Somatoforme (funktionelle) Störungen des

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M E D I Z I N
ZUR FORTBILDUNG
Herbert Csef1
Klaus Rodewig2
Jürgen Sökeland3
Somatoforme
(funktionelle) Störungen
des Urogenitalsystems
Behandlung von Prostatodynie und Reizblase
ZUSAMMENFASSUNG
In der Praxis des niedergelassenen Urologen sind funktionelle (somatoforme) Störungen sehr häufig. Bei Männern
ist die Prostatodynie („chronische Prostatitis“), bei Frauen die „Reizblase“das häufigste funktionelle Krankheitsbild. Psychosomatische Konzepte integrieren prädisponierende somatische Faktoren, Persönlichkeitsmerkmale
und psychosoziale Faktoren. Die Letzteren können das
Krankheitsbild auslösen und haben bei der Chronifizie-
rung große Bedeutung. Beratung
oder Psychoedukation durch den
Arzt der Primärversorgung oder spezifische psychotherapeutische Interventionen durch den Fachpsychotherapeuten sind von großer Bedeutung für eine erfolgreiche Behandlung.
Schlüsselwörter: Prostatodynie, chronische Prostatitis,
Reizblase, somatoforme Störung
Somatoform Disorders of the Urogenital System
Functional urologic disorders are very frequent among urologic outpatients. The most common syndromes are prostatodynia (“chronic prostatitis”) in male patients, and irritable
bladder in female patients. Psychosomatic concepts integrate predisposing somatic conditions, personality features
and psychosocial factors. The latter may trigger the onset and
seem to have the greatest influence on chronification. Counselling or psycho-education provided
by primary care physicians, or psychotherapeutic interventions by specialists are of major importance for successful
treatment.
Key words: Prostatodynia, chronic prostatitis irritable bladder, frequency-urgency syndrome, somatoform disorder
P
atienten mit funktionellen beziehungsweise somatoformen
Störungen im Urogenitalbereich werden häufig beim niedergelassenen Arzt oder Urologen behandelt, sodass die meisten Patienten
nicht stationär aufgenommen werden. Somatoforme (funktionelle)
Krankheitsbilder sind die „chronische Prostatitis“ (Prostatodynie) und
die Reizblase. Epidemiologische Daten zu funktionellen Störungen oder
somatoformen Störungen des urogenitalen Systems fehlen weitgehend.
Nach Günthert (6) haben 30 bis 50
Prozent der Patienten in der Sprechstunde des niedergelassenen Urologen eine psychosomatisch bedingte
Erkrankung.
Somatoforme Störungen sind in
der internationalen WHO-Klassifikation ICD-10 wie folgt definiert:
„Das Charakteristikum ist die
wiederholte Darbietung körperlicher
Symptome in Verbindung mit hartnäckigen Forderungen nach medizinischen Untersuchungen trotz wiederholter negativer Ergebnisse und
Versicherungen der Ärzte, dass die
Symptome nicht körperlich begründ-
bar sind. Wenn somatische Störungen
vorhanden sind, erklären sie nicht die
Art und das Ausmaß der Symptome
oder das Leiden und die innerliche
Beteiligung des Patienten“ (ICD-10).
Die große und heterogene Gruppe der somatoformen Störungen wird
in ICD-10 in verschiedene Kategorien
untergliedert. Dies trifft auch für die
somatoformen Störungen des Urogenitalsystems zu. Je nach Leitsymptomatik oder betroffener Hauptfunktion lassen sich prinzipiell die in Tabelle 1 aufgeführten Subtypen differenzieren.
Die Heterogenität der somatoformen Störungen liegt auch darin
begründet, dass somatische Faktoren unterschiedliche Relevanz haben und Subtypen bedingen (zum
Beispiel vorausgehende Infektionen,
begleitende Blasenentleerungsstö1
Medizinische Poliklinik (Direktor: Prof. Dr.
med. Klaus Wilms) der Universität Würzburg
2 Abteilung Innere Medizin (Chefarzt: Dr.
med. Klaus Rodewig) der Fachklinik Hochsauerland, Bad Fredeburg
3 Institut für Arbeitsphysiologie an der Universität Dortmund
A-1600 Deutsches Ärzteblatt 97, Heft 23, 9. Juni 2000
SUMMARY
rungen bei Prostatodynie). Tölle
(14) hat in seinem Editorial zu Recht
darauf hingewiesen.
Funktionell steht also versus
morphologisch oder strukturell, nicht
etwa versus organisch oder somatisch. Denn die funktionellen Störungen spielen sich am Organ ab, sie sind
insofern etwas somatisches.
Falsch wäre es, „funktionell“
gleichzusetzen mit „psychisch“ oder
„psychogen“ (14).
Die häufigste somatoforme Störung des Urogenitalsystems ist beim
Mann die „chronische Prostatitis“
(Synonyme: Prostatodynie, vegetatives Urogenitalsyndrom). Das weibliche Analogon hierzu ist die „Reizblase“. Die Blase ist ein vegetativ
innerviertes Organ. In der ICD-10Klassifikation ist sie deshalb in der
Kategorie F45.34 als „somatoforme autonome Funktionsstörung des
Urogenitalsystems“ einzuordnen. Die
Prostatodynie (die bakteriell negative
chronische Prostatitis oder das vegetative Urogenitalsyndrom) kann entweder als „sonstige somatoforme
Störung“ (Ziffer F45.8) oder als
„anhaltende somatoforme Schmerz-
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störung“ (Ziffer F45.4) eingeordnet
werden (3).
Die funktionellen Sexualstörungen sind prinzipiell ebenfalls den
funktionellen Beschwerden des Urogenitalsystems zuzuordnen, insbesondere dann, wenn somatische Ursachen ausgeschlossen sind. Wegen
zahlreicher Besonderheiten (zum
Beispiel komplexe Ätiologie, häufig
vorhandene Situations- und Partner-
❃ Druckgefühl oder Brennen hinter
dem Schambein,
❃ Spannungsgefühl im Kreuzbeinbereich, Nachträufeln.
Die Symptomatik ist sehr vielgestaltig und kann sich im chronischen
Krankheitsverlauf in ihrer Gestalt
wandeln. Insgesamt beziehen sich
die Symptome überwiegend auf die
Harnwege, die Anorektalregion, die
Genitalregion und die Sexualfunktion. Der Textkasten Symptomatik der
Prostatodynie fasst die genannten
Symptomgruppen in ihrer klinischen
Phänomenologie zusammen.
Eine große Variabilität unspezifischer Beschwerden und eine chronische Verlaufsform sind charakteristisch (16). Versuche, durch infektiologisch-bakterielle Befunde eine
„echte“ bakterielle Prostatitis vom
rein psychosomatisch bedingten vegetativen Urogenitalsyndrom zu unterscheiden, haben bislang keine befriedigenden Kriterien bringen können (15, 2). Bei Patienten, bei denen
keine bakteriellen Befunde nachweisbar sind, aber die entsprechenden Symptome einer Prostatitis bestehen, wird das Krankheitsbild als
vegetatives Urogenitalsyndrom, Prostatodynie oder Beckenbodenmyalgie eingestuft. 52,4 Prozent der Patienten mit chronischer Prostatitis haben keine Entzündungszeichen. Differenzialdiagnostisch müssen auch
proktologische Erkrankungen ausgeschlossen werden.
Die Prostatodynie hat mit ihren
verschiedenen Subtypen eine wesentliche Gemeinsamkeit mit somatoformen (funktionellen) Störungen anderer Organsysteme. Auch
beim Reizdarmsyndrom oder bei der
les Syndrom werden als Synonyme
für eine Prostatodynie verwendet.
Klinisch muss zwischen der akuten bakteriellen Prostatitis, der chronischen Prostatitis, dem so genannten Urogenitalsyndrom und den Beschwerden bei proktologischen Erkrankungen unterschieden werden.
Die Deutsche Gesellschaft für
Urologie hat in ihren Leitlinien (8)
die aus Tabelle 2 ersichtliche Ein-
Tabelle 1
Funktionelle Störungen des Urogenitalsystems (Klassifikationsmöglichkeiten nach ICD-10)
ICD-10-Ziffer
Diagnostische Kategorie
Hauptfunktion
F45.34
Somatoforme autonome
Funktionsstörungen des
urogenitalen Systems
Vegetatives Nervensystem
F45.4
Anhaltende somatoforme Schmerzstörung
Chronischer Schmerz
F45.8
Andere somatoforme
Störungen
F52
Sexuelle Funktionsstörungen Sexualfunktion
abhängigkeit, enger Zusammenhang
mit Verhaltensauffälligkeiten) werden die sexuellen Funktionsstörungen in der ICD-10-Klassifikation
nicht der großen Gruppe der „somatoformen Störungen“ zugeordnet.
Die sexuellen Funktionsstörungen
finden sich vielmehr im Kapitel F50
bis F59, das „Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und
Faktoren“ enthält. Wegen der Besonderheiten in Ätiologie, Klassifikation und Therapie werden die
sexuellen Funktionsstörungen in diesem Beitrag nicht ausführlicher besprochen. Dieser Themenkomplex
wurde Anfang des Jahres bereits in
den Heften 6, 8, 10 und 12 des Deutschen Ärzteblatts behandelt.
Prostatodynie,
Urogenitalsyndrom und
Beckenbodenmyalgie
Die Begriffe chronische bakterielle Prostatitis, chronische abakterielle Prostatitis, chronische unspezifische Prostatitis, Kongestionsprostatitis, prostatisches Syndrom, Prostatopathie und vegetatives urogenita-
–
teilung der Prostatitisformen vorgeschlagen.
Gemeinsam sind diffuse Beschwerden im Beckenbereich, die in
der Reihenfolge ihrer Häufigkeit
aufgeführt sind:
❃ Druckgefühl im Damm,
❃ ziehende Beschwerden in den Leisten, die bis in die Hoden ausstrahlen können,
❃ vermehrter Harndrang, gelegentlich erschwertes, verlangsamtes
Wasserlassen,
❃ Brennen in der distalen Harnröhre,
Tabelle 2
Formen der Prostatitis (Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Urologie DGU)
Akute
bakterielle
Prostatitis
Chronische
bakterielle
Prostatitis
Abakterielle Prostatodynie
Prostatitis
Eitriges
Prostatasekret
+
+
+
–
Erregernachweis
+
+
+/–
–
Symptome
Akut,
fieberhaft
Typische, gleiche Symptomatik
Deutsches Ärzteblatt 97, Heft 23, 9. Juni 2000 A-1601
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funktionellen Dyspepsie gibt es verschiedene Subtypen, die sich jeweils
durch physiologische oder psychosoziale Faktoren unterscheiden.
Meares (11) hat drei Gruppen
differenziert:
❃ Patienten, bei denen Spannungsmyalgien des Beckenbodens im Vordergrund stehen,
❃ Patienten mit funktionellen Blasenentleerungsstörungen,
❃ Patienten mit primär stressassoziierten emotionalen Störungen.
Der diagnostische und differenzialdiagnostische Prozess erfordert
Sorgfalt, da sowohl die einzelnen Prostatitisformen als auch Syndrome benachbarter Organsysteme (Anorektalregion, Sexualstörungen) ausgeschlossen werden müssen. Die Prostatodynie bleibt schließlich – wie bei
anderen somatoformen Störungen
auch – eine Ausschlussdiagnose. Der
Textkasten Diagnostik der Prostatodynie beschreibt die wesentlichen Untersuchungen im diagnostischen Prozess.
Reizblase
Für die Reizblase werden psychosomatisches Urethralsyndrom, Irritable Bladder, Urethralsyndrom,
Frequency-Urgency-Syndrom als Synonyme verwendet.
Die Reizblase gilt als funktionelles Syndrom, da typischerweise –
analog dem vegetativen Urogenitalsyndrom – ein korrelierender organpathologischer Befund fehlt.
Bemerkenswerterweise wird das
Syndrom der Reizblase fast ausschließlich beim weiblichen Geschlecht diagnostiziert (3). Unter
neurophysiologischen Aspekten lässt
sich die Reizblase besonders gut
über das vegetative Nervensystem
erklären. Im Symptombild stehen
ständiger Harndrang und Pollakisurie im Vordergrund. Patientinnen
mit typischen Reizblasensymptomen
sind in der Regel kontinent.
Bei der Reizblasensymptomatik
fehlt die Strangurie (Brennen beim
Wasserlassen), obwohl einige Patientinnen gelegentlich einen schmerzhaften Dauerreiz verspüren. Objektivierbare organpathologische Befunde im Blasenbereich haben sich bis-
festgestellt werden (5) und
auch bei Frauen mit ReizSymptomatik der Prostatodynie
blasensymptomatik häufig
❃ Beschwerden im Bereich der Harnwege
funktionelle Sexualstörungen auftreten (12). Für PerPollakisurie, Algurie, Strangurie, imperasonen dieser Subgruppe
tive Miktion, Nykturie, Dysurie, (termikann ein sekundärer Kranknales) Brennen
heitsgewinn darin liegen,
❃ Beschwerden in der Anorektalregion
dass die organbezogene
Darmtenesmen, Druckgefühl im After,
Störung als Grund für die
Stuhlunregelmäßigkeiten, DefäkationsVermeidung des Sexualkonschmerz
takts ohne Gesichtsverlust
herangezogen werden kann
❃ Beschwerden in der Genitalregion
(Alibifunktion).
Dysästhesien in Genito-Inguinalregion
Der psychische Hinterund Damm, Symphysen- und Kreuzbeingrund der somatoformen
schmerz, ziehende Schmerzen in Leisten
Störungen im Bereich des
und Hoden, Schmerz post ejaculationem
Urogenitaltrakts kann sich
vielgestaltig darstellen. So
❃ Störungen der Sexualfunktion
kann die Hauptproblematik
Libidostörungen, Potenzstörungen
in einem Autonomie- beziehungsweise Abhängigkeitskonflikt oder in der Ambilang nicht erheben lassen. Pathophy- valenz zwischen Kontrolle und Hinsiologisch wird eine Dyssynergie der gabe liegen (9).
Blasen- und BeckenbodenmuskulaDiederichs (4) fand bei Patientur postuliert. Bei der rezidivieren- ten mit chronischer Prostatitis überden „echten“ Zystitis gehen neuere wiegend zwangsneurotische Perpsychosomatische Modelle von einer sönlichkeitsstrukturen. Dies gilt jepsychoimmunologischen Sichtweise doch nicht als spezifischer Befund
aus. Sie interessieren sich beson- dieser Patientengruppe, sondern
ders für die pathophysiologisch inter- kann als psychische Komponente bei
mediären Prozesse, die zu einer loka- allen Störungen im Urogenitalbelen Immunschwäche führen (7). Die reich eine Rolle spielen. EntwickDiagnostik ist wiederum eine Aus- lungspsychologisch wird dies daschlussdiagnostik (Textkasten Zysti- mit erklärt, dass mit der Kontroltis/Urethritis).
le über die Funktion der urethralen
und analen Schließmuskeln analog
spezifische Entwicklungsschritte vollÄtiologie: somatische und zogen werden, die verbunden sind
mit der Freude an den eigenen im
psychische Faktoren
positiven Sinne aggressiven FähigAus der heutigen Sicht der psy- keiten.
chosomatischen Medizin liegen den
Liegt eine Störung in dieser
funktionellen (somatoformen) Stö- Phase der psychosexuellen Entwickrungen des Urogenitalsystems keine lung vor, so können sich Verspanspezifischen Persönlichkeitsstruktu- nungszustände im Bereich des
ren oder Konflikte zugrunde. Gleich- Beckenbodens einstellen, die als
wohl haben zahlreiche Studien zu Beckenbodenmyalgie
imponieren
den intrapsychischen und psychoso- (13, 7). Bei diesen Patienten lässt
zialen Faktoren ergeben, dass offen- sich häufig ein erhöhter Analsphinksichtlich Sexualität, Partnerschaft, tertonus feststellen. Meares (11) und
Geschlechtsidentität und Rollener- Barbalias (1) fanden bei der Prostawartung bei bestimmten Patienten todynie zusätzlich zur Beckenbodengroße Bedeutung haben.
hyperaktivität einen geringen UroEs erscheint somit nicht überra- flow und vermuten ursächlich eine
schend, dass bei über 50 Prozent der Blasenhalsspastizität. Bei Frauen mit
Patienten mit einem vegetativen einer Reizblase können angstauslöUrogenitalsyndrom zusätzlich Erek- sende Situationen die Symptomatik
tions- oder Ejakulationsstörungen verstärken.
A-1602 Deutsches Ärzteblatt 97, Heft 23, 9. Juni 2000
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Therapie der
Prostatodynie
Die Behandlung von Patienten
mit chronischer Prostatitis oder anderen chronischen urogenitalen Syndromen wird durch die Klagsamkeit
der Patienten erschwert. Der behandelnde Arzt kann sich immer wieder zu diagnostischen Eingriffen
provoziert fühlen. Hierdurch kann
sich eine unselige Kollusion zwischen Patient und Therapeut entwickeln, indem der Patient in „unbewusster Reinszenierung“ möglicher
frühkindlicher Konfliktsituationen
sich vom Arzt wieder nicht verstanden oder sogar verletzt fühlt, ihn
aber in die Rolle des „Schädigers“
drängt (9).
Wichtig ist hervorzuheben, dass
nicht nur Patienten mit negativen
mikrobiologischen Befunden von einem psychotherapeutischen Angebot profitieren. Janssen et al. (9) sowie Junk-Overbeck et al. (10) stellten fest, dass sich Patienten mit einer chronischen bakteriellen von
denjenigen mit einer abakteriellen
Prostatitis psychopathologisch nicht
wesentlich unterscheiden. Psychopathologische Auffälligkeiten sind
nicht nur ätiologisch relevant, sondern können sich auch im Rahmen
einer dysfunktionalen Krankheitsverarbeitung sekundär entwickeln
(Chronifizierungsprozess). Psychodynamische und verhaltensmedizinische Therapieansätze zeigten positive Behandlungsergebnisse. Ergänzend können Entspannungsübungen
(zum Beispiel autogenes Training)
und Körpertherapien hilfreich sein
(7).
Psychopathologische Auffälligkeiten sind nicht nur ätiologisch
relevant, sondern können sich auch
im Rahmen einer dysfunktionalen
Krankheitsverarbeitung sekundär entwickeln (Chronifizierungsprozess).
Psychodynamische und verhaltensmedizinische Therapieansätze zeigten positive Behandlungsergebnisse.
Auch hier können Entspannungsübungen (zum Beispiel autogenes
Training) und Körpertherapien hilfreich sein (7).
Bei der Therapie der funktionellen Störungen des Urogenitaltrakts
ist ein Stufenplan sinnvoll. Nicht alle
Patienten mit diesen Krankheitsbildern sollen einem Psychosomatiker
oder Psychotherapeuten vorgestellt
werden. Bei einem Großteil führt die
symptomatische urologische Behandlung zu einer Besserung oder
Symptomremission. Bei bestimmten
Patienten ist eine Überweisung an
einen Fachpsychotherapeuten sinnvoll. Dies ist insbesondere der Fall,
wenn die Symptomatik einen erheblichen Schweregrad hat, wenn begleitend behandlungsbedürftige psychiatrische Komorbiditäten wie
Angst oder Depression bestehen,
oder wenn erhebliche Chronifizierungstendenzen vorliegen. Der Stufenplan der Therapieansätze sieht
folgende Reihenfolge vor:
❃ Symptomatische (meist medikamentöse) Therapie durch den Urologen.
❃ Psychosomatische Grundversorgung durch den Hausarzt oder
den Urologen.
❃ Fachpsychotherapie
(durch
Fachärzte für psychotherapeutische
Medizin, Ärzte mit Zusatzbezeichnung Psychotherapie oder psychologische Psychotherapeuten).
Eine antibiotische Therapie ist
nur bei nachweislich durch Krankheitserreger verursachter Sympto-
matik sinnvoll. Unter dem irreführenden Terminus „Prostatitis“ werden gelegentlich auch Formen der
Prostatodynie mit Antibiotika behandelt. Hierbei kann keine über
den Placeboeffekt hinausgehende
Wirkung erwartet werden, ihr Einsatz bei der Prostatodynie ist somit
kontraindiziert.
Symptomatisch können bei vorherrschenden Miktionsbeschwerden
Phytopharmaka – wie sie zur Behandlung der Prostatahyperplasie
verwandt werden – eingesetzt werden. Ebenso wie bei der Applikation
von a-Rezeptorenblockern besteht
ihre Wirkung in einem relaxierenden
Effekt am Blasenhals. Bei stärkeren irritativen Beschwerden können
ebenfalls spasmolytisch wirksame
Substanzen wie Anticholinergika
(Trospiumchlorid, Propiverin, Oxybutynin) einen symptomatischen Effekt haben.
Warme Sitzbäder werden als adjuvante Therapie beschrieben.
Therapie der Reizblase
Eine antibiotische Behandlung
ist, ebenso wie bei der Prostatodynie,
in der Regel nicht angezeigt. Bei va-
Diagnostik der Prostatodynie
❃
❃
❃
❃
Symptomatik
Anamnese
Untersuchung des äußeren Genitale
Reinigung der Glans penis und des Orificium urethrae externum nach
Zurückstreifen der Vorhaut
❃ Urethralabstrich
a) Nativ-, Farbpräparat
b) kulturelle Untersuchungen
❃ Vier-Gläser-Probe
Sediment:
Nativ-, Farbpräparat
Spontanurin:
Kultur
Mittelstrahlurin:
Kultur, Erreger-Resistenzprüfung
Rektale, digitale
Untersuchung und
Prostataexpression:
kulturelle Untersuchung
Exprimaturin: Sediment:
Nativ-, Farbpräparat
❃ Zusatzuntersuchungen
Ejakulat (Kultur, Immunelektrophorese:
Coeruloplasmin, Komplement C 3c), Uroflowmetrie, gegebenenfalls
Zysturethrogramm, proktologische Untersuchung, Urethrozystoskopie,
Prostatabiopsie
Deutsches Ärzteblatt 97, Heft 23, 9. Juni 2000 A-1603
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Psychotherapie
Zystitis/Urethritis
❃ Symptomatik
Fluor, Jucken, Brennen, Schmerzen in der Harnröhre,
zystitische Symptome, geröteter Meatus
❃ Erreger
Bakterien (übliche Harnwegsinfekterreger), Gonokokken, Mykoplasmen,
Chlamydien, Trichomonaden, Pilze (Candida), Viren (Herpes)
Übertragung im Wesentlichen durch Geschlechtsverkehr!
❃ Diagnostik
Anamnese:
vor allem Miktions- und
Sexualanamnese
Körperliche Untersuchung:
äußeres Genitale, Damm,
rektale Untersuchung, Haut
Fluordiagnostik:
nativ, Färbung, Kulturen
Harnröhrenabstrich:
Färbungen, Kulturen
Mittelstrahlurin:
Sediment, Kulturen
gegebenenfalls Uroflowmetrie und Restharnbestimmung
Urethrozystoskopie
ginalen Begleitentzündungen kann
in Ausnahmefällen eine Kurzzeitbehandlung angezeigt sein.
Ein Versuch mit Phytotherapeutika, die einen spasmolytischen Effekt besitzen, wie beispielsweise
Rhoival, kann zur Linderung symptomatischer Beschwerden gemacht
werden, wobei im Gegensatz zu den
Spasmolytika eher auf den Placeboeffekt gesetzt wird.
Alternativ sind Anticholinergika wie Trospiumchlorid oder Oxybutynin bei stärkeren Beschwerden anzuwenden.
Psychosomatische
Grundversorgung durch
Hausärzte und Urologen
Führt die symptomatische Therapie nicht zu der gewünschten Besserung, so ist dies als Hinweis zu
werten, dass psychosomatische Faktoren oder psychiatrische Komorbiditäten eine bedeutsame Rolle spielen.
Weder bei Patienten mit Prostatodynie noch bei Patienten mit Reizblase sollten sich dann die behandelnden Ärzte aus der bisherigen
therapeutischen Hilflosigkeit heraus
zu einer forcierten medikamentösen
Behandlungskaskade verführen las-
sen. Nicht selten fordern die Patienten selbst entsprechende Schritte vehement von den Ärzten. Hat die
oben beschriebene symptomatische
Therapie bei ausreichender Behandlungsdauer zu keinem befriedigenden Behandlungserfolg geführt,
so erscheint die psychosomatische
Grundversorgung durch den Hausarzt oder durch den Urologen sinnvoll. Voraussetzung hierfür ist die
psychosomatische Kompetenz des
behandelnden Arztes (Weiterbildungsqualifikation nach den Richtlinien der Kassenärztlichen Vereinigungen). Die „kleine Psychotherapie“ durch den Hausarzt oder behandelnden Urologen umfasst in erster
Linie therapeutische Gespräche
(verbale Interventionen), die die Bewältigung aktueller psychischer Belastungen oder Stresssituationen fördern sollen. Zusätzlich können Entspannungsübungen (zum Beispiel
autogenes Training) eingesetzt werden.
Ergeben sich während der psychosomatischen
Grundversorgung
deutliche Hinweise, dass eine fachpsychotherapeutische Behandlung
indiziert ist (beispielsweise bei psychiatrischen Komorbiditäten wie Angst
und Depression), so ist eine entsprechende Überweisung an einen Fachkollegen sinnvoll.
A-1604 Deutsches Ärzteblatt 97, Heft 23, 9. Juni 2000
Psychotherapeutische Interventionen umfassen verschiedene Einflussmöglichkeiten. Die dargestellten intrapsychischen und interpersonellen Konflikte können im Rahmen
einer tiefenpsychologisch orientierten Therapie dem Bewusstsein zugänglich gemacht und dann vom Patienten aktiv verändert werden.
Gleichzeitig können Übungen
zur Wahrnehmung von körperlichen Anspannungszuständen in diesem Bereich vorgenommen werden
(Biofeedback). Verhaltenstherapeutische Übungsprogramme beispielsweise zur Verbesserung des Selbstwertgefühls, der Kommunikationsfähigkeit sowie von Angstbewältigung können hilfreiche Ergänzungen darstellen. Notwendig ist es
natürlich, dem Patienten die somatischen und psychischen Zusammenhänge in verständlicher Form nahezubringen, um seine Eigenaktivität
und das Erleben der Selbstwirksamkeit zu fördern.
Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 2000; 97: A-1600–1604
[Heft 23]
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf
das Literaturverzeichnis, das über den Sonderdruck beim Verfasser und über das Internet (www.aerzteblatt.de) erhältlich ist.
Anschriften der Verfasser
Prof. Dr. med. Herbert Csef
Arbeitsbereich Psychosomatische
Medizin und Psychotherapie
Medizinische Poliklinik der
Universität
Klinikstraße 8
97070 Würzburg
Dr. med. Klaus Rodewig
Fachklinik Hochsauerland
Zu den drei Buchen 2
57392 Bad Fredeburg
Prof. Dr. med. Dr. h. c.
Jürgen Sökeland
Institut für Arbeitsphysiologie
Universität Dortmund
Abteilung Ergonomie
Ardeystraße 67
44139 Dortmund
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