SCHWERPUNKT | GENDER NR.9_SEPTEMBER 2009 | SOZIALAKTUELL Geschlechterdynamiken in ­muslimischen Familien Text: Barbara Thiessen Wie steht es um die Geschlechterdynamiken in muslimischen Familien? Wie wird die Herstellung von Geschlecht in muslimischen und westlichen, christlich geprägten Traditionen diskutiert? Um eine Integrationsarbeit «auf Augenhöhe» betreiben zu können, muss sich die Soziale Arbeit mit diesen Fragen auseinandersetzen. Ein Blick auf die ­Lebensrealitäten von Muslimen in Deutschland. Islam in Deutschland: Lebenswelten, Elternarbeit und sozialpädagogische Ansätze Allerdings: Nur die Hälfte der Türken, die wiederum zwei Drittel der Muslime ausmachen, hat einen Schulabschluss (BAMF 2009). Ebenso kommt eine Studie des Deutschen Jugendinstituts zu dem Ergebnis, dass 54 Prozent der türkischen Familien über ein Haushaltsnettoeinkommen verfügen, das zu den unteren zehn Prozent aller Haushalte der Stichprobe zählt (Alt/Holzmüller 2006: 30 ff.). Spezifische Typisierung von Rollen­ mustern In Bezug auf Geschlechterleitbilder ist quer zu den Milieus eine modernitätsresistente Grundhaltung erkennbar (Wippermann et al. 2007). Ist also der Islam frauenfeindlich, wie dies immer wieder behauptet wird, auch von muslimischen Frauen? Tatsächlich wird in musEs ist notwendig, zuerst soziale limischen Familien meist eine deutliche Geschlechtertrennung Differenzen wahrzunehmen praktiziert, die bei den Kindern etwa mit Schuleintritt in besonderer Wei36 Prozent als sehr stark gläubig, aber akse deutlich wird und mit Begrenzungen tiv in religiösen Vereinen sind nur 20 Profür beide Geschlechter einhergeht: Mädzent aller Muslime. Je höher Bildung und chen sollen im Haus bleiben und dort Einkommen sind, desto «westlicher» der Aufgaben übernehmen, während sich die Lebensstil, desto liberaler und individuJungen tagsüber eher ausserhalb des umsbezogener die Erziehungshaltung. Hauses aufhalten sollen. Dabei besteht Auch die SINUS-Milieustudie (Wipperdas Problem, dass in den Städten, anders mann et al. 2007) belegt den Zusammenals in den meist dörflichen Herkunftsregihang von Modernität und wirtschaftlionen, auf der Strasse keine funktioniechem Aufstieg. renden sozialen Anregungs- und Kontrollstrukturen vorzufinden sind. Die traditionelle Separierung von Geschlechtern geht mit einer spezifischen Typisierung von Rollenmustern einher. Bei Regelverletzung und abweichendem Verhalten werden Abwertungsmuster und Ausgrenzungsstrategien beobachtet. In diesem Kontext ist auf die nach wie vor bedeutsame Kultivierung von Virginität bei unverheirateten Frauen zu verweisen, die im Alltag mit erheblichen Barbara Thiessen Einschränkungen und diskriminierenden ist Grundsatzreferentin für Familienpolitik am Praktiken einhergeht. Deutschen Jugendinstitut e.V. in München. In Deutschland leben mit 4,3 Millionen Menschen wesentlich mehr Muslime als bislang angenommen. Das geht aus einer Studie hervor, die das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF 2009) erstellt hat. Zwar bezeichnet sich die Hälfte der Befragten als gläubig und weitere 20 Unterschiedliche Vorstellungen von Subjekt und Sexualität Sexualität wird als eine starke Kraft betrachtet, die nicht allein durch Selbstkontrolle und durch die Verinnerlichung der kulturellen Normen beherrscht, sondern durch die Familie kontrolliert werden soll. Paradoxerweise «sexualisiert» eine solche Moral die Kontakte zwischen den Geschlechtern. Gleichzeitig ist die Rede über Sexualität tabuisiert. Daher bekommen die Kinder in der Regel keine Sexual­ aufklärung im Elternhaus. Befürchtet wird, dass Sexualität durch das Sprechen da­ rüber geweckt wird. Aufschlussreich ist die Betrachtung der gänzlich unterschiedlichen Vorstellung von Subjekt und Sexualität in christlich und muslimisch geprägten Kulturen. Im christlichen Kontext wird nach Augusti- GENDER | SCHWERPUNKT SOZIALAKTUELL | NR.9_SEPTEMBER 2009 nus Sexualität mit Sünde verknüpft, und eine aus der griechischen Tradition übernommene Trennung von Körper und Geist bestimmt das Menschenbild. Dagegen gilt für muslimisch geprägte Kulturen, in denen Sexualität grundsätzlich als Lebensenergie positiv konnotiert wird, jedoch exklusiv für Ehe­beziehungen vorbehalten ist, ein zweigeschlechtliches Menschenbild, das mit einer strikten Trennung zwischen Frauen und Männern einhergeht (Mernissi 1987, Mihciyazgan 2008). Sexualität wird im Islam also territorial, d.h. zwischen den zweigeschlechtlich angenommenen Subjekten, reguliert. Dies führt in Gesellschaften, die im Alltag keine Geschlechtertrennung vorsehen, zu Verhaltensunsicherheit. Es spricht aber nicht gegen eine eigenständige Würde von Frauen. In Familienberatung und -bildung haben sich Kooperationen vor Ort, auch mit Moscheegemeinden und religiösen Vereinen, bewährt. Die «Erreichbarkeit» muslimischer Familien zeigt sich aus ­dieser Perspektive eher als ein Problem einer – oft nicht bewussten – kulturellen Abschottung etablierter Einrichtungen (Thiessen 2007). Auf dem Weg zum «Pop-Islam» Feststellbar sind entlang der sozioökonomischen und bildungsbezogenen Lage von muslimischen Familien grundlegende Wandlungsprozesse. Schon die zweite Generation von MigrantInnen zeigt eine deutliche Annäherung an die Mehrheitsgesellschaft, insbesondere in ihren Geschlechterbildern und Familienmustern, ablesbar etwa an dem Anstieg des Heiratsalters, dem Rückgang der Geburtenrate und wachsender Scheidungsrate Entscheidende Aspekte der sozial­ (Karakaşoğlu 2003). Hervorzuheben ist pädagogischen Arbeit jedoch auch ein neues kulturelles SelbstFür die Arbeit mit muslimischen Familien bewusstsein junger Muslime, das nicht bedeuten diese Befunde vor allem zweizuletzt aus Ausgrenzungserfahrungen erlei: Es sind erstens die sozialen Lebensgespeist wurde und als «Pop-­ Islam» bezeichnet wird (Gerlach Selbstbewusste muslimische 2006). Im Mittelpunkt stehen daMädchen mischen Vorstellungen bei ein neues muslimisches Gemeinschaftsleben sowie ein musvon Gleichberechtigung auf limisch identifizierter Lebensstil, der sich auch kritisch gegenüber aus den umstände wesentlich genauer in den Herkunftsländern mitgebrachten lokalen Blick zu nehmen. So könnte eine entTraditionen zeigen kann und moderne sprechende Lesart sein, dass Mehmet Ö. Gleichheitskonzepte zwischen Frauen aus Schweinfurt D, der im Juni dieses und Männern einfordert. Es sind vor Jahres seine fünfzehnjährige Tochter ­allem die jungen selbstbewussten MädBüsra erstach, durch den Erfolg seiner chen mit modischen Kopftüchern, die die Tochter, die das örtliche Gymnasium hiesigen Vorstellungen von Gleichbe­besucht hatte, mit seinem eigenen wirtschaftlichen Misserfolg und mit demütigenden Integrationserfahrungen konfrontiert wurde. Förderlich für geschlechtergerechte Bedingungen sind demnach auch wirtschaftlich erfolgreiche Integrationsbiografien. Zweitens scheint mir der Blick auf «die Anderen» ein entscheidender Aspekt für eine förderliche oder misslingende Arbeit mit muslimischen Familien zu sein. Wenn für die Herstellung des eigenen aufgeklärten Selbstbewusstseins die Figur der «unterdrückten Muslima» notwendig wird, ist die Wahrnehmung muslimisch geprägter Frauen und Mädchen getrübt. Dann wird ein Kopftuch, eine arrangierte Ehe oder die Ablehnung von Koedukation zum ausschliesslichen Symbol für Unterdrückung (BednarzBraun/Hess-Meining 2004; Cakir 2009). rechtigung aufmischen und gleichwohl auf mädchenpädagogische Unterstützung und Räume angewiesen sind. Diese nichtwestlichen Emanzipationsprozesse sind ebenso herausfordernd und irritierend wie bereichernd. | Literatur Alt, Christian; Holzmüller, Helmut (2006): Der familiale Hintergrund türkischer und russlanddeutscher Kinder. In: Christian Alt (Hrsg.), Kinderleben – Integration durch Sprache? Band 4, Wiesbaden, S. 23–38. Bednarz-Braun, Iris; Heß-Meining, Ulrike (2004): Migration, Ethnie und Geschlecht. Wiesbaden. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) (2009): Muslimisches Leben in Deutschland. Nürnberg. Cakir, Naime (2009): Zum Geschlechterverhältnis im Islam. In: Migration und Soziale Arbeit, Heft 1, S. 15–22. Gerlach, Julia (2006): Zwischen Pop und Dschihad. Muslimische Jugendliche in Deutschland. Berlin. Karakaşoğlu, Yasemin (2003): Geschlechtsidentitäten (gender) unter türkischen Migranten und Migrantinnen in der Bundesrepublik. In: Körber-Stiftung (Hrsg.), ­Geschlecht und Recht, Hamburg, S. 34–50. Mernissi, Fatima (1987): Geschlecht, Ideologie, Islam. München. Mihciyazgan, Ursula (2008): Der Irrtum im Geschlecht. Eine Studie zu Subjektpositionen im westlichen und muslimischen Diskurs. Bielefeld. Thiessen, Barbara (2007): Muslimische Familien in Deutschland. Alltagserfahrungen, Konflikte, Ressourcen. Expertise für das BMFSFJ, München. Wippermann, Carsten, et al. (2007): Die Milieus der Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland. Eine qualitative Untersuchung von Sinus Sociovision im Auftrag des BMFSFJ, Berlin, www.sinus.sociovision/ download/Report_Migranten-Milieus_16102007_ Auszug.pdf 21