Sabine Hering. Toleranz - Weisheit, Liebe oder Kompromiss?: Multikulturelle Diskurse und Orte. Opladen: Leske + Budrich Verlag, 2004. 271 S. + 20 Abb. + 4 Tab. ISBN 978-3-8100-3882-1. Reviewed by Christa Paulini Published on H-Soz-u-Kult (March, 2005) S. Hering: Toleranz - Weisheit, Liebe oder Kompromiss? Das von Sabine Hering herausgegebene Buch beschäftigt sich mit der Geschichte der Toleranz und ihrer ” unterschiedlichen Verortungen“ und der Frage was Toleranz letztendlich auszeichnet. Um Antworten auf diese Fragen zu bekommen liegt ein Schwerpunkt des Buches auf den Vergleich der Geschichte von multikulturellen ” und multireligiösen Orten“ und der Nachzeichnung der Entwicklung von toleranten Verhalten. Damit sollen Einsichten in die Faktoren gewonnen werden, welche Toleranz begünstigen bzw. zum Erliegen bringen können (S. 8). Die Beiträge des zweiten Abschnittes geben interessante Einblicke wie Toleranz an unterschiedlichen Orten gelebt wurde und teilweise wird, sie zeigen die Entwicklung von Toleranz und Bedingungen für ein friedvolles Zusammenleben der verschiedenen Religionen und Kulturen anhand der Städte Jerusalem, Isfahan, Toledo, Sarajewo, Tomaszów Mazowiecki und Neuwied auf; sie beschreiben aber ebenso durch welche Ereignisse der Umschlag in Verfolgung und Feindschaft erfolgt ist. Außerdem findet sich hier ein Beitrag zur bedingten Toleranz“ ” des preußischen Staates. Micha Brumlik blickt auf Jerusalem und seine Geschichte. Jerusalem als Stadt, der voll Im Vorwort geht Sabine Hering auch auf die dem Sehnsucht in der Verbannung gedacht wird, als Teil des Buch begleitenden Erfahrungen ein, die deutlich machen, kollektiven Gedächtnis des Judentums, als bedeutendes wie wichtig und aktuell, schwierig und widersprüchHeiligtum verschiedener Glaubensbekenntnisse. Jerusalich dieses Thema ist. Weiterhin benennt Sabine He- lem als religiöses Symbol“, Zankapfel aber auch Chif” ring selbst als Lücke das Fehlen eines spezifischen Bei- fre für das Problem des ungelösten Selbstverständnisses ” trags oder der beitragsübergreifenden Behandlung des sowohl der” jüdischen als auch der arabischen NationalGender-Aspekts bezüglich der Toleranzthematik“ (S. 10) staatsbildung“ (S. 42). Brumlik verknüpft in seinen Beium dann selbst den bisherigen Diskussionsstand und oftrag gekonnt die Geschichte der Stadt Jerusalem mit dem fene Fragestellungen anzureißen. Jürgen Ebrach nähert Projekt der Staatsgründung auf der Basis des säkularen ” sich dem Begriff sowohl alltagssprachlich als auch ety- Nationalismus als Zionismus“ (S. 43) und geht u.a. auf die mologisch. Toleranz wird zu Beginn mehr im Sinne von damit verbundenen, geschaffenen und heute noch nicht dulden, ertragen oder aushalten“ des Anderen gesehen gelösten Problemen ein. ” (S. 17). Toleranz ist nicht beliebig, sie kann mühsam sein. Schwierig bleibt die Paradoxie der Toleranz“ d.h. ToleNavid Kermani zeigt uns Isfahan, ihre Geschichte und ” ranz, die auf Intoleranz trifft. Ebach plädiert hier für eine ihre Menschen. Isfahan, dass ist u.a. die multikulturelle persuasive, eine werbende Toleranz“ (S. 31). Toleranz ist Stadt und das Erleben der Utopie des friedlichen Zusam” ” – so seine Zusammenfassung - eine Perspektive, die den menlebens von fünf Religionen“ (S. 50). Es ist gelebte, anderen und das Fremde wahrnimmt, es nicht gewalttä- aber auch durch Auswanderung bedrohte Realität. Dietig ausgrenzt und vernichtet, sondern die Bereicherung jenige die bleiben, benennen u.a. das in der Scharia verfür das eigene Leben erkennt. ankerte Blutgeld“ als Problem. Sie klagen über die da” 1 H-Net Reviews mit verbundene Missachtung ihres Menschsein und darüber als Christ, Jude oder Zoroastrier weniger wert zu sein als Muslime (S. 51). Trotz aller Klagen wird der Stolz auf Isfahan als Stadt deutlich, ein Stolz der Muslime und Nicht-Muslime vereint. Der Blick auf Isfahan wird durch den Beitrag von Gabriele Krüger erweitert, die sich mit Paul Fleming, einen protestantischen Barockdichter, seiner Reise nach Persien, seinem Aufenthalt in Isfahan und den Hintergründen dieser Reise beschäftigt. Seine Begegnungen zeigen, dass friedliche, ja freundschaftliche Begegnungen möglich sind, auch wenn es keine eigentliche religiöse Toleranz gibt. Dies geht, wenn Religion als Volkszugehörigkeit angesehen wird und so mit Respekt behandelt und bestaunt werden kann. tiv auf die Stadtentwicklung aus und Ende des 18. Jahrhunderts lebten sieben große’ Glaubensgemeinschaften ” ’ in Neuwied friedlich miteinander“ (S. 121f). 1806 endet das Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation“; die ” selbständige Grafschaft Wied wird aufgelöst. Das eigen” ständige Neuwieder Toleranzmodell war zu Ende. Geblieben ist das verpflichtende Erbe“ (S.126). Johannes Heil geht auf die wechselhafte Geschichte der brandenburgischen Juden – speziell von 1671 bis 1812 - näher ein. Er zeigt die Folgen, der unter Friedrich II forcierte sozialrechtliche Ausdifferenzierung besonders innerhalb der Berliner Juden auf und setzt sie in Beziehung zu öko” nomischer Modernisierung und jüdischer Moderne“ (S. 139). Die jüdischen Träger und Nutznießer wirtschaftli” cher Modernisierung wurden zugleich die Träger innerMariano Delgado beschäftigt mit dem Mythos Tole- jüdischer Modernisierung bzw. zogen das Personal an, ” do“ und begründet, dass die abrahamische Konvivenz auf dass die entsprechenden Impulse geben und die Brücken spanischen Boden immer ein gefährdetes Zusammenle- zu den (…) Eliten auf der jüdischen Seite schlagen würde“ ben zwischen Duldung, Verfolgung und Bekehrung“ (S. (S. 139). ” 70) darstellte. Das westgotische Modell: Ein Herr, ein ” Reich, ein Glaube“ wird 711 abgelöst durch das islamiBeate Kosmala stellt uns Tomaszòw Mazowiecki vor, sche Modell, dass von einer dominierenden und zwei ge- der von Antoni Ostrowski im 19. Jahrhunderts als Faduldeten Religionen ausgeht. Mit der Eroberung Toledos brikort gegründet wurde. Dort sollten katholischen Poum 1085 beginnt die Rückkehr zum westgotischen Mo- len Christen aus Deutschland und Israeliten aus der Um’ dell. Dies wird lange Zeit abgemildert durch das Interesse gebung brüderlich leben und arbeiten (S. 145). 1931 lebdie eroberte Bevölkerung zu halten. Verfolgung, Zwangs- ten dort 38.000 Einwohner: 60 % sind katholische Polen, taufen und Duldung wechseln nun. Von einer Sonderrol- 30 % Juden und 10 % Lutheraner ( S. 147). Auch hier le des christlichen Spaniens in Sachen Intoleranz kann – begegnet uns gemeinsames Leben – ein Netz vielfältiso Delgado - aber trotzdem nicht gesprochen werden (S. ger kultureller und sozialer Begegnungen – und getrenn83). Gordan Godec zeigt uns Sarajevo mit seinen multie- tes Leben durch Bewegen in der eigenen Lebenswelt“. ” ” thischen und multireligiösen Charakter des Zusammen- Schulwesen und Spracherwerb waren – mit nur wenilebens“ (S. 94). Das Besondere an Sarajevo, dessen Be- gen Ausnahmen – ebenso getrennt. Die einsetzenden powohner sich selbst als Sarajlijer bezeichnen, ist das Ent- litischen Veränderungen zeigten, dass die Ideen Ostrowstehen einer gemeinsamen Kultur ohne dass die eige- skis nicht wirklich gefestigt waren und einer allmähli” ne kulturelle und religiöse Identität vernachlässigt oder chen Unterhöhlung nicht standhalten konnten. Im ersten gar aufgegeben wurde“ (S. 100). Der Charakter von Sar- Beitrag des abschließenden Teils des Buches beschreibt jevo wurde geprägt vom osmanischen Basarviertel mit Dawud Gholamasad die vielen Gesichter des Islamis” Kleinhandwerkern, Händlern, die eine gemeinsame Iden- mus“ und versucht vor dem Hintergrund differenzierter tität unabhängig von Religionszugehörigkeit entwickeln Analysen zu verdeutlichen, dass Islam und Islamismus und den Mahalas, d.h. den Orten, in denen jede Gemein- zwar unterscheidbar, aber nicht trennbar sind. Die viel” schaft ihre Kultur lebt und weniger auf Vermischung als fältigen Bedrohungen, die für Muslime mit der Perspekauf Eigenständigkeit ausgerichtet ist“ (S. 94). tive der Verwestlichung verbunden sind, setzen deshalb auch der Toleranz gegenüber westlichen Auffassungen H.-Georg Lützenkirchen stellt fest, dass Tole- und Lebensweisen deutliche Grenzen. Gholamasad be” ranz/Duldung“ eine entscheidende Voraussetzung für zieht sich u.a. auf Bourdieu´s Begriff des sozialen Habitus Wachstum und Entwicklung der Stadt Neuwied war. um das Gemeinsame und das Unterschiedliche von MusDie Absicherung im Stadtprivileg schafft eine Grundla- lime und Islamisten genauer zu bestimmen (S. 160) und gen für eine über die bloße Toleranz hinausgehende verweist auf mögliche Wege der Deeskalation (S. 179). ” rechtliche Sicherstellung von Religionsfreiheit“ (S. 115). Das Neuwieder Toleranzmodell bewährt sich sowohl in Ralph van Doorn beschäftigt sich vor dem HinterKonflikten als auch bei der Ansiedlung neuer Gemein- grund des dialogischen Denkens von Martin Buber krischaften. Die offensive Toleranzpolitik wirkte sich posi- tisch mit all jenen Formen des Dialogs, die nur das Eti2 H-Net Reviews kett nutzen, um in missionarischer Absicht die Bekehrung der jeweils Andersgläubigen“ zu betreiben - oh” ne deren Religion wirklich zu kennen und ihrem Glauben die notwendige Achtung entgegen zu bringen. Die Haltung von Martin Buber, die gekennzeichnet ist durch den Satz: Ich habe keine Lehre, aber ich führe ein Ge” spräch“ (S. 182) und seine Ablehnung von Mission unter Menschen, die einen lebendigen Glauben haben“ (S. 183) ” schafft eine andere Ausgangspositionen für einen wirklichen Dialog. Im dritten Beitrag des letzten Teils bündeln Sabine Hering und H.-G. Lützenkirchen die bisherigen Darstellungen und thematisieren die Bedeutung der Toleranz für die Regelung eines friedlichen und produktiven Zusammenlebens verschiedener Religionsgemeinschaften und Kulturkreise. Der geschichtliche Rückblick zeigt, dass Toleranz bis zum ausgehenden 16. Jahrhundert kaum mehr meint als Duldung eines anderen Bekennt” nisses“ (S. 191). Minderheiten werden durch Erlasse oder Edikte abgesicherte Rechte zugebilligt. In der Aufklärung verändert sich die Sichtweise auf Toleranz; Toleranz wird eine Tugend. Heute stehen wir vor der Tatsache, dass die Toleranz zwar als zentraler Bestandteil der Zivilgesell- schaft betrachtet wird, ihre Realisierung aber trotzdem zu wünschen übrig lässt. Damit Toleranz ihre Bedeutung ” als zivilisatorische Grundhaltung und gleichzeitig als gerechteste Strategie zur Konfliktlösung“ (S. 204) behaupten kann braucht es die Verbindung zu den Menschenrechten. Wenn die Toleranz in diesem Sinne begriffen und praktiziert wird, gewinnt sie anstelle der vermeintlichen Beliebigkeit eine klare Orientierung, welche sowohl die Ziele als auch die Grenzen der Toleranz für alle verbindlich bestimmt. Das vorliegende Buch greift ein – in der heutigen Zeit – sperriges Thema in eindrucksvoller und spannender Weise auf. Es deckt Mythen“ auf, macht neugierig ” auf bestimmte Städte und zeigt die vielseitigen Möglichkeiten auf sich dem Thema zu nähern. Deutlich wird dabei, dass Toleranz eine notwendige Verbindung zu Menschenrechten und Diversity ebenso braucht, wie dass sich seiner Selbst sicher sein“. Die angefügten Dokumente ” bieten die Möglichkeit sich intensiver mit der Geschichte der Toleranz zu befassen. Ich wünsche allen Leser/innen eine spannende, vergnügliche und lehrreiche Zeit mit diesem Buch. If there is additional discussion of this review, you may access it through the network, at: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/ Citation: Christa Paulini. Review of Hering, Sabine, Toleranz - Weisheit, Liebe oder Kompromiss?: Multikulturelle Diskurse und Orte. H-Soz-u-Kult, H-Net Reviews. March, 2005. URL: http://www.h-net.org/reviews/showrev.php?id=19601 Copyright © 2005 by H-Net, Clio-online, and the author, all rights reserved. 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