Pharma-Marketing pharmind Zukunftsperspektiven für

Werbung
Pharma-Marketing pharmind
Zukunftsperspektiven für
pharmazeutisches Marketing
Marktempowerment − Eine Herausforderung für pharmazeutische Dienstleister
Dr. Dr. Fred Harmsa, Ass. Prof., Dr. Dorothee Gänshirta, Ass. Prof., und Dr. Michael Lonsertb
Health Care Compentence Center GmbH, Basel (Schweiz)a und Mayne Pharma Ltd.,
Commercial Operations Europe, Münchenb
In einer Zeit in der die Menschen
ihre Leben individuell gestalten,
wirkt sich dieser Gestaltungswille
auch auf die medizinische Versorgung aus. Die Medizin wird
daher in immer stärkerem Maße
zu einem normalen Bestandteil
unseres Lebens. Patienten schlukken nicht länger bereitwillig, was
man ihnen verschreibt, sondern
sie verstehen sich mehr und
mehr als selbstbewußte Manager
der eigenen Gesundheit. Sie beschäftigen sich intensiv mit ihrer
Erkrankung, haben ein großes
Interesse an Gesundheitsthemen
und − daraus resultierend − ein
stark wachsendes Informationsbedürfnis: Folglich hat auch in
Deutschland der Gesundheitsmarkt diese „neue“ Zielgruppe
entdeckt. Denn: Wer von seinen
Kunden Loyalität erwartet, muß
sich um sie kümmern.
Pharm. Ind. 67, Nr. 8, 865−870 (2005)
 ECV · Editio Cantor Verlag, Aulendorf (Germany)
Einleitende Bemerkungen
In den nächsten Jahren wird sich
das Marketing pharmazeutischer
Produkte grundlegend verändern.
Der Verdrängungswettbewerb und
die Emanzipation der Kunden nehmen zu, die F&E-Kosten zur Entwicklung innovativer Medikamente
steigen, und das Zeitfenster zur
alleinigen Vermarktung verringert
sich kontinuierlich. In einer Zeit der
abnehmenden Produktdifferenzierung ist der Schlüssel zum Erfolg in
einem nicht unerheblichen Maße
mit der Annäherung der Unternehmen an deren Kunden verbunden.
Das Marketing medizinischer Innovationen wird nur dann erfolgreich
sein, wenn der direkte Kontakt mit
den verschiedenen Institutionen
innerhalb des sich ändernden Gesundheitssystems gesucht wird.
Von Bedeutung ist dabei der Aufbau
eines partnerschaftlichen Verhältnisses zu den verschiedenen Meinungsbildnern innerhalb des Pharmamarktes.
Mit den sich verschärfenden
Randbedingungen erfordert der
Verkauf von Arzneimitteln ein Umdenken bei der Vermarktung. Die
zunehmende Komplexität benötigt
eine Adaptation an die sich ändernden gesellschaftspolitischen Bedingungen. Falls das sich verändernde
Umfeld nicht als ganzheitlicher
Kommunikationsprozeß Eingang in
die Marketing-Strategie findet, werden wichtige Chancen für die Zukunft vergeben. Somit können diejenigen Firmen, die den konventionellen Weg weitergehen, möglicherweise überleben, aber nur diejenigen, die sich den neuen Herausforderungen stellen, langfristig erfolgreich sein.
Innovationsdruck
stark wie nie zuvor
Innovationen bilden die Grundlage
erfolgreicher Pharmaunternehmen.
Dauerhaftes Wachstum und Beschäftigung können nur entstehen,
wenn es der pharmazeutischen Industrie gelingt, immer neue Produkte und Dienstleistungen anzubieten, die den Anforderungen der
Märkte auf bestmögliche Weise gerecht werden. Im Mittelpunkt der
klinischen Entwicklung stehen daher die Volkskrankheiten. Für das
Gebiet der Onkologie, der Neurologie und der Herz-Kreislauf-Erkrankungen wurden 2004 mehr als 3000
Forschungsprojekte initiiert. Allein
in Deutschland befinden sich derzeit mehr als 120 Arzneistoffe in der
klinischen Phase III oder im Zulassungsprozeß. Damit die Produkte
mit den gestiegenen individuellen
und gesellschaftlichen Anforderungen Schritt halten, haben die Pharmaunternehmen ihre Gesamtausgaben für Forschungs- und Ent-
Harms et al. − Pharma-Marketing
865
Arzneimittelwesen · Gesundheitspolitik · Industrie und Gesellschaft: Pharma-Marketing
wicklungstätigkeiten (F&E) seit Mitte
der 80er Jahre kontinuierlich von
11 Mrd. US-$ auf mehr als 49 Mrd.
US-$ im Jahr 2004 erhöht. Gleichzeitig hat sich die Zeitspanne von
der Synthese bis zur Zulassung eines neuen Medikamentes innerhalb der letzten 30 Jahre von zwei
auf zwölf Jahre verlängert. Innerhalb dieses Prozesses wird statistisch nur eine von 5000 anfänglich
untersuchten Substanzen zugelassen.
Derzeit belaufen sich die Entwicklungskosten von Pharmainnovationen auf bis zu 500 Mio. US-$, bei
jährlichen Steigerungsraten von
7,5 %. Im Gegensatz zu den steigenden Forschungskosten verringert
sich der Zeitraum für die Alleinvermarktung eines Medikamentes
kontinuierlich. Erschwerend kommt
hinzu, daß nur drei von zehn neu
zugelassenen Arzneimitteln die erwarteten Einnahmen generieren.
Gerade wegen des großen Gewinneinflusses innovativer Medikamente − 50 % des Umsatzes pharmazeutischer Unternehmen werden durch
Präparate erzielt, die vor einer Dekade noch nicht zugelassen waren −
gewinnt die frühzeitige Ausrichtung
von Neuentwicklungen an den Bedürfnissen aller Beteiligten des Gesundheitsmarktes eine immer größere Bedeutung.
Dr. Dr. Fred Harms, Ass. Prof.
Dr. Dorothee Gänshirt, Ass. Prof.
Dr. Michael Lonsert
ist einer der Mitbegründer und Leiter
des Health Care Competence Centers
(HC3) in Basel (Schweiz). Vor seiner Tätigkeit am Competence Center war er
in verschiedenen leitenden Positionen
in der pharmazeutischen Industrie im
In- und Ausland beschäftigt. Neben seinen beruflichen Schwerpunkten in den
Bereichen Internationales Pharmamarketing, Projektmanagement und Business Development hat er in den letzten
fünf Jahren mehr als 100 Publikationen
mit dem Schwerpunkt DtC (Direct-toConsumer), DfC (Direct-from-Consumer), Patient Empowerment, Service
Marketing, Economical Marketing, Political Marketing und Compliance Management verfaßt. Er ist Mitglied der
American Association for the Advancement of Science und der New York Academy of Sciences. In diesem Sinne umfaßt sein Beratungsmandat zahlreiche
biotechnologische und pharmazeutische Unternehmen, die sich auf die
Markteinführung innovativer Arzneimittel spezialisiert haben.
ist Mitbegründerin und Leiterin des
Health Care Competence Centers (HC3)
in Basel (Schweiz). Vor ihrer Tätigkeit
am Competence Center war sie Leiterin
einer der weltweit führenden Gruppen
im Bereich der Pränatalmedizin, einem
Fach, in dem sie mehr als 150 Publikationen verfaßt hat. Sie war Gründerin
und langjähriger CEO eines Biotechnologie-Unternehmens, das unterstützt
durch signifikante internationale Fundings u. a. viele Jahre lang Teilnehmer einer NIH-Studie war. Prof. Gänshirt ist
akkreditiertes Mitglied der EMWA (European Medical Writers Association), der
American Association for the Advancement of Science und der New York Academy of Sciences. In diesem Sinne umfaßt ihr Beratungsmandat zahlreiche
biotechnologische und pharmazeutische Unternehmen, die sich auf die Entwicklung und Zulassung innovativer
Arzneimittel spezialisiert haben.
studierte und promovierte an der Universität Hamburg. Seit 1987 ist er in
der pharmazeutischen Industrie in den
Bereichen OTC, Rx und jetzt Gx tätig.
Er arbeitete in Deutschland, in der
Schweiz und in den USA in verschiedenen Marketing- und General Management-Funktionen. Derzeit ist Dr. Lonsert als Vice-President, Commercial
Operations Europe bei Mayne Pharma
Ltd. tätig. Er ist Herausgeber des Handbuch Pharma Management und Autor
zahlreicher Buchbeiträge und Fachartikel zu Management- und MarketingThemen in der pharmazeutischen Industrie.
866
Harms et al. − Pharma-Marketing
Pharm. Ind. 67, Nr. 8, 865−870 (2005)
 ECV · Editio Cantor Verlag, Aulendorf (Germany)
Arzneimittelwesen · Gesundheitspolitik · Industrie und Gesellschaft: Pharma-Marketing
Gesellschaft, Politik
und Multiplikatoren
Der Pharmamarkt zeichnet sich
durch eine besondere Konstellation
mangelnder Kundensouveränität
aus. Diejenigen, die Entscheidungen treffen, sind nicht identisch mit
denen, die Leistungen beziehen
und jenen, die sie bezahlen. Das System befindet sich momentan in einer Phase des radikalen Umbruchs.
Gegenwärtig entfallen 80 % des
Marketing-Budgets pharmazeutischer Unternehmen auf die Kommunikation mit Ärzten, Apothekern, Krankenhäusern und Großhandel. Marketing-Intensivierung
bedeutet vielfach nur Aufstockung
des Außendienstes (Abb. 1).
Waren bisher die Ärzte und Apotheker die entscheidenden Meinungsbildner zum Einsatz eines
bestimmten Medikamentes, nimmt
der Druck der Patienten auf die Verschreibungsgewohnheiten zu. Gerade bei chronischen Erkrankungen
treten sie nicht mehr als Individualpatient, sondern als Teil gut informierter und organisierter Gemeinschaften auf. Diese national und international agierenden Institutionen greifen dabei in immer stärkerem Maße aktiv in den Meinungsbildungsprozeß ein. Der Patient
verläßt seine passive Position, d. h.
er ist nicht mehr nur Konsument
der verordneten Medikation, sondern möchte in direkter Absprache
mit seinem Arzt und/oder Apotheker die Notwendigkeit der Therapie
erörtert wissen. Er fordert nicht nur
die Verschreibung eines innovativen Arzneimittels, sondern die Patienten-adaptierte Darlegung des
Wirkungs- und des Nebenwirkungsprofils des Therapiekonzeptes.
Die zunehmend teuren Pharmainnovationen lösen dabei mehr und
mehr gesellschaftliche Diskussionen aus, die über das normale ArztPatienten-Verhältnis hinausgehen.
Marktakzeptanz und -erfolg hängen
nicht mehr nur von den direkt Beteiligten ab, vielmehr von einer großen Anzahl unterschiedlichster Interessengruppen, denn: „Die gesellschaftlichen Wertvorstellungen bePharm. Ind. 67, Nr. 8, 865−870 (2005)
 ECV · Editio Cantor Verlag, Aulendorf (Germany)
Behörden
Beitragszahler
Versicherungen
Medien
Kirche
Upstream-Fokus
80% der gegenwärtigen
Marketing-Aufwendungen
bei den führenden
pharmazeutischen Unternehmen
Downstream-Fokus
Sozialbereich
Politik
Großhandel
Apotheker
Krankenhäuser
Ärzte
Pflegepersonal
Praxismanager
Rehabilitationszentren
Interessenvertretungen
Angehörige
Patienten
Abb. 1: Klassisches und innovatives Pharma-Marketing (Quelle: Harms/Gänshirt,
Gesundheitsmarketing und Patientenempowerment, Lucius-Verlag, Stuttgart 2005).
ginnen sich zu ändern“. Stand in
den 90er Jahren noch die Frage im
Vordergrund: „Was wird ein neues
Medikament kosten?“, wird in Zukunft folgender Sachverhalt diskutiert: „Was ist das Sozialsystem bzw.
der Patient bereit, für eine neue
Therapieform zu bezahlen?“.
Somit stößt die Industrie bei der
Preisgestaltung innovativer Arzneimittel zunehmend an ihre Grenzen.
Die medizinische Versorgung steht
also auf dem Prüfstand einer Kosten-Nutzen-Analyse. Dabei wird
der Sinn etablierter und auch neuer
Therapien und Diagnoseverfahren
kritisch hinterfragt. Innovative Medikamente sind deshalb keine Selbstläufer mehr. Ihr Wert muß im Sinne
einer Bringschuld eindeutig belegt
werden.
InnovationsMarketing-Management
Innovation ist antizipierter Wettbewerb. Kundenorientierung wird
zum zentralen Erfolgsfaktor, der
sich durch den gesamten Entwicklungsprozeß, von der Forschung
über die klinischen Phasen bis zur
Markteinführung zieht. Innovationsmarketing muß zukünftig relevante
Entwicklungen bereits heute be-
rücksichtigen. Der Kunde entwikkelt sich zum zentralen Element innerhalb der eigenen Produktentwicklung bzw. die Bedürfnisbefriedigung des Marktes zum Gütesiegel
des strategischen Gesamtkonzeptes.
Im Gegensatz zu Zeitpunkt-bezogen Inventionen sind Innovationen Prozesse (Abb. 2). Wegen der
unterschiedlichen Managementaufgaben im Verlauf eines Prozesses ist
es zweckmäßig, Innovationen in typische Phasen einzuteilen. Innerhalb dieser Teilprozesse gilt es unterschiedliche Kommunikations- und
Kooperationsstrategien zu entwikkeln. Dies bedeutet die Definition
eines Kommunikations- und Marketing-Konzeptes für die Innovationsfrühphasen, die klinischen Phasen und für die Markteinführung,
um die angestrebte Marktpositionierung entwicklungsparallel aufzubauen.
Zu bedenken ist dabei, daß der
Erfolg von pharmazeutischen Innovationen nicht von einzelnen Kunden abhängig ist, sondern von verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen mit unterschiedlichen − teilweise widerstrebenden Motiven
und Einstellungen bestimmt wird.
Die seit den 70er Jahren gewachse-
Harms et al. − Pharma-Marketing
867
Ko
ste
nve
rlauf
Arzneimittelwesen · Gesundheitspolitik · Industrie und Gesellschaft: Pharma-Marketing
Arzneimittel- Arzneimittel
Forschung
- Klinik -
Wissenschafts- Grundlagen- Forschung
Forschung
information
- Präklinik -
InnovationsPhasen
Marktinformation
1
2
Grundlagen-
Präklinische
Forschung
Entwicklung Entwicklung
Grundlagen- Präklinische
Analyse
Analyse
la
nver
Koste
3
Klinische
Klinische
Analyse
4
5
Produktion
7
6
Zulassung
Produktions- ZulassungsAnalyse
Analyse
Branding &
Life-CycleManagement
Launch;
MarktEinführung
Zulassung
Produktion
Klassisches
Innovations-
Marketing
Marketing
Markt-Analyse
MarktFeedbackAnalyse
uf
Abb. 2: Innovationsprozeß Pharma und Gesundheit (Quelle: Harms/Gänshirt, Gesundheitsmarketing und Patientenempowerment, Lucius-Verlag, Stuttgart 2005).
nen klassischen Säulen des Marketing − Produkt (Product), Preis
(Price), Ort (Place) und Werbung
(Promotion) − können somit nur
eine Grundlage bilden, um die auf
dem Gesundheitsmarkt bestehenden Beeinflussungsverhältnisse und
die hinzukommenden Veränderungen zu erfassen. Internationalisierung, wandelnde politische und
ökonomische Rahmenbedingungen,
veränderte Beziehungen zwischen
Ärzten, Apothekern und Patienten
sowie die Entstehung neuer Interessenvertretungen verlangen nach
weitergehenden marketingpolitischen
Instrumenten.
Diese Gedanken führen zur Erweiterung der klassischen vier Marketing-P’s um drei weitere Determinanten. Die genaue Kenntnis der
unterschiedlichen Gruppierungen
(Player) und deren Beziehungen
(Processes) untereinander wird von
der Erforschung bis hin zur Markteinführung der Innovation zum
zentralen Erfolgsfaktor der pharmazeutischen Industrie. Diese ist dann
erfolgreich, wenn die richtige Positionierung (Positioning) in den
Köpfen der Zielgruppen erreicht
wird.
rate zur Verfügung. Diese Entwicklung deutet darauf hin, daß der Produkterfolg nicht mehr nur über den
reinen Wirknutzen, sondern zunehmend über dienstleistungsorientierte Zusatznutzen generiert werden muß. Kunden werden zukünftig zwischen solchen Unternehmen
wählen können, die nur Medikamente verkaufen und solchen, bei
denen der Servicegedanke im Vordergrund steht, den: Subjektiv schlägt
Objektiv.
Für forschende Pharmaunternehmen wird die Positionierung innovativer Konzepte über mehrwertsteigernde Zusatzleistungen zum
entscheidenden Erfolgsfaktor. Weg
vom reinen Grund-Wirk-Nutzen,
hin zu einem Gesundheitsservicepaket. Duale Beziehungen zwischen
Marktstruktur
Multi-dimensionales Pharma-Marketing
Key AccountManagement
Ärzten und Apothekern stehen zunehmend austauschbarere Präpa-
868
Harms et al. − Pharma-Marketing
⇒
Pharmzeutische Industrie
Behörden
Kassen
Großhandel
Träger
Einzelhandel
ServiceMarketing
⇒
Entscheidungsträger
in Regulierungs-und
Einkaufsinstanzen
Ärzte, Patienten,
Verbände,
Vereinigungen
Verbände
Arzt
Medien
Marktadaptierte
Positionierung
Pharmaunternehmen und Arzt oder
Apotheker sind überholt. Vielmehr
muß ein innovatives BeziehungsMarketing unter Einbeziehung aller
Beteiligten verfolgt werden. Die Reputation eines pharmazeutischen
Unternehmens bzw. der Umgang
des Marketing mit den verschiedenen Interessenverbänden unseres
Gesundheitssystems − z. B. durch
den Einsatz von Direct-to-Consumer-Maßnahmen (DTC) − wird zum
strategischen Erfolgsfaktor der Positionierung.
Das bisherige weitgehend eindimensionale Marketing mit der Einstellung „one message fits it all“
muß um einige neue Dimensionen
ergänzt werden. Eines der Erfolgsrezepte wäre der multi-dimensionale Marketing-Ansatz (Abb. 3).
Hierbei sollte das Key-Account-Management wichtige Entscheidungsträger ansprechen. Das ServiceMarketing könnte die verschiedenen Interessenverbände der Ärzte,
Apotheker, Kassen, Zulassungsbehörden und vor allem der Patienten
in die Diskussion einbinden. Das
Economical-Marketing sollte eine
Zusammenarbeit mit wirtschaftspolitischen Institutionen anstreben.
Außerdem müßte das Political-Marketing das Gespräch mit den politischen Parteien zur Implementierung eines Verständnisses für kundenorientierte Kommunikationskonzepte führen. Somit: „In einer
Zeit, in der die Menschen ihr Leben
individuell gestalten, wirkt sich die-
EconomicalMarketing
⇒
Wirtschaftliche und
wirtschaftspolitische
Argumente
Patient
PoliticalMarketing
⇒
Pro-aktive
Marktgestaltung
Abb. 3: Evolution zum multidimensionalen Marketing (Quelle: Harms/Gänshirt, Gesundheitsmarketing und Patientenempowerment, Lucius-Verlag, Stuttgart 2005).
Pharm. Ind. 67, Nr. 8, 865−870 (2005)
 ECV · Editio Cantor Verlag, Aulendorf (Germany)
Arzneimittelwesen · Gesundheitspolitik · Industrie und Gesellschaft: Pharma-Marketing
ser Gestaltungswille auch auf die
medizinische Versorgung aus, die in
immer stärkerem Maße zu einem
normalen Bestandteil unseres alltäglichen Lebens avanciert“.
Bestellung von in D zugelassenen Präparaten**
Kauf eines frei verkäuflichen Arzneimittels*
Angaben in %
Angaben in %
Über das Ausland
Weiß nicht
Ja, kann ich mir vorstellen
4,80
Vor mehr als einem Jahr
6,60
Innerhalb des letzten Jahres
10,80
9,00
Über das Internet
27,70
Im letzten halben Jahr
Ja, kann ich mir vorstellen
29,50
In den letzten 4 Wochen
Ja, habe ich schon gemacht
11,80
73,6
22,00
In der letzten Woche
0,00
Patientenempowerment
68,8
Ja, habe ich schon gemacht
10,00
20,00
0,00
30,00
20,00
40,00
60,00
80,00
Bestellung von in D nicht zugelassenen Präparaten
Bezugsquelle rezeptfreier Arzneimittel***
(Mehrfachnennungen möglich)
Derzeit beschäftigen sich in den
USA mehr als 18 000 Websites mit
der medizinischen Versorgung. Seit
dem Jahr 2005 ist die Anzahl weltweit auf über 150 000 angewachsen.
Alleine in Deutschland sind ca.
2000 Gesundheits-Sites abrufbar.
Somit verändert der Kunde durch
die verbesserte Informationsbeschaffung seinen Informationsstand
in einem atemberaubenden Tempo.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts begibt er sich auf eine „Intellektuelle
e-Shopping-Tour“. Der Patient sucht
sich via Web oder Call-Center aktuelle Daten über innovative Produkte und läßt sich durch unterschiedliche Gesundheitsportale in
die Welt der Medizin einweisen. Er
unterzieht die Diagnose des Arztes
einer Electronic-Second-Opinion
und konfrontiert Arzt und Apotheker mit den Ergebnissen.
Diese Entwicklung bewog die regulativen und legislativen Institutionen in Europa dazu neue Richtlinien zu erlassen, wie z. B. mit medizinischen Informationen umzugehen ist. Daher hat die Europäische Kommission die Möglichkeit
eröffnet, ausgewählte Produktinformationen im Internet zu hinterlegen. Anhand dieser, noch vor wenigen Jahren nicht denkbaren Liberalisierungstendenzen wird deutlich,
daß das Internet einen großen Teil
der regulatorischen Einschränkungen ad absurdum führt und somit
nationale Regelwerke langfristig aushebelt.
Gegenwärtig ist der e-BusinessSektor einer der am stärksten wachsenden Wirtschaftsbereiche. Der eHandel mit pharmazeutischen Waren und Dienstleistungen erzielt
weltweit jährlich dreistellige Zuwachsraten. Von Interesse ist, daß
mehr als die Hälfte der Informationssuchenden bereit wären Medikamente, OTC-Produkte, Vitamine
Pharm. Ind. 67, Nr. 8, 865−870 (2005)
 ECV · Editio Cantor Verlag, Aulendorf (Germany)
Ausland
Über das Ausland
8,70
Internet
Ja, kann ich mir vorstellen
12,70
Ja, habe ich schon gemacht
Reformhaus
43,9
2,80
13,20
Supermarkt
Über das Internet
18,90
Ja, kann ich mir vorstellen
Ja, habe ich schon gemacht
41,00
Drogerie/Drogeriemarkt
97,20
45,8
1,80
Apotheke
0,00
*
20,00
40,00
60,00
80,00
100,00
0,00
Käufer rezeptfreier Arzneimittel, n = 5.182
10,00
20,00
30,00
40,00
50,00
** Rezeptfreie Arzneimittel innerhalb des letzten Jahres gekauft, n = 4.496
*** Rezeptfreie Arzneimittel innerhalb des letzten Jahres gekauft, n = 4.486
Abb. 4: Selbstmedikation 2004: Internet als Informationsquelle. Virtuelle Informationsmedien − mehr als ein Trend (Quelle: VN, HC3, Forschungsgruppe Wahlen, April 2004).
und Nahrungsergänzungsmittel über
das Internet zu bestellen (Abb. 4).
Mittlerweile existieren Dutzende
von Studien über das e-Kaufverhalten. Interessant hierbei ist, daß die
meisten Erhebungen nur Momentaufnahmen aus einem hochdynamischen Umfeld liefern. Die Informationen von heute gehören zum
„Datenmüll“ von morgen. Im Zeitalter des „www“ setzt sich die Erkenntnis durch, daß sich „BestPractice“ quartalsweise neu definiert und zum „Moving Target“
avanciert
Direct-to-Consumer
(DTC) in den USA
Nach verschiedenen Untersuchungen aus den USA und Europa kann
davon ausgegangen werden, daß im
Jahr 2005 mehr als 500 Millionen
Menschen weltweit online sind, davon leben ca. 30 % in Europa. Mit
Hilfe des Internets ist heute fast jeder in der Lage Informationen von
Universitäten, Forschungsinstituten
und pharmazeutischen Unternehmen abzurufen. In Kürze können
sich die meisten Menschen in der
westlichen Welt sämtliche Informationen zum Verlauf, zur Prognose
und zu den therapeutischen Möglichkeiten einer Erkrankung online
beschaffen.
Diese Entwicklung wird durch
die Nutzung von Werbekonzepten,
bei denen die Kunden/Patienten di-
rekt angesprochen werden, noch
verstärkt. In den USA wurden im
Jahr 2004 3,0 Mrd. US-$ für Maßnahmen aus dem Bereich Direct-toConsumer (DTC) ausgegeben. Jene
Ausgaben stellten bei einem großen
Teil der Top-10-Unternehmen den
Schwerpunkt des Werbebudgets dar.
Aus diesem Grund hat die amerikanische Gesundheitsbehörde FDA
(Food and Drug Administration)
eindeutige Regelungen zum Einsatz
dieser Werbemaßnahmen für verschreibungspflichtige Medikamente
erlassen.
In Amerika hat sich DTC zu
einem entscheidenden Faktor im
Marketing verschreibungspflichtiger Medikamente entwickelt. Der
Sinn des Einsatzes der Kommunikationskonzepte ist unumstritten. Innerhalb der letzten beiden Dekaden
konnten in den verschiedenen medizinischen Indikationen zahlreiche
Erfahrungen gesammelt und kundenadaptierte Maßnahmen durchgeführt werden. Damit wird der
zunehmenden Emanzipation des
Marktes Rechnung getragen.
Um die Akzeptanz und Effektivität von DTC zu optimieren, führen
die pharmazeutischen Unternehmen folgende Maßnahmen durch:
䊉
Die entscheidenden Meinungsbildner für die zu bewerbende
Erkrankung werden „frühzeitig“
in das Gesamtkonzept einbezogen und mögliche Konflikte im
Vorfeld beseitigt. Damit ist garan-
Harms et al. − Pharma-Marketing
869
Arzneimittelwesen · Gesundheitspolitik · Industrie und Gesellschaft: Pharma-Marketing
䊉
䊉
䊉
䊉
䊉
tiert, daß die Kommunikationsaussage der Kampagne die Meinung dieser wichtigen Zielgruppe reflektiert.
Patientengruppen und deren Vertretungen werden schon zum
Zeitpunkt der Ausarbeitung einer
Kommunikationsmaßnahme in
das Gesamtkonzept integriert.
Die Marketing-Abteilungen suchen „proaktiv“ das Gespräch
und integrieren die Patientenbedürfnisse in das Konzept. Die
enge Zusammenarbeit stärkt das
Vertrauen und wird häufig zum
zentralen Erfolgsfaktor für die
positive Entwicklung eines Medikamentes.
Die Marketing-Abteilungen formulieren die Aussagen wissenschaftlich fundiert. Mögliche Konfrontationen mit den verschiedenen Institutionen des Gesundheitssystems werden bewußt vermieden. Die Schulung von Symptomen gilt als ein wichtiger Faktor der Informationsvermittlung.
Eine realistische Darstellung −
ohne aufgebaute übertriebene
Erwartungen − wird als Garant
für eine erfolgreiche Kampagne
angesehen.
Alle Kommunikationsbotschaften
werden kritisch hinterfragt und
auf ihre Werbewirksamkeit getestet. Um das finanzielle Risiko zu
minimieren, wird der direkte
Kontakt mit dem Markt intensiv
gepflegt und der Einsatz externer
Berater propagiert.
Durch den engen Kontakt mit
den verschiedenen Marktteilnehmern werden die wesentlichen
Veränderungen innerhalb des
Marktes diskutiert. Das Marketing ist somit in der Lage, die Bedürfnisse der Kunden und die
Dynamik des Systems in das strategische Gesamtkonzept einzuarbeiten.
Die Kommunikation mit den verschiedenen meinungsbildenden Institutionen und der Aufbau einer
vertrauensvollen Zusammenarbeit
mit allen Marktteilnehmern werden
als zentrale Erfolgsfaktoren einer
Kampagne angesehen. Aus diesem
Grund werden durch das Marketing
870
Harms et al. − Pharma-Marketing
Direct-Response-Campaigns (DRCs)
entwickelt. Die potentiellen Kunden können über eine gebührenfreie Telefonnummer mehr Details
zu einer bestimmten Erkrankung
oder zu dem beworbenen Medikament in Erfahrung bringen. Sie
können Fragen stellen, Anregungen
geben und weiterführendes Informationsmaterial für das Arztgespräch anfordern.
DTC in Europa
Zur Zeit sind Werbemaßnahmen für
verschreibungspflichtige Medikamente laut der europäischen Direktive 92/28/EEC vom 31. März 1992
verboten. Dabei wird explizit jegliche Form der Werbung untersagt,
bei der der Name eines Medikamentes genannt wird. Patrick Deboyser, bis vor kurzem Chef der europäischen Kommission für pharmazeutische Belange − Head of the
EC Commission’s Pharmaceutical
Committee − sah das strikte Verbot
bereits 1999 als möglicherweise
überholt an, da seiner Meinung
nach die Patienten ein Recht auf
mehr Informationen über den gezielten Einsatz verschreibungspflichtiger Medikamente hätten.
Im Hinblick auf diese Position ist
die Entscheidung des Europäischen
Parlamentes vom 23. 10. 2002 in
Straßburg nur teilweise nachzuvollziehen, daß die Abgeordneten es
der pharmazeutischen Industrie
verbieten, testweise für drei Jahre
Informationen über Arzneimittel
gegen AIDS-HIV, Asthma und Diabetes direkt an Patienten zu geben.
Wenn man bedenkt, daß bis zu
80 % dieser Patienten das Internet
regelmäßig direkt oder indirekt nutzen, dann wird jedem Betrachter
sofort klar, daß diese Form der europäischen Informationspolitik möglicherweise nicht die Bedürfnisse
der Patienten reflektiert. Vor allem,
wenn man sich vor Augen führt,
daß 70 bis 90 % der chronisch Kranken keine Ahnung von den Wirkungen und Nebenwirkungen der Medikamente haben, die sie täglich
konsumieren sollten. Somit scheint
es niemanden zu verwundern, daß
nicht einmal 30 % der Patienten das
tun, was Ärzte und Apotheker ihnen raten.
Da Compliance etwas mit Überzeugung zu tun hat, diese allerdings
mit breit verfügbaren Informationen beginnt, wirkt es in Anbetracht
der desolaten Finanzen unserer
europäischen Gesundheitssysteme
vielleicht ein wenig grotesk an, daß
unsere Gesundheitspolitiker etwas
ablehnen, was auch in Europa dazu
beitragen könnte, die Folgekosten
der geringen Compliance in Höhe
von mehr als 30 Mrd. Euro über ein
Mehr an Information zu senken. In
Anlehnung an die WHO und deren
Bild vom selbstbestimmenden Patienten sollte man die Bevölkerung
nicht weiter davon abhalten, das
allgemeine Informationsbedürfnis
zu decken, vor allem dann nicht,
wenn DTC-Kampagnen in enger
Zusammenarbeit mit Ärzten und
Apothekern erstellt wurden, denn
eines hat uns das Jahr 2004 trotz
Vioxx eindeutig bewiesen: DTC
wird nicht nur von Ärzten, Patienten und Zulassungsbehörden in
den Vereinigten Staaten von Amerika akzeptiert, sondern zunehmend „propagiert“.
Korrespondenz:
Dr. Dr. Fred Harms, Ass. Prof.
Health Care Competence
Center Basel,
Birsigstr. 4,
4054 Basel (Schweiz),
e-mail: [email protected]
Pharm. Ind. 67, Nr. 8, 865−870 (2005)
 ECV · Editio Cantor Verlag, Aulendorf (Germany)
Herunterladen