Schwerpunkt 25 Lebensqualitätsorientierte Pflege im Alter Karl Oberhauser Das Modell der ‹lebensqualitätsorientierten Pflege› im Alter (LQP-Modell) basiert auf humanökologischen Theorien (Tretter, 2000; 2008), bedürfnisorientierten Pflegemodellen (Roper, 2002; Orem, 2001) und Überlegungen aus der psychologischen Therapie nach Grawe (Grawe, 1998). Das LQP-Modell stellt die Grundbedürfnisse und die persönliche Lebensqualität einer Person in den Mittelpunkt. Das Ziel von Pflege ist, betagten Menschen eine hohe Lebensqualität zu ermöglichen. Dies wird erreicht, indem Faktoren, die die Lebensqualität negativ beeinflussen, erkannt und durch die Pflegenden kompensiert werden. Der vorliegende Artikel beschreibt die Herleitung des Modells und welche Faktoren bei der Umsetzung in die Praxis von Bedeutung sind. L ebensqualität wird von der WHO (Weltgesundheitsorganisation) definiert als die «subjektive Wahrnehmung einer Person über ihre Stellung im Leben in Relation zur Kultur und den Wertsystemen, in denen sie lebt und in Bezug auf ihre Ziele, Erwartungen, Standards und Anliegen.» In dieser Definition sind zwei Aspekte von besonderer Bedeutung: Lebensqualität ist immer ein persönliches Empfinden und Lebensqualität ist abhängig von den Zielen und Bedürfnissen einer Person. Lebensqualität aus humanökologischer Sicht: Aus humanökologischer Sicht resultiert die Wahrnehmung von Lebensqualität bei einer Person aus dem Vergleich zwischen ihrem Lebensplan und ihrer Lebenssituation (Tretter, 2000; 2008). Der Lebensplan sind die Ziele/Pläne/Vorstellungen einer Person und spiegeln das wieder, was sie tun oder erreichen will. Die Lebenssituation sind die realen Umweltbedingungen, in denen die Person lebt. Eine Person stuft ihre Lebensqualität als hoch ein, wenn ihr Lebensplan und ihre Lebenssituation im Gleichgewicht sind. Stimmt die aktuelle Lebenssituation nicht mit ihrem Lebensplan überein, ergibt sich ein Ungleichgewicht, aus dem ein negatives Lebensgefühl und eine verminderte Lebensqualität resultieren. © 2016 Hogrefe Fallbeispiel Ein Mann, der einen langweiligen Routineberuf ausübt (Lebenssituation), sich selbst aber als einen begnadeten Manager sieht, der zu Höherem berufen ist (Ziel/Plan/ Vorstellung), erlebt ein Ungleichgewicht zwischen seinen Vorstellungen und der Realität. Dies führt zu einem negativen Lebensgefühl und zu einer verminderten Lebensqualität. Lebensplan, Bedürfnisse und Kompetenzen: Der Lebensplan einer Person hängt hauptsächlich von ihren Bedürfnissen und Kompetenzen ab. Hinter jedem Lebensplan (Ziel/Plan/Vorstellung) einer Person steht ein (Grund)-Bedürfnis. Das Bedürfnis löst das Ziel aus, welches erreicht oder verwirklicht werden will. Das angestrebte Ziel wiederum löst die Handlungen aus, um das Ziel zu erreichen und somit das (Grund)-Bedürfnis zu stillen. Das Bedürfnis nach Sättigung (Grundbedürfnis nach Sicherheit) basiert auf dem Hungergefühl (Mangelzustand). Das Bedürfnis, ‹satt zu sein› löst bei einer Person das Ziel aus, sich Nahrung zu besorgen. Dieses Ziel löst die Handlung aus, an den Kühlschrank zu gehen und zu essen (Handlung). Die Handlung führt dazu, dass der Hunger vergeht (Mangelzustand behoben), das Bedürfnis nach Sättigung und somit das Grundbedürfnis nach (körperlicher) Sicherheit gestillt ist. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Unterscheidung zwischen dem Ziel/Plan und dem Bedürfnis. Das Ziel ist das, was eine Person erreichen will; das Bedürfnis dagegen gibt an, warum eine Person etwas erreichen will. Um ein Ziel/Plan in eine Handlung umzusetzen und sich ein Bedürfnis zu stillen, benötigt eine Person Kompetenzen. Hat eine Person genügend Kompetenzen, um sich ihre Bedürfnisse zu stillen, dann erlebt sie ein Gleichgewicht zwischen ihren Bedürfnissen und Kompetenzen und erfährt dadurch ein ‹gutes› Lebensgefühl und somit eine hohe Lebensqualität. Reichen die eigenen Kompetenzen nicht aus, um sich ein Bedürfnis zu stillen, dann kann die Person diejenigen Handlungen, die für die Bedürfnisbefriedigung notwendig sind, nicht ausführen. Sie erlebt ein ‹schlechtes› Lebensgefühl und damit eine verminderte Lebensqualität. NOVAcura 4/16 26 Schwerpunkt Exkurs: der Begriff Bedürfnis Ein Bedürfnis ist das Verlangen oder der Wunsch, einem empfundenen Mangel Abhilfe zu schaffen. Ein Bedürfnis ist also eine motivierende Kraft, etwas zu tun, um den Mangelzustand zu beseitigen. Bei den Bedürfnissen unterscheiden wir zwischen Alltags- und Grundbedürfnissen. Alltagsbedürfnisse sind Bedürfnisse, die in unserer Gesellschaft rasch, unkompliziert und ohne grossen Aufwand zu befriedigen sind. Alltagsbedürfnisse sind in der Regel nicht zeitstabil und überdauernd, d.h. ist das Alltagsbedürfnis gestillt, ist es nicht mehr von Bedeutung bis es wieder auftritt. Grundbedürfnisse sind zeitlich stabile Bedürfnisse, die den Lebensplan (Ziel/Pläne) einer Person langfristig, nachhaltig und überdauernd beeinflussen und im Leben einen sinnbildenden Charakter haben. Grundbedürfnisse wirken als motivierende Schemata, die das Denken, Fühlen und Handeln einer Person tiefgehend beeinflussen (Grawe, 1998). Grundbedürfnisse befriedigt sich eine Person in der Regel nicht direkt, sondern über die Erfüllung vieler kleiner Alltagsbedürfnisse, die dann zusammengenommen das Grundbedürfnis stillen. In Anlehnung an Grawe (Grawe, 1998) und aufgrund von Alltagsbeobachtungen in der Arbeit mit Menschen werden vier Grundbedürfnisse definiert, deren Befriedigung der Mensch anstrebt: Unabhängigkeit, Aktivität, Sicherheit und Geborgenheit. Diese Grundbedürfnisse sind als zweipoliges Kontinuum zu verstehen. Auf der einen Seite des Kontinuums steht der Mangelzustand und am anderen Ende das Grundbedürfnis, welches befriedigt sein will. Damit ergeben sich folgende Konstellationen: Kontinuum Abhängigkeit vs. Unabhängigkeit Kontinuum Passivität vs. Aktivität Kontinuum Unsicherheit vs. Sicherheit Kontinuum Einsamkeit vs. Geborgenheit Diese Grundbedürfnisse sind bei jeder Person immer auf den Ebenen ‹körperlich›, ‹emotional-psychisch›, ‹sozial› und ‹spirituell› wirksam. Ein Grundbedürfnis ist bei einer Person nur dann wirklich befriedigt, wenn es auf allen vier Ebenen erfüllt ist. Ausgehend von diesen Überlegungen lässt sich eine Grundbedürfnis-Matrix erstellen. Die Matrix hilft im Alltag zu erkennen, welche Grundbedürfnisse bei einer Person (teilweise) befriedigt sind und welche nicht. Lebenssituation, Anforderungen und Angebote tur wie z.B. hohe Erwartungen und Forderungen an eine Person. Angebote sind Gelegenheiten oder Möglichkeiten, die die Umwelt der Person zur Bedürfnisbefriedigung anbietet. Eine Person erlebt ihre Lebenssituation (ihre Umwelt) als anspruchsvoll oder schwierig, wenn die hemmenden Faktoren zur Bedürfnisbefriedigung (Anforderungen) höher sind als die Angebote der Umwelt. Im Gegensatz dazu erlebt eine Person ihre Lebenssituation als angenehm und komfortabel, wenn die Anforderungen zur Bedürfnisbefriedigung niedrig sind und die Angebote der Umwelt zur Bedürfnisbefriedigung hoch. Die Lebenssituation sind die konkreten Lebensbedingungen, in denen eine Person lebt (ihre Umwelt). Die Umwelt stellt an jede Person Anforderungen, macht ihr aber auch Angebote. Nach Tretter (2000; 2008) sind Anforderungen definiert als Barrieren oder Hemmnisse aus der Umwelt, die der Person ihre Bedürfnisbefriedigung erschweren. Diese Hemmnisse können einerseits praktischer Natur sein, wie zum Beispiel eine nicht altersgerechte Infrastruktur und andererseits sozialer Na- Bedürfnis Bedürfnis befriedigt hohe Lebensqualität ja Plan /Ziel / Vorstellung Handlung: Kompetenzen ausreichend? nein Bedürfnis nicht befriedigt verminderte Lebensqualität Abbildung 1. Zusammenhang von Bedürfnis – Handlung – Lebensqualität (eigene Darstellung) NOVAcura 4/16 © 2016 Hogrefe Schwerpunkt 27 Angebote zur Bedürfnisbefriedigung hoch angenehme Lebenssituation Bedürfnis Angebote zur Bedürfnisbefriedigung niedrig Angebote zur Bedürfnisbefriedigung niedrig schwierige, anspruchsvolle Lebenssituation Bedürfnis Angebote zur Bedürfnisbefriedigung hoch Abbildung 2. Zusammenhang von Bedürfnis – Anforderungen und Angebote – Lebenssituation (eigene Darstellung) Lebensqualität als Gleichgewichtskonstellation Das Wahrnehmen und Empfinden von Lebensqualität ist also eine Gleichgewichtskonstellation, die auf folgenden Faktoren beruht: • den Bedürfnissen einer Person • die daraus von ihr abgeleiteten Ziele/Pläne/Vorstellungen (Lebensplan) • ihre Kompetenzen, die Ziele/Pläne/Vorstellungen in Handlungen umzusetzen • ihre aktuelle Lebenssituation • definiert durch die Angebote der Umwelt zur Bedürfnisbefriedigung • und durch die Anforderungen der Umwelt, die die Bedürfnisbefriedung erschweren. Die Abbildung 3 zeigt den Gesamtzusammenhang des Modells auf. Lebensqualitätsorientierte Pflege im Alter Ältere und betagte Menschen sind durch körperliche, emotional-psychische und soziale Einschränkungen oft nicht mehr in der Lage, ihre Bedürfnisse selbst zu befriedigen. Die reduzierte Bedürfnisbefriedigung ist meistens auf krankheitsbedingt reduzierte Kompetenzen zurückzuführen. Um eine lebensqualitätsorientierte Pflege in der Altersarbeit in der Praxis umzusetzen, sind folgende Schritte notwendig. © 2016 Hogrefe • Die Pflegenden müssen die Bedürfnisse der Bewohnerin kennen: Dies bezieht sich auf ihre Alltags- und Grundbedürfnisse. Sofern eine Bewohnerin ihre Bedürfnisse nicht mehr äussern kann, besteht die Möglichkeit, Angehörige zu befragen. Das Kennen der Alltagsbedürfnisse ist insoweit von grosser Bedeutung, als dies den Pflegenden hilft zu erkennen, in welchen Grundbedürfnissen eine Person ‹Defizite› hat und zu deren Befriedigung Unterstützung benötigt. • Die Pflegenden müssen die Ziele/Pläne/Vorstellungen der Bewohnerin kennen: Die Ziele und Vorstellungen, die eine Bewohnerin in einer aktuellen Situation hat, geben uns einerseits weiteren Aufschluss über ihre zugrundeliegenden (Grund)-Bedürfnisse und andererseits erste Hinweise, wie sie ihre aktuelle Lebensqualität einschätzt. Hierbei ist nicht von Bedeutung, ob die Pflegenden die ausgesprochenen Ziele/Vorstellungen als realistisch betrachten oder nicht. • Die Pflegenden müssen die Kompetenzen der Bewohnerin kennen: Damit eine Bewohnerin ihre Bedürfnisse befriedigen kann, benötigt sie die entsprechenden Kompetenzen auf der Handlungsebene. Daher ist es entscheidend zu erkennen, wo und in welchen Bereichen die Bewohnerin in ihren Kompetenzen derart eingeschränkt ist, dass sie ihre Ziele/Pläne nicht mehr in die Tat umsetzen kann. • Die Pflegenden müssen individuelle Massnahmen erarbeiten: Um die eingeschränkten Kompetenzen zu kompensieren, müssen individuelle Massnahmen erarbeitet werden. Diese Massnahmen müssen auf zwei Ebenen NOVAcura 4/16 28 Schwerpunkt Grundbedürfnisse emotionalpsychisch sozial körperlich spirituell MENSCH UMWELT Bedürfnisse (Alltags- und Grundbedürfnisse) Angebote Pläne /Ziele / Vorstellungen Lebenssituation: Angebote und Anforderungen der Umwelt zur Bedürfnisbefriedigung Lebensqualität MENSCH UMWELT Kompetenzen /Fähigkeiten Anforderungen /Barrieren Abbildung 3. Gesamtzusammenhang des LPQ-Modells (eigene Darstellung) ansetzen: einerseits Angebote zur Bedürfnisbefriedigung machen und andererseits die Anforderungen zur Bedürfnisbefriedigung reduzieren. • Die Pflegenden müssen Angebote zur Bedürfnisbefriedigung machen: Dies beinhaltet alle Massnahmen, die reduzierten Kompetenzen der Bewohnerin zu kompensieren, so dass die Bewohnerin letztlich mit Unterstützung der Pflegenden zur Bedürfnisbefriedigung gelangt. • Die Pflegenden müssen die Anforderungen zur Bedürfnisbefriedigung senken: Das sind alle Massnahmen, um bestehende Barrieren oder Hemmnisse zur Bedürfnisbefriedigung zu reduzieren oder Erwartungen und Forderungen der Umwelt zu senken. Die verschiedenen Informationen, die zur Umsetzung einer lebensqualitätsorientierte Pflege notwendig sind, werden durch persönliche Gespräche mit der Bewohnerin oder ihren Angehörigen, durch Beobachtungen im Alltag und Assessments (zum Beispiel Kompetenz-BedürfnisAssessment) erhoben. Lebensqualitätsorientierte Pflege setzt bei den Grundbedürfnissen der Bewohnerin an und hilft, Massnahmen zu finden und umzusetzen, die Grundbedürfnisse zu stillen und damit der Bewohnerin eine möglichst hohe Lebensqualität zu verschaffen. NOVAcura 4/16 Literatur Grawe K. (1998). Psychologische Therapie. Hogrefe-Verlag: Göttingen Roper N., Logan W., Tierney, A. (2002). Das Roper-Logan-TierneyModell. Verlag Hans Huber [Hogrefe]: Bern Tretter F. (2000). Suchtmedizin. Schattauer Verlag: Stuttgart Tretter F. (2008). Ökologie der Person. Pabst Science Publishers: Lengerich Karl Oberhauser, Ausbildung als Psychiatriepfleger, Studium der Psychologie. Seit 23 Jahren in der Führung von Einrichtungen im Gesundheits- und Sozialwesen, davon seit 12 Jahren in der Führung von Altersund Pflegezentren. Aktuell tätig als Geschäftsführer vom Casa Solaris Gossau, einer Einrichtung für ältere und betagte Personen mit den Wohnformen Alterswohnen, Betreutes Wohnen und stationäre Pflege. [email protected] www.casa-solaris.ch © 2016 Hogrefe