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WISSENSCHAFT
Evolution
START IN DER URSUPPE
Wie und wann entstand Leben auf der Erde? Was waren die Urbausteine des Lebendigen, und wie wurden sie
zu belebter Materie? Molekularbiologen haben begonnen, die Chemie der Urzeugung und die ersten Schritte der
Evolution im Labor zu ergründen. Von den Ergebnissen könnte auch die Medizin profitieren.
AKG
400 Jahrmillionen habe demnach
die Entwicklung der kleinen Wunderwerke gedauert – vielleicht, so
mutmaßt der Molekularbiologe
vom Howard Hughes Medical Institute in Boulder (Colorado) sei
die Evolution der Einzeller noch
viel schneller abgelaufen.
„Nur 10 Millionen Jahre“,
schätzt US-Chemiker Stanley Miller, habe es gedauert vom „Anfang
in der präbiotischen Ursuppe bis zu
den Vorläufern der Cyanobakterien“, deren versteinerte Überreste
in den 3,5 Milliarden Jahre alten
Sedimenten in Australien aufgefunden wurden. „Alle chemischen
Prozesse, die wir kennen“, doziert
der
Forschungspionier,
„sind
schnell“; auch der Vorgang der Urzeugung, meint der Chemieprofessor von der University of California in San Diego, sei im Eiltempo
vonstatten gegangen.
Nur allmählich bringen die Experten Licht in den dunklen Ursprung des Lebendigen, aus dem
die ganze Formenvielfalt von Fauna und Flora hervorgegangen ist.
Seit kurzem kommen vor allem aus
amerikanischen Forschungslabors
in immer schnellerer Folge neue Forschungsresultate, die anzeigen, wie die
ersten Biomoleküle entstanden sein
könnten und wie sich die ersten lebenden Zellen geformt haben.
Mit ausgeklügelten molekularbiologischen Verfahren simulieren amerikanische, aber auch deutsche Forscher derzeit die präbiotische Evolution der ersten Biomoleküle – jenen Prozeß, in
dessen Verlauf sich die Bausteine des
Lebens zusammenfügten. In ihren Reagenzgläsern wollen die Forscher die
Entstehung des Lebens gleichsam im
Zeitraffer wiederholen.
Im Mittelpunkt dieses Forschungsvorhabens steht eine Klasse von Molekülen, die gleichsam den Motor aller Lebensvorgänge darstellen – die Ribonukleinsäuren (RNS). Bei diesen
Schlüsselsubstanzen handelt es sich um
die Kopien von Erbinformationen, die
Schöpfungsdarstellung: Myriaden von Einzellern wimmelten in den Weltmeeren
tockfinster war es, als die Erde geboren wurde. Kein Lichtstrahl
durchdrang die dichte Wolke aus
Gas und kosmischem Staub, die in rasender Geschwindigkeit um die Sonne
rotierte.
Tief im Inneren dieses Mahlstroms
nahm die Erde vor gut viereinhalb Milliarden Jahren ihre kugelförmige Gestalt
an – eine wüste, von mächtigen Vulkanausbrüchen gebeutelte Welt, auf die ein
pausenloser Hagel von Gesteinstrümmern niederging.
Einige hundert Millionen Jahre kreiste der Planet, gehüllt in heiße Dämpfe,
durch die Dunkelheit. Dann begann sich
das Chaos zu lichten. Über der Erde
ging die Sonne auf.
Sie beleuchtete einen Planeten, der
kahl und keimfrei seine Bahn zog.
Nichts Lebendiges rührte sich in seiner
von Dauergewittern durchtosten Atmo-
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DER SPIEGEL 26/1995
sphäre. Erst Jahrmillionen später entfaltete sich Leben in den irdischen Urmeeren: Myriaden von Einzellern, womöglich Vorfahren der heutigen Blaualgen,
wimmelten in den trüben Gewässern.
Wie lange lag der Schöpfungstag, das
Datum der Urzeugung, damals schon
zurück? Welche chemischen Reaktionen spielten sich in der „Ursuppe“ des
Planeten ab, als aus toter Materie Leben
entstand und die Evolution in Gang
kam?
Schon vor 3,5 Milliarden Jahren, soviel ergibt sich aus dem Alter von Fossilienfunden in Australien und Afrika,
hatte die Natur die ersten Zellen hervorgebracht – in den urigen Mikroorganismen gab es bereits ein komplexes Zusammenspiel von Erbmolekülen, Stoffwechselkreisläufen
und
Enzymen.
„Wirklich erstaunlich“ findet das der
US-Forscher Thomas Cech: Höchstens
K. ABBOTT / UNIVERSITY OF COLORADO
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Evolutionsforscher Cech
Dilemma von Henne und Ei
wir, daß Ribonukleinsäuren beides sein
können: Gen und Enzym.“
Seit der Entdeckung von Cech und
Altman, die dafür 1989 den Chemie-Nobelpreis erhielten, arbeiten die Evolutionsforscher an einem Szenario der
Schöpfung. Als Ausgangspunkt dient ihnen noch immer ein simples Experiment
aus dem Jahr 1952, mit dem der Chemiestudent Stanley Miller damals weltweites Aufsehen erregte.
Millers Lehrer, der Nobelpreisträger
Harold Urey aus Chicago, pflegte seine
Schüler in der Chemievorlesung mit einem Exkurs über den Ursprung des Lebens zu traktieren. Student Miller beschloß, die Theorie des Professors im
Labor zu überprüfen.
Der Chemiker, damals 22, mischte
aus Ammoniak, Wasserdampf, Methan
und Wasserstoff jene Uratmosphäre, in
der nach Ureys Vorstellung vor rund
vier Milliarden Jahren das Leben auf
der Erde seinen Anfang genommen hat.
Sodann setzte er zwei Elektroden in der
Mixtur unter Strom und ließ das Gebräu
einige Tage köcheln.
„Irgendwann im Oktober oder November 1952“, erinnert sich Miller, „hat
es funktioniert.“ In seiner Versuchsapparatur waren gleichsam über Nacht
Aminosäuren und einige andere Biomoleküle entstanden, die allen Lebewesen
als Grundbausteine für Proteine oder als
Zwischenprodukte im Stoffwechsel dienen.
Nach den Vorstellungen der Evolutionsforscher entstanden aus Purinen und
ihren chemischen Verwandten, den Pyrimidinen, zunächst jene vier Bausteine
der Nukleinsäuren, die im verschlüsselten Text der Erbinformation als Buchstaben dienen. Aus diesen vier Bausteinen, vermuten die Forscher, entstanden
die ersten RNS-Kettenmoleküle. Manche dieser archaischen Genschnipsel besaßen
enzymartige Fähigkeiten und
begannen, sich selbst zu vervielfältigen – womöglich,
im Gencode, der strickleiterförmigen
DNS im Zellkern, gespeichert sind.
Die RNS-Matrizen dienen in den Zellen als Konstruktionspläne für den Aufbau von Proteinen; zu ihnen zählen auch
die Enzyme, die vielerlei Stoffwechselvorgänge vorantreiben und steuern.
Auch bei der Herstellung von RNSKopien wirken Enzyme mit – für die
Evolutionsforscher, so der US-Biochemiker Thomas Cech, ein „Henne-Ei-Dilemma“: Was war in der molekularen
Entwicklung des Lebens zuerst da, die
RNS oder das Enzym, das nach dem
RNS-Plan aufgebaut wird?
Die Rätselfrage blieb für die Gelehrten zunächst unlösbar: Offensichtlich
waren alle Lebensformen von Beginn an
auf beides angewiesen – auf die RNS-Informationsträger und die für sie zuständigen Enzyme. „Wie konnte das Leben
starten ohne RNS-Molekül,
das die Information für das
Enzym bereithält?“ fragte
Erbmoleküle gegen Krebs
sich Cech.
Tumor-Behandlung mit Ribozymen
1982 fand der Gelehrte eine Antwort. Er entdeckte,
1
daß RNS-Moleküle in der
Schädliche
Chemie des Lebens eine
Boten-RNS
Doppelrolle spielen können:
In dem Einzeller Tetrahymena hatte er ein sogenanntes
Zellkern
RibozymRibozym aufgespürt – Teil eiMoleküle
2
nes RNS-Moleküls, das zugleich die Eigenschaften eiRetorten-Gen
nes Enzyms besaß. Wenig
später fand Cechs Kollege
1 Ribozym-Moleküle werden in
Sidney Altman ein weiteres
die kranke Zelle eingeschleust
natürliches
Ribozym
im
2 oder von zuvor eingesetzten ReDarmbakterium Escherichia
torten-Genen im Zellkern produziert.
coli. Cech: „Seither wissen
meint der US-Astrophysiker Carl Sagan, „war ein solches, sich selbst nachbildendes, katalytisches RNS-Molekül
das erste lebendige Ding in den alten
Ozeanen vor etwa vier Milliarden Jahren“.
In mehreren Labors arbeiten derzeit
amerikanische Moleküldesigner am
Nachbau von Urwelt-Ribozymen. Sie
lassen dabei die Gesetze von Mutation
und Auslese walten. In automatisierten
Genretorten komponieren sie aus den
Genbausteinen, den Nukleotiden, nach
dem Zufallsprinzip RNS-Ketten in beliebiger Zusammensetzung. Diese Prototypen durchlaufen in mehreren Runden eine Vervielfältigungsreaktion, bei
der es immer wieder zu Fehlern kommt,
zu Mutationen, wie sie auch die Natur
hervorbringt. Zwischendurch wird die
auf Hunderte von Billionen anschwellende Molekülpopulation auf eine bestimmte Enzymaktivität getestet; nur
leistungsfähige Varianten werden aussortiert und dürfen weiter mutieren –
Darwinismus im Reagenzglas.
Inzwischen haben sich die Evolutionsmaschinen als effektvolle Werkzeuge
beim Moleküldesign erwiesen. „Damit
können wir das gleiche tun“, behauptet
der Ribozym-Experte Gerald Joyce,
„was die Natur in vier Milliarden Jahren
Evolution geleistet hat.“
Dem US-Forscher Michael Yarus und
seinen Kollegen bescherte die neue Molekülbautechnik ein Ribozym, das sich
mit der Aminosäure Phenylalanin bestückt. Nobelpreisträger Cech fand dazu
einen Gegenspieler – ein Ribozym, das
die Eiweißbausteine wieder abspaltet.
Beide Vorgänge sind wichtige Schritte
bei der Proteinsynthese an den Ribosomen, den Eiweißfabriken aller lebenden
Zellen. Der Ribozym-Designer Jack
3
5
4
3 Die Ribozym-Moleküle heften sich
an die Boten-RNS von Krebsgenen
4 und zerschneiden die schädlichen
Botenmoleküle.
5 Die zerstückelte RNS
kann nicht in Krebsproteine übersetzt werden
und bleibt unwirksam.
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WISSENSCHAFT
Nach gleichem Muster wollen die USForscher Flossie Wong-Staal und Arnold Hampel künftig die Virusvermehrung im Blut von HIV-Infizierten bekämpfen. Die Wissenschaftler haben eine RNS-Genschere entwickelt, die das
HIV-Erbgut in ungefährliche Fetzen
zerlegen kann. In Laborversuchen
konnten die Forscher die HIV-Vermehrung nahezu vollständig blockieren.
Noch werden die Ribozym-Pharmazeuten von technischen Schwierigkeiten
gebremst; ihre RNS-Medikamente sind
allzu labil. Vor allem RNS-abbauende
Zell-Enzyme,
befürchten
kritische
Fachleute, könnten die Ribozym-Geschosse vernichten, bevor sie ihre Wirkung entfaltet haben.
Doch diese Hürde wollen die Moleküldesigner überwinden: Auch die weit-
K. WALSH
Szostak hat ein Ribozym entwickelt, das
zwei RNS-Schnipsel selbsttätig zusammenflicken kann.
Was die Forscher sich erträumen, wären RNS-Enzyme aus der Retorte, die
sich unbegrenzt selbständig vervielfältigen können – solche Moleküle, meint
Ribozym-Forscher Joyce, müßten bereits „als biochemisches Leben“ eingestuft werden.
Mittlerweile wollen sich auch die Mediziner der im Labor erzeugten Ribozyme bedienen. Aus dem Molekülarsenal
der Vorzeit, so haben sie erkannt, ließen sich schlagkräftige Waffen gegen
das RNS-Erbgut von Aids- und Hepatitisviren sowie anderer Erreger schmieden. Auch taugen die RNS-Enzyme womöglich zur Krebsbehandlung (siehe
Grafik Seite 157).
Chemiker Miller*: Urzeugung im Eiltempo
Krebsmetastasen seiner Patienten will
der Berliner Tumormediziner Friedhelm Herrmann mit einem Ribozym bekämpfen, das gegen das sogenannte Multidrug-Resistance-Gen (MDR-1Gen ) angeht. Es ist in Tumorzellen, die
bisher jeder Chemotherapie hartnäckig
widerstehen, besonders aktiv.
Herrmanns Medizinerteam plant, den
Krebskranken künftig ein Anti-MDRRibozym zu verabreichen. Die RNSScheren sollen sich an die Boten-RNS
des MDR-Gens heften und sie zerstükkeln.
Die zerteilte Botschaft des MDRGens bliebe für die Eiweißfabriken der
Krebszellen unleserlich; der Tumor, seines Schutzschilds beraubt, so das Kalkül
der Berliner Mediziner, wäre wehrlos
dem Gifttod aus Pharmazeutenhand
preisgegeben.
* Mit der Nachbildung einer Apparatur zur Simulation der Entstehung von Aminosäuren.
aus stabilere Erbsubstanz DNS, haben
sie erkannt, kann die Aufgabe eines Enzyms erfüllen.
Vorletzte Woche meldete US-Forscher Szostak vom Massachusetts General Hospital in Boston im Fachblatt Nature, seine Evolutionsmaschinen hätten
ein künstliches DNS-Enzym ausgespuckt, das zerschnittene DNS-Stücke
wieder zusammenfügt.
Wenige Monate zuvor hatten Forscher vom Scripps Research Institute in
Kalifornien verkündet, es sei ihnen gelungen, DNS, das Genmaterial aller
Pflanzen, Tiere und Menschen, als Enzymschere gegen das Erbgut der RNSViren oder schädliche Boten-RNS einzusetzen.
Michael Riordan, Präsident einer
Gentechfirma in Kalifornien, sieht eine
neue Medizinära heraufdämmern – sie
werde, schwärmt er, „Nukleinsäuren,
die Ursprungsmoleküle des Lebens, als
Medikamente nutzen“.
Y
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