Asymmetrische Neutrinoemission: Ein neues Phänomen in

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Jahrbuch 2014/2015 | Janka, Hans-Thomas | Asymmetrische Neutrinoemission: Ein neues Phänomen in
entstehenden Neutronensternen
Asymmetrische Neutrinoemission: Ein neues Phänomen in
entstehenden Neutronensternen
A new neutrino-emission asymmetry in forming neutron stars
Janka, Hans-Thomas
Max-Planck-Institut für Astrophysik, Garching
Korrespondierender Autor
E-Mail: [email protected]
Zusammenfassung
Im
Zentrum
von
explodierenden
Sternen,
sog.
Supernovae,
entstehen
extrem
heiße
und
dichte
Neutronensterne. Erste dreidimensionale Computersimulationen zeigen eine unerw artete, lang anhaltende
Dipolasymmetrie der Neutrinoabstrahlung dieser kompakten Sternleichen. Sollte dieses erstaunliche Ergebnis
der theoretischen Modelle physikalisch real sein, hätte eine solche Emissionsdifferenz in gegenüberliegenden
Halbkugeln w eitreichende Konsequenzen für die Entstehung schw erer Elemente in Sternexplosionen und
w ürde den Neutronenstern durch einen Rückstoß beschleunigen.
Summary
Neutron stars are born as extremely hot and dense objects at the centers of massive stars exploding as
supernovae. They cool by intense emission of neutrinos. Three-dimensional supercomputer simulations at the
very forefront of current modelling efforts reveal the stunning and unexpected possibility that this neutrino
emission can develop a hemispheric (dipolar) asymmetry. If this new neutrino-hydrodynamical instability
happens in nature, it w ill lead to a recoil acceleration of the neutron star and w ill have important
consequences for the formation of chemical elements in stellar explosions.
Sterne mit mehr als zirka achtfacher Masse der Sonne beenden ihr Leben in gigantischen Explosionen,
sogenannten Supernovae. Diese spektakulären Ereignisse gehören zu den energiereichsten und hellsten
Erscheinungen im Universum und können eine ganze Galaxie für Wochen überstrahlen. Supernovae sind
w ichtige kosmische Quellen schw erer chemischer Elemente. Sie schleudern nicht nur Kohlenstoff, Sauerstoff
und Silizium in den interstellaren Raum, nachdem diese über viele Millionen Jahre im Innern der alternden
Sterne erbrütet w urden, sondern erzeugen im Verlauf der Explosion auch Eisen und noch schw erere Elemente.
W ährend der Großteil der Sternmaterie durch die Supernova ausgeschleudert w ird, kollabiert der Kern des
sterbenden
Sterns
unter
seiner
eigenen
Schw erkraft
zu
einem
ultrakompakten
Überrest,
einem
Neutronenstern. Diese w ahrlich exotischen Objekte besitzen ungefähr die eineinhalbfache Masse der Sonne,
zusammengequetscht in einer Kugel mit dem Durchmesser Münchens. Die zentrale Dichte in einem
Neutronenstern erreicht unvorstellbare 300 Millionen Tonnen (das Gew icht eines Berges) im Volumen eines
Zuckerw ürfels und übersteigt damit die Dichte von Atomkernen.
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Die Materie in entstehenden Neutronensternen ist extrem heiß, die Temperaturen können mehr als 500
Milliarden Grad betragen. Bei derartigen Bedingungen erzeugen Teilchenreaktionen von Neutronen, Protonen,
Elektronen und Positronen (den Antiteilchen der Elektronen) riesige Mengen von Neutrinos. Daher kühlen neu
geborene Neutronensterne durch die Abstrahlung von rund 10 58 dieser ungeladenen, fast masselosen
Elementarteilchen, die extrem selten mit irdischer Materie w echselw irken: Nur ein einziges von einer Milliarde
Neutrinos aus einer Supernova
(oder von der Sonne, die
ebenfalls Neutrinos in einem nuklearen
„Fusionskraftw erk” in ihrem Zentrum erzeugt) kollidiert mit einem Teilchen in der Erde, alle anderen fliegen
ohne eine einzige W echselw irkung durch die Erde hindurch.
A bb. 1: Entwick lung de r a sym m e trische n Ne utrinoe m ission im
k olla bie re nde n Ke rn e ine s Ste rns m it 11,2-fa che r Ma sse de r
Sonne . Die Ellipse n ze ige n die ge sa m te O be rflä che de s
e ntste he nde n Ne utrone nste rns (a na log zu e ine r W e ltk a rte a ls
e be ne r P roje k tion de r Erdobe rflä che ). R ot und Ge lb be de ute n
e ine n Übe rschuss von Ele k tronne utrinos ge ge nübe r
Ele k trona ntine utrinos, norm ie rt a uf de n Mitte lwe rt für a lle
R ichtunge n; Bla u ste ht für e in re la tive s De fizit von
Ele k tronne utrinos. Die Se que nz von Bilde rn ze igt a nfä nglich
k le ine re Va ria tione n zu e ine r Ze it von 0,148 Se k unde n (link e s
obe re s Bild), die da nn na ch und na ch zu e ine r de utliche n
he m isphä rische n (dipola re n) Asym m e trie be i 0,240 Se k unde n
ve rschm e lze n (re chte s unte re s Bild). De r schwa rze Kre is und
da s Kre uz m a rk ie re n Em issionsm a x im um und -m inim um , die
dünne , dunk e lgra ue Linie de ute t de n W e g de r la ngsa m
drifte nde n Dipolrichtung a n.
© The Am e rica n Astronom ica l Socie ty und Ma x -P la nck -Institut
für Astrophysik / Ja nk a
Neutronensterne emittieren Neutrinos und Antineutrinos aller drei Flavors („Geschmacksrichtungen”), die zu
den drei bekannten Familien geladener Leptonen gehören, nämlich Elektronneutrinos, Myonneutrinos und
Tauneutrinos. Diese Neutrinos sollten nach klassischer Vorstellung in alle Raumrichtungen gleichförmig
abgestrahlt w erden, w eil Neutronensterne w egen ihrer gew altigen Gravitationskräfte nahezu perfekt
kugelförmig sind. Die meisten bisherigen Computermodelle für die Neutronensternentstehung haben daher
Kugelsymmetrie angenommen. Erst vor kurzem ist es aufgrund der w achsenden Leistungsstärke moderner
Supercomputer möglich gew orden, die ersten dreidimensionalen Simulationen unter Berücksichtigung der
hochkomplexen Neutrinophysik durchzuführen.
W ie erw artet ist die Neutrinoemission zunächst sphärisch, abgesehen von kleineren, über die Oberfläche
verteilten Variationen (Abb. 1, linkes oberes Bild). Diese Variationen entsprechen heißeren und kühleren
Regionen, die durch w ildes „Kochen” und Brodeln der heißen Materie in und um den Neutronenstern erzeugt
w erden, w eil Blasen heißen Gases aufsteigen und Strömungen kühleren Plasmas nach innen sinken (Abb. 2).
Allmählich aber w achsen die Gebiete mit höheren und niedrigeren Temperaturen zu einer hemisphärischen
Anisotropie, sodass eine Halbkugel mehr Neutrinos abstrahlt als die gegenüberliegende Seite. Eine stabile
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Dipolasymmetrie stellt sich ein, die über lange Zeiten erhalten bleibt. W ährend die Emission aller Neutrinos
zusammen relativ kleine hemisphärische Unterschiede im Prozentbereich aufw eist (Abb. 3, oben), kann die
Differenz zw ischen den Hemisphären bei Elektronneutrinos und -antineutrinos individuell bis zu 20 Prozent des
mittleren Wertes betragen (Abb. 3, Mitte und unten). Besonders ausgeprägt sind die Richtungsvariationen bei
der Differenz von Elektronneutrinos und -antineutrinos (Abb. 1, rechtes unteres Bild), d. h. bei der
sogenannten Leptonzahlemission.
A bb. 2: Bla se n von „k oche nde m ” und brode lnde m he iße n
Ga s, da s de n (im Ze ntrum nicht sichtba re n) e ntste he nde n
Ne utrone nste rn um gibt. Trotz de r e x tre m ze ita bhä ngige n und
dyna m ische n Ve rä nde runge n de r Ström unge n he iße r
a ufste ige nde r Ma te rie und a bsink e nde r, k ühle re r Ma te rie ste llt
sich e ine he m isphä rische Asym m e trie de r Ne utrinoe m ission
e in, die übe r vie l lä nge re Ze ite n a ls die Le be nsda ue r
e inze lne r Bla se n sta bil e rha lte n ble ibt.
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Die Möglichkeit einer solchen globalen Anisotropie der Neutrinoabstrahlung w ar nicht vorhergesagt w orden
und
ihr Auftreten
in
den
ersten
dreidimensionalen
Simulationen
der dynamischen
Entstehung
von
Neutronensternen ist ein völlig unerw artetes Ergebnis. Das Phänomen zeigt erstaunliches Verhalten: Trotz
des w ilden Brodelns der „kochenden”, heißen Materie, w elches rasche Variationen des Strömungsmusters
innerhalb und außerhalb des
Neutronensterns
zur Folge
hat (Abb. 2), bleibt der Unterschied der
Neutrinoemission in beiden Hemisphären über lange Zeiträume stabil bestehen und zeigt nur eine langsame
und moderate Verschiebung der räumlichen Richtung (siehe dünne, dunkelgraue Linie in Abb. 1). Das
Astrophysikerteam gab dem neuen Phänomen daher den Namen „LESA” für Lepton-Emission Self-sustained
Asymmetry (deutsch: sich selbst erhaltende Leptonemissions-Asymmetrie), denn der Emissionsdipol scheint
sich durch komplizierte Rückkopplungseffekte selbst zu stabilisieren und zu erhalten [1]. Die asymmetrische
Neutrinostrahlung beeinflusst den Kollaps des stellaren Kerns, sodass in beiden Hemisphären unterschiedlich
viel Materie auf den Neutronenstern fällt, w as die anisotrope Abstrahlung von Neutrinos unterstützt und
verstärkt. Dieses Ergebnis legt nahe, dass der kugelsymmetrische Kollaps eines stellaren Kerns keine stabile
Situation darstellt, sondern das System eine neue, stabile Dipolasymmetrie annehmen möchte.
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A bb. 3: Be oba chtba re Asym m e trie de r Ne utrinoe m ission,
ge m itte lt übe r e ine n Ze itra um von 0,1 Se k unde n. Ana log zu
Abbildung 1 ste lle n die Ellipse n a lle m ögliche n
Be oba chtungsrichtunge n da r. In de n rote n Be re iche n se he n
Be oba chte r die stä rk ste Em ission, wohinge ge n in de n bla ue n
Ge bie te n m inim a le Em ission e m pfa nge n wird. W ä hre nd de r
he m isphä rische Unte rschie d de r Sum m e von Ele k tronne utrinos
und -a ntine utrinos nur im P roze ntbe re ich lie gt (obe n),
be tra ge n die Diffe re nze n be i Ele k tronne utrinos (Mitte ) und
Ele k trona ntine utrinos (unte n) individue ll bis zu 20 P roze nt de s
Ma x im a lwe rts m it de n je we ilige n Ex tre m a in de n
e ntge ge nge se tze n He m isphä re n.
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Falls LESA w irklich in kollabierenden stellaren Kernen auftritt, hat dieses Phänomen w ichtige Folgen für
beobachtbare Erscheinungen bei Supernovaexplosionen. Die vom Neutronenstern abgestrahlten Neutrinos
w echselw irken mit der aus dem innersten Zentrum der Supernova ausgeschleuderten Materie und bestimmen
dabei das Verhältnis von Neutronen und Protonen in diesem Gas. Letzteres ist entscheidend dafür, w elche
chemischen Elemente sich dann später in den abkühlenden Ejekta bilden. Eine richtungsabhängige Variation
der Emission von Elektronneutrinos und -antineutrinos w ird daher zu unterschiedlicher Elemententstehung in
verschiedenen Richtungen führen. Außerdem tragen die anisotrop abgestrahlten Neutrinos einen Impuls, der
einen entgegengesetzten Rückstoß auf den Neutronenstern verursacht. Wegen der gigantischen Zahl
entw eichender Neutrinos genügt bereits eine kleine Asymmetrie von nur einem Prozent, sollte sie über
Sekunden aufrecht erhalten bleiben, um den Neutronenstern auf rund 100 Kilometer pro Sekunde zu
beschleunigen. Auch der Neutrinoblitz, der die Erde von einer zukünftigen galaktischen Supernova erreichen
w ird, muss dann von der Beobachtungsrichtung abhängen. Zuverlässige Berechnungen des Signals, das große
Untergrundlabors w ie IceCube am Südpol und SuperKamiokande in Japan messen w erden, sind daher nur
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unter Berücksichtigung der Richtungsvariationen möglich, die von den neuen dreidimensionalen Modellen
vorhergesagt w erden [2, 3].
Jedoch ist die verblüffende neutrino-hydrodynamische Instabilität, die sich im LESA-Phänomen manifestiert,
noch nicht gut verstanden. Viel mehr Forschung ist notw endig, um sicherzustellen, dass es sich nicht um ein
Artefakt der hochkomplexen numerischen Simulationen handelt. Sollte der neue Effekt physikalisch real sein,
stellt er eine Entdeckung dar, die direkt durch den Einsatz modernster Supercomputer bei der Berechnung
eines nichtlinearen Systems ermöglicht w urde, ohne dass dieses Phänomen durch theoretische Überlegungen
zuvor vermutet w orden w äre.
Literaturhinweise
[1] Tamborra, I.; Hanke, F.; Janka, H.-Th.; Müller, B.; Raffelt, G. G.; Marek, A.
Self-sustained asymmetry of lepton-number emission: A new phenomenon during the supernova shockaccretion phase in three dimensions
Astrophysical Journal 792, 96 (2014)
[2] Tamborra, I.; Hanke, F.; Müller, B.; Janka, H.-Th.; Raffelt, G.
Neutrino signature of supernova hydrodynamical instabilities in three dimensions
Physical Review Letters 111, 121104 (2013)
[3] Tamborra, I.; Raffelt, G.; Hanke, F.; Janka, H.-Th.; Müller, B.
Neutrino emission characteristics and detection opportunities based on three-dimensional supernova
simulations
Physical Review D 90, 045032 (2014)
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