Dissoziative Störungen Konzept Störungen Beispiele H.P. Kapfhammer Klinik für Psychiatrie u. Psychotherapeutische Mdeizin Medizinische Universität Graz Dissoziative Störungen im historischen Kontextder „Hysterie“ Historisch enge Verknüpfung mit der Hysterie-Diskussion „Einheit der Persönlichkeit“ - Illusion „Einheit des Bewusstseins“ - Unbewusstes Charcot, Janet, Breuer, Freud, Prince, James, Jackson Historische Entwicklung der Dissoziation Gründe des Verschwindens und Wiedererscheinens Auflösung des Hysterie-Komplexes im DSM-IV-TR (APA, 1980; 1987; 1994; 2000) Hysterie [Neurose / Persönlichkeit / Pychose] Somatoforme Störungen Somatisierungsstörung, undifferenzierte somatoforme Störung, Konversionsstörung, Schmerzstörung, NNB somatoforme Störung Dissoziative Störungen Dissoziative Amnesie, Fugue, Identitätsstörung, Depersonalisationsstörung Persönlichkeitsstörungen Cluster B: speziell: Histrionisch, Borderline Angststörungen Posttraumatische Belastungsstörung, akute Belastungsstörung Artifizielle Störungen mit vorwiegend körperlichen/psychischen Symptomen Simulation klinisch relevante Probleme (V-Codierung) Psychosen Bleuler-Schizophrenie-Konzept, Emotions-, psychogene Psychosen „Hysterie“ im Fokus zahlreicher wissenschaftlicher Diskurse Trauma – Dissoziation - Somatisierung Lehre „psychologischer Automatismen“ (1889) komplexe Handlungstendenzen + Einheitlichkeit bewussten Erlebens + willentliche Kontrolle Trauma: Dissoziation + behinderte Verarbeitung Traumaerfahrung: unterbewußte fixe Idee (affektiv-kognitiv-sensorimotorisch-viszerale Organisation ohne selbstreflexive Kontrolle) J.P. Janet [1859-1947] Diskontinuität des Erlebens und Erinnerns: - Gedächtnislücken, andere Bewusstseinszustände, - „Erinnerungsphobie“, „Traumafixierung“ - psychosomatische Erschöpfung, Vermeidung Moderne Konzeptualisierung von Dissoziation breite Bedeutung enge Bedeutung normalpsychologische Phänomene: psychopathologische Phänomene: komplexe automatisierte Verhaltensweisen Perzeption ohne bewusste Wahrnehmung implizites vs. explizites Gedächtnis Meditation Hypnose, Suggestibilität mentale Absorption Versunkenheit in Phantasie teilweiser oder völliger Verlust der integrativen Funktionen des Bewusstseins, des Gedächtnisses der Identität der Wahrnehmung von Selbst u. Umwelt bestimmter neurologischer Systeme Normalpersönlichkeit v. a. traumatologischer Bedingungskontext ? Dissoziative Phänomene (nach: Cardeña 1994) Pathologisch Blindsicht Comissurotomie Organische Amnesie Epileptische Fugue Hemineglect Dissoziative Identitätsstörung Depersonalisation / Derealisation Dissoziative Amnesie Dissoziative Fugue Konversionsstörung Neurologisch Psychologisch Medikamenten-abhängiges Lernen Schlafamnesie Normal Hypnose Out-of-body-Erlebnisse Automatismen Konzeptuelle Unterteilung dissoziativer Symptome Dissoziative Symptome Dissoziative Symptome aus einer Störung von normalerweise miteinander in integrierten Funktionseinheiten kommunizierenden Systemen / Modulen mit grundlegender Veränderung des Bewusstseins, die zur Entfremdung und pathologischen Abwandlung in Selbst- und Umweltwahrnehmung führen „compartmentalization“ „detachment“ [Allen 2001, Brown 2002, Holmes et al. 2005] Dissoziative Symptome DSM-5 definiert dissoziative Symptome einerseits als eine unerwünschte Unterbrechung des Bewusstseins und Verhaltens, die mit einem Verlust der Kontinuität des subjektiven Erlebens einhergeht, anderseits als eine Unfähigkeit, willentlich auf normalerweise verfügbare Informationen zurückgreifen oder intakte psychische Funktionen kontrollieren zu können. Dissoziative Symptome betreffen also die normale Integration von Bewusstsein, Gedächtnis, Identität, Wahrnehmung, Emotionen, Körperbild, Kontrolle motorischer Funktionen und Verhalten. Es werden sowohl „positive“ als auch „negative Symptome“ erfasst, die sich prinzipiell auf eine psychologische und eine körperliche Domäne beziehen können. Psychologische und körperliche dissoziative Symptome [nach: Nijenhuis et al. 2004; van der Hart et al. 2006] Psychoforme dissoziative Symptome Somatoforme dissoziative Symptome Negative dissoziative Symptome Gedächtnisverlust: dissoziative Amnesie Depersonalisation mit Trennung zwischen beobachtendem und erlebendem Persönlichkeitsanteil Verlust der Affektivität: emotionale Anästhesie Verlust bestimmter Persönlichkeitscharakteristika Verlust der Sensibilität: Anästhesie Verlust des Schmerzempfindens: Analgesie Verlust motorischer Handlungen: Unfähigkeit sich zu bewegen, gehen, stehen, sprechen, schlucken etc. (Konversionssymptome) Positive dissoziative Symptome psychische Intrusionssymptome (bestimmte Symptome nach K. Schneider) wie Hören von inneren Stimmen, „gemachte“ Emotionen, Gedanken somatoforme Intrusionssymptome wie gemachte“ Sensationen (z.B. Schmerzen) oder Bewegungen (z.B. Tics) pseudoepileptische Anfälle psychische Aspekte der Traumaerinnerungen somatoforme Aspekte der Traumaerinnerungen in Form von intrusiven visuellen oder akustischen wie besondere trauma-bezogene Sensationen Wahrnehmungen, Affekten, Vorstellungen und Körperbewegungen psychische Aspekte des Alternierens zwischen dissoziativen Teilen der Persönlichkeit somatoforme Aspekte des Alternierens zwischen dissoziativen Teilen der Persönlichkeit Dissoziatives Symptomcluster von klinischer Relevanz Amnesie: Vergessen von persönlichen Informationen, das ausgeprägter als durch eine gewöhnliche Vergesslichkeit erklärbar ist Depersonalisation: verändertes oder verzerrtes Erleben und Wahrnehmen der eigenen Person und des eigenen Körpers mit Gefühlen der Selbstentfremdung und emotionalen Distanzierung von sich Derealisation: Gefühl der Entfremdung und emotionalen Distanzierung gegenüber der Umwelt mit einer möglichen Konnotation von Unwirklichkeit Identitätskonfusion: subjektives Gefühl von Unsicherheit, Verwirrung oder Konflikt hinsichtlich der persönlichen Identität Identitätsveränderung: Wechsel in Rolle oder Identität einer Person mit möglichem Gebrauch unterschiedlicher Namen und Biographien, der Demonstration von sonst nicht verfügbarem Wissen und persönlichen Fertigkeiten Pseudoneurologische Symptome: dissoziative Symptome der Bewegung, Sinnesempfindung und Bewusstseinsregulierung Das dissoziative Spektrum normale Dissoziation dissoziative Amnesie KonversionsSyndrome dissoziative PTSD Fugue DID Depersonalisation - Derealisation polyfragmentierte DID Prävalenz von dissoziativen Störungen in unterschiedlichen Untersuchungskontexten [modifiziert nach Sar 2011] Studie Anzahl der Patienten / Probanden Diagnostisches Instrument Cut-off im DES Screening Dissoziative Störungen – allgemein (%) Dissoziative Identitätsstörung (%) 166 207 115 122 120 172 484 39 407 DDIS DDIS SCID-D SCID-D SCID-D DDIS DDIS DDIS DDIS 30 20 25 25 20 - 10.2 5.0 4.3 8.0 12.0 13.0 20.7 21.0 40.8 5.4 0.4 0.9 2.0 0.8 4.0 5.4 7.5 150 240 82 39 DDIS SCID-D DDIS DDIS 30 25 - 12.0 13.8 29.0 14.0 2.0 2.5 6.0 - 43 SCID-D 25 34.9 14.0 994 628 658 454 DDIS DDIS SCID-D DDIS 17 - 1.7 18.3 8.6 11.2 0.4 1.1 1.5 3.1 Stationäres Setting Tutkun et al. (1998) Modestin et al. (1996) Gast et al. (2001) Friedl u. Draijer (2000) Ginzburg et al. (2010) Saxe et al. (1993) Ross et al. (1991) Lipsanen et al. (2004) Ross et al. (2002) Poliklinisches Setting Sar et al. (2000) Sar et al. (2003) Foote et al. (2006) Lipsanen et al. (2004) Notaufnahme Sar et al. (2007 a) Allgemeinbevölkerung Akyüz et al. (1999) Sar et al. (2007 b) Johnson et al. (2006) Ross (1991) Depersonalisation / Derealisation Definition Depersonalisation: Derealisation: • • • • • • Entfremdungsgefühl gegenüber eigenem Körper und personalem Selbst analoges Gefühl der Person gegenüber der Umwelt Realitätsurteil: intakt Wahrnehmungsveränderungen: unangenehm, oft nur schwer verbalisierbar („als wie“) Kontinuum: zusammen oder aber getrennt Symptome bei Vielzahl von psychiatrischen Störungen - Angst- und Panikstörungen, Zwang, Depression, Schizophrenie, Borderline-Störung - somatische Erkrankungen, z.B. bei Epilepsien, Migräne, - Substanzmissbrauch, Entzugssyndrome, unerwünschte Arzneimittelwirkungen eigenständige klinische Syndrome Symptome bei anderen dissoziativen Störungen Depersonalisation / Derealisation Symptomatologie „Das Individuum fühlt sich vollständig verändert im Vergleich zu dem, was es vorher war. Diese Veränderung ist gegenwärtig im Selbst wie auch in seiner Außenwelt, das Individuum erkennt sich selbst nicht mehr als eine Persönlichkeit. Seine Handlungen erscheinen ihm als automatisch. Er beobachtet seine Handlungen und sein Verhalten vom Standpunkt eines äußeren Betrachters. Die Außenwelt ist ihm fremd und neu und nicht so wirklich wie zuvor“ (Schilder 1935) - intensive unangenehme, zuweilen quälende Affektqualität als Selbstverlust registrierte veränderte Selbstwahrnehmung mit gemindertem Selbstwertgefühl Beschämung, soziale Isoliertheit, Angst vor Verlust körperlicher Kontrolle oder geistiger Gesundheit diffuse Somatisierungssymptome, beunruhigende Benommenheit, elementares Schwindelgefühl Verlust der klaren Zeitwahrnehmung autoskopische Phänomene, Metamorphopsien und Störungen des Körperschemas Kontakt zur Umwelt verloren, ohne übliche affektive Konnotation, traumhaft entrückt Depersonalisation / Derealisation Ätiopathogenese multifaktorielle Genese mit gemeinsamer zerebraler Endstrecke - Irritation der neuronalen Verbindungen mit Temporallappen serotonerge, glutamaterge, opioiderge Dysfunktion Epilepsien, Migräne (Lambert et al. 2002) Konsum von Cannabis, Halluzinogenen (Simeon 2004) metabolische Störungen, Intoxikationen (Medford et al. 2003) präformierte cerebrale Reaktionsweise bei traumatischen Erfahrungen (Simeon et al. 2003) intrapsychische Abwehr von schmerzlichen, beschämenden oder konflikthaften Affekten Spaltung zwischen beobachtenden und erlebenden Funktionen mit distanzierter Sicht auf Selbst in kindlicher Entwicklung elementare Erlebnisaspekte als unwirklich zurückgewiesen Folge einer zugrundeliegenden spezifischen Affektstörung - „phobischen Angst-Depersonalisationssyndroms“ (Roth 1959) - „Entfremdungs-“ bzw. der „teilnahmslosen Depression“ (Leonhard 1995) Symptomatische Hauptdimensionen von Depersonalisation / Derealisation nach: Sierra (2009) Depersonalisation / Derealisation Verlauf und Prognose • • • • • Beginn einer Depersonalisation / Derealisation gewöhnlich plötzlich gelegentlich auch allmählich Verlaufsdauer abhängig von Form der Depersonalisation und zugrundeliegenden Bedingungen primäre Depersonalisationsstörung nicht selten chronisch-persistierend hiermit erhöhtes Suizidrisiko assoziiert Dissoziative Amnesie Definition - Vergessen von wichtigen persönlichen Informationen: weder durch „gewöhnliche“ Vergesslichkeit noch durch hirnorganische oder internistische Erkrankung erklärbar - retrograde Amnesie: eine Episode oder Zeitraum vor definiertem Ereignis, meist unangenehmer, belastender oder traumatischer Natur nicht unter Einfluss massiven Alkoholkonsums („Black-out“) oder anderer psychotrop wirksamer Substanzen (z.B. Benzodiazepine) - in der Regel reversibel, aber auch chronische Verläufe möglich - integrales Symptom bei dissoziativer Fugue oder dissoziativen Identitätsstörung Dissoziative Amnesie Symptomatologie Typ der mnestischen Störung episodisches-explizites autobiographisches Gedächtnis betroffen prozedurales Gedächtnis intakt: relativ umfängliche Gruppen von Erinnerungen einschließlich hiermit assoziierter Affekte nicht mehr bewusst und willentlich verfügbar – ohne Konnex zum Selbst in seiner biographischen Kontinuität Zeitstruktur in der Regel retrograd eine oder mehrere zeitlich umrissene Episoden nicht mehr erinnerbar, neue episodische Informationen anterograd ohne Probleme erlernbar bei Intaktsein der allgemeinen kognitiven und sprachlichen Fertigkeiten Typ der vergessenen Ereignisse gewöhnlich traumatisch, unangenehm, belastend; verbunden mit auf den Alltag bezogenen Fragen: „wer bin ich?, was habe ich getan?, mit wem habe ich gesprochen?, was ich habe zu einer bestimmten Zeit gedacht, gefühlt usw.?“ Dissoziative Amnesie umschrieben selektiv Janet (1894) DA generalisiert kontinuierlich systematisiert Dissoziative Amnesie Diagnose und Differentialdiagnose Symptom: einer anderen dissoziativen Störung einer akuten oder posttraumatischen Belastungsstörung einer somatoformen, speziell einer Konversionsstörung einer Borderline Persönlichkeitsstörung Simulation oder artifizielle Störung organisch: dementielle Entwicklung, Delir, Epilepsie, Migräne, transiente globale Amnesie, nach Schädel-Hirn-Trauma toxisch: massiver Alkoholkonsum Barbiturate, Benzodiazepine, Phencyclidin, LSD und Steroide metabolische Störungen wie z.B. Urämie, Hypoglykämie, Porphyrie Mehrebenen-Unterscheidung organischer vs. psychogener Amnesien [nach: Reinhard u. Markowitsch 2009] Dissoziative Erinnerungsmodalität bei trauma-assoziierter Stimuluskonfrontation Lanius (2007) Rauch et al. (1996) Dissoziative Amnesie und dysfunktionale Neurotransmittersysteme / HPA-Achse Noradrenalin Glutamat endogene Opioide HPA-Achse Multiple Systeme des expliziten und impliziten Gedächtnisses nach: Squire u. Zola (1996) Multiple Gedächtnissysteme und Selbstorganisation nach: Tulving (2005) nach: Markowitsch u. Staniloiu (2011) Entwicklung von Gedächtnis und Selbst nach: Nelson u. Fivush (2004) Wahrnehmen und Speichern emotional bedeutsamer Episoden prozedurales (Habit) Lernen Belohungslernen Striatum konditioniertes emotionales Lernen Präfrontaler Kortex Amygdala Dorsal Arbeitsgedächtnis Meta-Gedächtnis Gedächtnisstrategien prospektives Gedächtnis Ventral semantisches Gedächtnis Extinktionslernen konzeptuelles Priming autobiographisches Gedächtnis Gedächtnissystem des medialen Temporallappens Hippocampus Entorhinaler Kortex Perirhinaler Kortex Deklaratives Gedächtnis Gedächtniskonsolidierung kontextuelles Gedächtnis für Furcht komplexe Konditionierung HPA-Achse Zerebellum Sensorischer Neokortex neurohumorale Gedächtnismodulation Reflexkonditionierung motorisches Lernen Gedächtnisspeicherung konzeptuelles Priming Wahrnehmungspriming nach: LaBar u. Cabeza 2006 Neuronales Netzwerk des autobiographischen Gedächtnisses Autobiographisches Gedächtnis rekonstruktiver Erinnerungsprozess mit spezifischen Funktionen: - Identitätskontinuität - soziale Interaktionen - Direktive für die Zukunft nach: Cabeza u. St Jacques (2007) Informationsverarbeitung unter Einfluss schwer wiegender Stressoren / Traumata aus: Kapfhammer (2011) Schlüsselreiz-getriggerte, intrusive Traumaerinnerung Verbal zugängiges autobiographisches Gedächtnis Situationszugängiges Traumagedächtnis Verbalisierung des sprachlosen Schreckens: Intrusive Erinnerung „Flashback“ - Autonome Aktivierung, Aufmerksamkeit, Vigilanz - Ausmaß / Form der Dissoziation - Spezifische Affekte - Spezifische Kognitionen, Überzeugungen - Coping-Strategien - Soziale Unterstützung Wiedererinnern von traumatischen Erfahrungen Van der Kolk (1984) traumainduzierte dissoziative Erinnerungsmodalität: desorganisiert, unvollständig erinnert, repetitiv stark visualisiert, schlecht verbalisierbar, „real“ „vergangen“ = „gegenwärtig“ Hartmann (1998) chronische posttraumatische Verläufe versus akute posttraumatische Verläufe: „Entwicklung“: affektgeladene Erinnerung des traumatischen Geschehens Zurücktreten sensorischer Aspekte – bildhafte Darstellung von Emotionen (Hilflosigkeit, Horror, Furcht – Schuld –Trauerarbeit) Integration in ein narratives Selbst Dissoziative Fugue Definition - unerwartetes Verlassen der (s) häuslichen Umgebung /Arbeitsplatzes - nicht im klaren darüber, warum und wohin unterwegs - meist an fremdem Ort angetroffen, nicht möglicher Bericht zur persönlichen Vergangenheit - dissoziativ-amnestisches Erleben + Verwirrung über personale Identität + ev. teilweise oder vollständig neue Identität Beispiel: Reverend Ansel Bourne Dissoziative Fugue Epidemiologie - 0.2% [Ross 1991, Ross et al. 1990] insgesamt sehr viel seltener als dissoziative Amnesie durchaus häufiger in Kriegs- und nach Naturkatastrophen Fälle „jugendlichen Ausreißens“ (runaway behaviour) Dissoziative Fugue Ätiopathogenese - Traumapsychologische Einflüsse - sehr häufig aber auch breitere psychodynamische Faktoren: - prämorbide Persönlichkeit - ungünstiger familiärer Hintergrund Trennungsängste, depressive Verstimmungen suizidale, fremdaggressive Impulse primitive Verleugnungstendenzen - im Kontext von Straftaten: mögliche Motive einer Simulation - Müdigkeit, Schlafdeprivation, starker Alkoholkonsum, - nicht selten: vorausgehendes diskretes Schädel-Hirntrauma Dissoziative Fugue Symptomatologie - während Fugue: durchaus geordnetes und zielgerichtetes Verhalten - Gedächtnisverlust, Verunsicherung in der Identität drei klinische Typen: - Amnesie bez. Biographie + Wechsel der Identität + fremder Ort - lediglich Amnesie bez. Personaler Identität - Rückkehr zu früherer Periode im eigenen Leben - neue Identität meist großzügigere Wesensmerkmale - gute psychosoziale Anpassung an fremde Örtlichkeit - erhebliche seelische Erschütterung bei „Rückkehr“ zur alten Identität Dissoziative Fugue Verlauf/Prognose • • • • Beginn und Ende in aller Regel plötzlich nicht selten nach Schlaf mögliche Wiederholungen meist günstig Dissoziative Fugue Diagnose und Differentialdiagnose • • • • • • • dissoziative Identitätsstörung Simulation postiktale Wanderzustände (meist zielloses Umherirren) Poriomanie andere nichtepileptische, hirnorganische Störungen Schizophrenie Alkohol- u. drogeninduzierte Fugues Dissoziative Identitätsstörung Definition „eine komplexe, chronische dissoziative Psychopathologie, die durch Störungen des Gedächtnisses und der Identität charakterisiert ist. Sie unterscheidet sich von anderen psychischen Störungen durch eine anhaltende Koexistenz von relativ konsistenten, aber wechselnd auftretenden, subjektiv getrennten Identitäten und durch wiederkehrende Episoden einer verzerrten Erinnerungsfähigkeit, einer offenkundigen Amnesie oder beides“ (S. 161). Kluft (1991) Dissoziative Identitätsstörung Epidemiologie • • • • • • • ca. 1% der Personen in der Allgemeinbevölkerung: dissoziative Identitätsstörung große Diskrepanz zwischen durchschnittlicher psychiatrisch/psychotherapeutischer Inanspruchnahme und Vorstellung bei Experten 3 – 5% in klinischen Populationen Patienten im klinisch-therapeutischen Alltag gewöhnlich relativ unauffällig, höchst selten Grundproblematik als Vorstellungsgrund, Vielzahl psychiatrischer Störungen 7 Jahren zur Diagnosestellung durch erfahrene Kliniker (Loewenstein u. Ross 1992) vorliegende Studien: starkes Überwiegen von Frauen (ca. 9: 1) durchschnittliches Lebensalter bei Diagnosestellung: Anfang bis Mitte der 30er Jahre Dissoziative Identitätsstörung Symptomatologie • typisch, Patienten mit DID häufig nicht wegen der zugrundeliegenden Primärsymptomatik um psychiatrische oder psychotherapeutische Hilfe nachsuchend • vielfältigste psychopathologische Syndrome (Kluft 1996) - Angstsymptome (psychophysiologisch: 100%, phobisch: 60%, Panikattacken: 55%, Zwänge: 35%) affektive Symptome (depressiv: 90%, hypomanisch: 15-73%) assoziierte dissoziative Symptome (Amnesie: 57-100%, Fugue: 48-60%, Depersonalisation: 38%) somatoforme Symptome (allgemein: 90%, Konversion: 60%, sexuelle Dysfunktion: 60-84%) Suizidversuche (60-68%) Selbstverletzungen (34%) Substanzmissbrauch (40-45%) Essstörungen (16-40%) Schlafstörungen (65%) Symptome mit Hinweischarakter auf Schizophrenie (abhängig von Symptomen: 35-73%), Symptome einer PTSD (70-85%) Merkmale einer Borderline-Persönlichkeitsstörung (70%) • viele Patienten nur vorübergehend, oft erst nach längerem Therapieverlauf Symptome der DID Dissoziative Symptome bei DID (Dell 2006) Dissoziative Identitätsstörung Symptomatologie - meist Hinweise nur sehr diskret (Franklin 1990): - dissoziative / posttraumatische Symptome: Amnesien, Depersonalisation, Derealisation - passive Beeinflussungserlebnisse - plötzlich umschlagende Verhaltensweisen - intrusive visuelle Bilder im Sinne von Flash back - Erlebnissen - ein im Kopf lokalisiertes Stimmenhören - Berichte über merkwürdige Zeitlücken, Fugue-Episoden, widersprüchliche Verhaltensweisen, für die keine subjektive Erklärung - verwirrende Vergesslichkeit - Auftreten von pathognomonischen „multiplen Persönlichkeiten“, von „Alter Egos“ im therapeutischen Gespräch spontan, oder erst nach therapeutischer Fokussierung auf dissoziative Symptome - Koexistenz subjektiv getrennter Identitäten: konzeptualisiert als „hoch diskrete Bewusstseinszustände, um speziellen Affekt, Selbstgefühl (einschließlich Körperbild) mit begrenztem Repertoire von Verhaltensweisen und einer Menge zustandsabhängiger Erinnerungen organisiert“ Dissoziative Identitätsstörung transpersonal psychologisch soziologisch Trance / Autohypnose soziokognitiv ätiologische Modelle Hemisphärale Lateralität Primäraffekte Kindling / kp-Epilepsie behaviorale Zustände des Bewusstseins Neodissoziation / Ich-Zustände neuronales Netzwerk Strukturelle Dissoziation der Persönlichkeit nach: van der Hart et al. (2006) Dissoziative Identitätsstörung pragmatisches klinisches Modell der dissoziativen Identitätsstörung: eine in mehreren Stufen erfolgende ätiopathogenetische Entwicklungsreihe - grundlegend: Fähigkeit zur Dissoziation psychobiologische Variable der allgemeinen Hypnotisierbarkeit mit diskreter Verteilung in Allgemeinbevölkerung, stärkste Ausprägung in frühen Schuljahren, dann abnehmend infolge konstitutioneller Bedingungen, vor allem aber infolge früher Traumaexpositionen unverändertes Persistieren ins Erwachsenenalter hinein durch Autosuggestion und -hypnose verstärkte Dissoziationsfähigkeit als Abwehr- und Coping für die Kanalisierung überwältigender Traumata - gravierende sexuelle, insbesondere inzestuöse Traumatisierungen - körperliche Misshandlungen - fortgesetzte Verletzungen des narzisstischen Gleichgewichts - einschneidende Verlusterlebnisse wichtiger Bezugspersonen in Kindheit - unmittelbare Beobachtung des physischen Todes, Suizide oder anderer selbstdestruktiver Akte von nahen Angehörigen - eigene ernsthafte körperliche Erkrankungen mit starken Schmerzen - Fehlen tröstender oder kompensatorisch stützender Beziehungen nach Trauma, so dass nicht als endliche und begrenzbare, sondern als anhaltende persönliche Realität kodiert Dissoziative Identitätsstörung - wiederholte, für das Kind nicht zu integrierende Traumatisierungen über Dissoziation Kompartmentalisierung des biographischen Gedächtnisses, vielfältige Aspekte: divergierende Lebenserfahrungen entscheidende Personen in der kindlichen Welt (über Introjektion, Internalisierung und Identifikation) imaginäre Spielgefährten extrinsische Einflüsse (Ermutigung zu Rollenspielen, widersprüchliche Erziehungsanforderungen oder Belohnungssysteme, Identifikation mit einem dissoziativen Elternteil) - Nucleus für Bildung und phantasmatische Ausgestaltung von Alter Egos, endgültige Formung der Erwachsenenpsychopathologie neben individuell-kreativen ebenso sehr von interpersonaltherapeutischen wie auch von soziokulturellen Faktoren bestimmt - vielfältige Transformationen der ursprünglichen frühkindlichen Traumaerfahrungen: in der Erwachsenenpsychopathologie Reminiszenzen von exakten biographischen Details oft unentwirrbar mit abwehrbestimmten Konfabulationen, Kontaminationen und Fehlinterpretationen, so dass historische Objektivierung unmöglich Dissoziative Identitätsstörung Verlauf und Prognose • • natürliche Verlauf einer dissoziativen Identitätsstörung: hohe Chronizität (Kluft 1985): kaum spontane Vollremissionen, aber Veränderung der symptomatischen Darstellung Patienten in ihren 20er Jahren: Fülle dissoziativer Symptome in den 30er Jahren eher depressive, ängstliche und Zwangssymptome in den 40er Jahren erstmals als „multiple Persönlichkeit“ diagnostiziert jenseits des 50. Lebensjahres zeigen die Persönlichkeitssysteme der Alter Egos in der Regel vereinfachte, weniger dramatische Konfiguration • inhärente Komplikationen und Risiken durch sekundäre psychiatrische Komorbiditäten, speziell: hohes Suizidalitätsrisiko (Suizidversuch: 72%, vollzogener Suizid: 2.1%, n = 236, Ross et al. 1989) Dissoziative Identitätsstörung Diagnose • Störungen in normalen integrativen Funktionen von Identität, Gedächtnis und Bewusstsein bei einer Verdachtsdiagnose systematische Exploration folgender Symptombereiche: • Hinweise für aktuell wirksamen dissoziativen Prozess (z.B. gravierende Verhaltensdiskrepanzen, sprachliche Auffälligkeiten, plötzlicher Wechsel in anderen Erlebniszustand) • Anzeichen hohen hypnotischen Potentials (Trancezustände, „out-of-body“-Erlebnisse, Gefühle von vager Beeinflussung) • Amnesie • somatoforme Symptome • PTSD-Symptome • affektive Symptome • behutsame Exploration von Traumata während früher Entwicklungsjahre (cave !) • entscheidend: gravierende Diskrepanzen in Selbsterfahrung mit der Entfaltung unterschiedlichster Selbstkonzepte • unvorgesehenes Alternieren zwischen extrem heterogenen Erlebniszuständen, denen selbstreflexive Integration fehlt, oder ausgeprägte amnestische Lücken über Zeiträume, • typisch: umfassende Erinnerungslücken für Ereignisse während der Lebensjahre 6 bis 11 Phänomenologisches Modell der DID (Dell 2006) Dissoziative Identitätsstörung Differentialdiagnose • umfangreiche psychiatrische Komorbidität eigenständig zu beachten • differentialdiagnostische Schwierigkeiten: - schizophrene Psychose - artifizielle Störung sowie Simulation - komplexe Syndrome bei Temporallappenepilepsie Therapie der dissoziativen Störungen Dissoziative Störungen: - große Variabilität der führenden Syndrome - breites Intensitätsspektrum - unterschiedliche Akuität versus Chronizität - differentielles Ausmaß an psychiatrischer Komorbidität epidemiologisch hohe Verbreitung, damit begründeter therapeutischer Handlungsbedarf • keine systematischen, in kontrollierten Studien empirisch erprobte Behandlungsansätze • aus klinischer Praxis destillierte Richtlinien, spezifische Behandlungsprobleme fokussiert: - Planung und Durchführung einer Therapie in hohem Maße zu „individualisieren“ psychotherapeutischen Strategien Vorrangstellung vor biologischen Ansätzen mögliche Gefahr einer durch Therapiemaßnahmen induzierten Retraumatisierung komorbide psychiatrische Störung: jeweils etablierte Therapiestandards syndromorientierte psychopharmakologische Therapie Priorität, wenn psychiatrische Notfälle oder indizierter psychotherapeutischer Zugang blockiert Behandlungsansätze bei dissoziativer Amnesie und dissoziativer Fugue Ziel: Wiederherstellung voller Erinnerungsfähigkeit / Integration dissoziierter Erinnerungen sicherer / verlässlicher Behandlungsrahmen in stabilem Arbeitsbündnis allgemeine therapeutische Haltung: Behandlungsmodell posttraumatischer Syndrome behutsames Tempo in der therapeutischen Fokussierung auf amnestische Lücken forciertes Vorgehen therapeutisch unproduktiv und oft gefährlich Patienten in sicherem therapeutischen Rahmen, traumatisches Ereignis vorbei häufig spontane Wiedererinnerung sonst vorsichtige Erhebung der Anamnese, wiederholte Versicherung und Ermutigung Entscheidend: Selbstbestimmung über Geschwindigkeit des Erinnerungsprozesses, dadurch Gefühl von Kontrolle und Selbstwirksamkeit aktives Einschreiten des Therapeuten, wenn im Erinnerungsprozeß suizidale, parasuizidale oder fremdaggressive Krisen, möglicherweise vorübergehende Hospitalisierung Behandlungsansätze bei dissoziativer Amnesie und dissoziativer Fugue Ziel: - Wiederherstellung personaler Identität und Wissen besondere Lebensumstände der Auslösesituation • Konfrontation mit dem auslösenden Trauma bzw. - Fokussierung und Durcharbeitung vorliegender Konflikte - wahrscheinlich komplexere psychodynamische Ausgangslage bei dissoziativer Fuge - bei Wiedererinnerung traumatischer Auslöseereignisse heftige affektive, psychotische, zwanghafte, Angst-, PTSD- oder Symptome gestörter Impulskontrolle differentielle psychopharmakologische Interventionen - psychopathologische Komplizierung des Wiederinnerungsvorgangs: zunächst als primär eingestufte „einfache“ dissoziative Amnesie oder Fugue = Symptom einer komplexen dissoziativen Störung Behandlungsansätze bei Depersonalisation und Derealisation • allgemeinen Richtlinien • psychoedukativen Aufklärung • Wahrnehmungschulung gegenüber möglichen Auslösereizen • Techniken zur Symptomerleichterung - „Erdung“ oder Reorientierungstechniken - Ablenkungstechniken - kontrollierte Dissoziation - kreative Visualisierung. • hypnotische Techniken • verhaltenstherapeutische Ansätze • kognitive Strategien • modifizierte psychodynamische Verfahren • psychopharmakologische Strategien - selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer - Buspiron - Clonazepam - Opiatantagonisten - Lamotrigin Behandlungsansätze bei der dissoziativen Identitätsstörung Orientierung am Behandlungsmodell posttraumatischer Störungen Beachtung der Prinzipien einer psychodynamischen Psychotherapie • nicht immer Therapieziel einer Integration in personale Identität realistisch • Harmonierung der internen Spannungen zwischen „Persönlichkeiten“ ohne Integration oft schon äußerste Grenze des therapeutisch Erreichbaren • Bewältigung der vordringlichen aktuellen Lebensschwierigkeiten: supportiv und problemlösend Behandlungsansätze bei der dissoziativen Identitätsstörung drei Abschnitte mit jeweils unterschiedlicher Akzentuierung der Therapietechnik: • • • Phase der Sicherheit [supportive Interventionen, Ich-Stärkung, empathischer Fokus auf Selbst-Wahrnehmung und selbstobjekthafte Übertragungsmuster] Phase der Erinnerung und Trauer [posttraumatisches Behandlungsmodell] Phase der Verknüpfung [traditionelle psychodynamische Behandlungsprinzipien] Behandlungsansätze bei der dissoziativen Identitätsstörung Kontraindikationen für Aufdecken von dissoziierten Erinnerungen in der Langzeitpsychotherapie (Colrain und Steele 1991): • • • • • • • • • • • frühe Therapiestadien ein instabiles therapeutisches Bündnis gegenwärtiger oder anhaltender Missbrauch gegenwärtige akute äußere Lebenskrisen hohes Lebensalter, schwere körperliche Handikaps und / oder terminale Erkrankungen Mangel an Ich-Stärke, inklusive schwere Borderlineund psychotische Zustände oder massive Regression unkontrolliertes, abruptes Alternieren der unterschiedlichen Alter Egos unkontrollierte Flashbacks schwere Konflikte und mangelhafte Kooperation im Alter Ego-System schwere primäre Alexithymie zeitweilig: bevorstehende Abwesenheiten des Therapeuten, Übergangszeiten im Lebenszyklus des Patienten Behandlungsansätze bei der dissoziativen Identitätsstörung Wichtige Übertragungs- und Gegenübertragungsthemen • • • traumatische Übertragung: Der Therapeut als Täter aus der Vergangenheit erlebt, worauf der Patient mit größter Ängstlichkeit und Abwehrhaltung reagiert, gelegentlich auch die Realitätskontrolle verliert Hypnotische Übertragung: hohe Hypnotisierbarkeit des Patienten bestimmt das therapeutische Feld: völlige Absorption, fokussierte Aufmerksamkeit und Amnesie, Wahrnehmungstäuschungen, kognitiven Verzerrungen wie konkretistisches Verstehen des Gesagten oder Rationalisierung offenkundiger Widersprüche pseudopositive, submissive Übertragung: Patient reagiert scheinbar positiv auf Therapie und spiegelt hohes Engagement in den therapeutischen Bemühungen, inszeniert aber eine höchst negative Übertragung, in dem er den Therapeuten in Wirklichkeit als den Täter der Vergangenheit erlebt, der oft darauf bestand, dass ihm Liebe und Wertschätzung bekundet werde, der faktische Mißbrauch sei eigentlich eine Wohltat und vom Patienten auch so gewünscht Behandlungsansätze bei der dissoziativen Identitätsstörung Häufige typische Reaktionsmuster der Therapeuten • • • • Rückzug in eine Unerreichbarkeit als Person, skeptisches Detektivspiel zur Objektivierung der historischen Wahrheit Überzeugung, dass „durchschnittliches“ Therapiesetting diesen schwersttraumatisierten Patienten abträglich, sondern nur „Liebe“ hilfreich sei in den mannigfaltigen Variationen einer therapeutischen Grenzverletzung Übernahme der Rolle eines Rechtsanwalts, der den Patienten in einen Klienten wandelt, ihn zur juristischen Klage gegen erlittenes Unrecht drängt Therapeut ist in einer Gegenidentifikation mit dem Patienten gefangen und entwickelt selbst posttraumatische Belastungssymptome Frühe historische Konzeptualisierungen von Konversionssyndromen in der Neurologie Dissoziationsmodell (J.M. Charcot, P. Janet) Konversionsmodell (J. Breuer, S. Freud) Symptombildung als Ergebnis traumatischer Erlebnisse bei psychobiologischer Vulnerabilität Symptombildung als symbolhafter Körperausdruck – dynamische adaptive Konfliktlösung auf reifem Strukturniveau Konversionssyndrome in der Neurologie Hysterie chronischer Typus akuter Typus Briquet-Syndrom (polysymptomatisch) Konversionsstörung (mono-/oligosymptomatisch) Somatisierungsstörung Konversionsstörung DSM-IV somatoforme / dissoziative Störungen ICD-10 DSM-IV ICD-10 artifizielle Störungen Konversionsstörung / dissoziative Störung - enges diagnostisches Konzept - Verlust / Veränderung einer neurologischen Funktion mit Verdacht auf neurologische Störung keine begründende neurologische Krankheit zeitlicher Z.h. zu innerseelischem Konflikt / psychosozialer Belastung keine willentliche Kontrolle der Symptomproduktion kein kulturell sanktioniertes Reaktionsmuster syndromal nicht ausschließlich Schmerzen oder sexuelle Dysfunktionen motorischer Subtypus sensorischer/sensibler Subtypus Subtypus der Bewusstseinsregulation Somatoforme /dissoziative Störung – artifizielle Störung - Simulation nach psychiatrischer Klassifikation [DSM-IV, ICD-10]: distinkte diagnostische Kategorien somatoforme / dissoziative Störung unbewusste / nicht-intentionale Symptomproduktion artifizielle Störung Simulation Selbstmisshandlung / Täuschung / unklare Motivation offenkundiger primärer sozialer Krankheitsgewinn Konversionssyndrome – Gang der Diagnostik im klinischen Alltag grundlegend: neurologische Diagnostik neurologische Semiologie neurologische Anamnese kompletter neurologischer Status spezielle Untersuchungstechniken umfassende apparative Diagnostik [v. a. Neurophysiologie, Neuroimaging] psychiatrische Klassifikation psychosoziale psychodynamische Spezifizierung Konversionssyndrome in der Neurologie - Phänomenologie – Motorische Funktionsstörungen: Muskuläre Schwächen, Paresen, Plegien (Extremitäten >> Nacken, Rumpf >>> Gesicht, Zunge) Symptome des Extrapyramidalsystems: (Tremor, Dystonie, Dyskinesie, Parkinsonoid) Gang- und Standstörungen Schluckbeschwerden (Globus hystericus) Aphonie, Dysphonie Harnverhaltung Motorische Konversionssyndrome in der Neurologie - klinische Hinweise auf „Psychogenizität“ Anamnese: plötzlicher Beginn mit oft schon initial maximaler Symptomausprägung / Behinderung identifizierbare Auslösesituation, oft nach minimalen Verletzungen / Arbeits-Unfällen mit nachfolgenden Schadensansprüchen statischer Verlauf versus spontane Remission / Remission nach Psychotherapie psychiatrische Komorbidität (cave: auch bei organischen neurologischen Erkrankungen) sekundärer Krankheitsgewinn (nicht immer offenkundig) psychologische / psychosoziale Stressoren, Traumata (nicht immer offenkundig) multiple andere Somatisierungssymptome / „medizinisch unerklärte Körpersymptome“ Modell-Effekte (beachte: Assoziation zu medizinischen / pflegerischen Berufen) Hinson, Haren (2006) Shill, Gerber (2006) Gupta, Lang (2009) Nowak, Fink (2009) Motorische Konversionssyndrome in der Neurologie - klinische Hinweise auf „Psychogenizität“ Klinische Untersuchung: inkonsistentes Bewegungsmuster - variabel über Zeit (Amplitude, Frequenz, Richtung/Verteilung) - Ablenkung reduziert / beendet, Aufmerksamkeit verstärkt - Entrainment, Ko-Aktivierung, kontralaterale Aktivierung - selektive Behinderung Bewegungsmuster, inkongruent mit organischer Störung - multiple, bizarre abnorme Bewegungsmuster - paroxysmale Anfälle (inklusive pseudoepileptische Anfälle) - ausgelöste Paroxysmen (exzessive Startle Reaktion) Suggestibilität selbst-zugefügte Verletzungen (cave) absichtsvolle Langsamkeit der Bewegungen „falsche“ motorische Schwäche bestimmte Typen abnormer Bewegungen (z.B. bereits initial fixierte dystone Haltung, abrupt, schmerzhaft, rasche Kontraktur, zuckende Seitwärtsbewegung des Mundes) Hinson, Haren (2006) Response auf Placebo, fehlende Response auf adäquate Medikation (cave) Shill, Gerber (2006) Gupta, Lang (2009) Nowak, Fink (2009) Psychogene Gang- und Standstörungen - klinische Hinweise - spontane Fluktuationen, Ablenkbarkeit auffällige Verlangsamung („wie unter Zeitlupe“) allmähliches Aufschaukeln beim Roomberg-Test „plattfüßiger Eisgang“ „falsche“ muskuläre Schwäche Beinahefallen, plötzliches Einknicken der Knie /Hüften ausgesprochen unökonomische Körperhaltungen schmerzhafte, erschöpfte Ausdrucksgestik bizarrer Gang Brandt et al. (1994) Beispiele für psychogene Gang- und Standstörungen Beispiele für psychogene Gang- und Standstörungen Beispiele für psychogene Gang- und Standstörungen Beispiele für psychogene Gang- und Standstörungen Beispiele für psychogene Gang- und Standstörungen Motorische Konversionssyndrome in der Neurologie - Hinweise aus neurophysiologischen Tests allgemein: auffällige Diskrepanz zwischen Symptombild und multiplen, negativen Untersuchungsbefunden (MRT, LP, EPs) spezielle Zusatzuntersuchungen: Psychogener Parkinsonismus: I123 – β CIT SPECT, F18-DOPA-PET, I123 – Isoflupan SPECT Psychogener Tremor: elektromyographische Analyse [variable Amplitude, Frequenz, Entrainment, Ko-Aktivierung, abnorme R auf Gewicht] Psychogener Myoklonus: elektromyographische Analyse [variable / verlängerte Latenzen / Dauer, variable Muskelrekrutierung, Habituation] Psychogene Bewegungsstörungen: - exzessive affektive R auf Startle Eye Blink Reflex - normale zentrale motorische Leitung – TMS - motorische Schwelle, intrakortikale Hemmung mit kurzem / langen Intervall, intrakortikale Fazilitierung: normal = unveränderte Baseline Errregbarkeit des Kortex Bewegungsimagination - affiziertes KG: kortikale Erregbarkeit reduziert, nicht-affiziertes KG: kortikale Erregbarkeit verstärkt (bei Dystonie nicht diskriminierend) Konversionssyndrome in der Neurologie - Phänomenologie – Sensorische und sensible Funktionsstörungen: vollständige Analgesie Berührungssinn: Hypästhesie, Anästhesie: geringe Reliabilität - allenfalls grobe anatomische Verstöße beeindruckend: durchgängige, strikt an Mittellinie orientierte Ganzkörperanästhesie Inkonsistenz: Beinanästhesie / fehlende Propriozeption schließen normalen Romberg aus auffällige Defekte im Gesichtsfeld, Blindheit Taubheit (Pseudo-) Halluzinationen Konversionssyndrome in der Neurologie - Phänomenologie – Psychogene nicht-epileptische Anfälle Grand Mal-Typus: • allmählich/plötzlich (anwesende Personen) • Quasi-Aura: Agitiertheit, „komisches Gefühl“ • sehr variables Anfallmuster: Stoßen, Beißen, Hin- und Herwälzen, „arc-de-cercle“, Dystonien • dramatische Affekte im Ausdruck • Symptome autonomer Aktivierung • meist Vermeidung von Schmerzen/Verletzungen • „geotrope Augenbewegung“ (Henry-Woodruff) • variabel: Bewusstseinslage / Erinnerung • Dauer: wenige Minuten bis halbe Stunde Konversionssyndrome in der Neurologie - Phänomenologie – Psychogene nicht-epileptische Anfälle komplex-partialer Typus: • im Vergleich zu bewegungslosem Starren mit stereoptypen repetitiven Automatismen oder semi-zweckhaftem Verhaltensweisen einer kurzen Dauer bei organischen komplex-partialen Anfällen längeres Starren mit variablerem Muster, längere Dauer oft mit distanziertem, besorgtem / die Augen weit geöffnetem Affektausdruck • zufällige Bewegungsmuster vs. hoch organisierte, aggressive / sexualisierte Akte • nicht selten imitiert: generalisierte Absence Konversionssyndrome in der Neurologie - Phänomenologie – Psychogene nicht-epileptische Anfälle elementarer partialer / unspezifischer Typus „fokaler“ motorischer Anfall: weniger abrupt, auf-und-abschwellende Intensität mit variablem, nicht einem anatomischen Muster entsprechendem Ablauf keine klare Ähnlichkeit zu bekanntem echten Anfallsmuster: Abgrenzung zu kurzen meist abrupt einsetzenden elementaren, von Anfall zu Anfall hoch stereotyp repetitiven sensorischen / sensiblen / affektiven iktalen Erlebnissen Konversionssyndrome in der Neurologie - Epidemiologie - Lebenszeitprävalenz: ca. 0.5 % [Ljungberg 1957, Weisman et al. 1978; Lieb et al. 2000] Inzidenz in ambulanten psychiatrischen / psychotherapeutischen Praxen: 15 – 20 / 100 000 pro Jahr [Stefansson et al. 1976] National Hospital London über Jahrzehnte: 0.85 – 1.55% [Trimble 1981] Psychiatrischer Konsiliardienst: ca. 4% [Kapfhammer et al. 1992, 1998] Rate „medizinisch unerklärter / nur teilweise erklärter neurologischer Symptome auf neurologischen Stationen: 30 – 40% [Carson et al. 2000; Fink et al. 2005] in tertiären Zentren: Häufung von „psychogenen“ Fällen [Lang 2006] • • • klares Übergewicht von Frauen gegenüber Männern (außer Arbeitsplatz, Militäreinsatz) alle Altersgruppen, Häufigkeitsgipfel: 20. – 40. Lebensjahr soziokulturelle Variablen Somatoforme Syndrome / Störungen bei Adoleszenten und jungen Erwachsenen Cumlated lifetime incidence 0,12 0,1 0,08 0,06 Conversion Disorder Dissociative Disorder NOS SSI4,6 Pain disorder USDS 0,04 0,02 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 age N = 3021; gewichtete Daten, EDSP-Basisbefunde, 14- bis 24-Jährige; Lieb et al. (2000) Relative Häufigkeit von psychogenen Bewegungsstörungen in neurologischen Spezialambulanzen nach: Lang (2006), 8 Zentren, N = 1245 Konversionssyndrome in der Neurologie - Ätiopathogenetische Konzepte - Psychoanalyse Traumapsychologie Lerntheorie Neurophysiologie / Neuropsychologie Konversionsmodell - multiple Konflikte - ich-strukturelle Aspekte - impressionistischer Stil - Emotionalisierung - Symbolisierungsdimension - Identifikation - primärer/sekundärer KG Lernen am Modell Copingmechanismus soziale Verstärkung Aufmerksamkeitsstörung interhemisphärale Dysfunktion verbale / nonverbale Inkongruenz Dissoziationsmodell - Koexistente psychologische dissoziative Symptome Konflikt- / Traumaverarbeitung hypnoide Zustände koexistente zerebrale Störungen automatisierte Motive vs. bewusste Kontrolle vs. soziale Manipulation kognitiv-affektive Dissoziation impressionistischer Stil Konversionssyndrome in der Neurologie - Neurobiologische Konzepte Funktionelle Neuroimaging Studien zu psychogenen Bewegungsstörungen starke Aktivierung des kontralateralen OFC, ACC, nicht des primären MC OFC: Hemmfunktion (emot > motor), ACC: Mediatorrolle zwischen präMC/ PFC und PMC Halligan et al. (2000) Marshall et al. (1997) Spence et al. (2000) mögliches Willensdefizit bei Konversion: Dysfunktionalität des linken DLPFC (höhere Komponenten der willentlichen Handlung betroffen) bei Simulation: Hypofunktionalität des rechten DLPFC funktionelle Störung in striato-thalamokortikalem Regelkreis: Ncl. Caudatus: motorische Prozesse – emotionale S aus LS - höhere kortikale Strukturen / Bewusstsein (Vuilleumier et al. 2001) Konversionssyndrome in der Neurologie - Neurobiologische Konzepte - Hypothese (dissoziative BWS – Unterdrückung motorischer Bahnen durch Hemmsignale aus speziellen emotionalen Situationen): komplexer Fallstudie: linke dissoziative Handparese vs. KG – Vorbereitung – Vorstellung – go/no-go – Simulation Vorbereitungsphase: ungestört in re MC = erhaltene Intentionen, aber vmPFC-Aktivierung (affektiv-motivational) Exekution: Versagen Aktivierung vlFG, Präcuneus, jedoch nicht rechte frontale Areale (IFG) – normale Hemmung Simulation: ähnliche Aktivierung bei Simulation wie bei no-go-Signal – unterschiedliche Hemmsysteme K vs S Konnektivitätsanalyse: Patient – rechter MC + posteriorer CC + Präcuneus + vmPFC = nicht kognitive Hemmung, sondern selektive Aktivierung von mittellinien-nahen Strukturen, assoziiert mit Selbst-Repräsentation / emotionaler Regulation [Cojan, WAber, Carruzzo, Vuilleumier 2009] Konversionssyndrome in der Neurologie - Verlauf / Prognose überwiegend akuter Belastungskontext: möglicherweise hohe Spontanremission, aber bedeutsames Rezidivrisiko intermittierender Verlaufstypus chronischer Verlaufstypus: - weitgehende monomorphe Symptomatik - symptomatisch buntes Erscheinungsbild: mit Übergang zu Somatisierungsstörung prognostisch bedeutsam: - Akuität - prävalentes neurologisches Syndrom - kurzes Intervall: Symptombeginn – Therapiebeginn - Dauer und Komplexität der Störung - Intelligenz Konversionssyndrome in der Neurologie - kategoriale Diagnostik - Konversionsstörung Somatisierungsstörung Verlust / Veränderung einer neurologischen Funktion multiple organbezogene Symptomkomplexe ohne medizinische Erklärung Vortäuschung / Aggravation / Selbstinduktion von Krankheitssymptomen V. a. neurologische Erkrankung zeitlicher Zusammenhang von Symptombeginn zu psychischem Konflikt / psychosozialer Belastung nicht willentlich kontrolliert häufige Krankenhausaufenthalte exzessive diagnostische Untersuchungen / operative Eingriffe / unkontrollierte Polypharmazie auffällige Bereitschaft zu diagnostischen und operativen Maßnahmen nicht durch bekannte körperliche Krankheit erklärt Beginn meist frühes Erwachsenenalter – oft chronischer Verlauf Artifizielle Störung täuschende Angaben zur Anamnese und Biographie fehlende verstehbare äußere Motive nicht willentlich kontrolliert hohe psychiatrische Komorbidität kein kulturell sanktioniertes Reaktionsmuster ausgeprägte psychosoziale Behinderung syndromal nicht ausschließlich Schmerzen/ sexuelle Dysfunktionen Beginn meist frühes Erwachsenenalter – oft chronischer Verlauf Pseudologia phantastica soziale Entwurzelung-Krankenhauswandern Selbstentlassung gegen ärztlichen Rat Konversionssyndrome in der Neurologie - dimensionale Diagnostik - nach: Mayou et al. (2005) Konversionssyndrome in der Neurologie - psychiatrische Differentialdiagnostik Abgrenzung gegenüber neurologischen und psychiatrischen Störungen beachte: - Slater et al. (1965) versus Crimlisk et al. (1998), Stone et al. (2005, 2009) - Erstmanifestation und Notfallsituation beachte: - komplex-partielle / frontale Anfallsmuster beachte: - „hysteropare“ („hysterisch“ anmutende) EPMS unter Neuroleptika - Symptombildungen bei Benzodiazepin-Entzügen beachte: - affektive Störungen - schizophrene Störungen Konversionssyndrome in der Neurologie - Fehldiagnosen im Verlauf - Stone et al. (2005), N =1466