Pharma-Marketing pharmind Zukunftsperspektiven für pharmazeutisches Marketing Marktempowerment − Eine Herausforderung für pharmazeutische Dienstleister Dr. Dr. Fred Harmsa, Ass. Prof., Dr. Dorothee Gänshirta, Ass. Prof., und Dr. Michael Lonsertb Health Care Compentence Center GmbH, Basel (Schweiz)a und Mayne Pharma Ltd., Commercial Operations Europe, Münchenb In einer Zeit in der die Menschen ihre Leben individuell gestalten, wirkt sich dieser Gestaltungswille auch auf die medizinische Versorgung aus. Die Medizin wird daher in immer stärkerem Maße zu einem normalen Bestandteil unseres Lebens. Patienten schlukken nicht länger bereitwillig, was man ihnen verschreibt, sondern sie verstehen sich mehr und mehr als selbstbewußte Manager der eigenen Gesundheit. Sie beschäftigen sich intensiv mit ihrer Erkrankung, haben ein großes Interesse an Gesundheitsthemen und − daraus resultierend − ein stark wachsendes Informationsbedürfnis: Folglich hat auch in Deutschland der Gesundheitsmarkt diese „neue“ Zielgruppe entdeckt. Denn: Wer von seinen Kunden Loyalität erwartet, muß sich um sie kümmern. Pharm. Ind. 67, Nr. 8, 865−870 (2005) ECV · Editio Cantor Verlag, Aulendorf (Germany) Einleitende Bemerkungen In den nächsten Jahren wird sich das Marketing pharmazeutischer Produkte grundlegend verändern. Der Verdrängungswettbewerb und die Emanzipation der Kunden nehmen zu, die F&E-Kosten zur Entwicklung innovativer Medikamente steigen, und das Zeitfenster zur alleinigen Vermarktung verringert sich kontinuierlich. In einer Zeit der abnehmenden Produktdifferenzierung ist der Schlüssel zum Erfolg in einem nicht unerheblichen Maße mit der Annäherung der Unternehmen an deren Kunden verbunden. Das Marketing medizinischer Innovationen wird nur dann erfolgreich sein, wenn der direkte Kontakt mit den verschiedenen Institutionen innerhalb des sich ändernden Gesundheitssystems gesucht wird. Von Bedeutung ist dabei der Aufbau eines partnerschaftlichen Verhältnisses zu den verschiedenen Meinungsbildnern innerhalb des Pharmamarktes. Mit den sich verschärfenden Randbedingungen erfordert der Verkauf von Arzneimitteln ein Umdenken bei der Vermarktung. Die zunehmende Komplexität benötigt eine Adaptation an die sich ändernden gesellschaftspolitischen Bedingungen. Falls das sich verändernde Umfeld nicht als ganzheitlicher Kommunikationsprozeß Eingang in die Marketing-Strategie findet, werden wichtige Chancen für die Zukunft vergeben. Somit können diejenigen Firmen, die den konventionellen Weg weitergehen, möglicherweise überleben, aber nur diejenigen, die sich den neuen Herausforderungen stellen, langfristig erfolgreich sein. Innovationsdruck stark wie nie zuvor Innovationen bilden die Grundlage erfolgreicher Pharmaunternehmen. Dauerhaftes Wachstum und Beschäftigung können nur entstehen, wenn es der pharmazeutischen Industrie gelingt, immer neue Produkte und Dienstleistungen anzubieten, die den Anforderungen der Märkte auf bestmögliche Weise gerecht werden. Im Mittelpunkt der klinischen Entwicklung stehen daher die Volkskrankheiten. Für das Gebiet der Onkologie, der Neurologie und der Herz-Kreislauf-Erkrankungen wurden 2004 mehr als 3000 Forschungsprojekte initiiert. Allein in Deutschland befinden sich derzeit mehr als 120 Arzneistoffe in der klinischen Phase III oder im Zulassungsprozeß. Damit die Produkte mit den gestiegenen individuellen und gesellschaftlichen Anforderungen Schritt halten, haben die Pharmaunternehmen ihre Gesamtausgaben für Forschungs- und Ent- Harms et al. − Pharma-Marketing 865 Arzneimittelwesen · Gesundheitspolitik · Industrie und Gesellschaft: Pharma-Marketing wicklungstätigkeiten (F&E) seit Mitte der 80er Jahre kontinuierlich von 11 Mrd. US-$ auf mehr als 49 Mrd. US-$ im Jahr 2004 erhöht. Gleichzeitig hat sich die Zeitspanne von der Synthese bis zur Zulassung eines neuen Medikamentes innerhalb der letzten 30 Jahre von zwei auf zwölf Jahre verlängert. Innerhalb dieses Prozesses wird statistisch nur eine von 5000 anfänglich untersuchten Substanzen zugelassen. Derzeit belaufen sich die Entwicklungskosten von Pharmainnovationen auf bis zu 500 Mio. US-$, bei jährlichen Steigerungsraten von 7,5 %. Im Gegensatz zu den steigenden Forschungskosten verringert sich der Zeitraum für die Alleinvermarktung eines Medikamentes kontinuierlich. Erschwerend kommt hinzu, daß nur drei von zehn neu zugelassenen Arzneimitteln die erwarteten Einnahmen generieren. Gerade wegen des großen Gewinneinflusses innovativer Medikamente − 50 % des Umsatzes pharmazeutischer Unternehmen werden durch Präparate erzielt, die vor einer Dekade noch nicht zugelassen waren − gewinnt die frühzeitige Ausrichtung von Neuentwicklungen an den Bedürfnissen aller Beteiligten des Gesundheitsmarktes eine immer größere Bedeutung. Dr. Dr. Fred Harms, Ass. Prof. Dr. Dorothee Gänshirt, Ass. Prof. Dr. Michael Lonsert ist einer der Mitbegründer und Leiter des Health Care Competence Centers (HC3) in Basel (Schweiz). Vor seiner Tätigkeit am Competence Center war er in verschiedenen leitenden Positionen in der pharmazeutischen Industrie im In- und Ausland beschäftigt. Neben seinen beruflichen Schwerpunkten in den Bereichen Internationales Pharmamarketing, Projektmanagement und Business Development hat er in den letzten fünf Jahren mehr als 100 Publikationen mit dem Schwerpunkt DtC (Direct-toConsumer), DfC (Direct-from-Consumer), Patient Empowerment, Service Marketing, Economical Marketing, Political Marketing und Compliance Management verfaßt. Er ist Mitglied der American Association for the Advancement of Science und der New York Academy of Sciences. In diesem Sinne umfaßt sein Beratungsmandat zahlreiche biotechnologische und pharmazeutische Unternehmen, die sich auf die Markteinführung innovativer Arzneimittel spezialisiert haben. ist Mitbegründerin und Leiterin des Health Care Competence Centers (HC3) in Basel (Schweiz). Vor ihrer Tätigkeit am Competence Center war sie Leiterin einer der weltweit führenden Gruppen im Bereich der Pränatalmedizin, einem Fach, in dem sie mehr als 150 Publikationen verfaßt hat. Sie war Gründerin und langjähriger CEO eines Biotechnologie-Unternehmens, das unterstützt durch signifikante internationale Fundings u. a. viele Jahre lang Teilnehmer einer NIH-Studie war. Prof. Gänshirt ist akkreditiertes Mitglied der EMWA (European Medical Writers Association), der American Association for the Advancement of Science und der New York Academy of Sciences. In diesem Sinne umfaßt ihr Beratungsmandat zahlreiche biotechnologische und pharmazeutische Unternehmen, die sich auf die Entwicklung und Zulassung innovativer Arzneimittel spezialisiert haben. studierte und promovierte an der Universität Hamburg. Seit 1987 ist er in der pharmazeutischen Industrie in den Bereichen OTC, Rx und jetzt Gx tätig. Er arbeitete in Deutschland, in der Schweiz und in den USA in verschiedenen Marketing- und General Management-Funktionen. Derzeit ist Dr. Lonsert als Vice-President, Commercial Operations Europe bei Mayne Pharma Ltd. tätig. Er ist Herausgeber des Handbuch Pharma Management und Autor zahlreicher Buchbeiträge und Fachartikel zu Management- und MarketingThemen in der pharmazeutischen Industrie. 866 Harms et al. − Pharma-Marketing Pharm. Ind. 67, Nr. 8, 865−870 (2005) ECV · Editio Cantor Verlag, Aulendorf (Germany) Arzneimittelwesen · Gesundheitspolitik · Industrie und Gesellschaft: Pharma-Marketing Gesellschaft, Politik und Multiplikatoren Der Pharmamarkt zeichnet sich durch eine besondere Konstellation mangelnder Kundensouveränität aus. Diejenigen, die Entscheidungen treffen, sind nicht identisch mit denen, die Leistungen beziehen und jenen, die sie bezahlen. Das System befindet sich momentan in einer Phase des radikalen Umbruchs. Gegenwärtig entfallen 80 % des Marketing-Budgets pharmazeutischer Unternehmen auf die Kommunikation mit Ärzten, Apothekern, Krankenhäusern und Großhandel. Marketing-Intensivierung bedeutet vielfach nur Aufstockung des Außendienstes (Abb. 1). Waren bisher die Ärzte und Apotheker die entscheidenden Meinungsbildner zum Einsatz eines bestimmten Medikamentes, nimmt der Druck der Patienten auf die Verschreibungsgewohnheiten zu. Gerade bei chronischen Erkrankungen treten sie nicht mehr als Individualpatient, sondern als Teil gut informierter und organisierter Gemeinschaften auf. Diese national und international agierenden Institutionen greifen dabei in immer stärkerem Maße aktiv in den Meinungsbildungsprozeß ein. Der Patient verläßt seine passive Position, d. h. er ist nicht mehr nur Konsument der verordneten Medikation, sondern möchte in direkter Absprache mit seinem Arzt und/oder Apotheker die Notwendigkeit der Therapie erörtert wissen. Er fordert nicht nur die Verschreibung eines innovativen Arzneimittels, sondern die Patienten-adaptierte Darlegung des Wirkungs- und des Nebenwirkungsprofils des Therapiekonzeptes. Die zunehmend teuren Pharmainnovationen lösen dabei mehr und mehr gesellschaftliche Diskussionen aus, die über das normale ArztPatienten-Verhältnis hinausgehen. Marktakzeptanz und -erfolg hängen nicht mehr nur von den direkt Beteiligten ab, vielmehr von einer großen Anzahl unterschiedlichster Interessengruppen, denn: „Die gesellschaftlichen Wertvorstellungen bePharm. Ind. 67, Nr. 8, 865−870 (2005) ECV · Editio Cantor Verlag, Aulendorf (Germany) Behörden Beitragszahler Versicherungen Medien Kirche Upstream-Fokus 80% der gegenwärtigen Marketing-Aufwendungen bei den führenden pharmazeutischen Unternehmen Downstream-Fokus Sozialbereich Politik Großhandel Apotheker Krankenhäuser Ärzte Pflegepersonal Praxismanager Rehabilitationszentren Interessenvertretungen Angehörige Patienten Abb. 1: Klassisches und innovatives Pharma-Marketing (Quelle: Harms/Gänshirt, Gesundheitsmarketing und Patientenempowerment, Lucius-Verlag, Stuttgart 2005). ginnen sich zu ändern“. Stand in den 90er Jahren noch die Frage im Vordergrund: „Was wird ein neues Medikament kosten?“, wird in Zukunft folgender Sachverhalt diskutiert: „Was ist das Sozialsystem bzw. der Patient bereit, für eine neue Therapieform zu bezahlen?“. Somit stößt die Industrie bei der Preisgestaltung innovativer Arzneimittel zunehmend an ihre Grenzen. Die medizinische Versorgung steht also auf dem Prüfstand einer Kosten-Nutzen-Analyse. Dabei wird der Sinn etablierter und auch neuer Therapien und Diagnoseverfahren kritisch hinterfragt. Innovative Medikamente sind deshalb keine Selbstläufer mehr. Ihr Wert muß im Sinne einer Bringschuld eindeutig belegt werden. InnovationsMarketing-Management Innovation ist antizipierter Wettbewerb. Kundenorientierung wird zum zentralen Erfolgsfaktor, der sich durch den gesamten Entwicklungsprozeß, von der Forschung über die klinischen Phasen bis zur Markteinführung zieht. Innovationsmarketing muß zukünftig relevante Entwicklungen bereits heute be- rücksichtigen. Der Kunde entwikkelt sich zum zentralen Element innerhalb der eigenen Produktentwicklung bzw. die Bedürfnisbefriedigung des Marktes zum Gütesiegel des strategischen Gesamtkonzeptes. Im Gegensatz zu Zeitpunkt-bezogen Inventionen sind Innovationen Prozesse (Abb. 2). Wegen der unterschiedlichen Managementaufgaben im Verlauf eines Prozesses ist es zweckmäßig, Innovationen in typische Phasen einzuteilen. Innerhalb dieser Teilprozesse gilt es unterschiedliche Kommunikations- und Kooperationsstrategien zu entwikkeln. Dies bedeutet die Definition eines Kommunikations- und Marketing-Konzeptes für die Innovationsfrühphasen, die klinischen Phasen und für die Markteinführung, um die angestrebte Marktpositionierung entwicklungsparallel aufzubauen. Zu bedenken ist dabei, daß der Erfolg von pharmazeutischen Innovationen nicht von einzelnen Kunden abhängig ist, sondern von verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen mit unterschiedlichen − teilweise widerstrebenden Motiven und Einstellungen bestimmt wird. Die seit den 70er Jahren gewachse- Harms et al. − Pharma-Marketing 867 Ko ste nve rlauf Arzneimittelwesen · Gesundheitspolitik · Industrie und Gesellschaft: Pharma-Marketing Arzneimittel- Arzneimittel Forschung - Klinik - Wissenschafts- Grundlagen- Forschung Forschung information - Präklinik - InnovationsPhasen Marktinformation 1 2 Grundlagen- Präklinische Forschung Entwicklung Entwicklung Grundlagen- Präklinische Analyse Analyse la nver Koste 3 Klinische Klinische Analyse 4 5 Produktion 7 6 Zulassung Produktions- ZulassungsAnalyse Analyse Branding & Life-CycleManagement Launch; MarktEinführung Zulassung Produktion Klassisches Innovations- Marketing Marketing Markt-Analyse MarktFeedbackAnalyse uf Abb. 2: Innovationsprozeß Pharma und Gesundheit (Quelle: Harms/Gänshirt, Gesundheitsmarketing und Patientenempowerment, Lucius-Verlag, Stuttgart 2005). nen klassischen Säulen des Marketing − Produkt (Product), Preis (Price), Ort (Place) und Werbung (Promotion) − können somit nur eine Grundlage bilden, um die auf dem Gesundheitsmarkt bestehenden Beeinflussungsverhältnisse und die hinzukommenden Veränderungen zu erfassen. Internationalisierung, wandelnde politische und ökonomische Rahmenbedingungen, veränderte Beziehungen zwischen Ärzten, Apothekern und Patienten sowie die Entstehung neuer Interessenvertretungen verlangen nach weitergehenden marketingpolitischen Instrumenten. Diese Gedanken führen zur Erweiterung der klassischen vier Marketing-P’s um drei weitere Determinanten. Die genaue Kenntnis der unterschiedlichen Gruppierungen (Player) und deren Beziehungen (Processes) untereinander wird von der Erforschung bis hin zur Markteinführung der Innovation zum zentralen Erfolgsfaktor der pharmazeutischen Industrie. Diese ist dann erfolgreich, wenn die richtige Positionierung (Positioning) in den Köpfen der Zielgruppen erreicht wird. rate zur Verfügung. Diese Entwicklung deutet darauf hin, daß der Produkterfolg nicht mehr nur über den reinen Wirknutzen, sondern zunehmend über dienstleistungsorientierte Zusatznutzen generiert werden muß. Kunden werden zukünftig zwischen solchen Unternehmen wählen können, die nur Medikamente verkaufen und solchen, bei denen der Servicegedanke im Vordergrund steht, den: Subjektiv schlägt Objektiv. Für forschende Pharmaunternehmen wird die Positionierung innovativer Konzepte über mehrwertsteigernde Zusatzleistungen zum entscheidenden Erfolgsfaktor. Weg vom reinen Grund-Wirk-Nutzen, hin zu einem Gesundheitsservicepaket. Duale Beziehungen zwischen Marktstruktur Multi-dimensionales Pharma-Marketing Key AccountManagement Ärzten und Apothekern stehen zunehmend austauschbarere Präpa- 868 Harms et al. − Pharma-Marketing ⇒ Pharmzeutische Industrie Behörden Kassen Großhandel Träger Einzelhandel ServiceMarketing ⇒ Entscheidungsträger in Regulierungs-und Einkaufsinstanzen Ärzte, Patienten, Verbände, Vereinigungen Verbände Arzt Medien Marktadaptierte Positionierung Pharmaunternehmen und Arzt oder Apotheker sind überholt. Vielmehr muß ein innovatives BeziehungsMarketing unter Einbeziehung aller Beteiligten verfolgt werden. Die Reputation eines pharmazeutischen Unternehmens bzw. der Umgang des Marketing mit den verschiedenen Interessenverbänden unseres Gesundheitssystems − z. B. durch den Einsatz von Direct-to-Consumer-Maßnahmen (DTC) − wird zum strategischen Erfolgsfaktor der Positionierung. Das bisherige weitgehend eindimensionale Marketing mit der Einstellung „one message fits it all“ muß um einige neue Dimensionen ergänzt werden. Eines der Erfolgsrezepte wäre der multi-dimensionale Marketing-Ansatz (Abb. 3). Hierbei sollte das Key-Account-Management wichtige Entscheidungsträger ansprechen. Das ServiceMarketing könnte die verschiedenen Interessenverbände der Ärzte, Apotheker, Kassen, Zulassungsbehörden und vor allem der Patienten in die Diskussion einbinden. Das Economical-Marketing sollte eine Zusammenarbeit mit wirtschaftspolitischen Institutionen anstreben. Außerdem müßte das Political-Marketing das Gespräch mit den politischen Parteien zur Implementierung eines Verständnisses für kundenorientierte Kommunikationskonzepte führen. Somit: „In einer Zeit, in der die Menschen ihr Leben individuell gestalten, wirkt sich die- EconomicalMarketing ⇒ Wirtschaftliche und wirtschaftspolitische Argumente Patient PoliticalMarketing ⇒ Pro-aktive Marktgestaltung Abb. 3: Evolution zum multidimensionalen Marketing (Quelle: Harms/Gänshirt, Gesundheitsmarketing und Patientenempowerment, Lucius-Verlag, Stuttgart 2005). Pharm. Ind. 67, Nr. 8, 865−870 (2005) ECV · Editio Cantor Verlag, Aulendorf (Germany) Arzneimittelwesen · Gesundheitspolitik · Industrie und Gesellschaft: Pharma-Marketing ser Gestaltungswille auch auf die medizinische Versorgung aus, die in immer stärkerem Maße zu einem normalen Bestandteil unseres alltäglichen Lebens avanciert“. Bestellung von in D zugelassenen Präparaten** Kauf eines frei verkäuflichen Arzneimittels* Angaben in % Angaben in % Über das Ausland Weiß nicht Ja, kann ich mir vorstellen 4,80 Vor mehr als einem Jahr 6,60 Innerhalb des letzten Jahres 10,80 9,00 Über das Internet 27,70 Im letzten halben Jahr Ja, kann ich mir vorstellen 29,50 In den letzten 4 Wochen Ja, habe ich schon gemacht 11,80 73,6 22,00 In der letzten Woche 0,00 Patientenempowerment 68,8 Ja, habe ich schon gemacht 10,00 20,00 0,00 30,00 20,00 40,00 60,00 80,00 Bestellung von in D nicht zugelassenen Präparaten Bezugsquelle rezeptfreier Arzneimittel*** (Mehrfachnennungen möglich) Derzeit beschäftigen sich in den USA mehr als 18 000 Websites mit der medizinischen Versorgung. Seit dem Jahr 2005 ist die Anzahl weltweit auf über 150 000 angewachsen. Alleine in Deutschland sind ca. 2000 Gesundheits-Sites abrufbar. Somit verändert der Kunde durch die verbesserte Informationsbeschaffung seinen Informationsstand in einem atemberaubenden Tempo. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts begibt er sich auf eine „Intellektuelle e-Shopping-Tour“. Der Patient sucht sich via Web oder Call-Center aktuelle Daten über innovative Produkte und läßt sich durch unterschiedliche Gesundheitsportale in die Welt der Medizin einweisen. Er unterzieht die Diagnose des Arztes einer Electronic-Second-Opinion und konfrontiert Arzt und Apotheker mit den Ergebnissen. Diese Entwicklung bewog die regulativen und legislativen Institutionen in Europa dazu neue Richtlinien zu erlassen, wie z. B. mit medizinischen Informationen umzugehen ist. Daher hat die Europäische Kommission die Möglichkeit eröffnet, ausgewählte Produktinformationen im Internet zu hinterlegen. Anhand dieser, noch vor wenigen Jahren nicht denkbaren Liberalisierungstendenzen wird deutlich, daß das Internet einen großen Teil der regulatorischen Einschränkungen ad absurdum führt und somit nationale Regelwerke langfristig aushebelt. Gegenwärtig ist der e-BusinessSektor einer der am stärksten wachsenden Wirtschaftsbereiche. Der eHandel mit pharmazeutischen Waren und Dienstleistungen erzielt weltweit jährlich dreistellige Zuwachsraten. Von Interesse ist, daß mehr als die Hälfte der Informationssuchenden bereit wären Medikamente, OTC-Produkte, Vitamine Pharm. Ind. 67, Nr. 8, 865−870 (2005) ECV · Editio Cantor Verlag, Aulendorf (Germany) Ausland Über das Ausland 8,70 Internet Ja, kann ich mir vorstellen 12,70 Ja, habe ich schon gemacht Reformhaus 43,9 2,80 13,20 Supermarkt Über das Internet 18,90 Ja, kann ich mir vorstellen Ja, habe ich schon gemacht 41,00 Drogerie/Drogeriemarkt 97,20 45,8 1,80 Apotheke 0,00 * 20,00 40,00 60,00 80,00 100,00 0,00 Käufer rezeptfreier Arzneimittel, n = 5.182 10,00 20,00 30,00 40,00 50,00 ** Rezeptfreie Arzneimittel innerhalb des letzten Jahres gekauft, n = 4.496 *** Rezeptfreie Arzneimittel innerhalb des letzten Jahres gekauft, n = 4.486 Abb. 4: Selbstmedikation 2004: Internet als Informationsquelle. Virtuelle Informationsmedien − mehr als ein Trend (Quelle: VN, HC3, Forschungsgruppe Wahlen, April 2004). und Nahrungsergänzungsmittel über das Internet zu bestellen (Abb. 4). Mittlerweile existieren Dutzende von Studien über das e-Kaufverhalten. Interessant hierbei ist, daß die meisten Erhebungen nur Momentaufnahmen aus einem hochdynamischen Umfeld liefern. Die Informationen von heute gehören zum „Datenmüll“ von morgen. Im Zeitalter des „www“ setzt sich die Erkenntnis durch, daß sich „BestPractice“ quartalsweise neu definiert und zum „Moving Target“ avanciert Direct-to-Consumer (DTC) in den USA Nach verschiedenen Untersuchungen aus den USA und Europa kann davon ausgegangen werden, daß im Jahr 2005 mehr als 500 Millionen Menschen weltweit online sind, davon leben ca. 30 % in Europa. Mit Hilfe des Internets ist heute fast jeder in der Lage Informationen von Universitäten, Forschungsinstituten und pharmazeutischen Unternehmen abzurufen. In Kürze können sich die meisten Menschen in der westlichen Welt sämtliche Informationen zum Verlauf, zur Prognose und zu den therapeutischen Möglichkeiten einer Erkrankung online beschaffen. Diese Entwicklung wird durch die Nutzung von Werbekonzepten, bei denen die Kunden/Patienten di- rekt angesprochen werden, noch verstärkt. In den USA wurden im Jahr 2004 3,0 Mrd. US-$ für Maßnahmen aus dem Bereich Direct-toConsumer (DTC) ausgegeben. Jene Ausgaben stellten bei einem großen Teil der Top-10-Unternehmen den Schwerpunkt des Werbebudgets dar. Aus diesem Grund hat die amerikanische Gesundheitsbehörde FDA (Food and Drug Administration) eindeutige Regelungen zum Einsatz dieser Werbemaßnahmen für verschreibungspflichtige Medikamente erlassen. In Amerika hat sich DTC zu einem entscheidenden Faktor im Marketing verschreibungspflichtiger Medikamente entwickelt. Der Sinn des Einsatzes der Kommunikationskonzepte ist unumstritten. Innerhalb der letzten beiden Dekaden konnten in den verschiedenen medizinischen Indikationen zahlreiche Erfahrungen gesammelt und kundenadaptierte Maßnahmen durchgeführt werden. Damit wird der zunehmenden Emanzipation des Marktes Rechnung getragen. Um die Akzeptanz und Effektivität von DTC zu optimieren, führen die pharmazeutischen Unternehmen folgende Maßnahmen durch: 䊉 Die entscheidenden Meinungsbildner für die zu bewerbende Erkrankung werden „frühzeitig“ in das Gesamtkonzept einbezogen und mögliche Konflikte im Vorfeld beseitigt. Damit ist garan- Harms et al. − Pharma-Marketing 869 Arzneimittelwesen · Gesundheitspolitik · Industrie und Gesellschaft: Pharma-Marketing 䊉 䊉 䊉 䊉 䊉 tiert, daß die Kommunikationsaussage der Kampagne die Meinung dieser wichtigen Zielgruppe reflektiert. Patientengruppen und deren Vertretungen werden schon zum Zeitpunkt der Ausarbeitung einer Kommunikationsmaßnahme in das Gesamtkonzept integriert. Die Marketing-Abteilungen suchen „proaktiv“ das Gespräch und integrieren die Patientenbedürfnisse in das Konzept. Die enge Zusammenarbeit stärkt das Vertrauen und wird häufig zum zentralen Erfolgsfaktor für die positive Entwicklung eines Medikamentes. Die Marketing-Abteilungen formulieren die Aussagen wissenschaftlich fundiert. Mögliche Konfrontationen mit den verschiedenen Institutionen des Gesundheitssystems werden bewußt vermieden. Die Schulung von Symptomen gilt als ein wichtiger Faktor der Informationsvermittlung. Eine realistische Darstellung − ohne aufgebaute übertriebene Erwartungen − wird als Garant für eine erfolgreiche Kampagne angesehen. Alle Kommunikationsbotschaften werden kritisch hinterfragt und auf ihre Werbewirksamkeit getestet. Um das finanzielle Risiko zu minimieren, wird der direkte Kontakt mit dem Markt intensiv gepflegt und der Einsatz externer Berater propagiert. Durch den engen Kontakt mit den verschiedenen Marktteilnehmern werden die wesentlichen Veränderungen innerhalb des Marktes diskutiert. Das Marketing ist somit in der Lage, die Bedürfnisse der Kunden und die Dynamik des Systems in das strategische Gesamtkonzept einzuarbeiten. Die Kommunikation mit den verschiedenen meinungsbildenden Institutionen und der Aufbau einer vertrauensvollen Zusammenarbeit mit allen Marktteilnehmern werden als zentrale Erfolgsfaktoren einer Kampagne angesehen. Aus diesem Grund werden durch das Marketing 870 Harms et al. − Pharma-Marketing Direct-Response-Campaigns (DRCs) entwickelt. Die potentiellen Kunden können über eine gebührenfreie Telefonnummer mehr Details zu einer bestimmten Erkrankung oder zu dem beworbenen Medikament in Erfahrung bringen. Sie können Fragen stellen, Anregungen geben und weiterführendes Informationsmaterial für das Arztgespräch anfordern. DTC in Europa Zur Zeit sind Werbemaßnahmen für verschreibungspflichtige Medikamente laut der europäischen Direktive 92/28/EEC vom 31. März 1992 verboten. Dabei wird explizit jegliche Form der Werbung untersagt, bei der der Name eines Medikamentes genannt wird. Patrick Deboyser, bis vor kurzem Chef der europäischen Kommission für pharmazeutische Belange − Head of the EC Commission’s Pharmaceutical Committee − sah das strikte Verbot bereits 1999 als möglicherweise überholt an, da seiner Meinung nach die Patienten ein Recht auf mehr Informationen über den gezielten Einsatz verschreibungspflichtiger Medikamente hätten. Im Hinblick auf diese Position ist die Entscheidung des Europäischen Parlamentes vom 23. 10. 2002 in Straßburg nur teilweise nachzuvollziehen, daß die Abgeordneten es der pharmazeutischen Industrie verbieten, testweise für drei Jahre Informationen über Arzneimittel gegen AIDS-HIV, Asthma und Diabetes direkt an Patienten zu geben. Wenn man bedenkt, daß bis zu 80 % dieser Patienten das Internet regelmäßig direkt oder indirekt nutzen, dann wird jedem Betrachter sofort klar, daß diese Form der europäischen Informationspolitik möglicherweise nicht die Bedürfnisse der Patienten reflektiert. Vor allem, wenn man sich vor Augen führt, daß 70 bis 90 % der chronisch Kranken keine Ahnung von den Wirkungen und Nebenwirkungen der Medikamente haben, die sie täglich konsumieren sollten. Somit scheint es niemanden zu verwundern, daß nicht einmal 30 % der Patienten das tun, was Ärzte und Apotheker ihnen raten. Da Compliance etwas mit Überzeugung zu tun hat, diese allerdings mit breit verfügbaren Informationen beginnt, wirkt es in Anbetracht der desolaten Finanzen unserer europäischen Gesundheitssysteme vielleicht ein wenig grotesk an, daß unsere Gesundheitspolitiker etwas ablehnen, was auch in Europa dazu beitragen könnte, die Folgekosten der geringen Compliance in Höhe von mehr als 30 Mrd. Euro über ein Mehr an Information zu senken. In Anlehnung an die WHO und deren Bild vom selbstbestimmenden Patienten sollte man die Bevölkerung nicht weiter davon abhalten, das allgemeine Informationsbedürfnis zu decken, vor allem dann nicht, wenn DTC-Kampagnen in enger Zusammenarbeit mit Ärzten und Apothekern erstellt wurden, denn eines hat uns das Jahr 2004 trotz Vioxx eindeutig bewiesen: DTC wird nicht nur von Ärzten, Patienten und Zulassungsbehörden in den Vereinigten Staaten von Amerika akzeptiert, sondern zunehmend „propagiert“. Korrespondenz: Dr. Dr. Fred Harms, Ass. Prof. Health Care Competence Center Basel, Birsigstr. 4, 4054 Basel (Schweiz), e-mail: [email protected] Pharm. Ind. 67, Nr. 8, 865−870 (2005) ECV · Editio Cantor Verlag, Aulendorf (Germany)