Fertigkeiten, Bildung und lebenslanges Lernen Im 21. Jahrhundert gelten Fertigkeiten und Humankapital allgemein als Rückgrat des wirtschaftlichen Wohlstands und sozialen Wohlergehens. Der frühzeitige Erwerb von Grundfertigkeiten im sprachlichen Bereich, in Lesen, Schreiben, Rechnen und Informatik ist für die Teilhabe an der Gesellschaft und der Arbeitswelt unabdingbar. Durch Bildung, Entwicklung von Kompetenzen und lebenslanges Lernen können die Menschen die Chancen, die neu entstehende Wirtschaftszweige und sich rasch verändernde Arbeitsmärkte bieten, am besten nutzen. Herausforderungen 2014 verfügten 23,1 % der 20- bis 64-jährigen Unionsbürgerinnen und -bürger bzw. 26,4 % der Bevölkerung im Euro-Raum nicht über einen Abschluss der Sekundarstufe II, und rund 70 Millionen Erwachsene im erwerbsfähigen Alter besaßen unzureichende Lese-, Schreibund Rechenfähigkeiten. Viele europäische Schüler verlassen das Bildungssystem zu früh (siehe Abbildung 1). 2014 lag der Anteil der frühzeitigen Schulabgänger bei 11,2 %. Bei den benachteiligten Bevölkerungsgruppen ist sie höher: So beträgt sie bei außerhalb der EU geborenen Jugendlichen beispielsweise 21 % und ist damit doppelt so hoch wie bei EU-Bürgern. Darüber hinaus schlossen im Schnitt nur 3,6 % der Europäer die Sekundarstufe II im Erwachsenenalter ab (nach Vollendung des 25. Lebensjahres). Der Anteil der Bevölkerung mit einem tertiären Bildungsabschluss liegt im Bereich von 24 % in Italien bis 53 % in Litauen. Abbildung 1: Anteil der gering qualifizierten Erwachsenen und frühzeitigen Schulabgänger (in %), 2014 60 50 40 % 30 20 10 PT MT ES IT EL RO EA19 BE NL EU28 FR DK CY UK IE BG LU HU SE HR AT SI DE FI LV EE SK PL CZ LT 0 low-qualified adults early school leavers Quelle: Eurostat. 20- bis 64-Jährige mit einem niedrigeren Abschluss als dem der Sekundarstufe I (ISCED-2011-Level 0-2); frühzeitige Schul- und Ausbildungsabgänger im Alter von 18 bis 24 Jahren. Legende low-qualified adults gering qualifizierte Erwachsene early school leavers frühzeitige Schulabgänger Die Qualifikationslücken und die Diskrepanz zwischen Qualifikationsangebot und Qualifikationsnachfrage (Überqualifizierung, Unterqualifizierung, Mangel an geeigneten 1 Fähigkeiten) sind nach wie vor groß. Aus der Cedefop-Erhebung1 zu den Qualifikationen und Arbeitsplätzen in Europa geht hervor, dass 2014 bei rund 45 % der Beschäftigten in der EU ein Ungleichgewicht zwischen Qualifikationsangebot und -nachfrage herrschte: 5 % der Arbeitnehmer fühlten sich für ihre Tätigkeit unterqualifiziert und 39 % überqualifiziert. Für die Betroffenen und die Unternehmen bringt dieses Ungleichgewicht erhebliche wirtschaftliche und soziale Kosten mit sich. In den letzten Jahrzehnten hat die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung besseren Zugang zur Bildung erhalten und höhere Bildungsabschlüsse erlangt, wodurch sich die Chancen für alle verbessert haben, doch die Entwicklung von Grundkompetenzen wird nach wie vor maßgeblich vom sozio-ökonomischen Status bestimmt. Die steigende Nachfrage nach höheren Qualifikationen auf dem Arbeitsmarkt spiegelt sich in den Mitgliedstaaten noch nicht in den Beteiligungsquoten am lebenslangen Lernen wider2. Im Jahr 2014 verfügten 21 Mitgliedstaaten über eine umfassende Strategie zur Validierung der Lernergebnisse. Bei der Validierung werden sämtliche Kenntnisse, Fähigkeiten und Kompetenzen einer Person anerkannt, unabhängig davon, ob sie inner- oder außerhalb des formalen Bildungssystems erworben wurden. Nach wie vor nehmen nur wenige Absolventen beruflicher Aus- und Weiterbildungslehrgänge ein Studium auf. Modul- oder Kurzlehrgänge, die an die Bedürfnisse der Arbeitnehmer angepasst sind, fehlen sowohl in den Aus- und Weiterbildungslehrgängen als auch in der Hochschulbildung, und zu selten werden offene Bildungsressourcen (frei zugängliche Lehr- und Lernmaterialien im Internet) zur Höherqualifizierung genutzt. Situation auf EU-Ebene Nach Artikel 165 und 166 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union führt die Union eine Politik der beruflichen Bildung durch und trägt zur Entwicklung einer qualitativ hochstehenden Bildung dadurch bei, dass sie die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten fördert und deren Maßnahmen unterstützt und ergänzt. In der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist festgelegt, dass jede Person das Recht auf Bildung einschließlich der unentgeltlichen Teilnahme am Pflichtschulunterricht sowie auf Zugang zur beruflichen Ausbildung und Weiterbildung hat. Seit dem Rat von Lissabon im Jahr 2000, der lebenslanges Lernen als wesentlicher Bestandteil des europäischen Sozialmodells forderte, wurden in mehreren Empfehlungen des Rates die Bedingungen für lebenslanges Lernen und die Schlüsselelemente des lebenslangen Lernens verbessert: Dies waren die Empfehlungen zu Schlüsselkompetenzen für lebensbegleitendes Lernen3, für politische Strategien zur Senkung der Schulabbrecherquote4, zur Einrichtung des Europäischen Qualifikationsrahmens für lebenslanges Lernen5, eines Referenzinstruments zum Vergleich des Qualifikationsniveaus verschiedener Qualifikationssysteme und zur Förderung des lebenslangen Lernens sowie zur Validierung 1 Europäisches Zentrum für die Förderung der Berufsbildung (CEDEFOP) (2015), „Skills, qualifications and jobs in the EU: the making of a perfect match?“. 2 Siehe spezielles Arbeitsblatt zu den sicheren Berufsübergängen. 3 http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32006H0962&from=DE 4 http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:C:2011:191:0001:0006:de:PDF 5 http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32008H0506(01)&from=DE 2 nichtformalen und informellen Lernens6. Die Strategie Europa 2020 enthält ein zweifaches Leitziel: die Reduzierung des Anteils der frühzeitigen Schulabgänger auf unter 10 % und das Erreichen einer Quote von mindestens 40 % der 30- bis 34-Jährigen mit tertiärem Bildungsabschluss. Der strategische Rahmen für die europäische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der allgemeinen und beruflichen Bildung 20207 enthält als Zielvorgabe, den Anteil der Personen mit unzureichenden Kenntnissen in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften auf unter 15 % zu senken und einen Anteil der am lebenslangen Lernen teilnehmenden Erwachsenen von 15 % zu erreichen. In den EU-Leitlinien für beschäftigungspolitische Maßnahmen der Mitgliedstaaten8 wird die Verbesserung des Arbeitskräfteangebots, der Fähigkeiten und Kompetenzen gefordert. Situation in den Mitgliedstaaten In allen Mitgliedstaaten besteht Schulpflicht bis zum Alter von 15 oder 16 Jahren, nur in den Niederlanden und in Portugal gilt sie bis zur Vollendung des 18. Lebensjahrs. Alle Mitgliedstaaten haben Maßnahmen zur Reduzierung des Anteils der frühzeitigen Schulabgänger eingeführt, die jedoch nicht immer die vorgegebenen Ziele erreichen. In mehreren Mitgliedstaaten bestehen Möglichkeiten des zweiten Bildungswegs, die den Abschluss der (allgemeinbildenden oder berufsbildenden) Sekundarstufe ermöglichen, doch sie bieten Arbeitnehmern, die auf flexible Arbeitszeiten und Modulkurse angewiesen sind, nur eingeschränkte Wahlmöglichkeiten. In den meisten EU-Mitgliedstaaten besteht im Bildungs- und Ausbildungssystem eine Strategie oder ein Konzept für lebenslanges Lernen. Diese sind jedoch mitunter nur für eine begrenzte Dauer konzipiert. Beim Erreichen der Zielvorgabe für das lebenslange Lernen werden nur langsam Fortschritte erzielt; die Beteiligungsquote lag 2014 bei 10,7 % und war in den einzelnen Ländern unterschiedlich hoch (siehe Abbildung 2). In sechs Mitgliedstaaten wird das Recht auf Zugang zu formaler Bildung (zumindest für bestimmte Bevölkerungsgruppen) über das Pflichtschulalter hinaus verlängert. Andere Bereiche, die weiterentwickelt werden, umfassen individualisierte Lernkonzepte, Anleitung, Mentorenoder Tutorenbetreuung, die Aus- und Weiterbildung von Lehrern und Möglichkeiten zur Gewährleistung eines besseren Übergangs von der Schule zum Beruf, beispielsweise durch Ausbildungsplätze. Abbildung 2: Beteiligung Erwachsener am lebenslangen Lernen, Altersgruppe 25 bis 64 Jahre 6 http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32012H1222(01)&from=DE http://ec.europa.eu/education/policy/strategic-framework/index_de.htm 8 Beschluss (EU) 2015/1848 des Rates vom 5. Oktober 2015. 7 3 Quelle: Eurostat - Arbeitskräfteerhebung 2015 Internationale Dimension In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 heißt es: „Jede Person hat das Recht auf Bildung“. Im Internationalen Pakt der Vereinten Nationen über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966 wird das Recht eines jeden auf Bildung anerkannt und werden konkrete Angaben zum Primar-, Sekundar- und Hochschulbereich gemacht. Im Übereinkommen über die Rechte des Kindes von 1998 wird dieses Recht für alle Bildungsebenen genau festgelegt. In der Europäischen Sozialcharta des Europarates wird das Recht eines jeden auf berufliche Ausbildung und Umschulungen für erwachsene Arbeitnehmer und Langzeitarbeitslose festgelegt. Das IAO-Übereinkommen Nr. 140 von 1974 schreibt vor, dass jedes Mitglied eine Politik durchzuführen hat, die dazu bestimmt ist, die Gewährung von bezahltem Bildungsurlaub zum Zwecke der Berufsbildung auf allen Stufen zu fördern. Den Nachhaltigen Entwicklungszielen der Vereinten Nationen von 2015 zufolge muss eine gleichberechtigte und hochwertige Bildung für alle gewährleistet werden, die zu brauchbaren und effektiven Lernergebnissen führt, und sichergestellt werden, dass bis 2030 alle Jugendlichen und ein erheblicher Anteil der männlichen und weiblichen Erwachsenen lesen, schreiben und rechnen lernen. 4