Die „natürliche Selektion“ als Motor der Evolution

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Charles Darwin II
Die „natürliche Selektion“ als Motor
der Evolution
RALF DAHM
SPANISH NATIONAL CANCER RESEARCH CENTRE (CNIO), MADRID, SPANIEN
Nach halbherzigen Anläufen Arzt oder Priester zu werden, bekam der
junge Darwin 1831 die Möglichkeit, an einer 5-jährigen Expedition des
Forschungsschiffs Beagle teilzunehmen. Die Eindrücke dieser Reise
legten den Grundstock zu seiner Evolutionstheorie. Darwin erkannte,
dass kleine, erbliche Unterschiede zwischen den Individuen einer Art eine
wichtige Voraussetzung zur Entstehung neuer Arten sind und dass dieser
Vorgang langsam, über viele Generationen abläuft. Aber noch hatte er
den Mechanismus, der die Evolution der Arten treibt, nicht gefunden.
ó Der entscheidende Anstoß für Darwin
kam, als er im Herbst 1838 einen Aufsatz des
englischen Ökonomen und Demografen Thomas Malthus las[1]. Darin legte dieser dar,
dass die Menschheit, wenn nicht auf irgendeine Weise in ihrem Bestand kontrolliert, sich
so lange vermehren würde, bis nicht mehr
genügend Nahrungsmittel zur Verfügung
stünden, um alle zu ernähren. Mit anderen
Worten: Die Anzahl der Menschen ist durch
die Ressourcen auf der Erde begrenzt.
Darwin sah sofort, dass die gleichen
Beschränkungen auch für andere Arten
zutreffen mussten. Er wusste, dass die Zahl
der Lebewesen einer Art in der Regel mehr
oder weniger konstant ist. Dem stand entgegen, dass jedes Tier meist aber mehr als nur
einen Nachkommen hat. Bei vielen Spezies
kann ein einzelnes Weibchen sogar außerordentlich große Mengen an Nachkommen
hervorbringen. Daraus schloss Darwin, dass
die meisten Individuen einer Art sterben müssen, bevor sie sich fortpflanzen können, um
die Anzahl der Individuen der Art im Gleichgewicht zu halten.
Jetzt machte Darwin den entscheidenden
Schritt zu seiner Theorie: Er nahm an, dass
die Entscheidung darüber, welche Individuen
1 In diesem Zusammenhang ist es erwähnenswert, dass
der Begriff survival of the fittest nicht von Darwin
stammt, sondern 1864 von dem englischen Soziologen und Philosophen Herbert Spencer geprägt wurde,
der Darwins Evolutionstheorie erstmals auf die gesellschaftliche Entwicklung des Menschen anwandte.
Charles Darwin ca. 1854, wenige Jahre bevor er
sein Standardwerk The Origin of species veröffentlichte.
(Bild: John van Wyhe, The Complete Work of Charles Darwin Online, http://darwin-online.org.uk).
überleben und Nachkommen haben, darauf
beruht, wie gut sie an ihre jeweiligen Umweltbedingungen angepasst sind. Unterschiede
zwischen den Individuen einer Art bestimmen also darüber, wer den Kampf ums Überleben übersteht und sich fortpflanzt und wer
nicht. Über lange Zeiträume können sich so
selbst Eigenschaften, die nur einen kleinen
Vorteil bringen, durchsetzen und solche, die
einen Nachteil bringen, verschwinden. Weil
dieser Vorgang der Auswahl durch einen
Züchter ähnelt, wie Darwin in bei Landwirten
und Taubenliebhabern beobachtet hatte,
nannte er ihn „natürliche Selektion“1
Endlich hatte Darwin den Mechanismus
gefunden und damit die Grundpfeiler seiner
Theorie der Evolution durch natürliche Selektion etabliert: (i) Die Individuen einer Art
unterscheiden sich geringfügig in ihren
Eigenschaften untereinander, (ii) manche dieser Eigenschaften bringen unter bestimmten
Umweltbedingungen einen Vorteil und führen dazu, dass Individuen mit diesen Merkmalen bevorzugt überleben und mehr Nachkommen haben, und (iii) die Eigenschaften
sind erblich, sodass vorteilhafte Eigenschaften sich über Generationen in der Population
durchsetzen, was dazu führt, dass eine Art
sich ihrer Umwelt besser anpasst. Er postulierte weiter, dass dieser Vorgang auch zur
Entstehung neuer Arten führen könne, indem
existierende sich aufspalten, und dass alle
Arten über eine gemeinsame Abstammung
miteinander verwandt sind. Darwin hatte die
parallelen Abstammungslinien seiner Kollegen durch einen fein verästelten Stammbaum
ersetzt.
Damit hatte Darwin eines der größten Rätsel der Biologie gelöst. Dennoch publizierte er
seine neue Theorie zunächst nicht. Zwar verfasste er in den frühen 1840er-Jahren zwei
Essays zu diesem Thema und traf Vorbereitungen, dass sie im Falle seines vorzeitigen
Todes eingereicht werden sollten, er veröffentlichte aber keinen davon. Der Hauptgrund
für diese Zurückhaltung mag wohl darin gelegen haben, dass Darwin noch nicht genug
Belege für seine Theorie hatte und rein hypothetische Argumente strikt ablehnte. Zudem
war ihm klar, dass seine Erklärung zur Entstehung der Arten sehr kontrovers gesehen
werden würde, und er wollte sich sicher sein,
dass seine Argumentation einer kritischen
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Prüfung standhielte. Und so verwendete
er weitere 20 Jahre darauf, mehr Material
zu sammeln, das seine Hypothesen unterstützte, und seine Theorie zu verfeinern.
Außerdem war er damit beschäftigt, die
anderen Erkenntnisse zu publizieren, die
er auf seiner Reise gewonnen hatte. So veröffentlichte er einen Bericht der Reise der
HMS Beagle für die breite Öffentlichkeit,
der eines der erfolgreichsten Reisetagebücher seiner Zeit wurde[2], sowie ein dreibändiges Werk über die geologischen Entdeckungen, die er während dieser Zeit
gemacht hatte[3–5]. Darwin ist heute vor
allem für seine Theorie zur Evolution der
Arten bekannt, aber auch seine Beiträge
zur Geologie waren überaus bedeutend.
Seine Theorie, wie Korallenriffe entstehen[3], war die erste, die diesen Vorgang
richtig erklärte. Und so wurde Darwin
zuerst nicht für seine revolutionären Einsichten in der Biologie gefeiert, sondern
war anfangs vor allem ein angesehener
Geologe.
Darwin verfeinert seine Theorie
der Evolution
Eine Stärke Darwins war es, dass er ein
breites Spektrum an Quellen konsultierte, um seine Theorie der Evolution der
Arten zu untermauern. Neben seinen eigenen Beobachtungen und Experimenten,
las er große Teile der wissenschaftlichen
Literatur seiner Zeit und pflegte einen
regen Austausch mit Kollegen verschiedener Disziplinen. Und es gelang ihm auf
eindrucksvolle Weise, eine Fülle an Fakten
und Konzepten in einer einheitlichen Theorie zu vereinen.
Von der Geologie hatte Darwin gelernt,
dass die Evolution ein sehr langsamer Vorgang ist, in dem viele kleine Ursachen
nach entsprechender Zeit einen großen
Effekt haben können, und dass die Erde
sehr alt ist. Seine Annahme, dass alle
Arten ursprünglich von einem gemeinsamen Vorfahr abstammten und sich über
zahlreiche Generationen langsam aufgespaltet und verändert haben, erforderte
genau das: eine alte Erde und die Annahme, dass kleine Veränderungen, die über
lange Zeiträume wirken, zu deutlichen
Veränderungen führen können.
Eine Bestätigung für seine Theorie, dass
alle Arten einen gemeinsamen Ursprung
haben, fand Darwin in den Fossilien, die er
untersuchte. Er sah nicht nur, dass sie sich
von heute lebenden Arten unterscheiden,
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und zwar umso stärker, je älter sie sind,
sondern auch, dass man eine langsame
Veränderung hin zur Anatomie heute
lebender Arten erahnen konnte. Auch
erkannte er, dass einige Arten einen Körperbau aufwiesen, der zwischen heute
existierenden Arten angesiedelt schien.
Als im Jahre 1861 der erste fossile Archaeopterix bei Solnhofen gefunden wurde, der
klar Merkmale von Reptilien und Vögeln
zeigte, bestätigte dies Darwins Annahme
auf brillante Weise und er zitierte diesen
Fund in späteren Veröffentlichungen.
Und er bemerkte, dass auch heute noch
lebende Tiere klare Hinweise auf ihre evolutionäre Abstammung zeigen. Rudimentäre Körperteile, wie das Becken und die
Reste von Hinterextremitäten bei Walen
und Schlangen oder die Augen von blinden Spezies, die in Höhlen leben, erklärte
Darwin damit, dass diese Tiere von Vorfahren abstammen, die diese Organe
gebraucht hatten. Unter den veränderten
Umweltbedingungen sind diese Strukturen aber nutzlos geworden und entwickelten sich somit langsam zurück.
Darwin zog auch das Aussterben von
Arten, für das immer mehr fossile Belege
gefunden wurden, als eine Bestätigung seiner Theorie der natürlichen Selektion heran: Spezies, die nicht mehr gut genug an
ihre Umwelt angepasst waren, wurden im
Kampf um knappe Ressourcen von anderen verdrängt und ausgelöscht.
Wichtig war in diesem Zusammenhang
auch, dass Darwins Theorie voraussagte,
dass Arten geografisch näher beieinander
zu finden sein sollten, je kürzer die Zeit ist,
seit der sie sich während der Evolution
voneinander getrennt hatten. Er fand diese Voraussage in den Affenarten, die in
Afrika bzw. Amerika leben, bestätigt. Die
Affen in der alten und in der neuen Welt
waren sich jeweils untereinander sehr viel
ähnlicher als die beiden Gruppen der
jeweiligen Kontinente.
Und Darwin stellte eine weitere Folge
dieser Tatsache fest: Arten, die zwar unter
ähnlichen Umweltbedingungen, aber auf
verschiedenen Kontinenten leben, ähneln
sich oft nicht. Hingegen können in einer
Region verwandte Arten mitunter sehr verschiedene ökologische Nischen einnehmen. Hierzu hatte Darwin auf den Galápagos-Inseln eine wichtige Beobachtung
gemacht. Auf diesen Inseln gab es weder
Bäume noch Säugetiere. Dafür hatten Vertreter anderer Gruppen, die normalerweise
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¯ Darwin postulierte, dass
Arten von einem gemeinsamen
Vorfahren abstammen.
(Bild: John van Wyhe, The Complete Work of Charles Darwin
Online, http://darwin-online.
org.uk).
te für seine Theorie zu finden, enthalten seine Publikationen über die Rankenfußkrebse
keinen Hinweis darauf.
Fortsetzung unserer Reihe zu Charles Darwin in der nächsten BIOspektrum-Ausgabe
03/09.
ó
Literatur
ganz andere Nischen besetzen, deren Aufgaben übernommen, wenn auch nur zum Teil
und bisweilen auf recht bizarre Weise. Dies
bestätigte Darwins Annahme, dass die Lebewesen nicht für eine bestimmte Umgebung
geschaffen worden waren, sondern sich aus
bereits existierenden Arten entwickelt hatten, um bestimmte Nischen zu füllen.
Umwege auf dem Weg zur Veröffentlichung der Evolutionstheorie
Neben diesen Überlegungen begann Darwin
im Jahre 1846 ein Projekt, das ihn acht Jahre
beschäftigen sollte: die systematische Klassifizierung der Rankenfußkrebse (Cirripedia)[6–9]. Die Taxonomie war damals eine sehr
aktive Disziplin. Bereits im 18. Jahrhundert
hatten Naturforscher, wie der Schwede Carl
von Linné, versucht, alle Tier- und Pflanzenarten aufgrund morphologischer Ähnlichkeiten zu ordnen. Dies offenbarte ein übergeordnetes System, das suggerierte, dass die
Arten auf irgendeine Weise zusammengehörten.
Diese Erkenntnis warf unmittelbar Fragen
auf, z. B. nach dem Grund für diese Ordnung.
Wenn die Arten einzeln geschaffen wurden,
warum sollten sie dann in logischer Weise
zusammenhängen? Mit steigender Zahl an
Arten, die eingeordnet wurden, wurde auch
klar, dass das System nicht symmetrisch aufgebaut war: Manche Gruppen von Arten
waren klein und unterschieden sich stark von
anderen; andere hingegen waren groß mit
vielen Arten, die sich oft nur geringfügig voneinander unterschieden. Wie ließ sich diese
Unausgewogenheit erklären?
In diesem Kontext untersuchte Darwin die
Rankenfußkrebse, eine Tiergruppe, über die
damals nur wenig bekannt war. Darwin interessierte sich bereits seit seinem Studium
unter Robert E. Grant in Edinburgh für mari-
ne Invertebraten und hatte sich auch während seiner Zeit auf der HMS Beagle immer
wieder intensiv mit verschiedenen Meerestieren befasst. Die Rankenfußkrebse waren
Mitte des 19. Jahrhunderts von besonderem
zoologischen Interesse. Lange war man davon
ausgegangen, dass sie zur Gruppe der Mollusken gehörten. Erst nachdem ihre Larven in
den frühen 1830er-Jahren entdeckt wurden
und man feststellte, dass sie denen anderer
Krebstiere (Crustacea) sehr ähnlich sahen,
erkannte man, dass möglicherweise eine Neuordnung dieser Gruppe nötig sei. Darüber
hinaus warf diese Erkenntnis generelle Fragen zur Grundlage der taxonomischen Ordnung auf. Darwin machte sich daran, diese
Fragen zu klären.
Seine systematische Untersuchung der
Rankenfußkrebse etablierte ihn als bedeutenden Zoologen und sollte über viele Jahrzehnte das Standardwerk über diese Tiergruppe bleiben. Diese Arbeit hatte aber für
Darwin noch eine andere Bedeutung; sie
ermöglichte es ihm, seine Vorstellungen zur
Anpassung der Arten an bestimmte Umweltbedingungen zu überprüfen. So bestätigten
seine morphologischen Analysen, dass Veränderungen in der Anatomie bestimmter Körperteile zu neuen Funktionen führen können,
die eine Spezies an eine bestimmte Lebensweise anpasst.
Auch sah er die Ähnlichkeiten zwischen
den Embryonen verschiedener Arten als
einen weiteren Beleg für seine Theorie der
Evolution. Für Darwin war Homologie, sowohl
während der Entwicklung als auch im adulten
Organismus, nicht nur eine zufällige Übereinstimmung im Bauplan von Lebewesen. Er
sah sie als ein klares Zeichen für eine gemeinsame Abstammung. Doch obwohl Darwin diese Arbeit wohl auch mit dem Hintergedanken
auf sich genommen hatte, weitere Argumen-
[1] Malthus, T. R. (1826): An essay on the principle of population: or, a view of its past and present effects on human happiness: with an inquiry into our prospects respecting the future
removal or mitigation of the evils which it occasions. John
Murray, London.
[2] Darwin, C. (1845): Journal of researches into the natural
history and geology of the countries visited during the voyage
of H.M.S. Beagle round the world, under the Command of
Capt. FitzRoy, R.N. John Murray, London.
[3] Darwin, C. R. (1842): The structure and distribution of
coral reefs. Being the first part of the geology of the voyage of
the Beagle, under the command of Capt. FitzRoy, R.N. during
the years 1832 to 1836. Smith Elder and Co., London.
[4] Darwin, C. R. (1844): Geological observations on the volcanic islands visited during the voyage of H.M.S. Beagle,
together with some brief notices of the geology of Australia
and the Cape of Good Hope. Being the second part of the geology of the voyage of the Beagle, under the command of Capt.
FitzRoy, R.N. during the years 1832 to 1836. Smith Elder and
Co., London.
[5] Darwin, C. R. (1846): Geological observations on South
America. Being the third part of the geology of the voyage of
the Beagle, under the command of Capt. FitzRoy, R.N. during
the years 1832 to 1836. Smith Elder and Co., London.
[6] Darwin, C. R. (1851): A monograph on the fossil
Lepadidae, or, pedunculated cirripedes of Great Britain.
Palaeontographical Society, London.
[7] Darwin, C. R. (1851 [=1852]): A monograph of the subclass Cirripedia, with figures of all the species. The
Lepadidae; or, pedunculated cirripedes. The Ray Society,
London.
[8] Darwin, C. R. (1854): A monograph on the sub-class
Cirripedia, with figures of all the species. The Balanidae, (or
sessile cirripedes); the Verrucidae etc. The Ray Society,
London.
[9] Darwin, C. R. (1854 [=1855]): A monograph on the fossil
Balanidae and Verrucidae of Great Britain. Palaeontographical
Society, London.
www.darwin-online.org.uk
www.darwinproject.ac.uk
www.nature.com/darwin
www.sciencemag.org/darwin
Korrespondenzadresse:
PD Dr. Ralf Dahm
CNIO
C/Melchor Fernández
Almagro 3
E-28029 Madrid
[email protected]
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