Wenn Tiere gehen Aufbruch und Abschied Was wissen wir über das Sterben? Wenig! chern geschrieben. Mit dem Sterbevorgang beginnt sich die medizinische Wissenschaft erst all- Die alten Griechen mählich zu befassen. Die östliche Medizin, Die alten Griechen unterschieden zwei Arten von insbesondere die tibetische Medizin hat sich da- Sterben und Tod: gegen intensiv mit dem Sterbevorgang auseinan- Der gute Tod; der Tod der an der Zeit ist, wie der dergesetzt (Totenbücher: Beschreibungen des Schlaf. Versinnbildlicht durch Thanatos, den Gott Sterbevorganges, bis über den Tod hinaus). des sanften Todes. Er ist der Zwillingsbruder von Geburt und Sterben sind Parallelvorgänge in der Hypnos, dem Gott des Schlafes. Natur. Beides sind physiologische Vorgänge, für Im Gegensatz dazu steht die Göttin Ker, die Göt- die die Natur Vorkehrungen getroffen hat. So- tin des gewaltsamen, vorzeitigen Todes; der Tod wohl die Geburt wie auch das Sterben laufen ge- der Lebewesen aus dem Leben reisst. ordnet ab. Beide Vorgänge zeigen einen Die alten Griechen sprachen auch von der «Eu- wellenartigen (wehenartigen) Verlauf. Je besser thanasie» (der gute Tod: eu = gut; thanatos = wir diese Vorgänge verstehen, umso gezielter der Tod). Sie meinten damit das Bewirken eines können wir eingreifen und da helfen, wo es wirk- guten Sterbens bzw. die Erleichterung des Ster- lich nötig ist. Die moderne Medizin mit ihren bens. grossartigen Errungenschaften hat leider die Tendenz sowohl bei der Geburt, wie auch beim Ster- Sterbephasen aus der Sicht ben zunehmend häufiger, zunehmend intensiver der traditionellen chinesischen Medizin und teilweise auch zunehmend unnötiger einzu- Die chinesische Medizin befasst sich auch mit greifen. dem («guten») Sterbeprozess. Nachfolgend geht Genauso wenig wie Alter keine Krankheit ist, ist Frau Dr. Keller (Tierärztin mit Zusatzausbildung auch der Sterbevorgang keine Krankheit, sondern in traditionell chinesischer Medizin für Tiere, ein Naturgesetz. Die Aufgabe des Arztes dabei ist TCVM) auf den Sterbeprozess unter diesem Ge- nicht nur das (Be-)Handeln, sondern vielmehr sichtspunkt näher ein. das Erkennen und Begleiten. So kann manches Im Leben gibt es zwei fundamentale Vorgänge, Mal ein liebevolles Unterlassen einem intensiven die uns alle betreffen: die Geburt und das Ster- Eingreifen überlegen sein. ben. Über die Geburt und den Geburtsvorgang Eine alte, sehr ehrliche Beschreibung des Arzt- wissen wir sehr viel. Hunderttausende von Publi- berufes lautet folgendermassen: Heilen manch- kationen wurden verfasst, tausende von Lehrbü- mal, lindern oft, trösten immer. Sterbephasen rung aber noch aufgenommen. Die Tiere begin- Sterben bedeutet das Versagen der Organfunktio- nen sich zurückzuziehen, halten sich z.B. am nen, das Sistieren des Stoffwechsels, das Erliegen Rande einer Gruppe, eines Rudels auf. Parallel zur der Atem- und Herztätigkeit sowie zuletzt das Er- schwindenden Körperkraft beginnt auch der Geist liegen der Hirnströme. Sterben bedeutet aber seine Konzentration zu verlieren. «Der Geist ver- auch das Ablösen des Bewusstseins vom Körper. liert seine Erdung». Das Gleichgewicht von Energie und Materie, das Diese Phase kann Wochen bis Monate dauern. In das Leben kennzeichnet, verschiebt sich zugun- dieser Zeit scheint sich der Körper mit der Krank- sten der Energie, die Körperkräfte schwinden. Der heit arrangieren zu können. Das bedeutet auch, Sterbevorgang ist wellenförmig und sein Verlauf es handelt sich um eine schwierige Zeit sowohl so individuell wie die Geburt. Energetisch werden für den Tierarzt, wie auch für den Tierbesitzer. die im folgenden beschriebenen Sterbephasen Gemeinsam schwebt man zwischen Hoffen auf immer durchlaufen, sie dauern jedoch individuell eine Genesung und dem Abfinden mit einem Ver- unterschiedlich lange. Der Sterbeprozess verläuft lust. nicht streng linear. Aus den ersten Sterbephasen ist eine vollständige Umkehr – manchmal auch nur eine Umkehr auf Zeit – möglich. Die Sterbephasen werden hier rein bildlich beschrieben, ohne Berücksichtigung von einzelnen Stoffwechselvorgängen an den verschiedenen Organsystemen. Zur Veranschaulichung werden Bil- 2. Sterbephase: Wasser der aus der Natur verwendet: die uns allen Es kommt zu einem Fortschreiten des Auflö- wohlvertrauten Elemente Erde, Wasser, Feuer, sungsprozesses, zu einer weiteren Verdünnung. Luft. Der Körper verliert zunehmend seine Kontrollfunktionen (Harninkontinenz, Stoffwechsel, hormonelle Regelkreise, Kontrolle des Geistes). War in der ersten Sterbephase ein äusserer Rückzug zu beobachten, so beginnt jetzt ein innerer Rückzug. Ganz eindeutig und deutlich kann dies am Blick des Patienten erkannt werden, der sei- 1. Sterbephase: Erde nen Fokus verliert. Häufig wird in dieser Phase Das Element Erde steht sinnbildlich für die Kör- die Nahrungsaufnahme verweigert. In der Folge perlichkeit (Bauenergie, Fleisch, Muskeln). In kommt es zum Erlahmen von Stoffwechselvorgän- dieser ersten Sterbephase geraten die Elemente, gen. Dadurch fallen andere Stoffwechselprodukte die Lebensenergien in Disharmonie. Der Körper an, die auch eine Veränderung der Ausdünstung verliert an Kraft und Gewicht. Oft wird ein wech- bewirken. selnder Appetit beobachtet, generell wird Nah- Typisch in dieser Phase ist auch eine emotionale Aufruhr beim Patienten. Es können Unruhe und Angstzustände auftreten. Zudem treten in dieser Phase oft auch körperliche Schmerzen auf, die den Einsatz von schmerzlindernden Medikamenten sinnvoll machen. Diese zweite Phase dauert 4. Sterbephase: Luft in der Regel Stunden bis Tage. «Die Ruhe nach dem Sturm» Das Atemmuster verändert sich. Das Einatmen wird kürzer, das Ausatmen länger, bis es mit einem letzten langen Ausatmen zum Atemstillstand kommt. Westlich medizinisch gesprochen tritt in dieser Phase der klinische Tod ein (Atemstillstand, Herzstillstand, versiegen der Hirn- 3. Sterbephase: Feuer ströme). Energetisch betrachtet löst sich das Es handelt sich hier um die schwierigste Phase, Bewusstsein vom Körper. Häufig hat man den in der die letzten Energiereserven des Körpers Eindruck, dass der Körper geschrumpft ist und aufgebraucht werden müssen. Wie das Bild des klein erscheint. Das Gesicht nimmt oftmals fast Elementes Feuer uns vermittelt, nimmt jetzt die welpenhafte Züge an. Hitze überhand. Die Patienten zeigen ein fiebriges Aussehen, manchmal auch ein Leuchten. Der 5. Sterbephase Blick scheint aber ins Leere zu gehen. Die Ster- Die innere Auflösung wird weitergeführt und ab- bephase Feuer stellt ein letztes Aufblühen dar. geschlossen. Bildlich, symbolisch betrachtet Alle physischen Kräfte werden mobilisiert, nicht kann man diesen Vorgang beschreiben mit den selten zeigen Tiere, die vorher jede Nahrung ver- Worten: Luft geht in Äther ein. Beim Tier ist die- weigert haben plötzlich wieder Interesse am Futter oder nehmen sogar wieder Nahrung auf. In der Feuerphase sind die Wahrnehmung und das Empfinden des Patienten zum Teil sehr stark überhöht. Es ist deshalb wichtig die Tiere möglichst ruhig zu halten. Sozialpartner (Besitzer), die in dieser Phase zu stark klammern, nicht loslassen können, stellen ein grosses Stressmoment dar. Auch in dieser Phase können körperliche Schmerzen auftreten, die beachtet und behandelt werden sollen. In der Regel ist die Feuerphase von kurzer Dauer. ser Vorgang meist schnell vollzogen, häufig Ziel haben, sondern eine Linderung und eine Be- schon mit dem letzten Atemzug. Als Besitzer gleitung (wir erinnern uns an die alte Beschrei- kann man in dieser Phase eine intensive energe- bung des Ärzteberufes: heilen manchmal, lindern tische Präsenz des verstorbenen Tieres spüren. oft, trösten immer!). Ein Grossteil der palliativen Betreuung wird durch den Tierbesitzer gemacht. Begleitung durch den Tierbesitzer und durch den Tierarzt Palliative Medizin, Euthanasie, Tierschutz Die wichtigste Begleitung ist die liebevolle Be- Wie bereits erwähnt beinhaltet die Palliativme- treuung des Tieres durch den Tierbesitzer. Es dizin alle Behandlungsformen, die der Verbesse- kann schwierig sein, die Grenze zwischen liebe- rung des Wohlbefindens dienen. Unter anderem voller und schonender Begleitung und einer zu sind dies folgende Massnahmen: behütenden Betreuung im Einzelfall zu finden. Eine zu behütende Betreuung wirkt einengend Schmerzlinderung und klammernd auf den Patienten, eine zu be- Eine Schmerztherapie erfolgt auf verschiedenen sorgte, bedauernde oder gar betrauernde Betreu- Ebenen. Einerseits stehen verschiedene Medika- ung belastend mente unterschiedlicher Wirkstofffamilien zur empfunden. Hilfreich in der Begleitung eines Pa- Verfügung. Daneben ist aber vor allem auch an tienten kann es sein, sich gemeinsam an gute eine manuelle Therapie zu denken. Dazu gehören Zeiten zu erinnern (gemeinsame Erlebnisse, An- Akupunktur, Physiotherapie, Osteopathie, Tuina ekdoten aus dem Leben, eventuell kann auch ein (Massage) u.a. wird vom Patienten als Lieblingsplätzchen gemeinsam aufgesucht werden). Gespräche mit anderen Tierbesitzern, mit Anpassung der Ernährung Freunden und mit dem betreuenden Tierarzt sind Die Ernährung ist prinzipiell der Grunderkrankung im Prozess des Loslassens wichtig. anzupassen. In der palliativen Phase darf ein Die Begleitung durch den Tierarzt soll immer dem strikter Ernährungsplan aber schon etwas aufge- Einzelpatienten und der momentanen Situation weicht und angepasst werden. Häufig ist es angepasst sein, auch unter Berücksichtigung des zudem sinnvoll mehrere kleinere Portionen über gesamten Umfeldes des Patienten. Ist die Thera- den Tag verteilt anzubieten. Das Erwärmen der pie anfänglich stark von einem spezifischen Nahrung kann die Akzeptanz und auch die Ver- Krankheitsbild geprägt, so verlagert sie sich im träglichkeit verbessern. Auch die Ergänzung Verlaufe des Sterbeprozesses hin zu einer pallia- durch Heilkräuter kann hilfreich sein. tiven Therapie. Der Begriff «palliativ» hat seine Wurzeln in der lateinischen Sprache. Pallium Beim Verlust des Tagesrhythmus heisst der Mantel, palliare bedeutet soviel wie Oft kommt es zu einem für Tier und Besitzer be- mit einem Mantel bedecken (schützend umhül- lastenden Verlust des Tagesrhythmus. Es gibt Me- len). Unter Palliativmedizin versteht man alle Be- dikamente die hier zum Einsatz kommen können. handlungsformen, die nicht eine Heilung zum Daneben haben komplementäre Therapieformen, wie die Akupunktur einen kanalisierenden und Ängste nehmen rhythmisierenden Effekt auf die Lebensenergie. Ängste und Sorgen müssen eigentlich nur beim Mittels Akupunktur kann hier aber nur mit den Tierbesitzer genommen werden. Tiere, die sich im noch vorhandenen Energien gearbeitet werden, Sterbeprozess befinden, scheinen nicht angstvoll es ist nicht möglich neue Energie zuzuführen. oder besorgt. So gesehen können wir von unse- Unter den Heilkräutern ist v.a. die Mistel bekannt ren Tieren lernen wie man stirbt. Tiere lassen in für ihren rhythmisierenden Effekt. Eine Mistel- der Regel leicht los, wenn wir sie denn loslassen. therapie kann somit einen grossen palliativen Ängste und Sorgen des Besitzers belasten die Pa- Wert haben. tienten aber stark. Deshalb ist es wichtig dem Besitzer Ängste zu nehmen, seine Sorgen anzu- Anpassung der Umgebung hören. Es ist besonders darauf zu achten, dass Futter und Wasser leicht und problemlos erreichbar Und wenn es zu schwer wird für den Patienten sind. Bei Katzen gilt das Gleiche auch für das und für den Besitzer Katzenkistchen (das besonders bei geschwächten Der ganze Sinn der palliativen Medizin besteht und weniger beweglichen Tieren auch unbedingt im Aufrechterhalten einer akzeptablen Lebens- gross genug und nicht mit zu hohem Rand aus- qualität und nicht primär in einer Lebensverlän- gestattet sein sollte). Es sollten verschiedene gerung. (Tatsächlich hat eine gute ganzheitliche Liegebereiche und Bettchen, die ebenfalls pro- palliative Therapie oftmals auch einen lebensver- blemlos erreichbar sind, angeboten werden. Je längernden Effekt). Wenn die Lebensqualität aber nach Charakter und Zustand des Patienten wer- stark eingeschränkt ist, darf in der Veterinärme- den Schlaf- und Ruheplätzchen ganz nah beim dizin euthanasiert werden. Starke Atemnot, nicht Besitzer oder aber auch eher etwas abgeschieden kontrollierbare Schmerzen, tiefer Erschöpfungs- bevorzugt. Das Einrichten von Stufen und Trep- zustand am Ende einer chronischen Erkrankung, pen kann Katzen helfen höhergelegene Plätzchen die Ausgrenzung aus dem Rudel sind nur einige zu erreichen. Hunde können zum Beispiel mit offensichtliche Gründe für eine Euthanasie. einem Tuch beim Überwinden von Stufen oder Mit der Euthanasie setzen wir Tierärzte dem beim Einsteigen ins Auto unterstützt werden. Das heute Machbaren eine ethische Grenze und er- Wärmeempfinden und das Wärmebedürfnis kann möglichen dem Tier ein würdevolles Gehen. im Verlaufe des Sterbeprozesses ändern, weshalb man sorgsam auf die Umgebungstemperatur ach- Dr. med. vet. Katharina Keller, ten sollte. Nicht immer werden Decken toleriert, Tierärztin, Akupunktur TCVM obwohl ein Wärmebedürfnis besteht. Wärmekis- www.tierklinik-rhenus.ch sen oder Wärmelampen dürfen aber nur unter Kontrolle angewendet werden, da sich geschwächte Tiere oft einer zu starken Wärmezufuhr nicht mehr entziehen können. Frühling 2013