nicht. Die Kräfte in ihm zerreißen sie und treiben ihn hinaus in die Wüste.
Symbolische Orte das alles. Die Wüste ist der Ort der Dämonen, die Totenwelt der Gräber
auch. Die Dämonen führen ihren Wirt in ihre Welt. Er ist nicht mehr er selbst, ist nicht mehr an
seinem Ort. Was wird da nur aus mir? In dem Roman „Die Wand“ erlebt eine Frau, dass sie in
ihrer Berghütte plötzlich von den Menschen durch eine unsichtbare Wand getrennt ist. Sie gerät
in Sorge, in ihrer Abgeschlossenheit mit der Zeit zum Tier zu werden. Bis sie erkennt: „Der
Mensch kann nicht zum Tier werden. Er stürzt am Tier vorbei in einen Abgrund.“
Der entmenschlichte Mensch: kein Tier, sondern schlimmer dran. Nicht mehr von der Welt und
nicht mehr in der Welt. Nicht mehr bei sich und nicht mehr bei den anderen. Im Griff der
Dämonen, im Griff einer fernen Welt, die nach ihm greift. Was lebt da bloß aus mir?
Und was tut da so in mir, als wäre es ich? Der Mann im Gespräch mit Jesus: Mal er, mal sie,
nicht zu unterschieden, wann spricht der Mann, wann spricht der Dämon? Von außen schon
eins geworden, nicht mehr zu unterscheiden. „So ist der halt“, heißt es dann irgendwann. Aber
in dem Mann ruft es, aus einer letzten Ecke ruft der Rest seines Ichs: „Nein, das bin ich nicht!“
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Aber draußen hört man es schon nicht mehr.
Jesus aber erkennt’s. Er fragt nach dem Namen. „Legion“, antworten die in dem Mann, „wir
sind viele“. Und das ist hier nicht so lustig wie Prechts Buchtitel „Wer bin ich, und wenn ja, wie
viele?“ Legion heißen sie, weil sie so viele sind. Drei- bis sechstausend. So viele waren eine
römische Legion. Die dritte Legion Cyrenaica war in jenem Gerasa stationiert, in dem wir uns
hier gerade befinden, ein Teil davon jedenfalls. Bei der Eroberung Jerusalems hat sie
mitgewirkt, diese Legion, nach Jesus war das, aber bevor Lukas schreibt. Legionen waren vor
allem Grenztruppen, an den Rändern für Ruhe sorgen, zum Schutz der Außengrenze des
Römischen Reiches in der Gegend. Die, die da unfreiwillig im Römischen Reich waren, die
sollten keine Hoffnung haben, von außen befreit zu werden. Dazu gab es die Legionen.
Grenztruppen.
Auch an den Grenzen des Mannes. Eine Legion in ihm, um zu verhindern, dass er zu sich
selbst und in die Freiheit findet. Aufgabe das auch der Folterknechte. Menschen zu isolieren
und zu zerstören. Aufgabe das auch all dessen, was uns bindet. Zu verhindern, dass wir ganz
wir selbst sind und frei unseren Platz in der Welt einnehmen. Welche Legion ist da in uns, die
uns von dem Leben fernhält, das unser Leben sein sollte? Stimmen in uns, fremde Stimmen,
die Stimmen der Anderen, in uns, Stimmen auch derer um uns herum.
Denn als die Dämonen weg sind, sind die Menschen da. Hören von den Schweinen, sehen den
zurückgekehrten Mann, zu sich zurückgekehrt, und jetzt er sieht auch wieder aus wie einer von
ihnen. Und sie fürchten sich. Vor dem Zurückgekehrten? Vor Jesus? Vor der Freiheit? Das
wollen sie alles nicht wissen, sie schicken Jesus weg und fragen ihn nichts.
So rufen beide, die in dem Menschen und die um den Menschen, Legion die einen, Legion die
anderen, sie rufen: „Was willst du von uns, Jesus? Geh weg und lass uns in Ruhe!“ Aber Jesus
sagt: „Erst, wenn ich diesen Menschen hier zurückerobert und befreit habe! Wenn ich ihn
aufgehoben und bei sich selbst wieder abgestellt habe. Erst, wenn er seinen Platz
wiedergefunden hat.“
Denn dazu ist Christus gekommen. Und dazu ist er heute in der Welt. Um zu lösen, was
gebunden ist. Aus seinen Anfängen zitiert Lukas ihn vorher: „Ich bin gekommen, um zu
predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen!“ Er ist gekommen und heute in der Welt,
um dem Leben zurückzugeben, was entfremdet ist – von sich selbst entfremdet, vom Nächsten,
von seiner Lebensquelle, die Christus selbst uns werden möchte. Und was er hier in dieser
Geschichte andeutet, das, so sagen wir, das hat er in Kreuz und Auferstehung vollendet. Als er
an der Welt starb und in der Auferstehung den Tod und seine Kräfte besiegte. Auch den
Dämonen in uns und um uns.
Und was ist mit denen, die immer noch umgehen? Ja, und jetzt kommen doch noch mal die
Schweine: Die Dämonen bitten Jesus, dass er sie nicht in Abgrund stoße. Das ist wörtlich der
Abyssos, in dem sie nicht landen wollen, die Totenwelt, der Ort auch, von dem sie kommen.
Und Jesus gewährt ihnen ihre Bitte. Eine komische Wendung in dieser Geschichte. Abhang
statt Abgrund. Der Abhang als kleine Ahnung vom Abgrund? Das Schwein als Zugeständnis,
was schon unrein ist, könnt ihr nicht noch unreiner, noch lebensferner machen? Vielleicht will
das sagen: Die bösen Kräfte in dieser Welt sind noch nicht vernichtet, von Gottes Geschichte
mit der Welt her, von der Heilsgeschichte her steht das noch aus.
Unser Mann hier aber, der hat erfahren, und seine Geschichte wird erzählt, weil auch unter
denen, die sie erzählen, solche waren, die es erlebt haben: nämlich dass es ein Ende haben
kann damit, von innen und von außen fremdbestimmt zu sein, nicht wirklich bei sich, besetzt
von irgendwas, was die Kontrolle hat über mich. Unter den Menschen, die uns diese Geschichte
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weitererzählt haben, waren solche, die uns damit sagen: So habe ich Jesus erlebt – als den, der
zwar nicht alles aus der Welt schafft, der mich aber befreit hat. Mit ihm habe ich zu mir
gefunden. Bekleidet und vernünftig. Und zu meinem Platz in der Welt. Zurück in der Stadt.
Im Gespräch mit einem anderen meinem Dämon einen Namen geben. In der Meditation ihn
festhalten und Christus hinhalten. Erleben, wie Gottes Geist nicht nur meinem Geist sagt, dass
ich sein Kind bin, sondern dass er das auch dem Dämon in mir sagt. Im Abendmahl Christus
aus Brot und Kelch wirken lassen in mir. Ihn immer wieder das letzte Wort über mich sagen
lassen, mir sagen lassen in Gegenwart aller, die mich binden wollen: „Im Namen Gottes: Du
bist frei!“ Amen.
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