Buch 4.indb

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Kapitel 19
PSYCHIATRIE UND PSYCHOLOGIE
19.1 Psychologie des Essens
G. Schüßler
1. Einleitung
Das menschliche Essverhalten ist im Gefüge
von biologischer Notwendigkeit, der Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln, soziokultureller
Bedingungen und der persönlichen Geschichte
des Individuums zu sehen. Das Essen ist eine lebenswichtige, weitgehend automatisierte Funktion, die durch Erfahrung und Lernen entstanden ist und den Menschen nur teilweise bewusst
ist. Essen und Trinken haben eine kommunikative Funktion und erfolgen meist zusammen
mit anderen Menschen. Der Akt des Essens hat
eine hohe emotionale Bedeutung und ist meist
mit lustvoller Befriedigung und Sättigung –
„die anständige Lust“ – verbunden. Essstörungen erwachsen aus diesen Grundbedingungen
(Schüßler, 2005).
2. Soziokulturelle Geschichte des Essens
Vor etwa 150.000 Jahren gelang es dem Menschen, systematisch das Feuer selbst zu entzünden. Um 10.000 v. Chr. begann im Vorderen
Orient das agrarische Zeitalter und damit eine
bessere Absicherung des menschlichen Überlebens und eine Vervielfältigung der Bevölkerung.
Die Ernährung war in Folge für den Großteil der
Bevölkerung eher vegetarisch, wie z. B. in der
griechischen und römischen Antike. Essen – vor
allem tierische Nahrung – war immer mit dem
Akt des Tötens verbunden, aber auch Pflanzen
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waren wie Tiere im magisch-ganzheitlichen Erleben des Menschen Verwandte – man konnte
sich mit Zauberei (oder Seelenwanderung) ineinander verwandeln. So ist in Neuguinea Yams
(ein Wurzelgewächs) und Mensch derselbe Begriff. Verwandte sind zur Solidarität verpflichtet. Menschen erwiesen Tieren Respekt, erlegten
nur soviel Wild wie nötig, vergeudeten nichts,
schonten Muttertiere usf. – trotzdem, die Bilanz
blieb unausgeglichen und suchte religiös nach
Ausgleich. Auch für Pflanzen galt Ähnliches,
sie teilten dasselbe Schicksal. Essen ist folglich
immer ein rituell-magischer Akt für Menschen
gewesen (Hirschfelder, 2001; Müller, 2003).
Im Rahmen eines biopsychosozialen Modells
gehört das Essen sowohl zur Ebene der Natur als
auch zur Kultur. Welche Kriterien die Ernährung erfüllen muss, teilt der Körper jedoch nicht
unmittelbar und eindeutig mit. Tieren ist die
Ernährungsweise weitgehend angeboren, natürlich festgelegt. Da den Menschen – im Gegensatz zu den Tieren – nur wenig Ernährungsweisen natürlich vorbestimmt oder angeboren sind,
ist es möglich sich nur vegetarisch oder beinahe
ausschließlich carnivor zu ernähren. Menschen
müssen kulturelle und soziale Regeln schaffen,
wie man sich „richtig“ ernährt. Aufgrund dieses omnivoren Charakters mit der biologischen
„Nichtfestgestelltheit“ (Nietzsche) auf dem Gebiet der Ernährung sind Menschen von Natur
aus dazu gezwungen, selbst zu bestimmen, also
kulturell auszuwählen und zu bewerten. Bis auf
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Kap. 19.1
G. Schüßler
einige Anzeichen von Essbarkeit wie Giftigkeit,
Unverdaulichkeit und Sättigungsgrad, gibt es
wenig natürliche Kriterien, die Nahrung zu bewerten. Essen ist damit zugleich immer eine natürliche und kulturelle Angelegenheit und lässt
sich im biopsychosozialen Sinne weder auf organische noch auf kulturelle Eigenschaften alleine reduzieren. Plessner (1981) spricht anthropologisch von der Konzeption der „natürlichen
Künstlichkeit“ des Menschen: Der Mensch ist
„von biologischer Eindeutigkeit seines Verhaltens, wie sie Tiere zeigen, zu biologischer Mehrdeutigkeit emanzipiert“ (Plessner, 1981). Die
soziokulturellen Regeln des Essens sind in allen
uns bekannten Kulturen ähnlich:
1. Menschen essen nicht alles, wovon sie sich
ernähren könnten, d. h. sie wählen Lebensmittel in einem soziokulturellen Kontext
aus.
2. Menschen haben in allen Regionen der Erde
Regeln dafür entwickelt, wie aus Lebensmitteln Speisen zubereitet werden („Regionale
Küche“).
3. Essen wird seit Menschengedenken gemeinsam eingenommen, die Mahlzeit symbolisiert Gemeinschaftlichkeit und soziale Zugehörigkeit.
Seit Anbeginn an lebten Menschen in Gruppen,
mit der Familie als Kernform des sozialen Zusammenlebens mit Arbeitsteilung: Jagd – Männer; Sammeln, Hüten des Feuers – Frauen; Ältere
organisierten die Arbeit, religiöse und politische
Aufgaben. Gemeinsam war das Überleben möglich, in traditionellen Gesellschaften wurde nie
alleine gegessen, gemeinsames Essen verbindet
(z. B. Friedensmahl). Durch die Teilnahme an
einer Mahlzeit, das Teilen der Nahrung erwirbt
man Gemeinsamkeit, wird zum Mitglied (mit
dem man das Brot teilt). Bis in die Neuzeit war
die Gemeinsamkeit zu Tisch verbunden mit der
Gemeinsamkeit des Erwirtschaftens, also der
Beschaffung der Nahrung. Über den alltäglichen sozialen Rahmen hinaus hatten Mahlzei-
ten immer eine zentrale Bedeutung als religiöse
Mahlzeiten, Friedens- oder Vertragsmahlzeiten,
Mahlzeiten von sozial Gleichgestellten, Feste
und private Mahlzeiten usw.
3. Sozialisation des Essens
Sozialisation meint den Prozess, in dessen Verlauf sich der mit einer biologischen Ausstattung
versehene menschliche Organismus zu einer
sozial handlungsfähigen Persönlichkeit bildet,
die sich über die Lebensbedingungen weiterentwickelt. Sozialisation ist ein lebenslanger
Prozess. Dieser soziale Prozess prägt unseren
Geschmack („daheim schmeckt‘s am besten“).
Essen unterliegt generell der sozialen Ansteckung (social facilitation): Tiere (Hühner, Rinder, Affen usw.) wachsen in Gruppen gehalten
schneller auf – wenn ein Tier satt ist und ein
anderes hungriges kommt dazu, beginnt auch
das satte wieder zu fressen. Dies gilt auch für
Menschen.
Ab der Geburt ist Nahrungsaufnahme eingebettet in die Interaktion, sie ist untrennbar
verbunden mit Interaktion. Kleine Kinder essen
das, was ihre Eltern gerne essen und dies prägt
in der Regel den Geschmack für ein ganzes Leben. Wenn Kinder die vorgelebte Esskultur ihrer
Eltern reproduzieren, so lernen sie nicht nur die
gesunde, sondern auch die ungesunde Ernährungswelt ihrer Eltern. Kinder entwickeln sich
im Bereich des Essens zu gesünderen Menschen,
wenn sie unter förderlichen Bedingungen aufgewachsen sind, wenn der sozioökonomische
Status der Eltern höher ist und hinreichend
emotionale Zuwendung vorhanden ist. Kinder,
die nicht in intakten Familien aufwachsen, haben ein siebenfach erhöhtes Risiko Adipositas
zu bekommen (Petermann et al., 2003). Wer
hingegen als zwei- bis dreijähriges Kind gelernt
hat mit Lebensmitteln umzugehen, ernährt sich
auch als Jugendlicher oder junger Erwachsener
abwechslungsreich und gesünder (Nicklaus et
al., 2005). Mit zunehmendem Alter schwinden
die elterlichen Einflüsse, das Ernährungsverhal-
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ten wird mehr durch die sozialen Peer-Groups
(gleichaltrige Jugendliche) bestimmt. Nimmt die
in einem Haushalt das Essen zubereitende Person viel Gemüse und Obst zu sich, so tun es auch
Partner und Kinder, isst diese Person hingegen
viel Fett, so essen auch Partner und Kinder viel
Fett. Verstärkt wird dies nochmals, wenn viele
Mahlzeiten gemeinsam eingenommen werden
(Hannon et al., 2003). In der Geschichte des Essens finden sich einige Grundelemente des Essverhaltens, die sich heute – durch den Überfluss
der Nahrung – verändern und auflösen:
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Regelmäßigkeit der Mahlzeiten
sparsamer und sorgsamer Umgang mit Lebensmitteln
saisonale Einflüsse auf das Ernährungsverhalten
Reservierung besonderer Speisen für die
Festtage
die besondere Wertigkeit der Fleischspeisen
die Zuteilung der Nahrungsmengen nach
hierarchischen und sozialen Aspekten
Abhängigkeit der Speisengestaltung vom
Haushaltsbudget
4. Ernährungspsychologie
Die Ernährungspsychologie befasst sich mit drei
grundlegenden Fragen (Silverstone, 1975):
1. Why do we start eating?
2. Why do we stop eating?
3. Why do we eat what we eat?
Der Begriff der Ernährungspsychologie (Nutrition Psychology) hat sich zwar heute eingebürgert, bezieht sich jedoch auf den falschen Begriff,
den der Ernährung, also auf die tatsächliche und
vom Esser erlebten Wirkungen der Nahrung. Mit
dem Begriff Essen wird hingegen im Deutschen
das Gesamte der Nahrungsaufnahme erfasst,
einschließlich aller sozialen Bezüge, des Ambientes und des emotionalen Erlebens während
und vor der Mahlzeit.
Von Geburt an besteht eine differenzierte
Geschmackswahrnehmung mit hoher Präferenz
für Süßes und einer Aversion gegen Salziges, Saures und Bitteres. Erst im Kleinkind- und Grundschulalter werden positive Reaktionen auf salzig und bitter gefunden, die auf Lernerfahrung
zurückgehen (Cowart, 1981). Diese angeborenen
Präferenzen haben sicherlich eine evolutionäre
Begründung „eine sichere und schnelle Energiequelle ist bei süßen Nahrungsmitteln gegeben,
während der Bittergeschmack mit riskanten
Nahrungsmitteln verbunden ist“ (Rozin, 1976).
Die Ausdifferenzierung der Geschmackspräferenzen erfolgt in der frühen und späten Kindheit
und ist durch die Erfahrung mit bestimmten
Speisen und Geschmacksrichtungen gegeben
(„mere exposure effect“). Dieses Erfahrungstraining über viele Jahre hinweg führt zu einer
Gewohnheitsbildung und dies ist zweifelsohne
der wichtigste Grund dafür, dass Essverhalten
ein sehr stabiles nicht in kurzer Zeit zu veränderndes Verhalten ist. Diese Verhaltens- und
Essenskontinuität über Generationen hinweg
hatte bis in die Neuzeit eine hohe positive Überlebensbedeutung, wurde jedoch hochproblematisch, als sich dramatische Veränderungen der
Ernährungsrealität seit dem Zweiten Weltkrieg
(insbesondere das Überangebot an Nahrung)
ergaben. So ist das „Leeressen eines Tellers“ bei
fehlenden Konservierungsmöglichkeiten und
drohender Nahrungsknappheit ein hoch zweckmäßiges Verhalten, ein derart trainiertes Kind
hat jedoch in unserem heutigen Schlaraffenland zwangsläufig Übergewichtsprobleme. Wie
lassen sich die fundamentalen Veränderungen
des Essens im Rahmen der postindustriellen
Nahrungsüberflusskultur beschreiben (Pudel
et al., 2003)? Mit dem Fehlen der existenziellen
Nahrungsmittelnot und Verknappung fehlt das
existenzielle Grunderlebnis der Wertschätzung,
wie unmittelbar Nahrungsaufnahme und Leben
zusammenhängen. Die gemeinsame Mahlzeit
und das emotionale Erlebnis des gemeinsamen
Kochens und Essens tritt mehr und mehr in den
Hintergrund. Der Bezug zum Lebensmittel, sei681
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G. Schüßler
Abb. 1. Sättigungskaskade
nach Blundell (1990)
ner Herkunft, seiner Herstellung wird durch die
industrielle Erzeugung mehr und mehr aufgelöst. Lebensmittel in Supermärkten unterscheiden sich nicht mehr von anderen Konsumartikeln. Insgesamt wird also Nahrung zunehmend
neutralisiert und entfremdet.
5. Hunger, Appetit und Sättigung
Die Nahrungsaufnahme ist ein komplexer psychophysiologischer (biopsychosozialer) Prozess. Appetit und Hunger (Startsignale zum Beginn der Nahrungsaufnahme) sowie Sättigung
(Stoppsignal zur Beendigung der Nahrungsaufnahme) sind die subjektiven Wahrnehmungen,
die das Essverhalten steuern. Menschen sind
jedoch in der Lage zu essen, ohne Appetit zu
verspüren und können ebenso ihre Nahrungsaufnahme beenden, ohne satt zu sein. Appetit
umschreibt eine lustvolle Motivation zu essen,
während Hunger ein existenzielles Verlangen
ist. Hunger und Appetit-Gefühle sind außerordentlich schwer zu erfassen: sie unterliegen
vielfältigen subjektiven Vorerfahrungen und
Annahmen, diese Gefühle sind vollständig subjektiv (also nicht zu objektivieren). Die unterschiedlichen biopsychosozialen Mechanismen,
die zur Sättigung führen, wurden von Blundell
(1990) mit dem Modell der Sättigungskaskade
vorgeschlagen.
Beim Essen führen sensorisch-emotionale
Erlebnisse wie Aussehen („das Auge isst mit“) und
Geschmack zu unterschiedlichem Sättigungserleben: von leckerem und schmackhaftem Essen
wird mehr gegessen; werden Nahrungsmittel mit
einer besonderen, anderen Qualität angeboten,
wird weiter gegessen (z. B. Nachtisch). Kognitive
Prozesse beschreiben die Bewertung des Essens
und des Gegessenen („jetzt müsste es aber genug
sein“). Die postingestionalen Effekte umfassen
die physiologische Abfolge mit Magendehnung,
Entleerungsrate des Magens, Ausschüttung von
Hormonen und die Stimulation von Rezeptoren
im Magen und Dünndarm. Die postresorptiven
Prozesse beschreiben jene Mechanismen, die
durch die Aufnahme der Nahrungsnährstoffe
im Körper ausgelöst werden, so z. B. die Wirkung
von Glukose oder Aminosäuren auf die zentrale
Steuerung des Gehirns. Appetit und Sättigung
sind jedoch erheblich durch Erfahrung und
Lerngeschichte geprägt.
Die Beobachtung, dass das Körpergewicht
von Menschen sich über längere Zeiträume trotz
unterschiedlicher Ernährungsmenge bemerkenswert stabil hält, hat zu der biopsychosozial
begründeten Hypothese des „Set-Points“ geführt, einer Regulationstheorie, die beschreibt
wie das Körpergewicht über Energiezufuhr und
Energieverbrauch im Gleichgewicht gehalten
wird. Wird die Nahrungszufuhr eingeschränkt,
so erfolgt eine Reduzierung des Energieverbrauchs, die deutlich höher ist als durch den Verlust an Körpergewicht vorherzusagen wäre. Die
Set-Point-Theorie ist ein zum Teil befriedigendes
Modell um Gewichtsabweichungen und ihre psychophysischen Konsequenzen zu erschließen,
jedoch nicht in allen Bereichen hinreichend. Die
Set-Point Theorie wird aber einigen Beobachtungen nicht gerecht: Für manche Menschen ist
es schwierig Gewicht zuzunehmen, hingegen ist
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Psychologie des Essens
Abb. 2. Biopsychosoziales
Gefüge des Essens
es für die Mehrzahl allzu leicht ihr Gewicht zu
steigern (Sims et al., 1968). Die Set-Point Theorie
überbewertet somit die Stabilität der Gewichtsregulation (Palmer, 2005).
In der historischen Minnesota-Studie von
Keys et al. (1950) wurde bei gesunden Männern
die Nahrung halbiert; eine Gewichtsreduktion
von 25 % war bei den Männern mit einer Reduktion des Ruheumsatzes von 40 % verbunden. Wenn die jungen Männer nach Ende der
Diät wieder so viel essen durften wie sie wollten, kehrte das Gewicht für die meisten rasch
zum Ausgangsniveau zurück. Es bestehen also
physiologische und psychologische Gegenregulationsmechanismen, die in Richtung einer Gewichtskonstanz wirken und somit die Stabilität
(und damit auch die Überlebensfähigkeit) unter den Bedingungen von Restriktion erhalten.
Durch die erhebliche Einschränkung der Nahrungszufuhr trat bei den gesunden Versuchspersonen nach der Hungerphase von 24 Wochen bei
einem erheblichen Teil Veränderungen der Essgewohnheiten und eine gesteigerte gedankliche
Beschäftigung mit dem Essen auf. Essen wurde
für einige zum zentralen Lebensinhalt. Auch
nachdem die Nahrungsmenge wieder normalisiert wurde, verblieb bei einigen eine schwere
Störung der Sättigungsregulation (HeißhungerAnfälle, Schwierigkeiten Mahlzeiten zu beenden). Auch im psychischen Bereich ergaben sich
bei den Versuchspersonen durch erhebliches
Abnehmen Veränderungen wie Konzentrati-
onsstörungen, sozialer Rückzug, vermindertes
sexuelles Interesse, Stimmungsschwankungen
bis hin zu Depressionen.
In einem weiteren klassischen Experiment
verfolgte man das Ziel, durch Überernährung
eine Gewichtszunahme von 20 – 25 % zu erreichen (Sims, 1976). Für die Mehrzahl der Teilnehmer war eine 4 – 6-monatige Überernährung
notwendig, um die gewünschte Gewichtszunahme zu erreichen. Nur bei einigen, die bereits
ein Vorrisiko trugen (familiäre Vorgeschichte,
Diabetes), kam es zu einer raschen Gewichtszunahme. Nach Rückkehr zur vorher üblichen
Ernährung kehrte das Gewicht der Betroffenen
meist schnell wieder zum Ausgangspunkt zurück.
6. Körperideal
Gesellschaft und Kultur prägen die Vorstellung, wie der eigene Körper ideal und schön erscheine. Galten vor 100 oder 200 Jahren füllige
(in unseren Augen!) Frauen als begehrenswert
und schön, so wird heute von der Mehrzahl der
Frauen ein Body-Mass-Index von 18 – 20 (also an
der unteren Grenze des Normalbereiches) als
ideal und schön bewertet. Für Männer liegt das
akzeptierte Gewicht etwas höher, aber auch hier
werden in der westlich-postindustriellen Gesellschaft zunehmend höhere Gewichtsbereiche
sozial abgewertet und ein Fitness- und Schlankheitsideal aufgebaut.
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G. Schüßler
7. Was essen wir?
Zu allen Zeiten haben Menschen gewusst, dass
zwischen dem was und wie man isst und wie
man sich fühlt ein Zusammenhang besteht.
Essen war immer ein Mittel um Missbehagen
zu beenden und Wohlbefinden herzustellen
(jenseits der Befriedigung des Hungers). Dieses
grundlegende individuelle Ernährungswissen
hat sich im Laufe der Geschichte zu zwei unterschiedlichen Arten von Ernährungswissen erweitert:
r
r
die bereits in der Antike begründete Diätetik, in der spezifische Vorstellungen systematisiert wurden (über das was und wie viel
man essen solle, um Gesundheit und Wohlbefinden herbeizuführen)
das naturwissenschaftlich begründete Ernährungswissen, das seit der Mitte des
19. Jahrhunderts immer einflussreicher
wurde und das Richtwerte für eine genügende und gesunde Nahrung vorgibt
Diese diätetischen Schulen gehen meist über die
Nahrung hinaus und beschreiben Regeln für die
Gestaltung anderer Lebensbereiche wie Kleidung, Sexualität, Reinigung, körperlicher Bewegung usw. und gründen meist auf theoretischphilosophischen Grundannahmen. Essen wird
wie die alltägliche Lebensführung durch soziale und kulturelle Alltagsroutine geprägt, die
gewohnheitsmäßig und unbewusst vollzogen
wird. Essen bereitet Lust und Genuss, insbesondere durch die geruchlichen und geschmacklichen Empfindungen, die bei der Nahrungsaufnahme entstehen und in einem sozialen Kontext
erlebt werden.
Die kulturelle Bestimmung von Lebensmitteln folgt zwei Bedeutungsfeldern: der re
MJHJÕTFO #FEFVUVOH im weitesten Sinn, in der
Lebensmittel als rein/unrein, heilig/unheilig
charakterisiert werden, und andererseits der
TP[JBMFO#FEFVUVOH von Lebensmitteln, in der
Nahrungsmitteln eine (niedrigere oder höhere)
Position im sozialen Raum zugewiesen wird, um
soziokulturelle Unterschiede zu repräsentieren.
Die Tabuisierung von Lebensmitteln, wie z. B.
des Schweinefleisches in einigen Religionen,
folgt beiden Bedeutungsebenen: das jüdische
Schweinefleischverbot kam zu jener Zeit auf,
als die eigene jüdische Identität begann und es
sinnvoll war, sich von Völkern abzugrenzen (die
Schweinefleisch aßen), um die Herausbildung
einer eigenständigen Identität zu fördern. Meist
wurde jedoch aufgrund einer Kosten-Nutzenbilanz entschieden, also Lebensmittel und Tiere
als rein qualifiziert die in ihrer biologischen
Verwertbarkeit und Erreichbarkeit auch sinnvoll waren. Esstabus sind in Kulturen (solange
der kulturelle Rahmen stabil ist) recht beständig
und haben wie einige religiöse Esstabus Jahrtausende überdauert.
Elias (1978) hat in seinem Standardwerk
über den Prozess der Zivilisation herausgearbeitet, dass nicht nur Nahrungsmittel, sondern
auch die Zubereitungsform und die Tischsitten
ausgezeichnete Mittel der sozialen Unterscheidung waren und es immer noch sind. Mit der
Modernen und der Pluralität der Lebenswelten
ist es nicht mehr so einfach, sich durch die Lebensmittel und die Art der Zubereitung, sowie
der Form des Verzehrs von anderen zu unterscheiden. Und dennoch hat das Essen (was und
wie gegessen wird) unverändert hohe Bedeutung. Die oberen sozialen Schichten essen abwechslungsreicher, proteinreichere Produkte
wie Milch und Joghurt, viel Obst und sie achten
mehr auf ihr Gewicht. In den unteren Schichten
isst man eher Butter, Zucker, Weißbrot, Fleisch
und Wurstwaren, Übergewicht ist statistisch
häufiger.
Die sozialen Unterschiede einer Gesellschaft
drücken sich in allen Lebensformen aber auch
beim Essen deutlich aus. Der Anteil der Ausgaben für Nahrungsmittel nimmt mit steigendem
sozialen Status ab und es werden andere Lebensmittel bevorzugt (Bourdieu 1984).
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Psychologie des Essens
8. Der Einfluss der Ernährung auf die
psychische Gesundheit
Gesichert ist, dass die meisten psychischen Erkrankungen (Depressionen, Schizophrenie,
Essstörungen, Demenzen) das Risiko erhöhen,
sich in Menge und in Zusammensetzung unzureichend zu ernähren (Gray et al., 1989). Inwieweit Ernährungsgewohnheiten (z. B. Fisch- oder
Gemüsekonsum) die Inzidenz bestimmter seelischer Erkrankungen beeinflusst, ist hingegen
jedoch weithin unklar (Hausteiner et al., 2007).
Kohlenhydrate führen als Langzeiteffekt zu einer verbesserten Stimmung, dies ist natürlich
auf die primäre Abhängigkeit des Gehirns von
den schnell erschließbaren Kohlenhydraten zurückzuführen. Besonderes Augenmerk gewinnt
derzeit in der Forschung die Bedeutung essentiell-ungesättigter Fettsäuren, die notwendige
Bausteine für eine normale Entwicklung und
Funktion des Gehirns sind und nicht im Gehirn
selbst synthetisiert werden können.
In der Behandlung seelischer Störungen
ist eine hinreichende gesunde Ernährung und
eventuelle Substitution verstärkt zu beachten,
eine Ernährungsanamnese und Beratung sollte
gerade auch bei seelischen Störungen (nicht nur
Essstörung) zur Routine gehören.
Beim Essen werden unterschiedliche individuelle Gefühle (meist unbewusst) lebendig:
Liebe oder Aggressivität („zum Fressen gern“),
Abgrenzung („zum Erbrechen“), Genießen („auf
der Zunge zergehen lassen“) u. v. a. Essen kann
Vorbedingung für Zuwendung oder auch als
Genuss gesehen werden, es kann aber auch mit
Lust oder Ekel verbunden sein. In unseren westlichen Kulturen hat sich in den letzten Jahrhunderten das Essverhalten normiert, verfeinert
und rationalisiert. In den letzten Jahrzehnten
tritt das Essen als sinnliches Erlebnis hinter der
Notwendigkeit des schnellen Essens (Fast Food)
zurück. Während in vielen Kulturen unverändert Körperfülle als Zeichen von Wohlstand und
Macht gilt, hat sich in den westlichen Kulturen
im 20. Jahrhundert die Schlankheit – gerade des
weiblichen Körpers – zu einem zentralen Thema
in den Massenmedien entwickelt. Die Fütterung durch die Mutter ist die erste wesentliche
menschliche Kommunikation des Säuglings.
Wie sehr Ernährungsgewohnheiten Zeitphänomene sind, wird am Beispiel der Säuglingsernährung deutlich. Noch vor wenigen Jahrzehnten war ein strenger Fütterungsplan mit etwa
fünf Mahlzeiten am Tag üblich, heute wird nach
Bedarf gefüttert (gestillt), also je nach den vermuteten Grundbedürfnissen.
9. Ernährungsberatung (Therapie)
Ernährungsberatung (Therapie) ist eine kommunikationspsychologische Aufgabe mit dem
Ziel, die durch die Medizin und Ernährungswissenschaften gewonnenen Erkenntnisse zu
vermitteln. Ernährungsteams sollten interdisziplinär aus Ärzten, Diaetologen, Ernährungswissenschaftlern und psychologisch geschulten
Fachkräften bestehen. Ziel ist, die langfristige
Veränderung von negativen Ernährungsgewohnheiten. Voraussetzung ist eine ausreichende Motivation des Patienten und praktische Anleitung in der Durchführung, sowie eine
Überwachung des Therapie- und Ernährungsziels. Ernährungsberatung und Aufklärung ist
in Anbetracht der steigenden Prävalenzzahlen
von Adipositas und der Häufigkeit von Essstörungen in westlichen Gesellschaften notwendiger denn je (Pudel et al., 2004). Das der früheren Ernährungsaufklärung zugrunde liegende
Prinzip „Vernünftige Menschen benötigen nur
vernünftige Information um vernünftig zu essen“ hat aber in der Ernährungsberatung nicht
zu den erhofften Ergebnissen geführt; zwischen
Wissen und Verhalten klaffen große Lücken.
Die „gesündere“ (mit einem hohen Anteil von
Gemüse und Kohlenhydraten) versehene Nahrung früherer Jahrzehnte entsprach nicht rationalen Gründen, sondern den Notwendigkeiten
des Nahrungsangebots. Wie Berichte dokumentieren (Deutsche Gesellschaft für Ernährung,
2000), essen die Menschen seit Jahrzehnten na685
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G. Schüßler
Tabelle 1. Merkmale der Essstörungen und Adipositas
Anorexia nervosa
Bulimia nervosa
Adipositas
Körperbild
Untergewicht, geschlechtslos,
asketisch
leichtes Untergewicht bis Normalgewicht, weiblich attraktiv
Übergewicht, Gleichgültigkeit
oder Abwertung gegenüber
dem eigenen Körper
Sexualität
keine sexuellen Partnerschaften (Askese), sexuelle Kontakte
oft Auslöser
sexuelle Partnerschaften
bestehen bei oft mangelnder
Erlebnisfähigkeit
Partnerschaften bestehen,
Essen ist der wichtigste gemeinsame Bereich
Essverhalten
Abnehmenwollen, Kontrollzwang
Nicht-zunehmen-Wollen, Kontrollzwang
Binge-eating (⅓), häufiges und
Zu-viel-Essen
soziales
Verhalten
Furcht vor Überwältigung, Abgrenzung von anderen, Streben
nach „Besonderem“
Furcht vor Ablehnung und
Verlassenwerden; Bestreben
anderen zu gefallen
Essen als Abwehr von Unlust,
sozialer Rückzug
subjektives
Leiden
kein Leidensdruck, Verleugnung (Magersucht ist ichsynton), klagen nur über sekundäre Beschwerden
starker Leidensdruck mit
Schuld- und Schamgefühlen
Verleugnung des Problems
bzw. häufig seelische Beeinträchtigung
hezu unverändert, oft jedoch von einem schlechten Gewissen begleitet.
Essen ist eine emotionale Angelegenheit, Ernährung und Essen sind also keine Synonyme,
und da Ernährungsberatung auf das Essen hinzielt, muss mehr der emotionale Hintergrund
des Essens mitbeleuchtet und verändert werden.
Obwohl der geringe Wert von Diäten seit langem klar ist, führt ein erheblicher Teil der Bevölkerung unverändert Schlankheitsdiäten durch:
sie werden im Rahmen der Diät durch eine Gewichtsabnahme belohnt und die Mehrzahl gibt
sich danach bei erneuter Gewichtszunahme
selbst die Schuld am Misserfolg der Diät. Die üblichen Reduktionsdiäten haben kaum bleibende
Gewichtsreduktion zur Folge, da sie die Ernährungs- und Lebensgewohnheiten nicht mitberücksichtigen. Das treibende Motiv für derartige
Diäten ist das Streben, Anerkennung mittels einer schlankeren, attraktiveren Figur zu gewinnen. Die Beschreibung dieses Schönheitsideals
und die immer wiederkehrenden Diäten (JojoEffekt) sind heute als eindeutige Risikokonstellation für das Auftreten von Binge-EatingDisorder (Essanfälle ohne Kompensation) und
Bulimia nervosa (Essanfälle mit nachfolgendem
Versuch die Nahrungsmenge zu kompensieren,
z. B. Erbrechen) gesichert. Die Prävalenz der
Bulimie wird auf etwa 3 – 4 % der weiblichen Bevölkerung geschätzt. Die Binge-Eating-Disorder
liegt deutlich darüber. Die Störungen belegen,
dass Menschen aufgrund von sozialen Motiven
durchaus in der Lage sind, ihr Essverhalten radikal zu ändern, auch mit der Gefahr, ernsthafte
gesundheitliche Risiken einzugehen. Ernährung
und Essen stehen damit beispielgebend für den
Widerspruch zwischen Wissen und Emotion.
Wenn Essen also ein überwiegend emotional
gesteuertes Verhalten ist, das auf die Befriedigung dieses Bedürfnisses abzielt, müssen alle
Aufklärungsprogramme auch diese emotionale
Dimension berücksichtigen. In der Überflussgesellschaft kollidieren evolutionsbiologische
Programme mit segensreichen Erfindungen
der Menschen, die harte körperliche Arbeit und
leere Teller abgeschafft haben.
10. Essstörungen
Im Bereich der Essstörungen werden Anorexia
nervosa und Bulimia nervosa zu den psychoso-
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Psychologie des Essens
matischen Störungen gezählt, es sind Störungen
der Nahrungsaufnahme und der Einstellung zur
Nahrung. Anorexie ist durch einen absichtlich
selbst herbeigeführten und aufrechterhaltenen
Gewichtsverlust charakterisiert. Zentral ist das
veränderte Körperschema, in dem die Gewichtsschwelle für sich selbst sehr niedrig gelegt wird.
Das Krankheitsbild wurde bereits in der Antike
und im Mittelalter an Fallbeispielen dargestellt.
Die ersten medizinischen Beschreibungen erfolgten im 17. und 18. Jahrhundert. Und in der
heutigen westlichen Lebensart hat die Erkrankung ihre größte Häufigkeit erfahren. Länder,
die den westlichen Lebensstil übernehmen, erreichen sehr bald ähnliche Prävalenz- und Inzidenzzahlen wie sie aus westlichen Ländern (Prävalenz für Frauen in der Adoleszenz und frühem
Erwachsenenalter) knapp unter 1 % bekannt
sind. Bulimia nervosa ist gekennzeichnet durch
wiederholte Essanfälle bei gleichzeitig übertriebener Beschäftigung mit dem Körpergewicht.
Das Körpergewicht ist jedoch in der Regel normal. Binge-Eating-Attacken sind verbunden mit
der andauernden Beschäftigung mit dem Essen
und der unwiderstehlichen Gier nach Lebensmitteln. Die Erkrankung besteht erst seit den
70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts, ist
also offensichtlich an kulturelle Zeitphänomene
gebunden. Die Prävalenzrate bei 20 – 40-jährigen Frauen ist bei 2 – 4 % hoch. Auch hier gilt
dasselbe Phänomen, dass Länder, die sich dem
westlichen Lebensstil anschließen, binnen kurzer Zeit ähnliche Prävalenzraten aufweisen.
Adipositas gilt nicht als psychische Störung, da sie ein multikausales biopsychosoziales Ursachen- und Auswirkungsbündel besitzt.
Adipositas besteht, wenn der Body-Mass-Index
größer als 30 kg/m2 ist. Adipositas wird als multikausale biopsychosoziale Störung verstanden,
das Übergewicht hat sich mit der vermehrten
Verfügbarkeit von Nahrung in den letzten Jahrzehnten in den meisten Ländern der Erde dramatisch gesteigert.
Aufgrund genetischer Untersuchungen kann
davon ausgegangen werden, dass der genetische
Tabelle 2. Übergewicht als bio-psychosoziales Geschehen
Übergewicht ist multikausal:
Veranlagung, Umwelt, Lebensweise und individuelle
Entwicklung wirken zusammen.
Unterschiedliche genetische Muster
Genetik A: Verwertung der Nahrung wird beeinflusst
Genetik B: Sättigung wird geregelt
Unterschiedliche komplexe Hormoninteraktionen:
Leptin, Insulin, NPY, Ghrelin – Minderung/Steigerung
des Appetits
Ändert sich ein Hormon, ändern sich in der Gegenregulation die anderen Hormone
Auch psychophysiologische Ereignisse (Schlafmangel,
Emotionen) beeinflussen die Hormonausschüttung/
Hemmung.
In der individuellen Entwicklung werden Muster verändert/geprägt.
Einfluss auf Gewichtszunahme etwa bei 25 %
liegt, die restliche Variation eher auf erworbene
(epigenetische) Einflüsse zurückzuführen ist.
Bezüglich der übermäßigen Nahrungsmittelzufuhr muss jedoch zwischen einer erhöhten
Fett- und einer erhöhten Kohlenhydrat-(Zucker)
Zufuhr unterschieden werden. Fett als wesentlicher Geschmacksträger hat für viele Menschen
eine hohe emotionale Bedeutung, führt jedoch
leider bei erhöhter Zufuhr zu einem deutlich höheren Körpergewicht (bzw. erhöhtem BMI). Hingegen führt eine steigende Kohlenhydratzufuhr
nicht in diesem Maße zu einem erhöhten Anteil
von Übergewicht, da nach der Gabe von Kohlenhydraten die Oxidation von Kohlenhydraten gesteigert wird, während eine erhöhte Fettzufuhr
keine erhöhte Fettoxidation zur Folge hat. Dieses
Ungleichgewicht wird dadurch verstärkt, dass
Fette offenbar im Vergleich zu Kohlenhydraten
eine geringere Sättigungswirkung ausüben.
Schon immer wird Übergewicht mit erhöhter
Nahrungsaufnahme und verminderter körperlicher Bewegung in Verbindung gebracht. Übergewicht als medizinisches Risiko und damit
als Prävention zum Therapiefeld beginnt in der
Regel bei einem BMI von deutlich über 30, auch
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G. Schüßler
wenn per Definition bereits ein BMI von 25 – 29,9
als Übergewicht bezeichnet wird. Die psychosozialen Auswirkungen des Übergewichts sind erheblich, man findet bei adipösen PatientInnen
gehäuft ängstliche und depressive Störungsbilder, Lebenszufriedenheit und Selbstwertgefühl
sind deutlich gemildert (Sarlio-Lähteenkorva
et al., 1995). Bei vielen Adipösen findet sich eine
verminderte Wahrnehmung der Körpergefühle
(Sättigungsgefühl) sowie eine durch Belastung
(Kummerspeck usw.) ausgelöste Nahrungsaufnahme auf dem Hintergrund des erlernten und
erworbenen Essverhaltens in meist übergewichtigen Familien. In der multikausalen Verursachungskette des Übergewichtes haben also
psychosoziale Faktoren einen entscheidenden
Stellenwert.
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688
Buch 4.indb 688
15.10.2009 14:18:59
19.2 Essstörungen
J. F. Kinzl
1. Einleitung
2. Hungern, Fasten, Diäthalten
Essen gehört zu den Grundbedürfnissen eines
jeden Menschen, ist eigentlich die natürlichste
Sache der Welt und wird auch von den meisten
Menschen als normal und mit Genuss erlebt.
Das menschliche Essverhalten wird dabei
von vielen Motiven gesteuert. Neben der Befriedigung von Hungergefühlen spielen eine Reihe
von anderen Faktoren wie Erziehung, Gewohnheiten, Religion, Preis, individuelle Vorlieben,
Abneigungen, Stimmungen und andere mehr
eine Rolle (Pudel et al., 1998). Aber das gesunde
und das gestörte Essverhalten haben auch Funktionen, die mit dem Essen im engeren Sinne nicht
viel zu tun haben. So dient das Essen
Beim Hungern ist das Interesse des Betroffenen meistens auf Nahrungssuche gerichtet.
Negative Gefühle wie Ärger, Unlust, aber auch
Depression und Aggression treten auf. Neben
dem Hungern als Ausdruck des Fehlens an Nahrung (leider in vielen Teil der Welt noch Tatsache) gibt es freiwillig gewählte Hungerkuren,
die meist als Reaktion mit Unzufriedenheit mit
dem eigenen Aussehen und dem Körpergewicht
durchgeführt werden. So wird das Einhalten von
Diäten oder Fasten von vielen Menschen, vor allem Frauen häufig durchgeführt, um Gewicht
abzunehmen („kollektives Diätverhalten“). Das
Diäthalten an sich ist noch keine Essstörung; es
ist aber bekannt, dass viele Essstörungen mit einer Diät beginnen, ohne dass jede Diät zu einer
Essstörung führen muss (Westenhöfer, 1996).
Gerade bei Mädchen und jungen Frauen, die
psychische Probleme haben, kann das Diäthalten oder Hungern zur Entwicklung einer Essstörung beitragen (Buddeberg-Fischer, 2000, Kinzl
et al., 1998).
Eine amerikanische Studie (Keys et al., 1950)
konnte zeigen, dass eine lang dauernde massive Einschränkung der Nahrungszufuhr zu
typischen Hungersymptomen führen kann, wie
veränderter Einstellung zu Essen (wie starke Beschäftigung mit Essen, Essanfälle), emotionalen Störungen (wie Freudlosigkeit, Gereiztheit,
Ängstlichkeit), kognitiven Störungen (wie Störung der Kritikfähigkeit, Verlangsamung von
Denkprozessen) und körperlichen Störungen
(wie z. B. Bauchbeschwerden, Kältegefühl, Störung der Sexualität). Viele dieser somato-psychischen Veränderungen sind wahrscheinlich
Ausdruck eines Serotonin-Mangel-Syndroms,
vor allem bedingt durch die Einschränkung der
Kohlenhydratzufuhr.
r
r
r
r
r
der Beziehungsgestaltung, wie z. B. „mit jemandem Essen gehen“, „mit jemandem den
Tisch teilen“, oder das gemeinsame Abendessen als Ort, wo sich die Familienmitglieder
treffen usw.
als Machtmittel und Kontrolle der Umgebung, wie z. B. die Weigerung zu essen bei
Magersüchtigen
zur Affektregulation, wie z. B. zur Abwehr
negativer Gefühle, als Trost bei Langeweile
oder Einsamkeit oder zur Beruhigung bei
Stress usw.
zur Stabilisierung des Selbstwertgefühls
zur Herstellung von Autonomie
Die Regulation des Essverhaltens ist sehr komplex und viele Faktoren, die zur Auslösung,
Aufrechterhaltung und Beendigung des Essverhaltens führen, sind noch nicht bekannt. Neben
Hormonen und Neurotransmittern (= Überträgerstoffe im Gehirn) spielen Lernprozesse eine
wichtige Rolle.
689
Buch 4.indb 689
15.10.2009 14:19:00
Kap. 19.2
J. F. Kinzl
Tabelle 1. Charakteristika gestörten Essverhaltens
1. Eine vermehrte Beschäftigung mit Essen, Nahrung,
Kalorien („niemand denkt so viel an Essen, wie
der, der Diät hält, hungert oder fastet“).
2. Zunehmende Essprobleme: ein unbeschwertes
Genießen des Essens ist immer weniger möglich
(„niemand klagt soviel über Essprobleme, wie der,
der Diät hält“).
3. Angst vor Gewichtszunahme („niemand hat so viel
Angst vor einer Gewichtszunahme, wie der, der
Diät hält oder hungert“).
4. Verlust gesunder Hunger- und Sättigungsgefühle
(„niemand ist mehr gefährdet, die Kontrolle über
das Essverhalten zu verlieren, wie der, der hungert
oder fastet“).
5. Vermeiden von Essen in Gesellschaft.
6. Angst, Scham- und Schuldgefühle beim Essen, das
Gefühl versagt zu haben, weil gegessen wurde.
Tabelle 2. Diagnosekriterien für eine Essstörung
1. Gewicht: zur Bestimmung wird meist der BodyMass-Index (BMI = Körpergewicht dividiert durch
Körpergröße zum Quadrat) verwendet. Dabei
unterscheidet man: Untergewicht (BMI < 18,9),
Normalgewicht (BMI 19 – 24,9), Übergewicht (BMI
25 – 29,9) und Adipositas (BMI > 30).
2. Essverhalten (gesundes vs. gestörtes Essverhalten).
3. Seelische Bedeutung des Essverhaltens und/oder
des Körpergewichts für den Betroffenen (z. B.
„Was bin ich ohne Magersucht wert?“).
Es bestehen fließende Übergänge von einem
normalen zu einem gestörten Essverhalten.
(siehe Tabelle 1).
3. Formen von Essstörungen
3.1. Allgemeines
Eine Essstörung liegt dann vor, wenn jemand
das Essen als Ersatz für etwas anderes einsetzt.
Eine Essstörung ist keine Ernährungsstörung.
Für die Diagnose einer Essstörung werden üblicherweise drei Faktoren herangezogen
(siehe Tabelle 2).
Im Verlaufe des essgestörten Verhaltens treten erste frühe Anzeichen der jeweiligen Essstörung auf (siehe Tabelle 3).
Tabelle 3. Frühe Anzeichen einer Essstörung
1. Meist diffus und deshalb schwer erkennbar.
2. Auffallende Essgewohnheiten wie sehr langsames
oder sehr schnelles Essen.
3. Vermehrte Beschäftigung mit Ernährung und Kalorien.
4. Vermeidung von Essen in Gesellschaft.
5. Appetitlosigkeit, Völlegefühl.
6. Gewichtsabnahme, Gewichtszunahme oder Gewichtsschwankungen.
7. Freudlosigkeit, sozialer Rückzug.
8. Überaktivität oder vermehrte Passivität.
Tabelle 4. Hinweise auf Suchtcharakter der verschiedenen Essstörungen
1. Das Denken, Fühlen und Handeln dreht sich bei
den schweren Essstörungen um die Einnahme
(oder Verweigerung) der Substanz „Essen“.
2. Es kommt zum Auftreten von Entzugssymptomen,
wenn das gestörte Essverhalten beendet wird (wie
z. B. Unruhe, Angst).
3. Bei der Magersucht muss die Dosis im Sinne einer
immer stärkeren Gewichtsabnahme immer mehr
gesteigert werden, weil es nur dann zu einer gewissen, aber auch nur kurz dauernden inneren Ruhe
kommt (Dosissteigerung, Toleranzentwicklung).
4. Das gestörte Essverhalten (Nichtessen oder Essanfälle) wird trotz negativer Folgen für den Körper
und die Seele bzw. für das Sozialverhalten fortgesetzt.
5. Das Essverhalten kann (bei der Bulimie und bei der
Binge-Eating-Störung) nicht kontrolliert werden
(Kontrollverlust).
Ob es sich bei den Essstörungen um eine
Suchtkrankheit, eine Angststörung oder eine
Zwangsstörung handelt, ist Thema vieler Diskussionen, wobei es deutliche Hinweise darauf
gibt, dass einerseits interindividuelle Unterschiede bestehen und andererseits Mischformen
vorkommen. Viele Kriterien weisen auf einen
Suchtcharakter der verschiedenen Essstörungen hin (Kinzl et al., 2000) (siehe Tabelle 4).
Für das Vorliegen einer Angststörung bei
den Essstörungen spricht, dass neben einer ausgeprägten Gewichtsphobie – bei der Anorexie
und der Bulimie – ein starkes Vermeidungsverhalten bei der Anorexie bzgl. des Essens besteht,
und meist eine ängstliche oder selbstunsicher-
690
Buch 4.indb 690
15.10.2009 14:19:00
Essstörungen
vermeidende Persönlichkeitsstruktur bei den
Essgestörten nachzuweisen ist.
Für das Vorliegen einer Zwangsstörung bei
den Essstörungen spricht, dass das Essverhalten einen stark zwanghaften Charakter hat, eine
zwanghafte Persönlichkeitsstruktur häufig zu
finden ist und nach der Überwindung der Essstörung andere Zwangssymptome nicht selten sind.
3.2. Entstehung der Essstörungen
Wie andere psychische oder psychosomatische
Krankheiten sind Essstörungen multifaktoriell
bedingt. Neben genetischen und konstitutionellen Ursachen kommt psychischen und psychosozialen Faktoren eine entscheidende Bedeutung
bei der Entstehung und Aufrechterhaltung der
Essstörung zu.
Essstörungen finden sich vor allem bei weiblichen Jugendlichen und jungen Frauen, wobei
alle Formen von Essstörungen in den letzten
Jahrzehnten sowohl an Häufigkeit als auch an
Schwere zugenommen haben. Besonders subklinische Ausprägungen (= Vorformen von Essstörungen) sind bei allen Essstörungen besonders
häufig.
Die Zunahme der Häufigkeitsraten in den
letzten Jahren ist bei allen Essstörungen besonders durch psychosoziale Faktoren erklärbar. So
spielen bei Anorexie und Bulimie die Faktoren
Schlankheitsideal – vermittelt durch die Medien
(wobei Schlankheit mit Schönheit gleichgesetzt
wird) – und die Veränderungen der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen eine besondere
Rolle, wobei die Selbstverwirklichungsansprüche und die Mehrfachbelastungen durch Beruf
und Familie bei den Frauen besonders zu erwähnen sind. Zur Zunahme der Häufigkeitsraten bei
der Adipositas tragen die starke Abnahme des
Ausmaßes an körperlicher und/oder sportlicher
Aktivität in unserer westlichen Gesellschaft und
die überall und zu jeder Tageszeit verfügbare,
vor allem fettreiche Nahrung, die noch dazu oft
in Übermenge („Super size“) genossen wird, besonders bei.
Tabelle 5. Charakteristika der Magersucht
1. Starke Gewichtsabnahme gefolgt von einem deutlichen Untergewicht (BMI < 17,5).
2. Probleme und Angst vor Gewichtszunahme (Gewichtsphobie).
3. Störung des Körperschemas, d. h. die Wahrnehmung des eigenen Körpers ist stark verzerrt.
4. Übermäßige gedankliche Beschäftigung mit Essen.
5. Störung des Essverhaltens: die Betroffenen bevorzugen stark einseitige, zunehmend kalorienreduzierte, vor allem kohlenhydrat- und fettarme Kost.
Die Lebensmittel werden meist in erlaubte, d. h.
kalorienarme und in verbotene, d. h. kalorienreiche Nahrungsmittel eingeteilt, wobei der Anteil
der erlaubten Nahrungsmittel mit der Zeit immer
mehr abnimmt.
6. Freudlosigkeit, sozialer Rückzug.
7. „Vita-minima–Symptome“: Hypotonie, Hypothermie, Bradykardie.
8. Ausbleiben der Regelblutung (Amenorrhoe).
9. Lanugobehaarung („Babyflaum“).
10. Hyperaktivität: diese dient dem Energieverbrauch, aber auch der Ablenkung von Hunger und
Essen, dem Zeigen von Stärke und Leistungsfähigkeit und der Erzeugung von Körperwärme durch
Muskelaktivität.
11. Fehlendes Krankheitsgefühl und fehlende Krankheitseinsicht.
3.3. Folgende Formen von Essstörungen
werden unterschieden:
1. Anorexia nervosa oder Magersucht
2. Bulimia nervosa oder Fress-Brech-Sucht
3. Orthorexia nervosa oder „krankhaftes Gesundessen“
4. Adipositas oder Fettsucht
3.3.1. Anorexia nervosa oder Magersucht
Die zentralen Charakteristika der Magersucht
sind in Tabelle 5 dargestellt.
Es werden zwei Formen der Magersucht unterschieden:
1. Restriktiver oder asketischer Typ: dabei wird
das Körpergewicht vor allem durch Hungern
und körperliche Überaktivität reduziert.
691
Buch 4.indb 691
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Kap. 19.2
J. F. Kinzl
Tabelle 6. Risikofaktoren für die Entstehung einer
Magersucht
1. Geringes Selbstwertgefühl: die Askese, d. h. die
starke Einschränkung der Nahrungszufuhr, gibt
den Betroffenen das Gefühl, zu einer besonderen
Leistung fähig zu sein. Es gibt ihnen auch das
Gefühl von Autonomie, gerade dann, wenn eine
starke Abhängigkeit von den wichtigsten Bezugspersonen besteht und eine gesunde Abgrenzung
von diesen nicht gelungen ist.
2. Hoher Leistungsdruck („Perfektionismus“).
3. Krankhaftes Schönheitsideal (Motto: „Dünnsein ist nicht alles, aber ohne Dünnsein ist alles
nichts“).
4. Fehlende familiäre Essensrituale.
2. Bulimischer Typ: dieser Typ ist neben dem
Hungern und dem Konsum kalorienarmer
Nahrungsmittel durch die zeitweilige Einnahme von Abführmitteln oder Erbrechen
gekennzeichnet.
Die gefährlichste Komplikation der Magersucht
stellt die Osteoporose (= Knochenschwund) dar,
die als Folge der Hormonstörungen und der körperlichen Auszehrung auftritt und oft mit spontanen Knochenbrüchen vergesellschaftet ist.
Eine lang dauernde Amenorrhoe kann auch zu
einer erhöhten Infertilität beitragen.
Die Risikofaktoren für die Entstehung einer
Magersucht sind in Tabelle 6 dargestellt.
3.3.2. Bulimia nervosa oder
Fress-Brech-Sucht
Die Hauptmerkmale der Bulimie sind in Tabelle 7 dargestellt.
Grundsätzlich werden zwei Formen der
Fress-Brech-Sucht unterschieden:
1. t1VSHJOH5ZQi : Hier zeigen sich regelmäßige Episoden von Essanfällen, in denen
große Mengen meist kalorien-, fett- und
kohlenhydratreicher Kost verzehrt werden,
die anschließend durch Erbrechen, oder Abführmittel wieder entfernt werden.
Tabelle 7. Charakteristika der Bulimia nervosa
1. Häufige Essanfälle von meist fett- und kohlenhydratreicher Kost, verbunden mit einem Kontrollverlust während des Essens.
2. Kompensatorische Verhaltensweisen wie Erbrechen, Abführmittelmissbrauch, gezügeltes Essverhalten oder zeitweilige Überaktivität zur Verhinderung einer Gewichtszunahme
3. Übermäßige Beschäftigung mit dem eigenen Körper.
4. Weitgehende Abhängigkeit des Selbstwertgefühls
vom Aussehen, verbunden mit einer starken Gewichtsangst.
5. Stimmungsschwankungen.
6. Das Körpergewicht liegt meist im Normalgewichtsbereich; es kann aber auch ein leichtes Untergewicht oder leichtes Übergewicht bestehen.
2. t/PO1VSHJOH5ZQi Die Betroffenen zeigen
während der aktuellen Episoden der Bulimie andere unangemessene, der Gewichtszunahme entgegensteuernde Maßnahmen
wie Fasten, Hungern oder übermäßige körperliche Aktivität, aber nur gelegentliches
Erbrechen oder nur seltener Abführmittelgebrauch.
3.3.3. Orthorexia nervosa oder krankhaftes
Gesundessen
Bei der Orthorexie handelt es sich um eine Essstörung, bei der die ständige Sorge um die Gesundheit zu einer krankhaften Fixierung auf
gesundes Essen geführt hat (Bratman, 2000).
„Ortho“ bedeutet „mittel“, „gerade“ oder „richtig“; „orexia“ bezieht sich auf den Appetit. Charakteristisch ist eine Art der Besessenheit, und
das Verhalten, die Nahrungsmittel in „gut“ und
„schlecht“, „gesund“ und „ungesund“ einzuteilen. Die charakteristischen Verhaltensweisen
für die Orthorexie sind in Tabelle 8 dargestellt.
Von dieser Essstörung sind wahrscheinlich
mehr Frauen als Männer betroffen, und davon
wieder vor allem Frauen aus der oberen Mittelschicht oder Oberschicht, bei denen der Faktor
Gesundheit eine besondere Rolle spielt.
692
Buch 4.indb 692
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Essstörungen
Tabelle 8. Charakteristika der Orthorexia nervosa
3.3.4. Adipositas oder Fettleibigkeit
falschen Essens, vor allem zu fettes Essen, bei zu
wenig Bewegung“.
Wie schon erwähnt spielen für die Entwicklung einer Adipositas viele Faktoren zusammen,
wobei aus Zwillingsuntersuchungen bekannt
ist, dass bei der Adipositas den genetisch-konstitutionellen Faktoren eine große Bedeutung
zukommt, für die starke Zunahme der Häufigkeitsraten an Adipositas in den letzten Jahren
der Lebensstil (falsches und zu üppiges Essverhalten, wenig körperliche Bewegung, Stress)
aber der wesentliche Faktor ist.
Übergewicht und Adipositas gelten als Zivilisationskrankheiten ersten Ranges. Neuere
Untersuchungen konnten zeigen, dass im Gehirn eines Übergewichtigen ähnliche Prozesse
ablaufen wie bei Drogenabhängigen, wobei das
emotionale Belohnungssystem eine zentrale
Rolle bei der Steuerung des Essverhaltens spielt
(Grimm, 2006). Der Botenstoff Dopamin scheint
dabei eine wichtige Rolle bei der Gewichtskontrolle zu spielen. Mit Hilfe der Positronen-Emissionstomografie konnte gezeigt werden, dass das
jeweilige Körpergewicht sehr eng mit einem bestimmten Dopaminrezeptor zusammenhängt
(Volkow, 2005). Die Forscherin vermutet, dass
viele Adipöse unter einem Dopaminmangel leiden und deswegen ständig nach neuer Belohnung, d. h. nach Essen suchen.
Folgende Essstörungen lassen sich bei Adipösen gehäuft finden (Kinzl et al., 2004):
Die Adipositas ist durch eine übermäßige Anhäufung von Fett im Körper charakterisiert
(BMI>30). Die Adipositas an sich ist keine Essstörung, jedoch weist ein großer Teil der Adipösen, vor allem bei starkem Übergewicht, ein
gestörtes Essverhalten auf.
Übermäßiges Körpergewicht ist die Folge einer positiven Energiebilanz, d. h. Adipöse essen
zu viel und/oder bewegen sich zu wenig. Dieses
Zuviel an Energie wird in körpereigenes Fett
umgewandelt und in den Fettzellen gespeichert.
Die Situation vieler Adipöser könnte folgendermaßen zusammengefasst werden: „Zu viel des
1. t#JOHF&BUJOH4UÕSVOHioder „Syndrom der
Fressorgien“ („Rauschesser“): Diese Störung
ist gekennzeichnet durch wiederholte Episoden von Essanfällen verbunden mit dem
Gefühl des Kontrollverlustes über das Essverhalten und einem fehlenden kompensatorischen Verhalten (kein Erbrechen, kein
Fasten); meist wird schnell gegessen und
nach dem Essen treten Ekel oder Schamgefühle auf. Ausgelöst werden diese Essanfälle,
die meist abends auftreten, häufig durch
emotionale Ereignisse wie Langeweile, Einsamkeit, Ärger. Von dieser Essstörung sind
1. Der gesundheitliche Wert der Speisen ist wichtiger
als das Essvergnügen.
2. Bestimmte Genüsse oder Lieblingsspeisen werden
nicht mehr gegessen, weil andere Lebensmittel
besser (= gesünder) sind.
3. Die Anzahl der Nahrungsmittel, die gegessen werden, sinkt laufend und begrenzt sich schließlich auf
ganz wenige Nahrungsmittelgruppen wie Obst und
Gemüse.
4. Die Betroffenen fühlen Frieden und ein Gefühl der
totalen Kontrolle, wenn sie nur mehr gesund essen.
5. Dieses gesunde Essverhalten führt oft zu gesellschaftlicher Isolation.
6. Die Betroffenen verbringen am Tag mehrere Stunden damit, über gesunde Nahrungsmittel nachzudenken.
7. Speisepläne werden immer im Voraus für die
nächsten Tage zusammengestellt.
Sehr oft beginnt dieses gestörte Essverhalten mit dem Wunsch, den allgemeinen Gesundheitszustand zu verbessern und chronische
Befindlichkeitsstörungen oder Krankheiten zu
bekämpfen. Auch aktuelle Berichterstattungen
in den Medien über Lebensmittelskandale und
problematische Tierhaltungen können dazu beitragen, dass aus einem normalen Ernährungsbewusstsein ein übertriebener Gesundheitsfanatismus wird (Kinzl et al., 2004).
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Kap. 19.2
J. F. Kinzl
mehr Frauen als Männer betroffen (Kinzl et
al., 1998).
2. t0WFSFBUFSTi oder „Chronische Überesser“
(Fairburn et al., 1995): Bei dieser Essstörung
essen die Betroffenen bei den Hauptmahlzeiten zu viel, besonders dann, wenn es ihnen
gut schmeckt. Die Betroffenen könnten jederzeit willentlich mit dem Essen aufhören,
wollen aber nicht, weil es ihnen schmeckt.
Deutlich mehr Männer als Frauen können
zu dieser Gruppe gezählt werden.
3. t/JHIU&BUJOH4ZOESPNi oder „Syndrom
nächtlichen Essens“ (Stunkard et al., 1996):
Diese Essstörung ist gekennzeichnet durch
nächtliche Essanfälle verbunden mit Einund Durchschlafstörungen sowie morgendlichen Appetitminderungen. Es konnte
gezeigt werden, dass besonders akute emotionale Störungen zu einem Übermaß an
nächtlichem Essen führen. Die Störung findet sich deutlich häufiger bei Frauen als bei
Männern.
4. t$SBWJOHi oder Essgier: Dabei besteht ein
fast unbändiges Verlangen nach bestimmten Nahrungsmitteln, vor allem der Wunsch
nach Süßem. Dieses Essverhalten findet
man häufiger bei Frauen, vor allem während
der Schwangerschaft oder prämenstruell.
3.4. Therapie der Essstörungen
Wichtigstes Ziel ist es, die Zeichen von essgestörtem Verhalten frühzeitig zu erfassen, da
ein früher Behandlungsbeginn bei den Essstörungen die Heilungschancen deutlich erhöht.
Die Prognose ist bei allen Essstörungen eher
als schlecht einzustufen: etwa ein Drittel der
Betroffenen wird wieder ganz gesund, ein Drittel bessert sich deutlich, aber ein Drittel bleibt
krank oder stirbt.
3.4.1. Therapie der Essstörungen Anorexie,
Bulimie und Orthorexie
Die Therapie dieser Essstörungen steht grundsätzlich auf zwei Säulen:
1. Ernährungsmanagement: dabei ist das Ziel
die Erreichung eines gesunden Körpergewichtes und eines Essverhaltens, welches in
ausgewogener Weise aus Kohlenhydraten,
Eiweiß und Fetten zusammen gesetzt ist.
Auch soll die meist existierende „schwarze
Liste der verbotenen Speisen“ schrittweise
abgebaut werden und regelmäßige Mahlzeiten eingehalten werden.
Folgende Behandlungselemente werden dabei angewandt:
r Informationsvermittlung zum Verständnis der Essstörung wie z. B. Zusammenhang zwischen der starken Einschränkung der Nahrungszufuhr und
dem Heißhunger („somato-psychische
Zusammenhänge“)
r Ernährungsberatung mit dem Ziel einer
ausgewogenen Mischkost
r Stimuluskontrolltechniken (bei der Bulimie): Bedingungen, unter denen das
problematische Essverhalten (z. B. Süßhunger) auftritt, werden herausgearbeitet und bearbeitet
r Aufzeigen der Bedeutung eines bestimmten Körpergewichts wie z. B. Gegenregulationen des Körpers bei Unterschreitung eines bestimmten Körpergewichts
und zu starker Einschränkung der Nahrungszufuhr („Yo-Yo-Effekt“)
r Folgeschäden im Zusammenhang mit
der Essstörung wie z. B. Kreislaufprobleme, Haarausfall, Ausbleiben der Menstruationsblutung, Zahnschäden, emotionale Probleme usw.
Bei den schweren Formen der Magersucht
und der Fress-Brechsucht wird das „Auffüttern“ zunächst mit hochkalorischer Sondenkost durchgeführt, wobei bei der Ano-
694
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Essstörungen
rexie üblicherweise etwa 3200 Kalorien pro
Tag, bei der Bulimie etwa 2200 Kalorien pro
Tag verabreicht werden. Die Nahrung wird
von den Betroffenen getrunken, nur in ganz
schweren Fällen ist die Zufuhr über eine
Nasensonde über einen gewissen Zeitraum
notwendig. Die Ernährung in flüssiger Form
ist aus zwei Gründen sinnvoll:
r die notwendigen Mengen könnten in fester Form nicht in ausreichender Menge
zugeführt werden
r durch die flüssige Kost kann das gestörte
Essverhalten umgangen werden
Durch das Erleben, dass die Zufuhr normaler Nahrungsmengen nicht zu der gefürchteten extremen Gewichtszunahme führt („die
beste Korrektur von Angst ist die Überprüfung in der Realität“; d. h. die gefürchtete
extreme Gewichtszunahme tritt bei normalem Essverhalten nicht ein), kann meist nach
einigen Wochen auf feste Normalkost umgestellt werden. Zu der normokalorischen
Mischkost trinken die Magersüchtigen
noch zwischendurch die Sondenkost (etwa
800 –1000 Kalorien), um die notwendige Gewichtszunahme zu erreichen. Wenn das mit
der/dem Essgestörten vereinbarte Zielgewicht etwa erreicht wurde, essen die Betroffenen nur mehr – normokalorische – Normalkost mit dem Ziel, ein stabiles Gewicht,
welches – meist im unteren – Normbereich
liegt, langfristig mit „gesundem, normalem
Essverhalten“ halten zu können.
2. Psychotherapie: Dabei sollen die der Essstörung zugrunde liegenden Konflikte und die
Essstörung aufrecht erhaltenden Probleme
identifiziert und behandelt werden, wobei
sich vor allem kognitiv-verhaltenstherapeutische Techniken (z. B. zur Bearbeitung der
verzerrten Einstellungen bezüglich der eigenen Person) unter Beachtung der jeweiligen
Psychodynamik der Essstörung bewährt haben (Jacobi et al., 1996).
Die am häufigsten zu bearbeitenden Problembereiche sind: ein niedriges Selbstwert-
Tabelle 9. Kriterien für eine stationäre Aufnahme
1. Kritischer Gewichtsverlust (> 10 % in den letzten
3 – 6 Monaten).
2. Fehlende Kontrolle über das Essverhalten.
3. Selbstschädigendes Verhalten (z. B. Ritzen, Schneiden) oder Selbstmordgefährdung.
4. Schwer wiegende Komplikationen wie Elektrolytentgleisungen.
5. Notwendigkeit einer Herausnahme aus einem
krank machenden Familienklima.
6. Vorliegen einer Schwangerschaft.
7. Bei Misslingen einer ambulanten Psychotherapie.
8. Bei Wunsch der Essgestörten, sich selbst in eine
stationäre Behandlung zu begeben.
gefühl, Perfektionismusstreben, extremes
Bedürfnis nach Kontrolle und Autonomie,
Defizite im Bereich der sozialen Kompetenz, mangelnde Selbständigkeit, erhöhte
Impulsivität, Schwierigkeiten im familiären
Bereich und Probleme in der Sexualität. Für
diese Problemfelder suchen dann die Essgestörten und Therapeuten gemeinsam eine
passende individuelle Lösung.
Eine stationäre Behandlung in einer Spezialabteilung kann unter bestimmten Bedingungen sinnvoll und notwendig sein (siehe
Tabelle 9).
3.4.2. Therapie der Adipositas
Erfolgreiche Behandlungen der Fettsucht erfordern
1. &JOFMBOHGSJTUJHF7FSÅOEFSVOHEFT&TTWFS
haltens: am ehesten bewährt hat sich eine
ausgewogene, fettarme, kohlenhydratliberale Mischkost, wobei der Kaloriengehalt
nicht zu niedrig angesetzt werden darf, da
sonst häufige Hungergefühle auftreten, die
letztendlich dazu führen, dass wieder mehr
gegessen wird.
2. &JOF4UFJHFSVOHEFSLÕSQFSMJDIFO" LUJWJUÅU
dabei soll neben einer regelmäßigen sportlichen Aktivität (mindestens 3 Stunden pro
Woche) ein insgesamt aktiverer Lebensstil
695
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J. F. Kinzl
angestrebt werde. Bei der Lebensstilveränderung soll auch dem Stress und dem Rauchen Aufmerksamkeit geschenkt werden.
3. Entscheidend ist weniger, welche „Diät“
oder welche Sportarten ausgeübt werden,
vielmehr ist die Dauer, d. h. das Durchhal
ten das entscheidende Kriterium. Um sehr
lange durchzuhalten muss man schon sehr
davon überzeugt sein, das Richtige zu tun.
Ohne ausreichende innere Motivation, d. h.
ohne ein hohes Maß an Veränderungsbereitschaft, geht es nicht. Die Problematik
liegt darin, dass eine langfristige Veränderung von Gewohnheiten notwendig ist. Jeder
weiß aber, wie schwer es ist, Gewohnheiten,
vor allem schlechte, zu verändern. Dazu ist
ein hoher Aufwand (meist sind viele Veränderungen notwendig), ein massiver Auslöser (Einengung durch die Krankheit) und
ein dauerndes Ankämpfen gegen alte Verhaltensmuster notwendig, was besonders
in Belastungszeiten schwierig ist. „Wirklich
abnehmen und schlank bleiben kann nur
derjenige, der mehr verändert als seinen täglichen Speiseplan“.
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Buch 4.indb 696
15.10.2009 14:19:03
19.3 Pica – qualitative Normabweichungen des Appetits
T. Knecht
1. Einleitung
Beim Thema Essstörungen wird meist nur an die
beiden quantitativen Störungen des Appetits,
nämlich an Anorexie und Bulimie gedacht. Die
dritte große Essstörung Pica (eine qualitative
Abweichung des Ernährungsinstinktes) führt
im Vergleich ein ausgesprochenes Schattendasein – eine Ungleichgewichtung, welche zumindest aufgrund der globalen epidemiologischen
Datenlage nicht gerechtfertigt ist: während die
Prävalenzen von Anorexie und Bulimie unter
erwachsenen Frauen relativ gut bekannt sind,
nämlich 0,5 –1 % respektive 1– 3 % (Sass et al.,
1996), bestehen betreffend des Vorkommens von
Pica nur sehr vage, aber zum Teil erstaunlich
hoch angesetzte Angaben. Die Punktprävalenz
könne je nach gewählter Population 0 bis 66 %
betragen; die Lebenszeitinzidenz sogar 0 bis
100 %, je nachdem, welche Kriterien man zugrunde legt (Sayetta, 1986). Allerdings sind die
Risikogruppen für Pica deutlich andere als für
Anorexie und Bulimie. Die letzteren Störungsbilder haben eine klare Affinität zu den Wohlstandsgesellschaften des Westens – die Pica
scheint in ärmeren Ländern und in niedrigen
Sozialschichten häufiger aufzutreten. Außerdem zeigt sie eine gewisse Affinität zu Kindern
mit dunkler Hautfarbe (Robischon, 1971). Eine
Gemeinsamkeit von Pica und quantitativen
Essstörungen stellt das gehäufte Auftreten bei
Frauen aller Altersstufen dar. Die Ungleichverteilung auf die beiden Geschlechter ist jedoch
bei der Pica weniger ausgeprägt als bei Anorexie
und Bulimie, wo sie in der Größenordnung von
10 : 1 liegt.
Als besondere Risikogruppe konnten geistig Behinderte mit einer Pica-Prävalenz von
36 % identifiziert werden (Danford et al., 1982).
Noch größer ist das Vorkommen der Pica unter
Autisten mit einem Auftreten von 60 % (Kinnell,
1985). Eine vergleichbar hohe Prävalenz wurde
nur noch unter schwangeren Angehörigen der
Unterschicht angetroffen (Wakham et al., 1992).
2. Historisches
Eine ausführliche Darstellung der Begriffsgeschichte von Pica stammt von Parry-Jones und
Mitarb. (1992): Sie halten fest, dass die früheste
Erwähnung des Pica-Phänomens in englischer
Sprache aus dem Jahre 1398 stammt, als John
Trevisa das enzyklopädische Monumentalwerk „De proprietatibus rerum“ von Bartholomäus de Glanville aus dem 13. Jahrhundert
übersetzte.
Der Pica-Begriff (Pica lat. für Elster) tauchte
erstmals 1563 im Oxford-English-Dictionary
auf.
Der französische Arzt Jean Liébault beschrieb
in einem dreibändigen Werk über Frauenkrankheiten von 1582 das Auftreten von seltsamen
Gelüsten in bestimmten Phasen der Schwangerschaft. Dabei stellte er starke Appetitregungen
nach Erde, rohem Fleisch, Gips, Mehl, Essig, Gewürzen und weiteren Dingen heraus.
Im folgenden Jahrhundert wurde Pica vor
allem als Schwangerschaftsstörung aufgefasst,
wobei J. Primerose 1651 darauf hinwies, dass
sogar die Ehegatten von Schwangeren ähnlich
seltsame Gelüste im Sinne einer Couvade entwickeln könnten.
Der Italiener M. Alberti machte 1727 darauf
aufmerksam, dass diese Störung keineswegs auf
Schwangere beschränkt sei, sondern ganz unabhängig davon auch bei Männern, Knaben und
Kleinkindern auftreten könne.
D. Mason publizierte 1833 die Theorie, dass
das Essen von Erde und Lehm der Aufnahme
von Eisen und alkalischen Substanzen dienen
könnte. Das Lehmessen als ritueller Brauch
wurde später, d. h. 1865 vom Afrikaforscher Li697
Buch 4.indb 697
15.10.2009 14:19:03
Kap. 19.3
T. Knecht
vingstone bei Eingeborenen von Sansibar beobachtet.
1911 wies E. Bleuler auf das gehäufte Vorkommen der Koprophagie bei der von ihm theoretisch neukonzipierten und benannten Gruppe
der Schizophrenien hin.
3. Definition und Diagnostik
Pica kann als eine spezifische Essstörung definiert werden, die in der anhaltenden, dranghaften Einnahme besonderer Substanzen und
Objekte besteht, welche nach ihrer stofflichen
Natur grundsätzlich essbar oder aber auch ungenießbar sein können.
Das diagnostische und statische Manual
psychischer Krankheiten DSM-IV (Sass et al.,
1996) nennt dazu die folgenden vier diagnostischen Kategorien:
1. ständiges Essen ungenießbarer Stoffe, das
mindestens einen Monat lang anhält
2. das Essen ungenießbarer Stoffe ist für die
Entwicklungsstufe unangemessen
3. das Essverhalten ist nicht Teil einer kulturell
anerkannten Praxis
4. tritt die Störung des Essverhaltens ausschließlich im Verlauf einer anderen psychischen Störung (z. B. geistige Behinderung,
tief greifende Entwicklungsstörung, Schizophrenie) auf, muss sie schwer genug sein,
um für sich allein genommen klinische Beachtung zu rechtfertigen
Auch wenn offenbar praktikable diagnostische Kriterien verfügbar sind, ist die Diagnose
oft alles andere als leicht zu stellen. Nur unter
besonderen Umständen (z. B. im Behindertenheim) ist das Pica-Verhalten direkt beobachtbar.
In andern Fällen darf kaum damit gerechnet
werden, dass der Patient seine Problematik offen deklariert – ist Pica-Verhalten doch in vielen
Fällen mit starken Schamgefühlen besetzt. Von
daher sind es meist die Komplikationen dieser
Störung, die den Patienten zum Arzt führen und
für entsprechende Leitsymptome sorgen. So
stellt beispielsweise starkes Erbrechen, welches
innerhalb von 20 Minuten auftritt, das häufigste
Symptom der Zigaretten-Pica dar (Mc Gee et al.,
1995). Andererseits kann eine Backpulver-Pica
bei einer Schwangeren ein Zustandsbild erzeugen, welches von einer Präeklampsie kaum zu
unterscheiden ist (Barton et al., 1992). So bedarf
es außer den pathophysiologischen Kenntnissen
oft eines gewissen detektivischen Scharfsinns,
um von den vorhandenen Symptomen auf die
zugrunde liegende Verhaltensproblematik zu
schließen.
Angesichts der gewaltigen Vielfalt von PicaFormen stellt sich die Frage nach einer praktikablen Einteilung. Für klassische und gut
bekannte Pica-Formen sind spezifische Krankheitsbezeichnungen auf der Grundlage griechischer Wortstämme geschaffen worden:
Acuphagie = Schlucken von spitzen Gegenständen
Amylophagie = Essen von Stärke
Cautopyreiophagie = Essen von abgebrannten
Zündholzköpfchen
Koniophagie = Essen von Staub
Geomelophagie = Essen von rohen Kartoffeln
Geophagie = Essen von Erde, Lehm
Gooberphagie = Übermäßiges Essen von Erdnüssen
Hyalophagie = Essen von Glas
Koprophagie = Essen von Exkrementen
Lithophagie = Essen von Steinen
Pagophagie = Essen von Eis, Schnee
Plumbophagie = Essen von Blei, respektive bleihaltiger Farbe
Stachtophagie = Essen von Asche
Trichophagie = Essen von Haaren
Xylophagie = Essen von Holz
Moore et al. (1994) und Lacey (1990) führen noch
eine Reihe weiterer Substanzen auf, welche von
Picazisten präferiert werden: Lufterfrischer,
Backpulver, Kreide, Zement, Gips, Mehl, Kohlepapier, Salz, Seife, Zahnpasta, Schaumstoff, Tü-
698
Buch 4.indb 698
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Pica – qualitative Normabweichungen des Appetits
cher, Baumwolle, Detergentien, Gras, Insekten,
Metall, Papier, Milchpulver, Kaffeesatz, usw. Für
diese Substanzen existieren keine festgefügten
Störungsbezeichnungen, so dass die entsprechenden Diagnosen gewöhnlich als zusammengesetzte Substantive formuliert werden, z. B.
Zahnpasta-Pica.
Zwei Sonderformen, die rein phänomenologisch durchaus dem Pica-Syndrom entsprechen,
bei denen jedoch eine sehr spezielle Psychogenese vorliegt, sind erwähnenswert:
r
r
die "DVQIBHJF nach Kinnell (1985) stellt gewöhnlich den Versuch von Anstaltsinsassen
dar, durch das Verschlucken von spitzen
oder scharfkantigen Gegenständen eine
medizinische Notfallsituation zu schaffen,
wodurch eine Verlegung in einen offenen
Rahmen unumgänglich und der Weg in die
Freiheit gebahnt werden soll
die Koprophagie, d. h. Einnehmen von Exkrementen tritt bei geistig schwer Behinderten und schwer derangierten Psychotikern
auf; handelt es sich um sozial unauffällige
Menschen, so liefert meist eine sexuelle Paraphilie den entsprechenden Hintergrund
4. Biologische Bedeutung
von Pica-Verhalten
Auf den ersten Blick fällt es schwer, das Phänomen Pica psychologisch zu erfassen – umso
mehr, als es sich dabei um ein vorwiegend verdecktes Verhalten handelt, welches aus Gründen des Schamgefühls vor der Umwelt verborgen gehalten wird.
So wiesen zunächst Beobachtungen bei Tieren den Weg zu einem profunderen Verständnis dieser rätselhaften Essstörungen (Knecht,
2000). Pica-artiges Verhalten findet man bei verschiedenen Klassen von Wirbeltieren, z. B. bei
Fischen: Haie sind dafür bekannt, sich verschiedenste ungenießbare Objekte einzuverleiben.
Hier dürfte in erster Linie eine Anfälligkeit des
Beuteschemas für optische Täuschungen vor-
liegen. In der Klasse der Reptilien ist insbesondere die Geophagie bekannt, welche gerade bei
Schlangen am ehesten als Mittel zur Pufferung
des Mageninhaltes dienen dürfte, zumal es sich
um reine Fleischfresser handelt.
Anhaltspunkte für komplexere Bedingungsgefüge ergeben sich in der Klasse der Vögel, in
der vor allem die Geophagie und die Lithophagie anzutreffen sind. So werden von getreidefressenden Vögeln, die mangels Zähnen einen sogenannten Kaumagen entwickelt haben, kleine
Steine aufgenommen, wodurch die Nahrungspartikel feiner zerrieben werden. Die Kaliber
dieser Steine reichen von 0,5 mm bei Sperlingen
bis zu 2,5 cm bei Straussen. Anders verhält es
sich beim Lehmfressen von südamerikanischen
Blaukopfpapageien: hier konnte gezeigt werden,
dass die bevorzugten Lehme aufgrund ihres
Gehaltes an Mineralien wie Smectit und Kaolin
eine ausgesprochen hohe Kationenaustauschkapazität aufweisen, wodurch die Detoxifikation
von Nüssen, Früchten, usw., welche Alkaloide
wie Tannin und Chinin enthalten, ermöglicht
wird. Auf diesem Weg gelingt es den betreffenden Vögeln, das Spektrum ihrer Kalorienträger
auszuweiten, was ihnen die Besetzung weiterer
ökologischer Nischen ermöglicht.
Bei Säugetieren wurden verschiedene Mechanismen hinter picaähnlichem Verhalten festgestellt. Bei Ratten wird die Geophagie vor allem
unter Stressbedingungen beobachtet, so dass
hier eine Art Übersprunghandlung zur Spannungsabfuhr vermutet werden kann. Daneben
hat bei diesen Tieren die Koprophagie, das Verschlingen der eigenen Fäzes auch eine alimentäre
Bedeutung. Es wurde gezeigt, dass dadurch in
Hungerzeiten eine bessere Futterverwertung ermöglicht wird, was wahrscheinlich auf die Rückgewinnung der Verdauungsenzyme zurückzuführen ist. Andere Nager sollen auf diesem Weg
Vitamin K, welches in der Blinddarmflora produziert wird, recyceln. Koprophagie wurde des Weiteren auch bei Pferden und bei Menschenaffen
beobachtet. Bei Fohlen scheint sie ein entwicklungsspezifisches Phänomen zu sein, welches
699
Buch 4.indb 699
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Kap. 19.3
T. Knecht
meist vor der 19. Woche auftritt, wobei der Kot
des Muttertiers bevorzugt wird. Hier besteht die
Vermutung, dass dadurch der Bedarf an Deoxycholsäure gedeckt wird; daneben könnten aber
auf diesem Weg auch bestimmte Nährstoffe erschlossen und eine speziesspezfische Darmflora
aufgebaut werden. Gorillas haben als Blattfresser einen wesentlich längeren Verdauungstrakt
als beispielsweise die frugivoren Schimpansen.
Da Blätter deutlich energieärmer und schwerer
aufschließbar sind, dürfte hier die Koprophagie
eine wirksame Sparmaßnahme zur besseren
Ausnutzung der Energieträger darstellen.
Hunde fressen Gras, wenn sie unter dyspeptischen Beschwerden leiden – ein Verhalten,
dem durchaus ein gewisser selbsttherapeutischer Charakter zugesprochen werden darf.
Noch deutlicher wird dies bei Rindern, welche
an Osteomalazie leiden und sogar Knochen fressen, wobei dieses Phänomen verschwindet, sobald sie mit einer phosphorreichen Diät versorgt
werden.
5. Ätiopathogenetische Aspekte
Wie aus den oben angeführten zoologischen
Beispielen hervorgeht, steht picaartiges Verhalten zumindest auf animalischer Stufe durchaus im Dienste physiologischer, allenfalls pathophysiologischer Prozesse. Es soll nun nicht
voreilig geschlossen werden, dass es sich beim
Menschen genauso verhalten muss, doch mutet
es durchaus zweckmäßig an, wenn Kinder mit
Parathormonmangel Gips oder Kreide essen.
Bei der Aufnahme von bleihaltiger Farbe mit
den Konsequenzen einer Bleivergiftung kann
jedoch nicht mehr von Zweckmäßigkeit gesprochen werden. So wurden picazistische Phänomene beim Menschen tatsächlich lange nicht
verstanden, soweit sie nicht durch Traditionen
oder volksheilkundliche Glaubensüberzeugungen begründet waren. Unter dem Aspekt des
überlieferten Brauchtums wurde schon frühzeitig klar, dass nicht jede Form von Pica als
pathologisch zu werten ist. Einerseits können
kollektive Formen von picaartigem Verhalten
durchaus sinnvolle Anpassungen an bestimmte
Lebenssituationen sein, andererseits zeigte die
neuere Forschung, dass sich hinter einer Pica
pathologische Zustände verbergen können und
zwar sowohl somatisch-medizinische Mangelzustände wie auch psychopathologische Krankheitsbilder.
Als gesichert darf gelten, dass viele Fälle von
Pica durch ein Erklärungsmodell verständlich
werden, welches man als t3FTUPSJOHi"OTBU[
bezeichnet. „To restore“ bedeutet auf Deutsch
soviel wie „zurückerstatten, wiederherstellen“,
d. h. ein Organismus führt sich aus spontanem
Antrieb jene Substanzen zu, bezüglich derer ein
Mangel besteht. Global gesehen dürfte Eisenmangel (Sideropenie) die häufigste Defizienz
sein, welche hinter einer Pica steht. Seltener
wird Pica durch einen Mangel an anderen Mineralstoffen wie z. B. Zink, Kalzium, Natrium,
Kalium, Kupfer, Kobalt ausgelöst. Ein plausibles
Erklärungsmodell bietet die Bonsdorff’sche Hypothese (Bonsdorff, 1977): Spurenelemente wie
Eisen können als obligatorische Co-Faktoren
von Schlüsselenzymen der Neurotransmittersynthese (z. B. Tyrosin-Hydroxylase) verhaltenswirksam werden, insbesondere wenn sie ihre
Funktion im Bereich des lateralen Hypothalamus (Appetitzentrum) ausüben.
Längst nicht jede Form von Pica kann indessen auf diese Weise erschöpfend erklärt werden:
So ist Pica-Verhalten bei Schwerstbehinderten
in erster Linie auf eine 8BISOFINVOHT VOE
Diskriminationsschwäche zurückzuführen.
In andern Fällen kommt ein Lerneffekt via
PQFSBOUFT,POEJUJPOJFSFO in Frage, so bei der
Zigaretten-Pica, bei welcher das einverleibte Objekt mit dem zentralaktiven Nikotin als neurochemischer Verstärker wirkt.
Unter FOUXJDLMVOHTQTZDIPMPHJTDIFN (F
sichtspunkt könnten bestimmte Fälle von Pica
auch als Überdauern des kindlichen „Hand-zuMund-Verhaltens“ interpretiert werden, welches
vor allem unter Stressbedingungen vermehrt
auftritt (Singhi et al., 1981).
700
Buch 4.indb 700
15.10.2009 14:19:04
Pica – qualitative Normabweichungen des Appetits
Des weiteren kann Pica-Verhalten im Rahmen von SBVNGPSEFSOEFO1SP[FTTFO JN4DIMÅ
GFOMBQQFO auftreten. Die orale Enthemmung
mit picazistischem Einschlag kann dann als
QBSUJFMMFT ,MÛWFS#VDZ4ZOESPN interpretiert
werden, zumal die Amygdala in diesen Fällen
lädiert ist und ihre modulierende Kontrolle des
Ernährungsinstinktes nicht mehr vollwertig
wahrnehmen kann (Nicolai et al., 1991).
Schließlich ist auch noch das Auftreten von
Pica bei normal intelligenten psychiatrischen
Patienten plausibel zu machen. So wurde eine
symptomatische Pica schon bei Schizophrenen, Depressiven, Zwangskranken und Autisten beschrieben (Knecht, 1999). Störungen im
Transmitterhaushalt – etwa auf der Basis eines Eisen- oder Kupfermangels – wären dabei
Erklärungsmöglichkeiten, doch sind sie längst
nicht immer nachweisbar. Diese sekundären
Pica-Formen bleiben noch Gegenstand weiterer
Forschungen, zumal vorerst verschiedene Deutungsmöglichkeiten denkbar sind. Im Falle der
massiven Poly-Pica eines Schizophrenen boten
sich folgende Interpretationsmöglichkeiten an
(Knecht, 2001):
r
r
r
r
r
neurochemisch ausgelöste Kompensationsversuche des Transmitterhaushaltes
Desintegration des Ernährungsinstinktes
bei Schwäche der kortikalen Kontrolle
Übersprungshandlung zur Spannungsregulierung bei widersprüchlichen Triebimpulsen
wahnhaft motivierte Symbolhandlungen,
z. B. magische Abwehr
bizarre Form der Selbstkasteiung
Arieti (1944) verstand solche Verhaltensphänomene als Regressionszeichen bei Versagen der
höheren Steuerungsinstanzen im Gehirn. Lyketsos et al. (1985) schilderten die Koprophagie
einer Schizophrenen als Selbstbestrafungsmechanismus, wenn sie inzestuöse Geschlechtsszenen halluzinierte.
6. Komplikationen
Der Krankheitswert der Pica leitet sich in erster
Linie aus den Komplikationsmöglichkeiten ab,
deren Zahl in Anbetracht der Vielfalt der PicaObjekte unübersehbar groß ist. Folgeschäden
können jedoch je nach Form, Größe und stofflicher Natur der einverleibten Objekte breit variieren. So können großvolumige Fremdkörper
direkt den Bolustod bewirken, während kleinere
die Gefahr mit sich bringen, durch Aspiration in
die Luftröhre bzw. Bronchien zu geraten.
Schwermetalle wie z. B. Blei oder Quecksilber
führen aufgrund ihrer Wasserlöslichkeit zu Intoxikationen mit Folgeschäden an Knochenmark,
zentralem und peripherem Nervensystem. Seltene
Formen der Pica können auch zu Intoxikationen
mit weniger giftigen körpereigenen Substanzen
führen, so z. B. die Cautopyreiophagie (Einnahme
von abgebrannten Zündholzköpfchen), welche zu
einer lebensbedrohlichen Hyperkaliämie führen
kann. Andererseits kann es auch sekundär zu gefährlichen Mangelzuständen kommen, dies z. B.
bei Lehmessern, die manchmal eine Hypokaliämie erleiden, welche eine diffuse Myopathie
nach sich ziehen kann (Severance et al., 1988).
Führt das Pica-Verhalten zu unstillbarem
Erbrechen, kann dies zu metabolischer Alkalose
führen.
Bekannt ist, dass die Geophagie eine erhebliche Gefahr der Infestation mit verschiedenen
Darmparasiten mit sich bringen kann: in unseren Breiten können dies in erster Linie der Pferdespulwurm, der Peitschenwurm, der Hundebandwurm oder auch Lamblien sein.
Werden scharfe Gegenstände wie z. B. Zahnstocher, metallisches Besteck, usw. eingenommen, besteht die Gefahr innerer Verletzungen.
Gefürchtete Komplikationen sind Ileus mit nekrotisierender Enterokolitis, Mucosa-Verletzungen mit Hämorrhagie oder sogar Perforation der
Hohlorgane mit Durchbruch in die Bauchhöhle
und Peritonitis.
Werden längliche oder besonders voluminöse Objekte wie Haare, Schnüre, Styroporstü701
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Kap. 19.3
T. Knecht
cke, usw. verschlungen, so kann sich im Magen
ein Bezoar bilden. Wenn sich dieser peristaltisch
nicht weiterbewegen lässt, muss er unter Umständen operativ entfernt werden. Im Falle der
Trichophagie (Haare) kann es zum sogenannten
Trichobezoar kommen, was eine Durchwanderungsperitonitis im Magen-/Darmtrakt zur
Folge haben kann und als „Rapunzel“-Syndrom
bezeichnet wird (Vaughan et al., 1968).
Beruht die Pica auf einem einfachen Eisenmangel, so sind die klinischen Zeichen der Sideropenie zu erwarten: Anämie, Zungenpapillenatrophie, Zungenbrennen, Mundwinkelcheilitis, u. a.
7. Therapie
Die Therapie der Pica weist zwei grundlegend
verschiedene Aspekte auf: die prompte Behandlung der verschiedenen Komplikationen und
eine möglichst kausale, gegen die Grundstörung
gerichtete Therapie. Dementsprechend kann
die Behandlung kausal oder symptomatisch
sein, kann kurativ auf völlige Beseitigung der
Störungsursache zielen oder allenfalls palliativ
sein, wenn die Ursache dieser Verhaltensanomalie nicht sanierbar ist (z. B. bei inoperablem
Hirntumor). Im einfachsten Fall verschwindet
das Pica-Verhalten prompt durch Beseitigung
gesicherter Mangelzustände. Kommt es durch
die einverleibten Pica-Objekte zu inneren Verletzungen oder Verschlüssen des Magen-Darmtraktes, z. B. durch Bezoarbildung, so sind chirurgische oder endoskopische Interventionen erforderlich. Im Falle des inoperablen Hirntumors
und bei partiellem Klüver-Bucy-Syndrom kann
das Pica-Verhalten durch die Gabe von Carbamazepin in einschleichender Dosierung auf ca.
800 –1200 mg/d günstig beeinflusst werden.
Tritt Pica im Rahmen einer psychiatrischen
Grundstörung auf, so bestehen gute Aussichten,
dass eine spezifische Pharmakotherapie nicht
nur die vertraute psychiatrische Symptomatik, sondern auch die Essstörung normalisiert.
So können bei Schizophrenen vorab atypische
Neuroleptika, allenfalls Elektrokrampfbehandlung empfohlen werden. Bei Menschen, die im
Rahmen von schweren depressiven Episoden
zum Pica-Verhalten übergehen, sind in erster Linie klassische Antidepressiva empfehlenswert,
während bei Zwangskranken mit Pica eher die
selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmer
(SSRI) erfolgsversprechend sind, wobei die Dosis
aber deutlich höher als bei klassischen Depressionen anzusetzen ist (Knecht, 1999).
Bei geistig Behinderten kann unter Umständen bereits eine mit verschiedenen Spurenelementen angereicherte Diät eine signifikante
Besserung bringen (Bugle et al., 1993). Daneben
bestehen aber auch etliche Erfahrungen mit
verhaltens- und milieutherapeutischen Ansätzen, welche je nach Bedarfslage einzeln oder zu
ganzen Maßnahmepaketen zusammengefasst
werden können: Priorität hat die Elimination
der picafähigen Objekte sowie eine Umgebungsanreicherung mit adäquatem, d. h. nicht-picafähigem Spielzeug. Dazu kommt eine straffe
Tagesstrukturierung mit intensiver Bezugspersonenarbeit.
Schließlich wurden verschiedene verhaltenstherapeutische Ansätze entwickelt, welche
je nach Indikation miteinbezogen werden können:
r
r
r
r
r
r
Toilettentraining bei Koprophagie und Kotschmieren
„Habit Reversal“ (Ersatz des Pica-Verhaltens
durch ein inkompatibles Verhaltensmuster)
Diskriminationstraining bei Wahrnehmungsstörungen
Response-Interruption (jeder Ansatz zu
Pica-Verhalten wird konsequent abgeblockt)
Positive-Practice-Overcorrection (Einübung
alternativer Verhaltensweisen)
Negative-Practice (Unerwünschtes Verhalten wird bis zum Überdruss forciert –
Knecht, 1999)
702
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15.10.2009 14:19:04
Pica – qualitative Normabweichungen des Appetits
Bei voller Ausschöpfung des gesamten Spektrums an Interventionsmöglichkeiten sollte es in
den meisten Fällen möglich sein, auf mechanische Zwangsmittel wie Isolation, Fixation durch
Bettgurte, Gesichtsmasken und ähnliches zu
verzichten.
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