wie im 18. jahrhundert das bürgertum in frankreich

Werbung
Geschichte
1
WIE IM 18. JAHRHUNDERT DAS BÜRGERTUM IN FRANKREICH
WIRTSCHAFTLICH IN DEN VORDERGRUND GETRETEN WAR, POLITISCH
ABER NOCH NICHTS ZU MELDEN HATTE, UND WIE ES SICH DIESES
WIDERSPRUCHS BEWUSST WURDE
Im 18. Jahrhundert stand in Frankreich die Bourgeoisie an der
Spitze von Finanz, Handel und Industrie; sie stellte die
Verwaltungskader der Monarchie und lieferte das Für die
Staatsgeschäfte notwendige Geld.
Wie sich eine antifeudale
Ideologie als “Aufklärung”
entwickelte und die
bürgerliche Revolution
vorbereitete
Eine bürgerliche Weltanschauung formte sich als streitbare
antifeudale Ideologie, die zur geistigen Wurzel der Revolution
wurde. Man faßt ihre Hauptströmungen gewöhnlich unter dem
Begriff »Aufklärung« zusammen. Diese Bewegung zur
Befreiung der »Gemeinen« von der Verpflichtung auf Leitbilder
der Kirche, der Aristokratie und der monarchischen Willkürherrschaft ergriff ganz Europa, alle Zweige der Wissenschaft und
Literatur. Sie erreichte in Frankreich ihren Höhepunkt.
Die Aufklärung knüpfte an die frühbürgerlich-humanistische
Emanzipation der Wissenschaften von der Theologie im Zeitalter
der Renaissance und der Reformation an. Wo die
Feudalherrschaft noch mehr oder weniger intakt war, blieb die
Aufklärung ein schwaches Pflänzchen. In Frankreich hingegen,
das den Ballast des im Niedergang befindlichen Feudalwesens
unwillig durchs 18. Jahrhundert schleppte, wurde sie zur blanken
Waffe einer im Vormarsch begriffenen Mittelklasse.
Was einige wichtige
Gedanken der Aufklärung
sind
Mit der spitzesten Feder begabt war Voltaire. Montesquieu
empfahl im Geist der Gesetze die konstitutionelle Monarchie bei
»Gewaltenteilung« zwischen Exekutive, Legislative und
Rechtsprechung. Rousseau brachte mit dem Gesellschaftsvertrag
den Gedanken der Volkssouveränität ein. Hinter diesem steht
die Theorie vom “Naturrecht”, wie es vor allem von John Locke
und Thomas Hobbes formuliert worden war. Sie erkennt dem
Menschen eine Reihe unveräußerlicher Rechte zu, die ihm “von
Natur aus” zukommen.
Geschichte
2
WIE SICH DIE SPANNUNG ZWISCHEN NEUEN BESITZVERHÄLTNISSEN UND
ALTEN HERRSCHAFTSVERHÄLTNISSEN IN DER FRANZÖSISCHEN
REVOLUTION ENTLUD
Daß die Krise der
Feudalgesellschaft im
Jahre 1789 ihren
Höhepunkt erreichte
Die Mißernte des Jahres 1788 führte zu einer beträchtlichen
Steigerung des Brotpreises. Ausgaben für Brot spielten in jener
Zeit eine weit größere Rolle im Familienbudget als heute. Die
Bevölkerung wurde daher durch die Verteuerung des Brotes hart
getroffen.
Die Unterstützung der Amerikaner im Unabhängigkeitskrieg
hatte in eine Finanzkrise geführt, die einschneidende Reformen
erfordert hätte, die die Vorrechte der Aristokratie in Frage
gestellt hätten, weshalb sich diese mit aller Kraft
dagegenstemmte. Damit aber beschleunigte sie nur den
Untergang des »ancien régime«.
Wie der »Dritte Stand« aus
der Erkenntnis, daß er
ohne den Adel besser dran
war, die Konsequenz zog
In dieser Situation schien nur noch die Einberufung der
Generalständei zu helfen, deren Eröffnung auf den 1. Mai 1789
festgelegt wurde. Die Lasten der Krise sollten noch einmal
dem Stand der Nichtprivilegierten, dem »Dritten Stand«,
aufgebürdet werden. Der »Dritte Stand« aber war im
wesentlichen die Nation. Seine Vertreter erblickten daher ihre
Aufgabe nicht darin, dem »ancien régime« noch einmal aus
seinen Verlegenheiten herauszuhelfen, sondern erklärten sich
kurzerhand zur »Nationalversammlung« und setzten sich die
Ausarbeitung einer Verfassung zum Ziel.
Wie der Feudalismus
abgeschafft wurde - aber
nicht ganz
Die feudale Wirtschaftsstruktur überlebte die im August
1789 erfolgte Abschaffung des Feudalismus. Der Trick dabei
war die Unterscheidung zwischen herrschender und auf
Vertrag beruhender Feudalität. Ehrenrechte des Adels,
Gerichtsbarkeiten, Leibeigenschaft, Frondienste, Bannrechte und
Erhebung von Brücken- und Wegegeldern, Jagd-, Taubenschlagund Gehegerechte waren vollständig abgeschafft.
Daß die Bauern frei waren,
aber nicht ihr Boden
Diejenigen Feudalrechte, von denen angenommen wurde, daß
sie die Gegenleistung für eine ursprüngliche Landabtretung
darstellten, wurden in bürgerliches Eigentum verwandelt und
damit für loskäuflich erklärt: Pacht- und Grundzins, Kehrzehnt
aller Art und jedweder Bezeichnung (jährliche Abgaben) sowie
Verkaufsgebühren. Für die Masse der Kleinbauern war die
Beseitigung des Feudalsystems, die sich als echte
Scheinoperation erwies, eine bittere Enttäuschung.
Die Bauernrevolution, deren Ziel die Befreiung von allen auf
Geschichte
3
dem Grund und Boden lastenden Beschränkungen war, setzte
sich in vielfältiger Form bis 1793 fort und trieb die bürgerliche
Revolution voran.
Daß »Liberalismus« das
Streben des
großbürgertums nach
ökonomischer und
politischer Freiheit
bedeutet, und daß sein Ziel
nicht unbedingt die Freiheit
aller Menschen ist
Die Beseitigung der Feudalität hatte die Freiheit des Eigentums
begründet. Die Gewerbefreiheit ergab sich aus der Beseitigung
der Monopole, Zünfte und Innungen. Die Freiheit des
Binnenhandels ging einher mit der Vereinheitlichung des
nationalen Marktes durch die Aufhebung der Wege- und
Binnenzölle. Die Aufhebung der Leibeigenschaft hatte die
Arbeitskraft befreit. Streik und gewerkschaftlicher
Zusammenschluß wurden aber im Gegensatz zur
Vereinigungs- und Vereinsfreiheit verboten und blieben bis
1864 bzw. 1884 verboten.
Die Menschenrechtserklärung definierte politische und
persönliche Freiheit. Die Person war nun durch die unterstellte
Unschuld bis zum Gegenbeweis (Art. 9) vor willkürlicher
Anklage und Verhaftung geschützt (Art. 7). Als Herren ihrer
eigenen Person konnten die Menschen frei sagen und schreiben,
drucken und veröffentlichen, was die bestehende gesetzliche
Ordnung nicht störte und keinen Mißbrauch dieser Freiheit
darstellte (10, 11).
Das Gesetz war nun für alle gleich, vor ihm waren alle
Bürger gleich; der Zugang zu Ehrenämtern, öffentlichen
Anstellungen und Beschäftigungen stand allen ohne Rücksicht
auf Geburt offen (Art. 6 der Erklärung). Einen Schönheitsfehler
hatte die bürgerliche Gleichheit: Die Sklaverei in den Kolonien
wurde aufrechterhalten.
Von sozialer Gleichheit konnte keine Rede sein: In Artikel 2
der Erklärung wurdedas Eigentum zu einem natürlichen und
unverjährbaren Recht erklärt, ohne Rücksicht auf die Masse
derer, die nichts besaßen. Auch der politischen Gleichheit wurde
durch das Zensuswahlrecht entgegengewirkt: Die politischen
Rechte wurden einer Minderheit von Besitzenden vorbehalten.
Die »Passivbürger«, diejenigen, die den vorgeschriebenen Zensus
(Steuerleistung) nicht erreichten, waren vom Wahlrecht ausgeschlossen.
Wie aus der Revolution ein
europäischer Krieg wurde
Die Flucht des Königs am 21. Juni 1791, die
Zusammenziehung bewaffneter Emigranten am Rhein und
schließlich der seit 1791 gesuchte und herbeigesehnte Krieg
machten deutlich, daß es die Aristokratie vorzog, eher die Nation
zu verraten als nachzugeben. Der Krieg mit dem Ausland
erschien der Aristokratie als letzter Strohhalm. »Statt eines Bürgerkrieges wird es ein Krieg mit dem Ausland sein«, schrieb
Ludwig XVI.»und die Dinge werden damit weitaus besser
stehen«.
Der Krieg, den die Aristokratie wünschte, um nach der
Niederlage die Konterrevolution im Inneren durchzuführen,
schreckte auch Girondisten nicht, die Vertreter der
Handelsbourgeoisie in der Gesetzgebenden Versammlung:
Geschichte
4
Waren Waffenlieferungen an die Armee nicht schon immer
äußerst einträglich gewesen?
Wie die Bedrohung der
Revolution durch äussere
und innere Feinde
Bourgeoisie und
Kleinbürgertum trotz
unvereinbarer Interessen in
eine Koalition zwang und
die revolution vorantrieb
Militärische
Rückschläge
und
die
Gefahr
einer
Konterrevolution zwangen die Gironde, sich an das Volk zu
wenden. Das einfache Volk, das waren die »Hosenlosen«, die
»Sansculotten«, die Masse der kleinen Gewerbetreibenden und
der Lohnabhängigen. Sie gingen über die ihnen vorgegebenen
Ziele hinaus und stürzten im August 1792 nicht nur den
Thron, sondern auch die Verfassung von 1791 und damit die
engen Zensusschranken. Im September wurde die Republik
ausgerufen, und im Dezember begann der Prozeß gegen den
König, der zum Tod verurteilt und im Jänner hingerichtet
wurde.
In dem Konflikt, der nunmehr zwischen dem revolutionären
Frankreich und der Aristokratie Europas ausgetragen
wurde, nahm ein Teil der Bourgeoisie wahr, daß diese ohne
das Volk nicht siegen konnte: die »Montagnards«, die vom
Klub der Jakobiner dominierte »Bergpartei«, die im
Stzungssaal auf den höhergelegenen Bänken sitzenden
Abgeordneten. Sie verbündeten sich mit den Sansculotten.
Daß die Interessen der
Kleinbürger auf Existenzsicherung durch Zwangswirtschaft hinausliefen
Diese trotzten dem Konvent (so nannte sich nun die
gesetzgebende Körperschaft), die großen revolutionären
Maßnahmen ab: der Terror wurde auf die Tagesordnung gesetzt
und ein Getreidehöchstpreis (das Maximum) festgesetzt und
schließlich das allgemeine Maximum, d.h. die Zwangswirtschaft
eingeführt.
Daß im Sommer 1794 die
der Revolution drohenden
Gefahren gebannt waren,
sodaß die liberale
Bourgeoisie
Zwangswirtschaft und
Terror nicht mehr
hinzunehmen brauchte
Mit dem Wegfall der militärischen Bedrohung durch das
Ausland brauchte die liberale Bourgeoisie nicht länger
Zwangswirtschaft und Terror hinzunehmen. Robespierres
Revolutionsregierung fiel der Thermidorverschwörung zum
Opfer. (nach dem Revolutionskalender am 9. Thermidor des
Jahres II der Republik = 27. Juli 1794). Es war den Jakobinern
um Robespierre nicht gelungen, die widersprüchlichen Interessen
der Sansculotten einerseits und der Bourgeoisie andererseits zu
versöhnen. Es war der Revolutionsregierung aber gelungen, die
Sansculotterie unter Kontrolle zu bringen. Radikale Randgruppen
(die Hébertisten) waren liquidiert. Robespierre hatte die
Sansculotterie gezähmt, die nun wenig Grund sah, seine
großbürgerlichen Feinde zu beißen. Nur wenige sammelten
sich am 9. Thermidor um ihn.
Die der Verfassung des Jahres III (1795) vorausgehende
Erklärung der Rechte stellt einen klaren Rückschritt gegenüber
jener von 1789 dar: Besondere Sorgfalt wurde auf die Definition
des Eigentumsrechts verwendet, von einem Recht auf
Widerstand war keine Rede mehr, dafür wurden den Rechten
sinnigerweise Pflichten hinzugefügt. Das Wahlrecht war nun
wieder durch Zensus beschränkt. Allerlei Tricks, die bei
Wahlen angewendet wurden (Annulierung, Ausschluß und
Kooptation [nachträgliche Hinzuwahl]), also eine Reihe von
Geschichte
5
Staatsstreichen hielten die Thermidorianer an der Macht.
Der Coup Napoleons von 1799 fügt sich nahtlos ein.
Daß die Fortdauer des
Kriegs, der zu einem
Angriffskrieg der französischen Bourgeoisie entartet
war, die Konzentration der
Macht zur innenpolitischen
Notwendigkeit machte
Unter den Bedingungen des fortdauernden Krieges war die
Konzentration der Macht eine innenpolitische Notwendigkeit.
Dieser Krieg jedoch hatte aufgehört ein Verteidigungskrieg
der Revolution zu sein und konnte für Frankreich nur in
einem Desaster enden. Die französische Gesellschaft aber war
durch die Revolution so gründlich verändert worden, daß die
zurückgekehrten Bourbonen an eine Restauration des ancien
régime nicht denken durften.
Geschichte
6
WIE ZUR ZEIT DER BEFREIUNGSKRIEGE IDEOLOGISCHE KONZEPTE
ENTSTANDEN, VON DENEN AUCH HEUTE NOCH MANCHER ZEHRT
Daß die deutsche
Romantik Stimmungen und
Haltungen von
Bevölkerungsschichten
wiedergibt, die von den
neuen Zeiten, die die
Französische Revolution
einleitete, nicht viel zu
hoffen hatten
Das deutsche Geistesleben zur Zeit Napoleons war von der
Romantik geprägt. Die deutsche Romantik gibt vor allem
Stimmungen und weltanschauliche Haltungen jener
Bevölkerungsschichten wieder, denen wohl der Absolutismus
eine Last war, die aber vom Aufstieg der Bourgeoisie nicht
viel zu hoffen hatten: Kleinbürgertum und niederer Adel. Die
Romantiker hatten daher zunächst der Französischen Revolution
begeistert zugestimmt. Mit Beginn der napoleonischen Expansion
jedoch schlug diese Begeisterung in Feindschaft um. Die
Fürstenherrschaft wollten Kleinbürger und niederer Adel
gern loswerden. Die Herrschaft der Bourgeoisie wollten sie
dafür aber nicht eintauschen, denn die neuen - kapitalistischen
- Produktionsverhältnisse, denen die bürgerliche Revolution den
Weg freimachte, hatten mit den Verheißungen der Aufklärung
wenig gemein. Schon gar nicht wollten sie die Herrschaft
einer »fremdstämmigen«, »welschen« Bourgeoisie.
Wie die Romantiker
versuchten sich die neuen
Zeiten zu ersparen, indem
sie diese aus dem
»Wesen« der Franzosen
erklärten
Die deutsche Bourgeoisie war noch nicht stark genug, die in
Frankreich begonnene Revolution aus eigener Kraft in
Deutschland weiterzuführen und der Fürstenherrschaft und der
feudalen Zersplitterung des Landes ein Ende zu setzen. Daß die
Romantiker darin nicht einen Entwicklungsrückstand der
deutschen Gesellschaft erkennen wollten, ist verständlich.
Was konnte dabei schon herauskommen? Daß auch in Deutschland die Zukunft der Bourgeoisie und dem Kapitalismus gehören
sollte? Die Romantiker machten lieber eine »Wesens«frage
daraus: Aufklärung, bürgerliche Revolution und Liberalismus als Frucht fremden Geistes und Wesens
brauchten nicht auf Deutschland übergreifen, wenn sich das
»deutsche Wesen« nur seine Reinheit bewahrte und die
»welschen« Einflüsse zurückwies. Die Abschüttelung der
napoleonischen Herrschaft in den Freiheitskriegen erschien
so als Sieg des »deutschen Wesens« und der Nationalismus
verband sich in Deutschland nahezu von selbst mit reaktionären
und im Ansatz rassistischen Haltungen.
Wie die Romantiker
rückblickend das Mittelalter
zu einer Idylle verklärten
und dort auf das »deutsche
Wesen« trafen
Das christliche Mittelalter mit seiner überschaubaren,
festgefügten Einteilung der Stände, mit seinen berechenbaren
Abhängigkeitsverhältnissen, mit seiner verhältnismäßig schwach
entwickelten Arbeitsteilung, mit seiner überschaubaren
politischen Kleinräumigkeit, wurde zur patriarchalischen
Idylle verklärt und aus dem »deutschen Wesen« erklärt, dem
Geschichte
7
die Romantiker in alter Volksliteratur nachspürten.
Der Publizist und Historiker Josef von Görres (1776-1848)
charakterisierte das »deutsche Wesen« mit folgenden (und
anderen) Worten:
Daß das »deutsche
Wesen« nach Auffassung
der Romantiker darin
besteht, eben nicht
Revolution zu machen,
sondern
»Volksgemeinschaft« zu
bilden
"In der That hat sich in diesem Volke nach und nach ein Kern
höherer Bildung und Gesinnung angesammelt, der als die Mitte
seines Wesens und selbst seiner Verfassung, und als der
Keimpunkt seiner Zukunft angesehen werden muß. Es ist ein
unsichtbarer Bund, der durch alle Stände geht, ohne, daß
irgend ein äußerlich Band da wäre ... eine geheime Macht, die
Keinem insbesondere sichtbar ist, gleicht Alles aus, daß es wie
aus einem Triebe und einem Leben kommt. und nicht etwas
Zufälliges, Vorübergehendes, und daher Zerstörbares, ist diese
Einheit der Gesinnung; sie ist die reife Frucht, die aus dem
ganzen Wesen der Nation ... erwachsen ist ... Diese
Gemeinsamkeit der Besseren ist der Fels, auf dem der neue Bau
begründet werden muß ..."ii
Das »deutsche Wesen« äußert sich also in einer »höheren
Gesinnung«, einer Art Sonderbegabung, die die Deutschen
zur Bildung einer harmonischen »Volksgemeinschaft«
befähigt, der klassenkämpferisches Gezänk fremd ist. Dieses
Motiv - A u f h e b u n g d e s K l a s s e n k a m p f e s
in der deutschen »Volksge-meinschaft«
- wird uns als wesentlicher Bestandteil kleinbürgerlicher
Ideologie bis herauf zum Nationalsozialismus noch öfter begegnen. Es bringt den frommen Wunsch derer zum Ausdruck, die
den Klassenkampf nicht gewinnen können und ihn daher auch
nicht haben wollen.
Wie das Blut ins Spiel kam
und aus dem »Wesen«
allmählich »Rasse« zu
werden begann
Von diesem deutschen Wesen konnte sich nun das - ebenfalls als
eine Konstante vorgestellte - Wesen anderer Völker nurmehr
negativ abheben. Gelegentlich aber helfen die Germanen als
Blutspender anderen Völkern aus, die dann wieder eine gewisse
Zeit weiterwurschteln können. Das bekannte Zitat »Und es mag
am deutschen Wesen einmal noch die Welt genesen« stammt
übrigens von Emanuel Geibel (1861). Görres formuliert
folgendermaßen:
"Indem immer neue Ströme nordischen Blutes sich in die Adern
des italienischen Volkes ergossen, wurde in dieser Transfusion
das alte, angesteckte, abgestorbene ausgespült, und an die Stelle
neue plastische Lymphe eingefüllt; und so ward der welke,
hinfällige Körper in der Wiedergeburt mehrere Jahrhunderte
aufs neue verjüngt und lebenskräftig."iii
Der erwachende deutsche Nationalismus steigerte sich in den
Freiheitskriegen gegen die napoleonische Herrschaft bei
manchen zur Teutonomanie. Bei Heinrich von Kleist heißt es
in »Germania an ihre Kinder« über die Franzosen:
"Schlagt sie tot, das Weltgericht fragt nach Gründen nicht."
Andere Dichter wie Theodor Körner, Max von Schenkendorf
Geschichte
8
( » F r e i h e i t , d i e i c h m e i n e « ) und besonders Ernst
Moritz Arndt (»Lieder für Teutsche«, »Der Rhein, Teutschlands
Strom, aber nicht Teutschlands Grenze«) wandten sich mit
ähnlich rabiaten Aufrufen an die Deutschen. Arndt nahm in
gewisser Weise die späteren Rassenmystiker (Gobineau, Wagner,
Chamberlain, Lanz) vorweg, wenn er in der Mischung der
»Rassen« die größte Gefahr für das auserwählte »Lichtvolk« der
Deutschen sah, die höllisch aufpassen müßten, daß
ihre»Teuschkeit« nicht durch »Welschheit« zersetzt werde,
die, »wie ein betäubendes Gift den edelsten Keim angreift«.iv
Daß die Romantiker nicht
nur die Franzosen, sondern
auch die Juden haßten
"Einen wesentlichen Charakterzug des neuen Teutonentums
bildete der eingefleischte Judenhaß", sagte später der
konservative Historiker Heinrich Treitschke, ein gewiß unverdächtiger Zeuge in dieser Sachev, denn von ihm stammt der
Satz »Die Juden sind unser Unglück«, der später das Motto des
Nazi-Hetzblatts »Der Stürmer« bildete. Die Tatsache, daß die
Juden in den von den Franzosen besetzten Gebieten
staatsbürgerlicher Rechte teilhaftig wurden (der Wiener
Kongreß nahm sie ihnen wieder), erweckte bei den
nationalgesinnten Deutschen den Eindruck einer französischjüdischen Allianz. Franzosenhaß und Judenhaß gingen Hand
in Hand.
Wie die Romantikergerne
in den Salons assimilierter
jüdischer Großbürger
verkehrten, sich von ihnen
auch gerne unterstützen
liessen, und dann über die
Juden schimpften
Achim von Arnim, Heinrich von Kleist, Clemens von Brentano,
die Brüder Grimm - sie alle waren entschiedene Judengegner,
was sie aber nicht hinderte, in den von den Frauen assimilierter
jüdischer Großbürger geführten Salons zu verkehren
beziehungsweise auch deren Unterstützung in Anspruch zu
nehmen. Berliner Romantiker, unter ihnen etwa Grabbe und
Kleist, trafen sich in den Salons der Rahel Varnhagen und der
Henriette Herz. Im Haus der Fanny Arnstein in Wien
verkehrten die Brüder Schlegel, Theodor Körner und viele
andere.
Daß die Romantiker
insbesondere von der
Emanzipation der Juden
nichts wissen wollten
Auf Initiative Achims von Arnim erfolgte 1811 die Gründung
einer
»Christlich-deutschen
Tischgesellschaft«,
eines
reaktionären Debattiervereins dem die von dem damaligen
preußischen
Staatskanzler
Hardenberg
betriebenen
bescheidenen Reformen (und die seines Vorgängers Stein),
besonders aber wohl die Emanzipation der Juden, zu weit
gingen. Es handelt sich bei diesen »Stein-Hardenbergschen
Reformen« um die Auflösung der Zünfte und Herstellung der
Gewerbefreiheit (1810), um die für die Bauern recht ungünstige
Regelung der Ablösung der feudalen Dienste und Abgaben
(1811) sowie die zögernde staatsbürgerliche Gleichstellung der
Juden (1811 und 1816). Zu den Mitgliedern dieses Vereins
zählten (neben etwa vierzig anderen) die Dichter Heinrich
von Kleist und Clemens Brentano, der Rechtsgelehrte
Friedrich Karl von Savigny, der Philosoph Johann Gottlieb
Fichte, der spätere Held der Befreiungskriege Carl Philipp
Gottfried von Clausewitz (damals noch Major) und der
Staatstheoretiker Adam Heinrich Müller.
Geschichte
Wie der Philosoph Johann
Gottlieb Fichte auf die Idee
kam, den Juden die Köpfe
abzuschneiden
9
Zum Thema Judenemanzipation hat Fichte folgendes zu sagen:
"... ihnen Bürgerrechte zu geben, dazu sehe ich wenigstens kein
Mittel, als das, in einer Nacht ihnen allen die Köpfe
abzuschneiden ..."
dann bremst er und setzt den Juden wieder Köpfe auf, aber
andere
"und andere aufzusetzen, in denen auch nicht eine jüdische Idee
sey. Um uns vor ihnen zu schützen, dazu sehe ich wieder kein
anderes Mittel, als ihnen ihr gelobtes Land zu erobern, und sie
alle dahin zu schicken."vi
Daß die »Christlich-deutsche Tischgesellschaft« in ihren Statuten
einen »Arierparagraphen« hatte, ist nach all dem nicht weiter
verwunderlich. Der jüdische Spätaufklärer und Publizist Saul
Ascher, dessen Schrift »Der Germanenwahn« übrigens 1817
anläßlich des Wartburgfestes von Burschenschaftern feierlich
verbrannt
wurde,
äußert
sich
folgendermaßen
zur
»Tischgesellschaft«:
"Sie soll freilich keine politische Tendenz haben, wie ihr Name
auch anzudeuten scheint. Indes enthalten ihre Statuten einige
Curiosa, die über den Geist der zeitigen deutschen Kultur einige
Winke zu geben vermögen. Eins ihrer Statute setzt nämlich fest,
daß kein Jude, kein getaufter Jude und kein Nachkomme eines
getauften Juden sogar, als Mitglied aufgenommen werden soll
[...] Bei den Zusammenkünften werden Abhandlungen vorgelesen,
und man wird sich leicht von dem Geist derselben einen Begriff
machen können, wenn wie dem Referenten hinterbracht worden,
Exzerpte aus dem berüchtigten Eisenmenger von einem der
Mitglieder der Gesellschaft zum besten gegeben worden."vii
Daß der Jenaer
Philosophiprofessor Jakob
Friedrich Fries die
Ausrottung der Juden
empfahl
Großen Einfluß auf die nationalistische Studentenschaft hatte
der Jenaer Philosophieprofessor Jakob Friedrich Fries (17731843), der auch während des berühmten Wartburgfestes, das aus
dem Anlaß des dreihundertsten Jahrestages des Beginns der
Reformation 1817 gefeiert wurde, in den Vordergrund trat. In
seiner 1816 verdöffentlichten Schrift »Über die Gefährdung des
Wohlstandes und Charakters der Deutschen durch die Juden«
spricht Fries bereits von Ausrottung:
»So hat die Judenkaste, wo sie zugelassen wird, auf das ganze
Volk, von oben wie unten, auf hohe und niedere eine
fürchterliche demoralisierende Kraft. Das also ist das wichtigste
Moment in dieser Sache, daß diese Kaste mit Stumpf und Stiel
ausgerottet werde...«
Wie die antisemitische
Vulgärliteratur noch ein
Schäuferl nachlegte
Soweit die »Dichter und Denker«. Von ihren Beiträgen zur
Ideengeschichte des Antisemitismus wurden hier nur einige
Kostproben geboten. Die für den Unterrichtsgebrauch
bestimmten Literaturgeschichten übergehen übrigens diesen
Aspekt der Romantik und erst recht übergehen sie natürlich die
reiche antisemitische Vulgärliteratur, die gleichzeitig entstand.
Ein typisches Beispiel dafür liefert Hartwig von Hunt-Radowsky
Geschichte
10
in seinem 1821 erschienenen »Judenspiegel«:
"So wie die Juden und Zigeuner in Sprache, Sitten und äußerer
Bildung auffallende Ähnlichkeiten haben, und daher auf gleiche
Abstammung schließen lassen, so ist auch unter beiden das
Verbrechen des Kinderdiebstahls gemein. Höchst verschieden ist
das Schicksal der unglücklichen, auf diese Weise ihren Eltern
entrissenen Kleinen. Manche werden zu gutem Preise verkauft;
andere richtet man zu allerlei seltsamen Springen,
Körperverrenkungen und lächerlichen Gebärden ab, und läßt sie,
wie Affen und Bären für Geld sehen; viele müssen in Käfigen als
Buschmänner, Neuseeländer, Kaffern etc. die Welt durchreisen,
und werden gleichfalls für Geld gezeigt; manche werden vopn
ihren angeblichen Eltern zu Taschenspielerkünsten und
Diebereien gebraucht, und eine Menge dieser gestohlenen
Christenkinder wird sogar von den Juden geschlachtet, die mit
dem Blut der bedaurungswürdigen Opfer alberne und
abergläubische Gebräuche vornehmen ... Ein Volk, welches
Verbrechen dieser Art sich erlauben kann, sollte nimmer unter
den Christen geduldet werden. Vor sechzig bis siebenzig Jahren
wurden in manchen Gegenden Deutschlands die Zigeuner, diese
Stammesverwandten der Juden und Ägypter aus den Wäldern, in
denen sie ihre Hütten aufgeschlagen hatten, zusammengetrieben,
und wie Raubtiere totgeschossen; und nie waren die Zigeuner
doch einem christlichen Staate so gefährlich als die Juden."
Zur Lösung der »Judenfrage« schlägt Hunt-Radowsky
Deportation, Versklavung, Kastration oder Vernichtung vor.
Das vorliegende Zitat enthält einen deutlichen Hinweis auf einen
in unseren Schulbüchern (in denen anscheinend mehr Platz für
das »Gute« und »Schöne« als für das »Wahre« ist) schamhaft
verschwiegenen Genozid, den über Jahrhunderte sich erstreckenden Mord an den »Zigeunern«, der im »Dritten Reich«
lediglich seinen Höhepunkt und nicht einmal sein Ende erreichte.
Daß wer in der Romantik
seine geistigen Wurzeln
erblickt, unter Umständen
nicht nur Grimms Märchen
meint
Die Romantik geht bereits von einem den Völkern jeweils
»eigentümlichen Wesen« aus, das als konstante historische
Größe aufgefaßt wird. Ganz oben in der Rangordnung: das
»deutsche Wesen«. Deutsch ist »urtüchtig, urtugendlich und
urmenschlich« (»Turnvater« Jahn). Ganz unten: der »foetor
judaicus«, der »jüdische Gestank« (Schopenhauer).
Abgesehen von der Vorbereitung der Judenvernichtung
durch christliche Würdenträger, die fast zwei Jahrtausende
hindurch ihren Leuten einhämmerten: "Sie haben Jesus
getötet, Jesus getötet, sie haben den Teufel zum Vater und
Jesus getötet, Jesus getötet, sie haben das Anderle von Rinn
getötet, wie sie Jesus getötet haben, sie sind verstockt, sie
glauben nicht an Jesus, sie haben ihn getötet, der Mensch ist
vernünftig, nicht verstockt, sie sind verstockt, sind sie
Menschen? ...", beginnt die ideologische Vorbereitung der
maschinellen Judenvernichtung in der Romantik, "... nur daß
eben in der Regel noch das Christentum diejenige Größe ist, in
iii
Geschichte
11
deren Namen der Angriff geführt wird ..."viii.
Friedrich Wilhelm Schmidt S.V.D., Theologe, Ethnologe und
Begründer der Wiener Schule der Ethnologie, schrieb in dem
1920 erschienenen Werk “Der deutschen Seele Not und Heil”
über die Notwendigkeit einer Wiederbelebung der Romantik und
des Geistes des Freiheitskriege. Er schloß die damit verbundenen
antijüdischen Traditionen ausdrücklich ein und erkannte ihnen
zentrale Bedeutung zu:
“Die Befreiungskriege müssen noch einmal wieder
aufgenommen und zu einem besseren Ende durchgeführt
werden ... Damals haben kurzsichtige Dynastien das Volk, das
in den Befreiungskriegen auch für ihre Wiedereinsetzung sein
Blut vergossen hatte, um die Freiheit betrogen, die sie ihm
zugesichert hatten. Ein unheilvoller Schaden ist damals den
deutschen Volke, insbesondere aber seiner Seele zugefügt
worden.
Der ganze gewaltige seelische Aufschwung des Volkes in den
Befreiungskriegen, ... wurde durch jenen Betrug in seinem
Innersten vergiftet. Mißtrauen, Erbitterung und Haß begannen
die Seelen zu erfüllen und zu verwüsten. Vor der brutalen Gewalt
des Polizeistocks mußte sich das alles zuerst verbergen, um
dann im Jahre 1848 offen loszubrechen und sich dort
rückhaltlos dem Liberalismus, als dem einzigen Retter und
Befreier, in die Arme zu werfen, ohne daran zu denken, welche
verderblichen Kräfte dieser gleichzeitig entfesselte. Das
geschah in der völligen Emanzipation des Judentums, das nun
überall mit der vollen Kraft seiner Geldmittel und der Presse,
deren es sich bemächtigt, sich in den Dienst des blöden
Materialismus stellte.
In der steigenden Hochflut desselben ging dann auch die
Romantik zugrunde, die zu Beginn des Jahrhunderts so kräftig
und hoffnungsvoll sich ausgebreitet hatte und so entscheidenden
Anteil hatte an der Entfachung des Begeisterungsfeuers der
Befreiungskriege. Zuerst wurde sie von dem Polizeiabsolutismus
als verdächtig betrachtet und verfolgt ... Dann aber geriet sie
auch beim Liberalismus und der Demokratie in Mißkredit, und
die Heine und Börne suchten sie mit Knütteln totzuschlagen.
... sie trägt doch die ganze tiefe Sehnsucht des deutschen Volkes
in sich, über den Riß hinweg, den Renaissance und Reformation
in der Geschichte des deutschen Volkes gebracht hatten, den
Zusammenhang wieder zu finden zu acht Jahrhunderten echten
reichen und stolzen deutschen Lebens und in dieser lebendigen
Verbindung durch die Erneuerung alter deutscher Geschichte,
deutschen Liedes, deutscher Sage, deutscher Sitte und
deutscher Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung sich selbst
wieder zu erfüllen mit so starker deutscher Lebenskraft, daß sie
alles Fremde von sich ausstoßen und seine Herrschaft völlig
abwerfen könne.”
Wenn heute von einer politischen Gruppierung der Geist der
Romantik beschworen wird, so drückt das möglicherweise
mehr aus als eine bloße Vorliebe für Grimms Märchen. Auch
Geschichte
12
das enge Zusammenrücken der »offenkundig vorgegebenen
Werte« Ehre und Treue erinnert eher an die SS (»meine Ehre
heißt Treue«) als an Brentanos Hinkel Gockel und Gackeleia:
In der “Lorenzener Erklärung” stellten Vordenker der FPÖ im
Jahre 1989 fest, daß auch sie an die Traditionen der Romantik
anknüpfen:
“Ausgangspunkte sind das grundsätzliche Bekenntnis zu
bleibenden Werten, die offenkundig vorgegeben und mit der
menschlichen Natur untrennbar verbunden sind, eine
ganzheitliche Schau des Menschen sowie seiner natürlichen und
kulturell bedingten Umwelt und der geistige Bereich, der Tun
und Beweggründe des Menschen bestimmt. Dieses ganzheitliche
Bild folgt den Denkern des deutschen Idealismus, der Romantik
und der Freiheitsbewegung ...
Unser Freiheitsideal unterscheidet sich grundlegend von den
Schlagworten der Französischen Revolution: die vorgegebenen
Unterschiede an Begabung, Fähigkeiten, Neigungen, ja auch an
menschlicher Würde bilden die zur volklichen Existenz
notwendige Vielfalt ... Unbeschadet der Vielfalt müssen soziales
Unrecht, Ausbeutung Manchesterliberalismus u.ä. bekämpft
werden und sind durch eine soziale Ordnung zu vermeiden bzw.
zu beseitigen.”
Geschichte
13
WIE ES IM JULI 1830 EUROPA ZU EINER WEITEREN
FRANZÖSISCHEN REVOLUTION KAM UND DIESE EUROPA IN AUFREGUNG
VERSETZTE
Daß 1814 wohl die
Bourbonen mit Ludwig
XVIII. auf den französischen Thron
zurückkehrten, den
Absolutismus aber nicht restaurieren konnten
Wie der
Restaurationsversuch Karls
X. die Julirevolution von
1830 auslöste
Wie die Liberalen die
Verfassung, nichts als die
Verfassung« forderten, die
Arbeiter aber schon die
demokratische Republik
wollten
Die Monarchen Österreichs, Preußens und Rußlands, hatten
1814 - auf dem Wiener Kongreß - den Sieg der europäischen
Völker in ihrem Freiheitskampf gegen die napoleonische
Fremdherrschaft in Sieg des Adels umgefälscht.
Mit Ludwig XVIII. gelangten die Bourbonen 1814 erneut an
die Macht, nachdem die große Französische Revolution (10.
August 1792) ihrer Herrschaft ein vorläufiges Ende gesetzt hatte
und Ludwig XVI. hingerichtet worden war (21. Jänner 1793).
Die Restauration der absoluten Monarchie gelang Ludwig
XVIII. nicht. In der Verfassung von 1814 mußte er wesentliche Ergebnisse der Französischen Revolution zur
Kenntnis nehmen (Anerkennung des in den Jahrzehnten
zuvor
entstandenen
bürgerlichen
und bäuerlichen
Eigentums, Recht auf Steuerbewilligung und Gesetzgebung
für die Abgeordnetenkammer, Freiheit der Person und der
Presse).ix Ein hoher Wahlzensus sorgte dafür, daß in der
Abgeordnetenkammer die richtigen Leute saßen.
1824 bestieg Karl X. den Thron und versuchte die
Restauration voranzutreiben: Die »Emigrantenmilliarde«
sollte den Adel für die während der Französischen
Revolution erlittenen Verluste entschädigen. Die Mittel dafür
sollten durch eine Senkung der Rente aus den Staatspapieren
aufgebracht werden. Damit wurde der Gegensatz zwischen der
am Feudalismus, am ancien régime anknüpfenden, künstlich
aufgepropften
Herrschaftsform
und
dem
aktuellen
Entwicklungsstand der französischen Gesellschaft akut, die
längst eine kapitalistische geworden war.
Am 25. Juli 1830 erließ Karl X. seine »Ordonnanzen«, durch
die die Pressefreiheit beseitigt, die Abgeordnetenkammer
aufgelöst und die Zahl der Wahlberechtigten verringert
wurde.
Liberale Journalisten und Politiker, unter ihnen die Historiker
Francois Guizot und Adolphe Thiers, Die Bankiers Jaques Lafitte
und Casimir Périer sowie der General Horace Sébastianix verfaßten eine Protesterklärung, die auf die Wiederherstellung
der Verfassung von 1814 abzielte. Der Kurssturz von
Geschichte
14
wollten
Daß die Arbeiter während
der “drei glorreichen Tage”
der Bourbonenherrschaft
ein Ende setzten
daß die Bourgeoisie kein
Interesse daran hatte, die
Revolution über den Sturz
Karls X. hinaus
voranzutreiben
Wie der Bankier Périer die
Ängste der Großbürger vor
der Demokratie in treffende
Worte kleidete:
Wie das mittlere und das
Kleinbürgertum die
Republik
erstrebten und sich
schließlich mit dem
»Bürgerkönigtum« Ludwig
Philipps abfanden
Wie der Bankier Jacques
Laffitte das wesentliche an
der Juli-Revolution in
einem Satz
zusammenfaßte: »Von nun
an werden die Bankiers
herrschen«
Wertpapieren und die Schließung von Banken und Betrieben
mobilisierten die Bevölkerung. Während die Liberalen noch
»Die Verfassung, nichts als die Verfassung!« forderten,
erscholl aus den Reihen der Pariser Arbeiter bereits der Ruf
nach der demokratischen Republik.
Nach drei Tage währenden Barrikaden- und Straßenkämpfen (27.
bis 29. Juli - die »drei glorreichen Tage«) war die Zeit der
Bourbonenherrschaft in Frankreich endgültig vorbei. Die
Zurücknahme der »Ordonnanzen« rettete die Herrschaft
Karls X. nicht mehr, er dankte am 2. August ab. "Der
Fürstenbund der »Heiligen Allianz« , der Europa seit 1815 fest
und unabänderlich im Würgegriff der Adelsreaktion wähnte,
stand vor dem Scherbenhaufen seiner restaurativen Politik."xi
Die von der Entwicklung überraschten Liberalen wollten weder
noch
die
Wiederherstellung
der
die
Republik
Bourbonenherrschaft. Die überwiegende Mehrheit der
Bourgeoisie war liberal und royalistisch gesinnt. Die Creme
der Bourgeoisie, die sogenannte "Finanzaristokratie"
(Kapitalistisch wirtschaftende Großgrundbesitzer, Großkaufleute,
Bankiers und Börsenmakler) hatte kein Interesse daran, die
Revolution über den Sturz Karls X. hinaus voranzutreiben.
Casimir Périer sprach die Ängste der großbürgerlichen
Liberalen offen aus: "Ohne Monarchie wird das Regime in die
Demokratie abgleiten, und dann ist die Bourgeoisie nicht mehr
die Herrin."xii
Die Industrielle Revolution war gerade erst dabei anzulaufen, die
Industriebourgeoisie stand dementsprechend noch im Schatten
der Fianzaristokratie, deren Einstellung zu den Industriellen
am besten wohl durch ein Bonmot James Rothschilds illustriert wird: "Es gibt drei Mittel, sich zu ruinieren: die
Frauen, das Spiel und die Ingenieure. Die ersten beiden sind
angenehm, das dritte Mittel aber ist sicher".xiiiDas mittlere und
das Kleinbürgertum erstrebte die Republik mit dem greisen
Lafayette als Präsidenten. Daß er das Blutbad auf dem
Marsfeld kommandiert hatte, war vergessen. Damals - am 17.
Juli 1791 - hatte Lafayette die Nationalgarde in eine
Massendemonstration von Republikanern schießen lassen. Der
Kandidat der liberalen Großbourgeoisie hingegen war
Ludwig Philipp, der Herzog von Orléans. Der öffentliche
Bruderkuß Lafayettes auf dem Balkon des Pariser Rathauses
machte ihn auch für die Industriebourgeoisie und die
Kleinbürger akzeptabel.xiv
"Nach der Julirevolution, als der liberale Bankier Laffitte
seinen compère [Gevatter, Helfershelfer], den Herzog von
Orléans, im Triumph auf das Hotel de Ville [Rathaus] geleitete,
ließ er das Wort fallen: »Von nun an werden die Bankiers
herrschen«. Laffitte hatte das Geheimnis der Revolution verraten."xv Im August 1830 leistete Ludwig Philipp den Eid auf
die Verfassung von 1814. Die Großbourgeoisie hatte damit eine
Alternative zur Bourbonenherrschaft einerseits und zur Republik
Geschichte
Was der Liberale Politiker
Guizot denen riet, die durch
den Zensus vom Wahlrecht
ausgeschlossen waren:
»Bereichert euch!«
Dass die Arbeiter nichts
davon hatten, daß sie dem
Bürgertum die
Bourbonenherrschaft vom
Hals geschafft hatten
Wie die “Heilige Allianz” Bourbonen hin,
Bürgerkönig her - die JuliMonarchie als von ihrem
Fleische erkannte und nicht
an eine bewaffnete
Intervention dachte
Wie zwei Aufstände der
Lyoner Seidenweber
zusammengeschossen
wurden
15
andererseits gefunden "... wo sie herrschte, ohne verantwortlich
zu sein; wo eine Scheinmacht, zwischen ihr und dem Volke
stehend, für sie handeln und ihr zugleich als Versteck dienen
mußte; wo sie sozusagen einen gekrönten Sündenbock besaß, auf
den das Proletariat losschlug, sobald es sie treffen wollte, gegen
den sie sich selbst mit dem Proletariat verband, sooft er ihr lästig
wurde und sich als Macht für sich festsetzen wollte."xvi
Der Wahlzensus wurde nur geringfügig gesenkt, die Zahl der
Wahlberechtigten erhöhte sich dadurch von etwa 90.000 auf
rund 220.000 - bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 30 Millionen Menschen.xvii Damit war auch die Mehrzahl der
Industriellen ausgeschlossen, denen Guizots berühmtes Wort
»bereichert euch« als blanker Hohn erscheinen mußte: Ihr wollt
Anteil an der Regierung des Landes? Dann zahlt so viel
Steuern wie wir. Ihr könnt es nicht (nicht zuletzt deswegen, weil
unsere Wirtschaftspolitik auf unsere und nicht eure Bedürfnisse
zugeschnitten istxviii)? So bereichert euch!
Die Arbeiter, die in den Kämpfen der "drei glorreichen Tage"
dem Bürgertum die Herrschaft Karls X. vom Hals geschafft
hatten, gingen leer aus: Die Julimonarchie übernahm und verschärfte die arbeiterfeindliche Gesetzgebung der Restaurationszeit. Koalitions- und Streikverbot blieben aufrecht. Lafayette
erklärte im August 1830, die Forderungen der Arbeiter seien mit
der »Freiheit der Industrie« unvereinbar. 1830 war das Industrieproletariat zahlenmäßig den Bauern und dem städtischem
Kleinbürgertum noch weit unterlegen und sich seiner als einer
selbständigen gesellschaftlichen Kraft noch kaum bewußt.
Auf der Seite der "Heiligen Allianz” deutete man die Zeichen
richtig: Wenn man von dem Schönheitsfehler absah, daß die
Julimonarchie ihre Existenz einer Revolution verdankte,
sprach nichts gegen eine faktische Aufnahme Frankreichs in
das reaktionäre Bündnis der Großmächte. "Der neuen
französischen Regierung wird auf unterschiedlichem Wege
mitgeteilt, daß Europa an einer Stabilisierung des neuen Regimes
interessiert sei und an einen Angriff gegen Frankreich nicht
denke. Selbst Metternich verleiht seiner Hoffnung Ausdruck,
die neue Regierung möge sich festigen."xix
Die schon Ende Juli 1830 neuaufgestellte Nationalgarde sollte
die
neue
Ordnung
aufrechterhalten,
demonstrative
Truppenparaden dienten der Einschüchterung der Opposition.xx
Zehntausende Lyoner Seidenweber gingen im November 1831
auf die Straße, um für die Gewährung menschenwürdiger
Lebensbedingungen zu demonstrieren. Insbesondere forderten
sie die Festlegung eines Mindestlohns und die Einhaltung eines
schon abgeschlossenen Tarifvertrags, den die Regierung Périer
aufgehoben hatte. Dem Demonstrationszug wurde eine schwarze
Fahne vorangetragen, die die Aufschrift »arbeitend leben oder
kämpfend sterben« trug. Aber erst als Linientruppen und
Nationalgarde in die Kundgebung feuerten, schlug diese in
einen Volksaufstand um. Nach zweitägigem Kampf war Lyon
i
Geschichte
Wie die Juli-Revolution auf
Belgien übergriff, dieses
sich von Holland löste und
seine »ewige Neutralität«
erklärte
Wie im November 1830 ein
Aufstand in dem zwischen
Russland, Preußen und
Österreich aufgeteilten
Polen den Nerv der
»Heiligen Allianz« traf und
von ihr daher unterdrückt
wurde
16
in der Hand der revoltierenden Arbeiter.xxi Bereits Anfang
Dezember aber eroberten Regierungstruppen die Stadt
zurück.
Im Juni 1832 entwickelten sich die Begräbnisfeierlichkeiten für
den populären ehemaligen napoleonischen General und
deklarierten Republikaner Lamarque zu einem republikanischen
Aufstand, der aber bereits nach zwei Tagen unterdrückt war.
Im April 1834 kam es zu einem neuerlichen ergebnislosen - Arbeiteraufstand in Lyon, der in anderen
Städten und vor allem in Paris Widerhall fand. "Republik oder
Tod!" war die Losung der Erhebung, die abermals von
Regierungstruppen zusammengeschossen wurde. In der Rue
Transnonain in Paris übten diese in sinn- und wahllosem Morden
Vergeltung.
Erfolgreich war ein Aufstand der Belgier, der Ende August
1830 losbrach und sich gegen die vom Wiener Kongreß
diktierte Zwangsvereinigung mit Holland richtete. Die
Drohgebärde Frankreichs verhinderte ein Eingreifen der
»Heiligen Allianz«: »Wenn sich andere Mächte in ausbrechende
Aufstände in anderen Ländern einmischen, dann gibt es Krieg
mit Frankreich.«xxii Im Januar 1831 einigten sich in London die
Vertreter der fünf Großmächte auf die »24 Artikel«, in denen die
Existenz des neuen unabhängigen Staates Belgien und seine
"ewige Neutralität" anerkannt wurden.
Anders lagen die Dinge in Polen, das 1795 aufgehört hatte, als
selbständiger Staat zu existieren. Rußland, Preußen und
Österreich hatten das Land im Rahmen der »Polnischen Teilungen« (1772, 1793 und 1795) untereinander aufgeteilt.
Ende November 1830 stürmten polnische Offiziersschüler die
Residenz des Großfürsten Konstantin in Warschau, der im
russisch besetzten Teil Polens den Zaren Nikolaus I. vertrat und
sich gerade noch durch eine Geheimtür seines Schlafkabinetts in
Sicherheit bringen konnte. Das polnische Parlament, der Sejm,
erklärte den Zaren in seiner Eigenschaft als polnischer König
für abgesetzt. Dieser Aufstand traf den Nerv der »Heiligen
Allianz«, denn er stellte auch die Herrschaft der Hohenzollern
und der Habsburger über die von Preußen und Österreich
besetzten polnischen Gebiete in Frage.xxiii Es gelang dem
polnischen Adel jedoch nicht, die große Masse der bäuerlichen
Bevölkerung zu mobilisieren, da er an seinen feudalen Vorrechten festhielt und nichts von der längst fälligen Agrarreform
wissen wollte. Entsprechend dem geringen Entwicklungsstand
der Produktion kam das junge polnische Bürgertum als tragende
Kraft des Aufstandes von 1830/31 nicht in Frage.
Auch Frankreich ließ wissen, daß es für die Unabhängigkeit
Polens keinen Finger rühren werde. Périer wählte folgende
Formulierung: "Wir räumen keinem Volk das Recht ein, uns zu
zwingen, für seine Sache zu kämpfen; das Blut der Franzosen
gehört ausschließlich Frankreich."xxiv Im Februar 1832 brach
der Aufstand zusammen.
Geschichte
Wie in Italien ein erfolgloser
Versuch, die territoriale
Zersplitterung zu
überwinden und die
teilweise österreichische
Fremdherrschaft
abzuschütteln, vor sich
ging
Wie das deutsche
Bürgertum mehr Angst vor
der Revolution als
Sympathie für sie empfand
und sich daher weitere
repressive Maßnahmen
gefallen lassen mußte
17
Die Bewegung des »Risorgimento«, die die nationale
»Wiedergeburt« Italiens und die Überwindung seiner
Zersplitterung in feudale Fürstentümer zum Ziel hatte, war in
den Tagen der Französischen Revolution in Form
jakobinischer Verschwörergruppen entstanden. Zur Zeit der
Herrschaft Napoleons war die Geheimgesellschaft der
»Carbonari« entstanden.
Napoleon hatte die politische Landkarte Italiens völlig verändert:
(Piemont, Ligurien, Toskana von Frankreich annektiert, Rom
besetzt; Königreich Italien [Napoleon selbst seit 1805 König von
Italien]: Lombardei, Romagna, Umbrien, Venetien; Königreich
Neapel).
Der Wiener Kongreß hatte Österreich seine Vorherrschaft in
Italien zurückgegeben. Auch Venetien war jetzt
österreichisch. Habsburgische Truppen hatten bereits 1820/21
Revolutionen im Königreich beider Sizilien und in Piemont
niedergekämpft.
Im Februar 1831 begann eine neuerliche Erhebung, die die
Bildung der »Vereinigten italienischen Provinzen« zur Folge
hatte, die aus den Herzogtümern Modena, Parma und der
Romagna bestanden. Damit war ein erster Schritt auf dem Weg
zur Einheit Italiens getan, die »Vereinigten Provinzen«
übernahmen die französische Verfassung von 1830.xxv Die
Julimonarchie unterstützte aber die italienische Revolution nicht.
Frankreich leistete weder direkte Waffenhilfe gegen die
Intervention Österreichs, noch half es mit Geld oder Material.
Nicht zuletzt scheiterte die italienische Revolution auch daran,
daß es den bürgerlichen Patrioten nicht gelang, die Masse der
Bevölkerung zu mobilisieren. Die von dieser erwarteten
tiefgreifenden sozialen Reformen bleiben aus.
Die Julirevolution fand Widerhall im Deutschen Bund. Hier
hatte sich jedoch das Bürgertum noch nicht zur führenden Kraft
entwickelt. Wohl kam es in Sachsen, Braunschweig, Kurhessen
und Hannover zu Unruhen, wohl kam es im Mai 1832 zu einer
gewaltigen Massendemonstration für ein geeintes und
republikanisches Deutschland (Hambacher Fest mit ca.
30.000 Teilnehmern), aber: "In Berlin ist sich die Regierung
ihrer Bourgeoisie so sicher, daß sie schon bei den ersten
Tumulten die Bildung von bürgerlichen Sicherheitsvereinen
anregt. Klug beugt sie der Gefahr vor, deren Gewehre könnten
doch in die falsche Richtung losgehen. Auf Erlaß des Ministers
des Innern und der Polizei vom 4. Oktober 1830 werden
»Studenten und Schüler ... ebenso wie die vom täglichen
Broterwerb lebende Volksklasse davon ausgeschlossen«."xxvi
Ludwig Börne kommentierte die Bildung solcher bürgerlicher
Sicherheitsvereine mit folgenden Worten: "Dem deutschen
Bürgerstande wird Angst gemacht vor dem Pöbel, und er
bewaffnet sich, stellt sich in seiner viehischen Dummheit unter
das Kommando der Militärmacht und vermehrt dadurch nur die
Gewalt der Regierungen."xxvii
Geschichte
Daß die Kleinstaaterei
wieder einmal den Sieg
davongetragen hatte, dem
Bürgertum aber seine
politische Machtlosigkeit
1834 durch die
Begründung des deutschen
Zollvereins versüßte
18
Im Sommer 1832 beschloß der Bundestag in Frankfurt am Main
eine Reihe von repressiven Maßnahmen ("Sechs Artikel" und
"Zehn Artikel") wie etwa die Verschärfung der Zensur und
Bespitzelung, das Verbot aller politischen Vereine,
Volksversammlungen und öffentlichen Reden, die gegenseitige
Auslieferung politisch Verfolgter.xxviii
Wieder einmal trugen Fürsten, Adelsreaktion und
Kleinstaaterei in Deutschland den Sieg davon, der
bürgerlichen Opposition wurde aber ihre politische
Machtlosigkeit im Jahre 1834 durch die Begründung des
Deutschen Zollvereins versüßt, womit ein wesentlicher Schritt
auf einen einheitlichen deutschen Wirtschaftsraum zu getan war.
Damit fiel eine Schranke, die sich bis dahin der Industriellen
Revolution in den Weg gestellt hatte. Die Bourgeoisie gewann an
ökonomischer Bedeutung, und umso deutlicher trat die
Fragwürdigkeit einer Herrschaftsform hervor, die ihr politische
Rechte vorenthielt.
WIE 1848 IN FRANKREICH DER TRAUM VON DER
SOZIALEN REPUBLIK WIRKLICHKEIT ZU WERDEN SCHIEN, LETZTLICH ABER
IN DER DIKTATUR NAPOLEONS III.
ENDETE
Wie das Grossbürgertum
abermals mit einer
Wahlrechtsreform zufrieden
gewesen wäre, das mittlere
und Kleinbürgertum sowie
die Arbeiterschaft aber die
Republik erzwangen und
Louis Philippe verjagten
Die Mißernte des Jahres 1845/46, von der eine ganze Reihe
europäischer Staaten betroffen war, und die darauf folgende
Wirtschaftskrise bildeten den Hintergrund der europäischen
Revolution des Jahres 1848, die im Februar von Frankreich
ihren Ausgang nahm.
Seit dem Sommer 1847 brachte die französische Bourgeoisie,
deren Großteil ja auch unter dem “Bürgerkönig” Louis Philippe
keinen Anteil an den politischen Entscheidungen hatte, ihre
Opposition durch die Abhaltung von Banketten zum
Ausdruck, auf denen Reden gehalten wurden, die zunächst
lediglich die Forderung nach einer Wahlrechtsreform zum
Inhalt hatten. Bald aber wurde auch der Ruf nach der
Republik laut.
Das Verbot eines dieser Bankette im Februar 1848 löste die
Revolution aus. Weder Zugeständnisse (Regierungsumbildung,
Entlassung Guizots) noch der Einsatz von Militär vermochten
die Herrschaft Louis Philippes zu retten. Die Erschießung von
Demonstranten steigerte nur die Wut der Bevölkerung. Die
Menschen verkrochen sich nicht, sondern bauten Barrikaden.
Louis Philippe dankte ab und floh nach England.
Geschichte
Daß Bürger und Arbeiter
verschiedene
Auffassungen von der
Gestaltung der künftigen
Republik hatten
19
Die erste Stunde jeder Revolution gehört den Visionen, den
Illusionen, den Helden und dem Pathos. Dann folgt der Kampf
um die neue Ordnung. Die großbürgerlichen Liberalen wären
mit einer bloßen Wahlrechtsreform unter Beibehaltung der
monarchischen Staatsform zufrieden gewesen. Mittleres und
Kleinbürgertum sowie die Arbeiter wollten und erzwangen
die - zweite - Republik. Aber welche Republik? Bürgerliche
oder soziale? Trikolore oder rote Fahne? In der provisorischen
Regierung, die sich aus Wortführern der Revolution gebildet
hatte, und die die Geschicke Frankreichs lenken sollte bis eine
gewählte Regierung an ihre Stelle treten konnte, waren die
Bürgerlichen in der überwiegenden Mehrheit. Nur zwei
“Sozialisten” gehörten ihr an.
Einer von ihnen war der Historiker und Journalist Louis Blanc.
Der Titel seiner 1839 erschienenen sozialkritischen Schrift
Organisation der Arbeit war zum Kampfruf der Arbeiter
geworden. Blanc geißelte in der Organisation der Arbeit das
soziale Elend, das das Industriezeitalter mit sich brachte:
Wie der “Sozialist” Louis
Blanc der Verelendung der
Arbeiter und der
Proletarisierung der
Kleinbürger durch
“Organisation der Arbeit”
begegnen wollte “In der modernen Gesellschaft beruht die öffentliche Ordnung hauptsächlich
auf zwei Arten von Menschen, von denen die eine die Aufgabe hat, zu
repräsentieren, und die andere, die Köpfe abzuschlagen. Die Hierarchie der
Konservativen beginnt beim König und endet beim Henker.
Als die aufständischen Arbeiter von Lyon riefen: “Entweder man gibt uns
etwas zum Leben oder man soll uns umbringen”, geriet man durch diese
Forderung in nicht geringe Verlegenheit; weil es jedoch zu schwierig
schien, sie am Leben zu erhalten, schlachtete man sie ab.
Auf diese Weise war die Ordnung wiederhergestellt! [...]
Ist der Arme ein Mitglied oder ein Feind der Gesellschaft? Antwortet!
Rings um sich her findet er den Boden in Besitz genommen. Darf er das Land
für sich selbst bestellen? Nein, denn das Recht des ersten Besitzers ist zum
Eigentumsrecht geworden.
Darf er die Früchte ernten, die Gott an den Straßen der Menschen reifen läßt?
Nein, denn wie den Boden haben andere sich die Früchte a n g e e i g n e t .
Darf er frei jagen oder fischen? Nein, denn das ist ein Recht, das die
Regierung verpachtet.
Darf er aus einem Brunnen auf einem Feld Wasser schöpfen? Nein, denn der
Eigentümer des Feldes ist kraft Akzessionsrechts Eigentümer der Quelle.
Darf er, um nicht vor Hunger und Drust umzukommen, sich an das Mitleid der
andern wenden? Nein, denn es gibt Gesetze gegen Bettelei.
Darf er, wenn er kein Dach über dem Kopf hat und vor Müdigkeit umfällt, auf
dem Straßenpflaster übernachten? Nein, denn es gibt Gesetze gegen
Landstreicherei.
Darf er dieses mörderische Vaterland verlassen, das ihm alles verweigert, und
seinen Lebensunterhalt weit weg von seinem Geburtsort suchen? Nein, denn
das ist ihm nur unter gewissen Bedingungen erlaubt, die er nicht erfüllen
kann.
Was also soll der Unglückliche tun? Er sagt zu euch: “Ich habe Arme, weiß
meinen Kopf zu gebrauchen, bin jung und stark. Nehmt das alles und gebt mir
dafür ein Stück Brot.” Das tun und sagen heutzutage die Proletarier. Aber
selbst darauf könnt ihr dem Armen entgegnen: “Ich habe keine Arbeit für
dich!” Was soll er dann noch tun? Ihr seht deutlich, daß ihm nur zwei
Möglichkeiten bleiben: sich oder euch umzubringen.
Was hieraus folgt, ist höchst einfach: S i c h e r t dem Armen die Arbeit! Für
die Gerechtigkeit habt ihr damit nicht allzuviel getan, und bis zum Reich der
Brüderlichkeit ist es noch weit [...].”
Louis Blanc wollte durch die “Organisation der Arbeit”, also
durch die Reglementierung der Wirtschaft (keineswegs aber
Geschichte
20
Enteignung
der
Kapitalisten),
gleichermaßen
der
Verelendung des Proletariats und der Proletarisierung des
Kleinbürgertums
durch
den
unbarmherzigen
Konkurrenzkampf begegnen. Er umriß sein Konzept mit
folgenden Worten:
“Die Regierung wird als oberste Leitungsbehörde der Produktion eingesetzt
und dafür mit großer Macht ausgestattet. [...]
Die Regierung nimmt eine Anleihe auf, die zur Errichtung von
N a t i o n a l w e r k s t ä t t e n in den wichtigsten Industriezweigen der
Nation verwandt wird. [...]
Als einziger Gründer von N a t i o n a l w e r k s t ä t t e n verfaßt die Regierung
die Statuten. Ihre Abfassung hat nach Beratung und Beschlußfassung in der
Nationalversammlung Form und Kraft eines Gesetzes. Alle rechtschaffenen
Arbeiter werden aufgerufen, in den N a t i o n a l w e r k s t ä t t e n zu arbeiten
und sogar das Anfangskapital für den Kauf von Arbeitsmitteln aufbringen zu
helfen. [...]
Für das erste Jahr nach der Errichtung der Nationalwerkstätten hat die
Regierung die Rangordnung der Tätigkeiten festzusetzen. Danach wird es
nicht mehr nötig sein. Denn die Arbeiter haben bis dahin genug Zeit, sich
gegenseitig einzuschätzen, und da alle gleichermaßen am Gedeihen der
Assoziation interessiert sind, wird man die Stufenfolge durch Wahl festlegen.
Der alljährlich berechnete Reingewinn zerfällt in drei Teile: Einer wird zu
gleichen Teilen unter die Mitglieder der Assoziation verteilt. Der zweite dient
einmal zur Unterhaltung der Alten, Kranken und Arbeitsunfähigen, sodann zur
Linderung von Krisen, die andere Industriezweige betroffen haben [...]. Der
dritte Teil schließlich wird zum Ankauf von Arbeitsinstrumenten für diejenigen
verwandt, die der Assoziation beitreten möchten, so daß diese unbegrenzt in
die Breite wachsen kann. [...]
Die Kapitalisten werden aufgerufen, der Assoziation beizutreten. Sie
erhalten für das von ihnen eingebrachte Kapital Zinsen, die vom Budget
garantiert werden. Am Gewinn sind sie jedoch nur in ihrer Eigenschaft als
Arbeiter beteiligt.
Ist die Nationalwerkstatt einmal nach diesen Grundsätzen errichtet, versteht
sich alles weitere von selbst. In jedem Hauptindustriezweig, sei es im
Maschinenbau, in der Seiden- und Baumwollindustrie oder im
Druckereiwesen, gibt es dann eine Nationalwerkstatt, die der Privatindustrie
Konkurrenz macht. Wird der Kampf lange dauern? Keineswegs! Denn die
Nationalwerkstatt ist gegenüber jedem Privatbetrieb im Vorteil auf Grund
der größeren Wirtschaftlichkeit, die sich aus der gemeinschaftlichen
Lebensweise und der Art der Organisation ergibt, in der alle Arbeiter
ausnahmslos daran interessiert sind, schnell und gut zu produzieren. Wird
dieser Kampf vernichtend sein? Nein. Die Regierung ist stets in der Lage,
seine Auswirkungen zu zügeln und zu verhindern, daß die Preise der in den
Nationalwerkstätten produzierten Waren zu niedrig festgelegt werden. [...]
Statt, wie die heutigen Großkapitalisten, den Markt zu beherrschen und zu
tyrannisieren, wird die Regierung ihn regulieren. Sie bedient sich der Waffe
der Konkurrenz nicht, um die Privatindustrie gewaltsam zu vernichten [...],
sondern, um sie unmerklich zu einem glücklichen Vergleich zu bringen.
Bald werden sich nämlich Arbeiter und Kapitalisten in jedem
Produktionsbereich, in dem es eine Nationalwerkstatt gibt, wegen der
Vorteile der Mitgliedschaft um die Aufnahme in die Assoziation bewerben.
[...] Ein Großindustrieller kann heute mit einem gewaltigen Schlage alle
Rivalen aus dem Sattel werfen und einen ganzen Industriezweig
monopolisieren. In unserem System bemächtigt sich der Staat nach und nach
der Industrie, und am Ende steht statt des Monopols die Niederlage der
Konkurrenz und damit die Assoziation.”
Wie durch die Einrichtung
von “Nationalwerkstätten”
das Recht auf Arbeit
Als die Arbeiter nun die Anerkennung ihres Rechts auf Arbeit
forderten, wurde auf Vorschlag Louis Blancs tatsächlich ein
entsprechendes Dekret erlassen Die praktische Folge war die
Geschichte
gesichert werden sollte und
an der Trikolore
vorübergehend auch ein
rotes Bändchen flattern
durfte
Wie sich bei den Wahlen
zur Konstituierenden
Versammlung die
Schwäche der jungen
Arbeiterbewegung zeigte,
und der Traum von der
sozialen Republik im Juni
1848 in einem blutigen
Desaster endete
21
entsprechendes Dekret erlassen. Die praktische Folge war die
Einrichtung von “Nationalwerkstätten”, unter denen man sich
aber nicht wirklich Werkstätten vorzustellen hat, denn die
Arbeitslosen wurden mit Erdarbeiten beschäftigt. Anstatt der
ebenfalls geforderten Einrichtung eines “Ministeriums für
Arbeit und Fortschritt” gab es aber nur eine Kommission für
Arbeitsfragen, die Louis Blanc gemeinsam mit dem anderen
“Sozialisten” in der provisorischen Regierung (Albert) leiten
durfte. Sollte er ruhig die Umkrempelung der französischen
Gesellschaft nach seinen Vorstellungen planen, gefährlich
werden konnte er ihr nicht, denn die Kommission für
Arbeitsfragen hatte weder finanzielle Mittel zu ihrer
Verfügung, noch kamen ihr gesetzgeberische Kompetenzen
zu. Indem er die Arbeiterschaft auf die Zeit nach allgemeinen
Wahlen vertröstete, erwies Louis Blanc der Bourgeoisie sogar
einen großen Dienst. Die Frage: bürgerliche oder soziale
Republik? Trikolore oder rote Fahne? entschied sich so
zugunsten der Trikolore, wenn zunächst auch noch ein rotes
Bändchen an der Fahnenstange flattern durfte, das später
entfernt wurde.
Immerhin aber hatte man den Arbeitern die Verkürzung der
täglichen Arbeitszeit auf zehn (in der Provinz elf) Stunden
zugestehen müssen. Alle Männer, die das 21. Lebensjahr
vollendet
hatten,
durften
wählen.
Presseund
Versammlungsfreiheit ermöglichten nun die Gründung
zahlreicher Zeitungen und Zeitschriften sowie politischer
Klubs, darunter vor allem die “Société républicaine
centrale”, die “Zentrale Republikanische Gesellschaft” des
Sozialistenführers Auguste Blanqui.
Das Wesentliche, das aus der Perspektive der Bauern die
Revolution mit sich gebracht hatte, zeigte sich in Form einer
neuen Steuer von 45 Centimes, deren Einhebung mit den
Kosten begründet wurde, die die Nationalwerkstätten
verursachten. Das Wahlverhalten der Bauern bei den Wahlen
zur Konstituierenden Versammlung war entsprechend.
Außerdem ließ ein knapper Wahltermin (April 1848) der
Linken nicht genug Zeit, sich als wahlwerbende Kraft zu
organisieren.
Die Wahlen ergaben einen überwältigenden Sieg der Rechten,
das heißt der rechten Republikaner und der Monarchisten
(Anhänger der Bourbonen und des Hauses Orléans). Die
Anhänger der Familie Bonaparte errangen allerdings nur
zwei Mandate. Kleinbürgerliche Demokraten und Sozialisten
erlangten nur 80 von insgesamt 880 Sitzen. Mit einer satten
konservativen Mehrheit im Rücken konnte die neue
Regierung daran gehen, die Errungenschaften der
Februarrevolution zu demontieren. Das Petitionsrecht und die
politischen Klubs wurden Beschränkungen unterworfen, eine
Gesetzesvorlage zur Bildung eines Arbeitsministeriums wurde
verworfen.
Geschichte
Wie Louis Napoléon
Bonaparte zum
Präsidenten der Republik
gewählt wurde, eine
Diktatur errichtete und sich
als Napoleon III. zum
Kaiser ausrief
22
Im Verlauf einer Massendemonstration kam es zur Besetzung
des Palais Bourbon, in dem die Konstituierende
Versammlung tagte. Die meisten Abgeordneten verließen den
Sitzungssaal, worauf einer der Wortführer der Demonstranten die
Versammlung für aufgelöst erklärte. Dann wurde eine
revolutionäre Regierung ausgerufen. Nun aber war der
Anlaß für den Einsatz von Truppen und bürgerlicher
Nationalgarde gegeben. Die wichtigsten Arbeiterführer
wurden verhaftet, unter ihnen Auguste Blanqui, der vergeblich
vor den Folgen einer unbesonnenen, übereilten Aktion gewarnt
hatte.
Nun folgten allerlei Repressionen, das Verbot von
Demonstrationen und vor allem die Schließung der
Nationalwerkstätten. Der Traum von der sozialen Republik war
ausgeträumt. Im Juni 1848 stellten sich einige Zehntausend
Pariser Arbeiter einem Truppenaufgebot von 250.000 Mann,
das der mit diktatorischen Vollmachten ausgestattete
General Cavaignac befehligte, zu einer viertägigen Schlacht,
die nur in einem blutigen Desaster enden konnte.
Für Zeitungen und Zeitschriften wurde in der Folge eine Kaution
wurde
(wieder-)eingeführt,
die
Arbeitszeitverkürzung
rückgängig gemacht, das Streikrecht wurde den Arbeitern
wieder genommen.
Die Konstituierende Versammlung verkündete im November
1848 eine Verfassung, die einen durch Volksabstimmung zu
ermittelnden Präsidenten vorsah, dem weitreichende
Vollmachten an die Hand gegeben waren. Aus der
Präsidentenwahl, die im Dezember abgehalten wurde, ging
nicht General Cavaignac, der sich große Chancen ausgerechnet
hatte, als Sieger hervor, sondern der Kandidat der
Bonapartisten: Louis Napoléon Bonaparte, der versprochen
hatte, die 45-Centimes-Steuer abzuschaffen.
Im Juni 1849 kam es abermals zu blutigen Unruhen. Sie waren
im Zusammenhang mit der Entsendung französischer Truppen
gegen die im Zuge der 48er Revolution gebildete Römische
Republik ausgebrochen. Rom blieb übrigens bis 1870 von
französischen Truppen besetzt. Diese wurden dann im deutschfranzösischen Krieg (1870/71) dringender gebraucht und zogen
ab.
Stimmengewinne der Linken bei den Wahlen zur
Gesetzgebenden Versammlung führten zur Annahme eines
neuen Wahlgesetzes, das das Stimmrecht von dreijähriger
durchgehender Ansässigkeit an einem Ort abhängig machte.
Damit konnte man immerhin ungefähr drei Millionen
Menschen das Wahlrecht nehmen.
Bonaparte errichtete am 2. Dezember 1851 per Staatsstreich
eine Diktatur, deren reaktionären Charakter er durch
Abschaffung eben jenes Wahlgesetzes bemänteln wollte. Der
Widerstand war tatsächlich schwach. In einigen Pariser Bezirken
errichteten die Arbeiter wohl Barrikaden, doch beendete der
Geschichte
23
rücksichtlose Einsatz von Artillerie den Kampf innerhalb von
zwei Tagen. Dabei kamen auch etwa 2000 Menschen ums Leben,
die sich an den Kämpfen gar nicht beteiligt hatten.
Auf den Tag genau ein Jahr nach seinem Staatsstreich rief
sich Bonaparte als Napoleon III. zum Kaiser aus (nach
bonapartistischer Auffassung galt nämlich der jung verstorbene
Sohn Napoleons I., der “Herzog von Reichstadt”, der nie regiert
hatte, als Napoleon II.).
WIE IN DEUTSCHLAND 1848 EINE REVOLUTION ZIEMLICH ERFOLGLOS
BLIEB, WEIL DIE ANGST DES BÜRGERTUMS VOR DEN ARBEITERN GRÖSSER
WAR ALS DAS BEDÜRFNIS, DIE ALTE ORDNUNG ZU ZERSCHLAGEN
Wie sich die
Revolution 1844 im
Aufstand der
schlesischen Weber
ankündigte
In Deutschland hatte sich die Revolution 1844 durch den
schlesischen Weberaufstand angekündigt, den ersten
Aufstand des deutschen Industrieproletariats, der nicht nur
Künstler wie Heinrich Heine, Gerhart Hauptmann und
Käthe Kollwitz inspirierte, sondern auch ahnen ließ, daß die
soziale Frage die Bereitschaft des deutschen Bürgertums,
Kompromisse mit den alten Mächten einzugehen, erhöhen
würde.
Die allgemeine Wirtschaftskrise hatte zu einer Absatzkrise
der schlesischen Textilindustrie geführt. In Schlesien waren
die Löhne niedriger und das Elend größer als in
Westdeutschland. Hier waren im Juni 1844 die Grenzen des
Zumutbaren erreicht. Ein spontaner Aufstand der Weber
wurde aber von preußischem Militär unterdrückt.
Die Weber
Im düstern Auge keineThräne
Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die
Zähne:
“Deutschland, wir weben dein Leichentuch,
Wir weben hinein den dreifachen Fluch Wir weben, wir weben!
Ein Fluch dem Götzen, zu dem wir gebeten
In Winterskälte und Hungersnöthen;
Wir haben vergebens gehofft und geharrt,
Er hat uns geäfft und gefoppt und genarrt Wir weben, wir weben!
Ein Fluch dem König, dem König der
Reichen,
Den unser Elend nicht konnte erweichen,
Der den letzten Groschen von uns erpreßt,
und uns wie Hunde erschießen läßt Wir weben, wir weben!, wir weben!
Ein Fluch dem falschen Vaterlande,
Wo nur gedeihen Schmach und Schande,
Wo jede Blume früh geknickt,
Wo Fäulnis und Moder den Wurm erquickt Wir weben, wir weben!
Das Schiffchen fliegt, der Webstuhl kracht,
Wir weben emsig Tag und Nacht Altdeutschland, wir weben dein Leichentuch,
Wir weben hinein den dreifachen Fluch.
Geschichte
24
Wir weben, wir weben!”
Heinrich Heine
Wie in den einzelnen
deutschen Staaten
Zugeständnisse
erzwungen wurden
Wie sich selbst im
Metternichschen
Polizeistaat das
Bürgertum zu Wort
meldete
Wie am 13. März eine
Demonstrastion in der
Herrengasse den
Auftakt zur Revolution
gab
Daß Erzherzog
Albrecht auf
Demonstranten
schießen ließ, daß die
Menschen sich aber
nicht mehr
einschüchtern ließen
Im März 1848 griff die Revolution von Frankreich auf die
einzelnen deutschen Staaten über: Massendemonstrationen
zwangen die Fürsten zu Zugeständnissen und zur Einsetzung
also
zu
der
liberalen
“Märzministerien”,
Regierungsumbildungen. In Bayern verband sich die Revolution
mit einer Art Staatsoperette, in deren Verlauf der bayrische
König Ludwig I. beleidigt abdankte (zugunsten seines Sohnes
Maximilian), nachdem die Münchner die Geliebte des alternden
Monarchen, die zur “Gräfin Landsberg” avancierte Tänzerin Lola
Montez, vertrieben hatten, die Ludwig zu einer Reihe von
Willkürmaßnahmen bewegt hatte.
Selbst im Metternichschen Polizeistaat wagte nun das
Bürgertum, sich zu Wort zu melden. “Der Monat März begann
in Wien mit Petitionen bürgerlicher Gremien wie des
Niederösterreichischen Gewerbevereins und des JuridischPolitischen Lesevereins, die in bescheidenem Ton Teilnahme des
Großbürgertums an Verwaltung und Finanzgebarung des Staates
erbaten.”xxix
Die studentische Jugend war weniger zurückhaltend und erhob
die Forderung nach Presse-, Rede- und Lehrfreiheit,
Gleichstellung der Konfessionen, Reform der Verfassung des
Deutschen Bundes und Bewaffnung des Volkes. Am 13. März
gab eine Demonstration vor dem Niederösterreichischen
Landhaus in der Herrengasse den Auftakt zur Revolution.
Adolf Fischhof, ein junger jüdischer Sekundararzt am
Allgemeinen Krankenhaus hielt eine Rede, in der er
Pressefreiheit und Geschworenengerichte forderte. Seine
Hochrufe auf die Freiheit und die Verbrüderung der in der
Monarchie lebenden Völker fanden ein begeistertes Echo.
Ferner wurden die von Ludwig Kossuth in Ungarn
aufgestellten Forderungen nach einer demokratischen
Verfassung verlesen.
Erzherzog Albrecht - Oberbefehlshaber in Niederösterreich
und nachmaliger Sieger von Custoza (1866) - ließ auf die
Demonstranten schießen, wodurch sich aber deren Empörung
nur steigerte. Viele Bürger, die zunächst abgewartet hatten,
nahmen aktiv an den Straßenkämpfen teil, die nun
entbrannten. Auch die Bevölkerung der Vorstädte geriet in
Aufruhr. Ihre Wut richtete sich nicht nur gegen die politischen
Machthaber, sondern auch gegen die Kapitalisten und die
arbeitsplatzvernichtenden Maschinen. Fabriken wurden
gestürmt und gingen in Flammen auf. Paradoxerweise wurde
aber gerade erst dadurch der bürgerlichen Revolution der
nötige Nachdruck und ein vorläufiger Sieg verliehen. Das
Proletariat hatte dem Bürgertum zu den
“Märzerrungenschaften” verholfen: Entlassung Metternichs,
Verfassungsversprechen, Fall der Zensur, Bildung
Geschichte
Wie ein
Verfassungsentwurf
die Massen
enttäuschte und
empörte, worauf man
ihnen freie Wahlen
versprach
Wie in österreich
verschiedene
Bevölkerungsschichte
n verschiedene
Erwartungen in die
Zukunft setzten
Wie die Arbeiter Brot
forderten, aber
blanken Stahl
bekamen
1
Vajda 491f
25
bewaffneter Verbände - der Nationalgarde und der
akademischen Legion - aus Bürgern und Studenten “auf den
Grundlagen der Bildung und des Besitzes”, also unter Ausschluß
der Arbeiter.
Die “oktroyierte” Verfassung, die dann (am 25. April von
Innenminister Freiherr v. Pillersdorf) vorgelegt wurde (aber nie
in Kraft trat), bedeutete für die Masse der Bevölkerung eine
herbe Enttäuschung: Sie sah zwei Kammern vor. Ein Oberhaus
sollte sich aus vom Kaiser nominierten Mitgliedern und überwiegend - aus Vertretern des Großgrundbesitzes, also
Hochadeligen, zusammensetzen. Zur Zusammensetzung des nach
Zensuswahlrecht zu wählenden Unterhauses verfügte ein Patent
vom 8. Mai 1848: “Arbeiter gegen Tag- oder Wochenlohn,
Dienstleute und Personen, die aus öffentlichen
Wohltätigkeitsanstalten Unterstützung genießen, können nicht als
Wähler auftreten”. Überdies war dem Kaiser ein Vetorecht gegen
beide Kammern vorbehalten. Der Protest der Bevölkerung
gipfelte in der “Sturmpetition” vom 15. Mai vor der Wiener
Hofburg, einer Massendemonstration, die den Freiherrn von
Pillersdorf (jetzt Ministerpräsident) zwang, im Namen des
Kaisers Wahlen auf der Basis des des allgemeinen und
gleichen Wahlrechts zu einem “konstituierenden Reichstag”
zu versprechen, der eine demokratische Verfassung ausarbeiten
sollte. Der Hof hatte sich schon am 17. Mai nach Innsbruck
zurückgezogen (kehrte allerdings Mitte August in die Wiener
Hofburg zurück). Dem “gütigen” Kaiser Ferdinand hatte man erst
unterwegs gesagt, wohin die Reise ging.1
Die von Pillersdorf verfügte Auflösung der Akademischen
Legion (26. Mai) löste neuerliche Straßenkämpfe aus. Die
Regierung nahm die Verfügung zurück und stimmte der Bildung
eines Sicherheitsausschusses zu, der nun unter dem Vorsitz Adolf
Fischhofs eine Art Neben- oder Revolutionsregierung bildete.
Die Illusion der Einigkeit und Brüderlichkeit aller gegen den
Absolutismus angetretenen Kräfte, die in der feierlichen
Beisetzung der Märzgefallenen einen Höhepunkt gefunden hatte,
wich abermals der Ernüchterung und dem Kampf um die
neue Ordnung.
Den meisten Konfliktstoff barg die soziale Frage in sich. Ganz
ähnlich wie in Frankreich waren auch in Wien zunächst die
revolutionären Energien der Arbeiter durch Beschäftigung
von etwa 20.000 Menschen bei Erdarbeiten Rechnung
kanalisiert worden. Die Gegensätze zwischen Bürgertum und
Arbeiterschaft spitzten sich aber zu und gipfelten in einem
Blutbad, das am 23. August Nationalgarde und
Sicherheitswache im Prater unter den Arbeitern anrichteten,
die dort gegen Lohnkürzungen demonstrierten. Unter dem
Eindruck dieser Ereignisse löste sich der Sicherheitsausschuß
Geschichte
Daß die Bauern die
Abschaffung der
Feudallasten
erreichten - gegen
Entschädigung
Wie das
Kleinbürgertum lieber
zurück ins Mittelalter
als vorwärts in den
Industriekapitalismus
wollte
Wie der
Antisemitismus als
wesentlicher
Bestandteil des
kleinbürgerlichen
Weltbildes hervortrat
26
selbst auf.
Die Bauern erreichten die Abschaffung der Untertänigkeit
und der Feudallasten. den entsprechenden Antrag stellte im
Reichstag der schlesische Abgeordnete Hans Kudlich. Die
Bauern mußten den Grundherren allerdings
Entschädigungszahlungen leisten.
Das Kleinbürgertum konnte sich naturgemäß mit den Zielen
der Liberalen nicht identifizieren. Seine Bedürfnisse
erforderten nicht die freie Wirtschaft, sondern die geschützte
Werkstätte. Es war antiabsolutistisch und antikapitalistisch
orientiert. Als Klasse von Kleinbesitzern trat es aber an die Seite
der Großbourgeoisie, wenn es darum ging, die Arbeiter in Schach
zu halten.
Die Arbeiterschaft war dabei, eine Ideologie zu entwickeln,
die darauf hinauslief, daß der als bloße Etappe der
gesellschaftlichen Entwicklung aufgefaßte Kapitalismus
möglichst schnell durcheilt werden sollte, dem Licht einer
sozialistischen Gesellschaft entgegen. Die Kleinbürger wollten
erst gar nicht hinein in diesen Kapitalismus. Licht sahen sie
nur in der Vergangenheit. Ihr Zukunftsstaat, auf den ihr
christlicher und nationaler “Sozialismus” abzielt, war - und
sollte es noch lange bleiben - der mittelalterliche Ständestaat.
Eine rationale Analyse der Gesellschaft konnte dem
Kleinbürgertum nur den Ausblick in eine düstere Zukunft
eröffnen, die von Rationalisierung der Produktion und
Proletarisierung der kleinen Gewerbetreibenden
gekennzeichnet sein würde. Entsprechend irrational mußten
ihre - weiterhin von der Gedankenwelt der Romantik
beherrschten - politischen Vorstellungen und Feindbilder
sein.
In den Reihen der Revolutionäre von 1848 fanden sich viele
Juden, die sich von einer siegreichen bürgerlichen Revolution
die Emanzipation versprachen. Juden gehörten auch zu den
Opfern der Kämpfe des März 1848. Der Rabbiner Mannheimer
war mit der Aufgabe betraut worden, anläßlich des Begräbnisses
der Märzgefallenen einen (und überhaupt den ersten)
ökumenischen Gottesdienst abzuhalten. Bei dieser Gelegenheit
trat Isidor Busch mit einem Gedicht an die Öffentlichkeit, dessen
letzte Strophe lautet:
Und der nur verdienet der Freiheit Glück,
der gerne es theilet mit Allen;
Drum Brüder! Wenn ihr nun kehret zurück,
Denkt, daß auch ein Jude gefallen.
Die Revolutionsparlamente jedoch hielten die Emanzipation
der Juden keineswegs für selbstverständlich. In ÖsterreichUngarn gerieten sie zwischen die erwachenden Nationalismen
der Deutschen, Ungarn, Polen, Tschechen usw. Der von den
Tschechen gegenüber den Juden erhobene Vorwurf, auf der Seite
der Deutschen zu stehen, führte im April 1848 zu massiven
antijüdischen Ausschreitungen in Prag.
Geschichte
27
Im Rahmen des mittelalterlichen Zunfthandwerks war kein
Platz für Juden gewesen. Von absoluten Herrschern waren
sie aber oft ermutigt worden, Manufakturen zu errichten, die
sozusagen "an den Zünften vorbei" produzieren sollten. Oft
war auch die Gründung eines solchen Betriebes zur
Bedingung für die Gewährung einer
Aufenthaltsgenehmigung gemacht worden. Mit anderen
Worten: Unter den Zunfthandwerkern gab es keine Juden,
unter den Betreibern von Manufakturen und später von
Fabriken gab es sie aber sehr wohl. Der kleinbürgerliche
Antikapitalismus setzte nun einfach Liberalismus,
Kapitalismus und Judentum gleich.
Wie selbst in Preußen
der König klein
beigeben mußte, das
Bürgertum aber seinen
Sieg nicht ausnutzte
Wie eine
Nationalversammlung
gebildet wurde, diese
sich selbst
entmachtete und dann
Die Aufhebung der Zensur gab nun auch "... reaktionären
Kräften die Möglichkeit, ihr Unbehagen an Aufklärung und
Liberalismus in ungezügeltem Antisemitismus zum Ausdruck zu
bringen."xxx
Ein Produkt der von Antiliberalismus und Antisemitismus
geprägten kleinbürgerlichen Gedankenwelt war vor allem auch
die “Wiener Kirchenzeitung”, die der katholische Priester
Sebastian Brunner erstmals im April 1848 herausgab.
Auch in Berlin waren die Anfang März 1848 in Bewegung
geratenen Bürger und Arbeiter durch Militär nicht mehr
einzuschüchtern. Am 18. März kam es zu einer
Massendemonstration vor dem Berliner Schloß, die der König
(Friedrich Wilhelm IV.) durch vage Versprechungen zu
zerstreuen versuchte. Dann fielen Schüsse und die
Massenkundgebung steigerte sich zur Revolution. Die Berliner
bauten Barrikaden und bewaffneten sich und hielten dem
Angriff regulärer Truppen stand, deren Moral in den
Morgenstunden des 19. März schwer erschüttert war. Einige
Truppenteile hatten den Gehorsam verweigert, und der König
sah sich gezwungen seine Streitmacht aus Berlin
zurückzuziehen, wenn er nicht ihre völlige Auflösung riskieren
wollte.
Nichts schien nun der Errichtung eines deutschen Nationalstaates
im Weg zu stehen, in dem Recht und Freiheit statt der Rechte und
Freiheiten einer privilegierten Kaste herrschen sollten. Doch die
Angst der Bürger vor den Arbeitern war womöglich größer
als die vor der Reaktion:
“,Die Bewaffnung der Bürger wird mit Eifer und großer
Ausdehnung betrieben‘ schrieb am 20. März 1848 der Liberale
Otto Camphausen aus Berlin an seinen Bruder Ludolf, Bankier
in Köln, der bald darauf preußischer Ministerpräsident wurde,
,gebe Gott, daß sie vollendet sei, bevor die Masse das Gelüste
ergreift, sich ebenfalls Waffen auszubitten.‘”xxxi
Von der Wahl der Abgeordneten zur Nationalversammlung,
die in Frankfurt am Main zusammentreten sollte, waren in
der Mehrheit der deutschen Staaten die unteren Volksklassen
ausgeschlossen. Dementsprechend sah die Zusammensetzung
dieses ersten deutschen Parlaments, das in der Frankfurter
Geschichte
28
hauptsächlich über Paulskirche tagte, aus: 262 von 812 Abgeordneten waren
eine Verfassung beriet Beamte, Richter und Staatsanwälte der alten Ordnung, die
anderen waren Rechtsanwälte und Notare, Professoren und
Geistliche, Offiziere und Diplomaten, Kaufleute, Fabrikanten und
Privatiers, aber keiner war Arbeiter oder Bauer. Für mehr als
vier Fünftel der Bevölkerung Deutschlands sprach lediglich
eine kleine Gruppe demokratisch gesonnener Intellektueller.
Einer von ihnen war etwa der Trierer Rechtsanwalt Ludwig
Simon, der den Antrag stellte, die Regierungsgewalt einem
Vollziehungsausschuß des Frankfurter Parlaments zu übertragen.
Statt dessen wurde der Habsburger Erzherzog Johann zum
provisorischen Regierungschef - “Reichsverweser” gewählt,
“dessen wesentlichste demokratische Qualifikation darin
bestand, daß er die Tochter eines Postmeisters geheiratet
hatte”.xxxii
Die Frankfurter Versammlung konnte sich weder zur
Verkündung des Prinzips der Volkssouveränität noch zur
Aufstellung eines Volksheeres durchringen und hatte kein
Machtmittel, keine Exekutivorgane zur Verfügung, um ihre
Beschlüsse durchzusetzen, und war auf die Kooperation der
Landesfürsten angewiesen.
In einer auf hohem Niveau geführten Diskussion um eine
künftige Verfassung Deutschlands, während der eine Reihe
glänzender Reden gehalten wurde, vergaß die
Paulskirchenversammlung ihre faktische Machtlosigkeit. Die erst
im März 1849 fertiggestellte Verfassung sah die Gleichheit
aller Bürger vor dem Gesetz, Rede-, Presse- und
Versammlungsfreiheit, Abschaffung des Adels und seiner
Vorrechte und die Aufhebung der Feudallasten - gegen
“angemessene” Entschädigungszahlungen der Bauern vor.
Wie die Frankfurter Die Frankfurter Nationalversammlung billigte die
Paulskirchenversamml Unterdrückungsmaßnahmen der preußischen Regierung, die
ung durch ihre im preußisch besetzten Teil Polens, dem Großherzogtum
Unentschlossenheit Posen, Militär einsetzte und einen Aufstand der nationalen
der Reaktion Mut Befreiungsbewegung niederwarf.
machte Weit geringeren Eifer als in Polen zeigte das Militär unter
General Wrangel in einer Art Scheinkrieg gegen Dänemark,
bei dem es um die Zurückweisung dänischer Ansprüche auf
Schleswig-Holstein ging. Friedrich Wilhelm hatte keine Lust,
den Kampf von “Rebellen”, die aus ganz Deutschland als
Freiwillige zusammenströmten gegen ein gekröntes Haupt zu
unterstützen. Ein Volkskrieg konnte sehr leicht der Anfang einer
neuen Revolution sein, nachdem die Märzrevolution recht
glimpflich verlaufen war. Die Preußen schlossen daher bei der
ersten Gelegenheit ein Waffenstillstandsabkommen mit
Dänemark. Die Frankfurter Nationalversammlung
protestierte gegen die preußisch-dänischen Abmachungen,
bezeichnete sie als Landesverrat - und billigte sie wenige Tage
später. Auch sie wollte den Volkskrieg gegen Dänemark nicht
und führte lieber gegen das Volk Krieg, das sich in Frankfurt
Geschichte
Wie sich die Wiener
auf en letzten Kampf
gegen die Reaktion
vorbereiteten, aber
auch aufeinander
schossen
29
und Umgebung zu Protestkundgebungen versammelte.
Preußische, österreichische und Truppen anderer deutscher
Staaten brauchten immerhin drei Tage (19.-21. September), um
die Ordnung wiederherzustellen.
Die Haltung der Paulskirchen-Versammlung ermutigte die
preußische Reaktion zum nächsten Schritt: Die bürgerlichliberale Regierung wurde abgelöst, Ministerpräsident wurde
ein General.
Während die Nationalversammlung weiter über die
Verfassung des künftigen Deutschland beriet, stand in
Österreich und Preußen der Sieg der Reaktion bereits
unmittelbar bevor, der in der Habsburgermonarchie durch die
Siege der Truppen Radetzkys über die nationale
Befreiungsbewegung in Oberitalien und durch die Niederwerfung
des Prager Pfingstaufstandes angekündigt wurde. Kriegsminister
Latour wollte Truppen auch nach Ungarn entsenden, deren
Abmarsch am 6. Oktober von einer wütenden Volksmenge
verhindert wurde. Viele Soldaten gingen zu den Revolutionären
über. Latour wurde Am Hof an einem Laternenpfahl
aufgehängt. Konservative Teile der Nationalgarde und reguläre
Truppen auf der einen, Vorstadtgarden und Arbeiter auf der
anderen Seite lieferten einander einen erbitterten Kampf beim
Stephansdom, dessen (Kugel-)Spuren heute noch beim
Leopoldsaltar zu sehen sind. In der Nacht vom 6. zum 7.
Oktober stürmte die Menge das Zeughaus in der Renngasse.
Die Gegensätze traten nun deutlicher hervor, und die
entschiedensten Demokraten sahen ihr Ziel nun in der “sozialen
Demokratie”. Der Publizist Hermann Jellinek schrieb: “Wißt ihr,
wo die Gerechtigkeit ruht? In der sozialen Demokratie und
nirgends anders. Unsere Demokratie ist nicht etwa die des
kleinen engherzigen Geldkrämers oder des beschränkten
Kleinbürgers, welcher entzückt ist, daß man gegen einen Minister
auftritt, aber außer sich gerät, wenn man ihn selbst seine
Privilegien aufzugeben zwingt. Diese Demokratie wird noch
große Kämpfe kosten.”xxxiii
Der erst vor kurzem aus Innsbruck zurückgekehrte kaiserliche
Hof hatte sich wieder zurückgezogen, diesmal nach Olmütz. Der
Reichstag wurde nach Kremsier in Mähren verlegt.
Feldmarschall Fürst Windischgrätz zog eine mehr als
hunderttausend Mann starke Armee zusammen, die
hauptsächlich aus Kroaten und Panduren bestand. Daher
lautet auch das Lobgedicht, mit dem ein Poet namens Joseph
Weyl den letztlichen Sieg der Reaktion besang:
Vom Schmutz: Republikaner
Vom Unflat: Demokrat,
Fegt’ rein der Serezaner,
Befreite der Kroat’!
“Die Serezaner waren die durch ihre Tracht (“Rotmäntler”)
auffälligen, furchteinflößenden Elitetruppen der Militärgrenze,
die vom kroatischen Banus Jellacic im Oktober 1848 gegen Wien
i
Geschichte
Wie barbarisch die
Truppen des Fürsten
Windischgrätz in Wien
hausten
Wie die Reaktion der
Frankfurter
Paulskirche ihre
Verachtung zeigte,
indem sie einen ihrer
Abgeordneten
erschießen ließ
Daß nach dem Fall
Wiens Berlin kampflos
kapitulierte
Wie die
Paulskirchenversamml
ung unterdessen an
der Verfassung
weiterarbeitete und
dem Preußenkönig
eine Krone anbot, die
dieser aber nicht wollte
30
geführt wurden.”xxxiv
Nachdem zwei “Reichskommissare” mit einem vagen
Vermittlungsauftrag von der Frankfurter
Nationalversammlung nach Wien entsandt worden waren, es
aber vorgezogen hatten sich in das sichere Olmütz zu
begeben, entsandte die Linke der Paulskirche die
Abgeordneten Robert Blum und Julius Fröbel, die am 17.
Oktober in Wien eintrafen. Am 23. schloß sich der Ring der
konterrevolutionären Truppen und der Kampf begann. Die den
Wienern zu Hilfe eilenden Ungarn wurden zurückgeschlagen.
Am 1. November fiel Wien.
“...,die kaiserlichen Soldaten hausten in der eroberten
kaiserlichen Residenzstadt, wie unter zivilisierten Völkern auch
in Feindesland nicht vorgegangen wird‘, berichtet ein
Augenzeuge. Ungefähr 4.000 Verteidiger dürften im Kampf
gefallen sein, Hunderte wurden nach der Gefangennahme
massakriert...”xxxv
Blum und Fröbel, die bis zuletzt an den Kämpfen teilgenommen
hatten, wurden gefangengenommen. Windischgrätz ließ Blum
sowie 24 weitere prominente Anhänger der Revolution vor ein
Erschießungspeloton stellen. Blum wies darauf hin, daß er als
Abgeordneter der verfassunggebenden Versammlung
unverletzlich sei. Das werde man ja gleich sehen, gab der
kommandierende Offizier zur Antwort und ließ feuern.
“Robert Blum wurde erschossen, nicht obwohl, sondern gerade
weil er die Männer der Paulskirche in Wien vertrat. Es war die
Kampfansage der Habsburger Reaktion an die deutsche
Nationalversammlung, die höhnische Enthüllung der Ohnmacht
des Parlaments und der tiefen Verachtung...”xxxvi
Der demokratische Publizist Hermann Jellinek wiederum
wurde den Juden zur Warnung erschossen, die in der
demokratischen Intelligenz überrepräsentiert waren. Er
schrieb vor seiner Hinrichtung: “Ideen können nicht
erschossen werden.”
Wenige Tage nach dem Fall Wiens rückten die Truppen
General Wrangels in Berlin ein. Die Bürgerwehren
verzichteten auf bewaffneten Widerstand. Die Bürgerwehr wurde
aufgelöst und entwaffnet und der preußische Landtag
auseinandergejagt.
Die Nationalversammlung verurteilte diese Vorgangsweise,
wandte sich dann aber mit ihrer ganzen Energie der Arbeit
an der Verfassung zu, die am 28. März 1849 beschlossen
wurde. Die Versammlung hatte sich für die “kleindeutsche
Lösung” (Deutschland unter Ausschluß Österreichs)
entschieden. An der Spitze Deutschlands sollte ein Erbkaiser
stehen. Die Krone wurde dem Preußenkönig Friedrich
Wilhelm IV. angetragen. Dieser aber wollte “keine
Kaiserkrone, die ,mit dem Ludergeruch der Revolution‘
behaftet sei, keine ,Schweinekrone‘, keine ,Wurstbrezel, die nicht
von Gottes Gnaden, sondern von Meister Bäcker oder Meister
Geschichte
Wie es im Frühjahr
1849 in verschiedenen
Teilen Deutschlands
zu einer letzten
erfolglosen Erhebung
kam
Wie Franz Joseph
seinem Onkel
Ferdinand auf den
Thron folgte und dem
Konstitutionalismus
den Garaus machte
i
31
Metzger‘ käme, kein ,Halsband aus ungegerbtem Leder, womit
man den König von Preußen an die Revolution binden will‘”.xxxvii
Im Frühjahr 1849 kam es in verschiedenen Teilen
Deutschlands (preußische Rheinprovinz, Sachsen, Baden Pfalz)
zu Volkserhebungen, die unter der Bezeichnung
“Reichsverfassungskampagne” in die Geschichte eingegangen
sind. Am 23. Juli wurde Rastatt, die letzte von den
Aufständischen gehaltene Festung, von preußischen Truppen
genommen.
In Österreich folgte Anfang Dezember 1848 Kaiser Franz
Joseph seinem Onkel Ferdinand, dem “Gütigen”, auf den
Thron. (“Gütig”: Ferdinand soll z.B. auf die Nachricht, daß die
Wiener sich erhoben hätten, gesagt haben “Ja, dürfens denn
das?”) Franz Joseph löste den Reichstag in Kremsier auf (7.
März 1849) und oktroyierte eine Verfassung, die ihm ein
Notverordnungsrecht vorbehielt und die gesamte Verwaltung
strikt an ihn und seine Regierung band. Seit (SylvesterPatente)1851 hielt er nicht einmal mehr den Schein des
Konstitutionalismus aufrecht: Seit August 1851 ist der
Ministerrat nurmehr dem Monarchen verantwortlich.
Adel, Geistlichkeit und »Dritter Stand« der Nichtprivilegierten, unter denen die
Bourgeoisie die führende Rolle spielte. Alleiniges Recht der Bewilligung
allgemeiner Steuern. Erstmals 1302 und zuletzt 1614 einberufen
ii
) Dantine, 197f
iii
Poliakov, 275
iv
Poliakov VI, 186
v
) Dantine, 184
) Dantine, 202
vi
vii
zit. nach Grab, 90
viii
) Dantine, 192
ix
) 22
x
)9
xi
) 21
xii
) 59
xiii
) Maurice Lévy-Leboyer: Les banques européennes et l'industrialisation dans la première moitié du
XIXe siècle, Paris 1964, S. 178. Zitiert nach: Holzapfel, S. 78f
xiv
) 31
xv
) Karl Marx, Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, MEW 7, S. 12
xvi
) Karl Marx, Die Pariser "Réforme" über die französischen Zustände, in MEW 5, S. 449, zit nach
Holzapfel S. 32
Geschichte
xvii
32
) 61
) "Die Finanzaristokratie setzt nach 1830 die Schutzzollpolitik der Restaurationszeit fort. Schutzzölle
... kommen Großagrariern und ... Teilen der Manufakturbourgeoisie zugute. Aber schon während der
Restauration hemmen sie die Einfuhr neuer Techniken und untergraben auf diese Weise die
französische Wettbewerbsfähigkeit." (199)
xix
) 41
xx
) 85
xxi
) 89ff
xxii
) Graf Louis Mathieu Molé, Außenminister Louis Philippes, zit nach 116f
xxiii
) 109f
xxiv
) zit. nach 168
xxv
) 113
xxvi
) 176
xxvii
) 177
xxviii
) 175
xviii
xxix
Wolfgang Häusler, Aufbegehren, 638
xxx
Schubert, Museum 29
xxxi
Engelmann, Wir Untertanen 222
xxxii
Streisand, 188
xxxiii
Häusler, 640
xxxiv
Häusler, 641
xxxv
Manfred Scheuch, Historischer Atlas Österreich, 125
xxxvi
Wir Untertanen, 234f
xxxvii
Wir Untertanen, 237f
Zugehörige Unterlagen
Herunterladen