Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin Projekt-Nr. F 1925: „Arbeitsbedingte Störungen der Reproduktion bei Umgang mit Gefahrstoffen - eine Informationsschrift“ Zusammenfassung M. Roller Reproduktionsstörungen durch Gefahrstoffe am Arbeitsplatz 2005 Reproduktionsstörungen Arbeitsplatz durch Gefahrstoffe am Zusammenfassung M. Roller, Beratungsbüro für Risikoabschätzung, Dortmund 1 Einleitung Für die Industrieländer wird der Anteil ungewollter Kinderlosigkeit mit ca. 15 % aller Paare angegeben. Etwa 10 % aller Schwangerschaften enden mit Fehlgeburten, bei ca. 7 % der Kinder wird ein niedriges Geburtsgewicht registriert und ca. 3 % werden mit schweren Fehlbildungen geboren. Obgleich die Ätiologie von vielen Reproduktionsstörungen unbekannt ist, werden zunehmend berufliche Einflüsse und Umwelteinflüsse in die Ursachenforschung einbezogen. Zudem hat die Sorge über die Anwesenheit toxischer Substanzen in der Arbeits- und Lebensumwelt das Bewusstsein in der Öffentlichkeit bezüglich reproduktiver Schäden anwachsen lassen. Die Forschung über mögliche Zusammenhänge zwischen Arbeitsbedingungen und deren Auswirkungen auf die Fortpflanzung, den Schwangerschaftsverlauf und die Gesundheit der Nachkommen ist erst in den letzten zwei Jahrzehnten intensiviert worden, und die Publikation der wissenschaftlichen Erkenntnisse erfolgt überwiegend in Fachzeitschriften. Zusammenfassende Darstellungen zum Einfluss von beruflichen Faktoren, z.B. Gefahrstoffe am Arbeitsplatz, existieren nur vereinzelt im deutschsprachigen Raum, so dass, insbesondere bei Arbeitsschützern, Ärzten und Betroffenen, dringender Informationsbedarf gesehen wird. 2 Fragestellung und Zielsetzung Vor dem einleitend beschriebenen Hintergrund sollten Literaturdaten über epidemiologische Studien sowie Hinweise zu regulatorischen Bestimmungen zu einer Informationsschrift zusammengestellt werden. Ziel der Schrift ist es, einen Überblick über epidemiologische Studien zur Frage einer möglichen Gefährdung der Reproduktion durch Chemikalien am Arbeitsplatz zu geben. Sie soll über Substanzen informieren, die als reproduktionstoxisch eingestuft sind bzw. für die schädliche Wirkungen auf Fortpflanzungsfähigkeit oder Gesundheit der Nachkommen diskutiert werden. Die Informationsschrift soll auch Hinweise zum Stand der Regulation und damit zu rechtlichen Gesichtspunkten enthalten. Sie kann und soll aber keine Rechtsberatung sein. Sie kann die in konkreten Expositionssituationen erforderliche Gefährdungsbeurteilung unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls nicht ersetzen. 2 3 Inhalte der Informationsschrift Die Schrift ist in mehrere Kapitel gegliedert. Nach einer allgemeinen Einführung in das Problemfeld „Störungen der Reproduktion“ wird auf methodische Gesichtspunkte der Untersuchung eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen der Einwirkung von Chemikalien und Reproduktionsgefährdungen eingegangen. Kapitel 3 enthält außerdem eine Übersicht über Endpunkte, die in Studien an Arbeitsplätzen untersucht wurden. In Kapitel 4 werden diejenigen arbeitsplatzrelevanten Stoffe betrachtet, die als erwiesenermaßen reproduktionstoxisch beim Menschen gelten. Dies betrifft alle chemischen Stoffe, für die in der Europäischen Union eine Legaleinstufung als reproduktionstoxisch beim Menschen besteht, und außerdem das Rauchen, Alkohol und einzelne Arzneimittel. In Kapitel 5 wird auf epidemiologische Daten zu weiteren chemischen Stoffen und Arbeitsplatzbereichen eingegangen. Mit Kapitel 6 folgt eine tabellarische Übersicht über Erfahrungen an Arbeitsplätzen. Kapitel 7 schließlich geht näher auf rechtliche Gesichtspunkte (Arbeitsschutz- und Mutterschutzgesetz, Mutterschutzrichtlinienverordnung, Gefahrstoffverordnung, Technische Regeln für Gefahrstoffe - TRGS) sowie auf bestehende Stoffbewertungen und Einstufungen ein, in denen neben Erfahrungen an Arbeitsplätzen das weite Spektrum sonstiger wissenschaftlicher Erkenntnisse enthalten ist. Die Stoffbewertungen und Einstufungen von Europäischer Union (EU), nationalem Ausschuss für Gefahrstoffe (AGS) und „MAK-Kommission“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und die sich daraus ergebenden Stofflisten werden erläutert. Die Schrift enthält auch eine Liste ausgewählter Stoffe mit Bezug zum Themenfeld „Störungen der Reproduktion durch chemische Stoffe am Arbeitsplatz“ sowie ein Glossar, in dem medizinische, statistische und regulatorische Begriffe enthalten sind. In der vorliegenden Zusammenfassung sind die Inhalte kurz umrissen. 3.1 Epidemiologie - Übersicht über Studien an Arbeitsplätzen Weltweit wurde bisher eine große Zahl epidemiologischer Studien durchgeführt, in denen der Frage nach einem möglichen Zusammenhang zwischen Störungen der Reproduktion und der Exposition gegenüber bestimmten Gefahrstoffen oder der Exposition in bestimmten Industriezweigen oder Arbeitsplatzbereichen nachgegangen wurde. Das Literaturverzeichnis der Informationsschrift umfasst insgesamt rund 170 Publikationen, ohne dass damit der Anspruch auf eine vollständige Erfassung der epidemiologischen Literatur zum Thema verbunden sein kann. Dies mag eine Vorstellung über den Umfang grundsätzlich vorhandener Forschungsergebnisse vermitteln. Es wurden verschiedene „Endpunkte“ (Menstruationsstörungen, Fehlgeburten, Veränderungen der Spermien usw.) untersucht. Es existiert auch eine Reihe von Übersichtsarbeiten, in denen auf Ergebnisse verschiedener Studien sowie auf methodische Schwierigkeiten hingewiesen wird. Die Tab. 1 gibt einen kurzen Überblick. Dort sind jeweils einige der wesentlichen Endpunkte genannt und darunter sind die Stoffexpositionen aufgeführt, die in den Studien als mögliche Einflüsse in Betracht gezogen wurden, sowie die Arbeitsplatzbereiche, an denen die Studien durchgeführt wurden. Die Angaben sind unabhängig vom Ergebnis der Studien in die Tabelle aufgenommen. Das heißt, aus der bloßen Nennung der Stoffe oder Arbeitsplatzbereiche in Tab. 1 darf nicht geschlossen 3 werden, dass die entsprechende Exposition schädliche Wirkungen auf die Reproduktion des Menschen hat; sie bedeutet nur, dass aus einem gewissen Verdacht heraus eine epidemiologische Untersuchung zu dem Thema durchgeführt wurde. Die Zahl einzelner Studien, deren Ergebnisse von den Autoren zumindest als Hinweis auf reproduktionstoxische Effekte interpretiert wurden, ist relativ groß. In der Informationsschrift ist näher erläutert, dass ein solches Einzelergebnis in der Regel nicht gleichbedeutend mit dem Nachweis reproduktionstoxischer Eigenschaften eines bestimmten Stoffs beim Menschen ist. Hierzu ist eine gewisse Stärke des Effektes, Deutlichkeit der statistischen Signifikanz, Ausschluss von Confoundern, möglichst Konsistenz zwischen mehreren Studien bzw. weitere Information erforderlich (so genannte „Hill-Kriterien“). Tab. 1 Epidemiologie zur Frage nach möglichen Störungen der Reproduktion durch Gefahrstoffe am Arbeitsplatz: Übersicht über untersuchte Endpunkte und Expositionsbereiche Untersuchte Endpunkte Exposition (Substanzen) Industriezweig/Arbeitsplatzbereich Menstruationsstörungen 2-Brompropan Elektronikindustrie Hormone (Sexualhormone) Herstellung oraler Kontrazeptiva („Pille“) Quecksilber (anorganisch) Zahnmedizin Geburtenraten (bei Ehefrauen exponierter Männer) Blei, Mangan Batterienherstellung Cadmium Hüttenindustrie Perchlorethylen (PER) Chemisch-Reinigungen nicht näher zu bezeichnende Stoffe Glasindustrie Time-to-pregnancy (Verlängerung der Dauer bis zum Eintritt einer Schwangerschaft bei exponierten Frauen oder Ehefrauen exponierter Männer) Antibiotika Apotheken Ethylenglykolether Halbleiterherstellung Formaldehyd Holzverarbeitung 4 Tab. 1 Fortsetzung Untersuchte Endpunkte Exposition (Substanzen) Industriezweig/Arbeitsplatzbereich Time-to-pregnancy (Fortsetzung) Lösemittel, organische verschiedene Arbeitsplätze (Schuhfabriken, ChemischReinigungen, Metallindustrie, biomedizinische Forschungslabors) Pestizide Landwirtschaft, Arbeiten in Gewächshäusern Styrol Kunststoffindustrie Toluol Druckindustrie nicht näher zu bezeichnende Stoffe Friseurberuf Möbelindustrie Zahnärztinnen Staatliche Münze (Italien) Schweißen Hormonelle Veränderungen Blei verschiedene Arbeitsplätze 2-Brompropan Elektronikindustrie Dibromchlorpropan (DBCP) DBCP-Herstellung, Pestizid-Herstellung und -Anwendung Kohlenstoffdisulfid (Schwefelkohlenstoff) Viscose/Kunstfaser-Produktion Veränderungen im Spermiogramm (Verringerung von Spermienzahl bzw. -motilität, erhöhte Häufigkeit abnorm gestalteter Spermien) Blei verschiedene Arbeitsplätze 2-Brompropan Elektronikindustrie Carbaryl (Insektizid) Beschäftigung in Fabrik beim Herstellungsprozess Dibromchlorpropan (DBCP) DBCP-Herstellung, Pestizid-Herstellung und -Anwendung 5 Tab. 1 Fortsetzung Untersuchte Endpunkte Exposition (Substanzen) Industriezweig/Arbeitsplatzbereich Veränderungen im Spermiogramm (Fortsetzung) Ethylenglykolether (2-Ethoxyethanol, 2Methoxyethanol) Maler/Lackierer (Schiffsbau) Kepon (Insektizid) Beschäftigung in Fabrik beim Herstellungsprozess Perchlorethylen (PER) Chemisch-Reinigungen Pestizide Exposition in Gewächshäusern Styrol (und Aceton) Kunststoffindustrie Lösemittel, organische; Treibstoffe Wartung von Flugzeugen (Luftwaffe) nicht näher zu bezeichnende Stoffe Schweißen Fehlgeburten (bei exponierten Frauen bzw. bei den Ehefrauen exponierter Männer) Blei Historische Fallberichte nach Exposition in der Industrie (z.B. Bleihütten, Gießereien) Dichlormethan (Methylenchlorid) Pharmazeutische Industrie Ethylenglykolether Halbleiterherstellung Formaldehyd Holzverarbeitung Hormone (Estrogene) Umgang mit Estrogenen in pharmazeutischer Industrie Lösemittel, organische verschiedene Arbeitsplätze Narkosegase; Zytostatika Medizin Perchlorethylen (PER) Chemisch-Reinigungen nicht näher zu bezeichnende Stoffe (Chrom-VI?) Edelstahl-Schweißen nicht näher zu bezeichnende Stoffe (Lötrauche?) Metallindustrie nicht näher zu bezeichnende Stoffe Apotheken Friseurberuf Gummiindustrie 6 Tab. 1 Fortsetzung Untersuchte Endpunkte Exposition (Substanzen) Industriezweig/Arbeitsplatzbereich Fehlgeburten (Fortsetzung) nicht näher zu bezeichnende Stoffe Kunststoffindustrie (Polyurethanverarb.) Landwirtschaftliche Betriebe Technisches Personal in medizinischen Labors Pharmazeutische Industrie Textilindustrie Arbeiten in Zahnarztpraxen (Zahnärztin oder technisches Personal) Frühgeburten (bei exponierten Frauen bzw. bei den Ehefrauen exponierter Männer) Blei verschiedene Arbeitsplätze Lösemittel, organische Biomedizinische Forschungslabors nicht näher zu bezeichnende Stoffe Landwirtschaftliche Betriebe Textilindustrie Geburtsgewichte (der Kinder exponierter Frauen bzw. der Ehefrauen exponierter Männer) Blei verschiedene Arbeitsplätze Benzol Chemische Industrie (unter subjektiver Stressbelastung) Lösemittel, organische Chemische Industrie Pestizide Landwirtschaft Polychlorierte Biphenyle (PCB) Elektronikindustrie (Kondensatorherstellung) nicht näher zu bezeichnende Stoffe Chemisch-Reinigungen Friseurberuf Landwirtschaft Arbeiten in Zahnarztpraxen (Zahnärztin oder technisches Personal) 7 Tab. 1 Fortsetzung Untersuchte Endpunkte Exposition (Substanzen) Industriezweig/Arbeitsplatzbereich Fehlbildungen bei den Kindern Chlorphenole (Holzschutzmittel mit Dioxin-Verunreinigungen) Sägemühlen Glykolether verschiedene Arbeitsplätze (Exposition während Schwangerschaft) Narkosegase; Zytostatika Medizin nicht näher zu bezeichnende Stoffe Chemisch-Reinigungen Gummiindustrie Landwirtschaft Lederindustrie Arbeiten in Zahnarztpraxen (Zahnärztin oder technisches Personal) 3.2 Stoffbewertungssysteme und Einstufungen In der Europäischen Union (EU) und in Deutschland bestehen recht detaillierte Bewertungssysteme für chemische Stoffe und rechtliche Bestimmungen hinsichtlich des Umgangs mit Gefahrstoffen. Gemäß Einstufung der EU sind bisher fünf Stoffe bzw. Stoffgruppen der entsprechenden Kategorie 1 zugeordnet und gelten damit als erwiesenermaßen reproduktionstoxisch beim Menschen: • Bleiverbindungen • 2-Brompropan • 1,2-Dibrom-3-chlorpropan (DBCP) • Kohlenstoffmonoxid • Warfarin. Nach der nationalen TRGS 905 sind zusätzlich einige • Steroidhormone sowie • Blei-Metall (bioverfügbar) und • Passivrauchen am Arbeitsplatz in die Kategorie 1 reproduktionstoxischer Stoffe eingestuft. 8 In die Kategorie 2 für Stoffe, die als reproduktionstoxisch für den Menschen angesehen werden sollten, ist eine erheblich größere Zahl von Stoffen eingestuft. Dabei spielen in der Regel tierexperimentelle Daten eine Rolle. Zählt man die Stoffe der Kategorie 3, der „Verdachtskategorie“, hinzu, dann ergibt sich eine Zahl von weit über hundert Stoffen, für die zumindest der Verdacht auf reproduktionstoxische Eigenschaften besteht. Die MAK-Kommission der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) hat ein Bewertungssystem von Schwangerschaftsgruppen eingeführt, in dem eine Aussage zum Bestehen oder Fehlen eines Risiko einer Fruchtschädigung bei Einhalten der Grenzwerte enthalten ist. Der Schwangerschaftsgruppe A sollen Stoffe zugeteilt werden, bei denen ein Risiko der Fruchtschädigung sicher nachgewiesen ist und bei Exposition Schwangerer auch bei Einhaltung des MAK-Wertes und des BAT-Wertes eine Schädigung der Leibesfrucht auftreten kann; derzeit ist jedoch kein Stoff in diese Gruppe eingeteilt. Bei Stoffen der Schwangerschaftsgruppe B muss nach dem vorliegenden Informationsstand ein Risiko der Fruchtschädigung als wahrscheinlich unterstellt werden und bei Exposition Schwangerer kann ein solches Risiko auch bei Einhaltung des MAK-Wertes und des BAT-Wertes nicht ausgeschlossen werden. Bei Stoffen der Schwangerschaftsgruppe C braucht nach der Bewertung der Kommission bei Einhaltung des MAK-Wertes und des BAT-Wertes ein Risiko der Fruchtschädigung nicht befürchtet zu werden. In der Liste der Arbeitsplatzgrenzwerte der bisherigen TRGS 900 ist die Schwangerschaftsgruppe C mit dem Symbol Y angezeigt. Wenn ein Stoff von der MAK-Kommission einer entsprechenden Kategorie krebserzeugender oder keimzellmutagener (erbgutverändernder) Stoffe zugeteilt wurde und dementsprechend kein MAK-Wert abgeleitet werden konnte, dann wird dies in der Rubrik Schwangerschaftsgruppe durch einen Querstrich (–) angezeigt.