Wenn die Frommen nur nicht so fromm wären! Einleitung zu Mt 5,23f. (Fast_01_Fr) Oft denkt man, religiöse Menschen müssten besonders fromm sein. Aber wenn ich mir die jüdisch-christliche Tradition anschaue, dann muss ich sagen. Die alttestamentlichen Propheten genauso wie Jesus halten gerade den Frommen vor, dass sie gerecht sein sollen. „Gerecht sein“ heißt in der Bibel immer: die Gebote Gottes halten. Die Propheten genauso wie Jesus stellen dabei in den Vordergrund, dass es nicht nur auf all die Gebets- und Opfervorschriften ankommt, sondern vor allem auf die mitmenschlichen Gebote. Und die Frommen zu allen Zeiten scheinen besonders viel Nachhilfe zu brachen, um genau das zu verstehen. Jesus greift in seiner Bergpredigt zu einem scheinbar banalen Beispiel, wenn er sagt: „Wenn du deine Opfergabe zum Altar bringst und dir dabei einfällt, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, so lass‘ deine Gabe dort vor dem Altar liegen; geh‘ und versöhne dich zuerst mit deinem Bruder, dann komm‘ und opfere deine Gabe!“ (Mt 5,23f.). Man muss bedenken: Mit der Gabe vor dem Altar ist ein Opfer am Jerusalemer Tempel gemeint. Wir müssen uns also vorstellen, dass der Fromme eine richtige Pilgerreise macht: von Galiläa nach Jerusalem, zu Fuß! Das dauert – für den einfachen Weg – drei Tage. Eine ganze Woche Arbeitsausfall also. So viel ist dem Frommen sein Opfer wert! 1 Und Jesus sagt ihm: Und wenn dir dort in Jerusalem, am Ziel deiner Pilgerreise, vor dem Altar einfällt, dass dein Bruder zu Hause etwas gegen dich hat, dann lass‘ alles liegen und stehen, kehre zurück und versöhne dich mit deinem Bruder. Danach kannst du dich erneut auf den Weg machen. Denn erst dann, wenn du mit den Menschen im Reinen bist, wird auch dein Opfer vor Gott rein und wohlgefällig sein. Ein Punkt ist besonders süffisant an diesem JesusRatschlag: Jesus geht davon aus, dass der Fromme erst in Jerusalem an seinen Streit zu Hause mit seinem Bruder denkt. Unterwegs, davon scheint Jesus fest überzeugt zu sein, hat der Fromme ständig gebetet und nur an Gott gedacht! Erst in Jerusalem, wenn die anwesenden Priester für ihn beten, kann er auch an andere, eben weltliche Dinge denken. Aber dann wird es dafür auch höchste Zeit! Ich weiß nicht, wie viele von uns jetzt noch vor dem Altar stehenbleiben können, wenn wir das Wort Jesu ganz ernst nehmen. Aber ich hoffe, dass unser Beten uns hilft, mit offenen Augen auf unsere Beziehungen zu schauen, auch auf die verkorksten, und dass uns Gott die Kraft gibt, einen Vorstoß zur Versöhnung zu wagen, auch wenn wir damit schon oft gescheitert sind ... 2