EINBLICK KONSENSUSKONFERENZ Universität Mainz, Deutschland, 2014 Experten erzielen Konsens über die optimale Anzahl von Implantaten «Reserve»-Implantate erscheinen nicht mehr sinnvoll Unter der Schirmherrschaft der Foundation for Oral Rehabilitation (FOR) wurde kürzlich eine internationale Konsensuskonferenz zu patientenzentrierten Versorgungskonzepten und zur optimalen Implantatanzahl bei Zahnlosigkeit. In diesem Artikel berichten die Moderatoren über die Ergebnisse. Wilfried Wagner, Prof. Dr. med. Dr. med. dent., Daniel van Steenberghe, M.D., Ph.D., Dr. h.c., HFRCS (Irl) DIE FOUNDATION FOR ­ ORAL REHABILITATION (FOR) ist eine unabhängige, internationale Initiative. Sie vereint Spezialisten verschiedener Disziplinen, um die orale ­Gesundheitsversorgung zu verbessern und unterstützt humanitäre Führung. HINTERGRUND Dieser Artikel ist eine Zusammen­ fassung der Konsensuskonferenz, die am 27. und 28. März 2014 an der ­Universität Mainz abgehalten wurde. Die Experten von links nach rechts: Gerry Raghoebar, Bernhard Pommer, Claudia Dellavia, John Brunski, Wilfried Wagner, Daniel van Steenberghe, Emeka Nkenke, Massimo Del Fabbro, Bilal Al-Nawas, Regina Mericske-Stern, und Georg Watzek. Gegenstand der Konferenz waren patientenzentrierte Versorgungs­ konzepte und optimale ­Implantatanzahl bei Zahnlosigkeit. Detaillierte Ergebnisse und Analysen Der Verlust von Zähnen und der sie um- qualität nach sich und stellt ein Problem können im «European Journal of gebenden Gewebe kann als eine Form der oralen Gesundheit dar, denn auch Oral Implantology, Volume 7 / Supple- der Amputation gesehen werden. Zahn­ wenn die Zahnlosigkeit zurückgeht, wird ment 2, Summer 2014» nachgelesen losigkeit zieht oft einen Verlust an Lebens- dies durch die rasante Zunahme der werden. WWW.FOR.ORG FOR FORSCIENCE SCIENCE EINBLICK KONSENSUSKONFERENZ Universität Mainz, Deutschland, 2014 ­kontrollierte Studien beschränkte, sondern auch retrospektive und prospektive ­Kohortenstudien einbezog (um zu vermeiden, dass signifikante klinisch relevante ­Informationen unberücksichtigt bleiben). Die Ergebnisse zirkulierten in der Expertengruppe, die sich später zwei Tage lang an der Universität Mainz persönlich traf, um einen Konsensustext zu verfassen. PATIENTENZENTRIERTER ANSATZ Als die Verwendung von oralen Implan­ taten zur Abstützung von Zahnersatz in den achtziger Jahren allmählich Rou­tine wurde, war es üblich, gleich eine g ­ rößere Anzahl von Implantaten zu setzen. Die Ein zahnloser Ober- und Unterkiefer, versorgt mit Prothesen auf jeweils 6 Implantaten. Mit freundlicher Überlegung dahinter war, dass beim Ver- Genehmigung von Dr. Enrico Agliardi. sagen eines Implantats keine Notwendigkeit bestünde, dieses zu ersetzen, da die Zahl der älterer Menschen ausgeglichen. ­implantatgetragene Versorgungen. verbleibende Implantate hoffentlich aus­ Als Folge der zufälligen Entdeckung Wissenschaftliche Daten zu diesem reichen würden, die fest­sitzende Versor- der Osseointegration durch Per-Ingvar ­Problem sind verfügbar, aber die Anzahl gung zu tragen. ­Brånemark wurden transmukosale Titan­ der Implantate, die zur Abstützung oder Heute ist durch verbesserte Implantat­ implantate möglich, die Zahnersatz dauer­ Retention einer prothetischen Versorgung oberflächen und bewährte Protokolle die haft abstützen können. Orale Implantate benötigt wird, ist in einigen Teilen der Welt Versagenshäufigkeit von Implantaten so unterliegen beim Kauvorgang oder in noch immer Gegenstand von Debatten. gering, dass die Platzierung zusätzlicher ­Parafunktion erheblichen Belastungen Implantate, nur um eventuelle chirurgische – häufig über 30 kg. Dieser Aktion muss Die global präsente Foundation for Oral Revisionen zu vermeiden, nicht mehr sinn- eine ­entsprechende Reaktion an der Rehabilitation (FOR) hatte daher ein aus voll erscheint. Die für die jeweilige Situation ­Kontaktfläche zwischen Knochen und acht Experten bestehendes internatio­ optimale Implantatanzahl sollte ausschließ- Implantat entgegenwirken, wodurch sich nales Team eingeladen, verschiedene lich in einem patientenzentrierten Ansatz Grenz­flächenspannungen ergeben. Da ­Aspekte der Rehabilitation des zahnlosen bestimmt werden. Zur Frage der Mindest­ sich während der Einheilphase und auch Kiefers zu hinterfragen und zu beleuch- anzahl von Implantaten verglich eine sonst im Laufe der Zeit diese Kontakt­ ten. Die von ihnen gesichtete und ­über­­­- ­Studie (Brånemark P-I et al., Clin Oral Im- fläche verändert, ist es wichtig, zu aus­ prüfte Literatur reichte von Lebens­ plants Res 1995) festsitzenden Zahn­ersatz geprägte Spannungen im Knochen um qualitäts­­analysen über Veröffentlichungen im zahnlosen Kiefer auf 4 bzw. 6 Implan­ das Implantat zu vermeiden. zur Biomechanik und Kieferfunktion bis taten, abhängig vom verfügbaren Kno- Das Ante’sche Gesetz zum Kronen-­ hin zur Prothetik. chenvolumen. Alle Patienten waren in den Wurzel-Verhältnis aus dem Jahr 1926 Jeder der Experten erstellte eine kritische Pionierjahren von Brånemark selbst be- ist schon kaum auf natürliche Zähne Übersicht über die Literatur seines Ge- handelt worden, und die Beobachtungs­ ­anzuwenden – und erst recht nicht auf biets, die sich nicht auf randomisierte zeit betrug jeweils 10 Jahre. Es wurde kein EINBLICK KONSENSUSKONFERENZ Universität Mainz, Deutschland, 2014 statistisch signifikanter Unterschied zwischen den Implantat-Überlebensraten in Fällen mit 4 oder 6 Implantaten gefunden. Diese Ergebnisse widersprachen der ­damals weit verbrei­tete Tendenz, syste­ matisch in jeden zahnlosen Kiefer 6 oder mehr Implantate zu setzen. NEBENWIRKUNGEN BERÜCK­ SICHTIGEN Wenn aufgrund fortgeschrittenen Knochenabbaus nur begrenzt Knochen­ volumen verfügbar ist, kann das Setzen von 6 oder mehr Implantaten zunächst Maßnahmen zur Knochenaugmentation erfordern. Doch sollten die Nebenwirkungen der Knochenentnahme an den ver- Hier wurden auf nur vier Implantaten pro Kiefer präzisionsgefertigte NobelProcera-Gerüste verwendet, schiedenen möglichen intra- und extra­ um den Patienten nach dem All-on-4®-Behandlungskonzept zu versorgen. Mit freundlicher Genehmi- oralen Entnahmestellen nicht unterschätzt gung von Dr. Paulo Maló. werden. Nach einem horizontalen oder vertikalen krestalen Knochenaufbau ist hohe Überlebensraten. Zu beachten wäre zu­friedenheit ergeben. Obwohl eine Morbidität eher die Regel als die Aus- in diesem Zusammenhang auch, dass fest­sitzende Versorgung funktionell dem nahme. Sinusbodenaugmentationen nach distal gekippte (angulierte) Implan- bezahnten Kiefer ähnlicher ist, ziehen ­haben weniger negative Auswirkungen tate helfen, eine ausreichende anteropos- Patienten, die bereits eine Weile zahnlos auf die postoperative Lebensqualität. teriore Fläche aufzuspannen, ohne dass waren, oft eine Deckprothese einer fest­ Bei einem patientenzentrierten Ansatz dies mit mehr marginalem Knochenabbau sitzenden Pro­these vor. sollte das Ziel sein, invasivere Verfahren als um axial stehende ­Implantate verbun- Mehrere Studien berichten, dass schon wie eine Knochentransplantation zu den wäre. ein zentrales Implantat eine Deckpro- ­vermeiden, wenn mit einer begrenzten Die Krafteinwirkungen bei Verwendung these im Unterkiefer stabilisieren kann. ­Anzahl von Implantaten ein ebenso zu­ von 2 axialen und 2 angulierten Implan­ Eine r­ andomisierte kontrollierte Studie an verlässiges Langzeitergebnis möglich ist. taten können sogar geringer sein als bei ­Prothesenträgern, in der ein Implantat im Mindestens sollten die Vor- und Nachteile 4 axialen Implantaten, weil der Abstand Unterkiefer nahe der Mittellinie mit dem von invasiven und weniger invasiven Be- zwischen den Implantaten größer ist und klassischen Zwei-Implantat-Ansatz ver- handlungen mit dem Patienten vorab die Freiendarme kürzer ausfallen können. glichen wurde, ergab keinen Unterschied ­besprochen werden. Bei der Entschei- Berechnungen zeigen, dass das Hinzu- in der Patientenzufriedenheit. Im Ober- dungsfindung sollten auch Alter, Allgemein­ fügen von weiteren Implantaten die Last­ kiefer sollten jedoch Deckprothesen vor- zustand und funktionelle und ­ästhetische verteilung nicht verbessert. zugsweise von 4 Implantaten getragen Anforderungen berücksichtigt werden. Aus den Veröffentlichungen folgt auch, werden, die mit einzelnen ­Locator-­ Bei der Versorgung eines zahnlosen Kiefers dass Deckprothesen im Unterkiefer auf Abutments versehen oder durch eine mit einer festsitzenden Prothese ergeben 2 oder 4 Implantaten hohe Überlebens­ Stegkonstruktion miteinander verbunden sich bei Beschränkung auf 4 Implantate raten haben und eine hohe Patienten­ sind. JOIN FOR AND MAKE A DIFFERENCE TO YOUR PATIENTS’ LIFE FOR FORSCIENCE SCIENCE EINBLICK KONSENSUSKONFERENZ Universität Mainz, Deutschland, 2014 Um eine Knochenaugmentation zu ver- ersatz auf nur vier Implantaten – durch- qualität sollten die leitenden Prinzipien bei meiden, können auch kurze (8 mm oder schnittlich – mehrere tausend Euro der Entscheidung für eine bestimmte weniger) und/oder schmale (3,5 mm oder ­billiger und weniger zeitaufwendig als ­ ­Therapieform sein. In Zukunft sollten Klini- weniger) Implantate eingesetzt werden. die Abstützung auf 5 bis 8 Implantaten ker mehr Augenmerk auf die Anzahl der Ein weiterer möglicher Ansatz ist die (Babbush et al., Impl Dent 2014). Jedoch behandelten Patienten legen als auf die Nutzung extramaxillärer Verankerungen, können ästhetische Gründe die Insertion Anzahl der gesetzten Implantate. zum Beispiel im Jochbein. Auf 2 bis von 6 oder mehr Implan­taten erfordern, 4 Zygomaimplantaten mit oder ohne zu- besonders im Ober­kiefer. sätzliche anteriore Implantate lassen sich Um ohne CAD/CAM-Technik einen passi- festsitzende totale Prothesen zuverlässig ven Sitz einer quadrantenübergreifenden abstützen. Eine solche anspruchsvolle Prothese zu erreichen, kann die Segmen- Behandlung wird aber am sinnvollsten in tierung der Versorgung zwingend erfor- spezialisierten Zentren durchgeführt. derlich sein. In diesem Fall sollten 6 oder Sign in at www.FOR.org or contact the FOR Center team at [email protected] to learn more. mehr Implantate gesetzt werden. Die NUTZEN UND RISIKEN ABWÄGEN ­Konsensusgruppe kam zu dem Ergebnis, Bei der Betrachtung der Alternativen zur dass für eine festsitzende Versorgung im Versorgung des zahnlosen Kiefers sollte zahnlosen Ober- und Unterkiefer 4 bis 6 man Nutzen und Risiken gründlich abwä- Implantate angemessen sind, wenn dies gen. Die Kosten in Form von Schmerzen, keine größeren Augmentationen erfordert. Behandlungszeit und ­Zeiten der erzwun- Als zuverlässige Alternative zu einem inva- genen Nichtteilnahme des Patienten am siveren chirurgischen Vorgehen kann man normalen sozialen und ­beruflichen Leben sich für nur 4 Implantate entscheiden, sind ebenso so ­relevant wie der reine von denen die beiden distalen nach dorsal Geldaufwand. ­ ­geneigt sein sollten, um eine bessere Betrachtet man letzteren, so ist die ­anteroposteriore Kraftverteilung zu errei- ­Abstützung von festsitzendem Zahn­ chen. Patientenzufriedenheit und Lebens- Literatur Brånemark P-I, Svensson B, van Steenberghe D. Ten-year survival rates of fixed prostheses on four or six implants ad modum Brånemark in full edentulism. Clin Oral Implants Res. 1995; 6: 227–231. Babbush et al. Patient-related and financial outcomes analysis of conventional full-arch rehabilitation versus the All-on-4 concept: a cohort study. Impl Dent 2014; 23: 218–224. EXPERTEN UND FACHGEBIETE Bernhard Pommer Patientenpräferenzen John Brunski Biomechanische Gesichtspunkte Regina Mericske-Stern Optimale Anzahl von Implantaten für festsitzende Versorgungen Foundation for Claudia Dellavia Kiefermuskelfunktion Oral Rehabilitation (FOR) Massimo Del Fabbro Marginaler Knochen um axiale bzw. angulierte Implantate Werftestrasse 4 Gerry Raghoebar Optimale Anzahl von Implantaten für Deckprothesen PO 2558 Emeka Nkenke Knochentransplantationen zum Ausgleich der 6002 Luzern 2 Resorption: Pro und Kontra Schweiz Bilal Al-Nawas Knochenersatzmaterial und orale Implantate Telefon: +41 41 248 08 57 Moderatoren: Wilfried Wagner und Daniel van Steenberghe [email protected] www.FOR.org JOIN FOR AND MAKE A DIFFERENCE