24 KOMMENTAR MITTWOCH, 10. DEZEMBER 2008 FINANCIAL TIMES DEUTSCHLAND Liebe in der Krise Keine Angst vor schwarzen Löchern JOHANN GRAF LAMBSDORFF D ie aktuelle, exorbitante Finanzkrise hat in der öffentlichen Debatte zu Schreckensszenarien und neuen Wortschöpfungen geführt. Es stehe eine „Kernschmelze der Finanzbranche“ bevor. Banken drohen wie „Dominosteine“ nacheinander umzufallen. Scheinbar wie in einem „schwarzen Loch“ verschwinden die Aktiva der Banken. Zu befürchten ist eine „Kreditklemme“ für die gesamte Realwirtschaft. Statt ökonomischer Analyse werden Untergangsszenarien geschildert, denn das ökonomische Handwerkszeug ist vielen abhandengekommen. Eine nüchterne Betrachtung hilft, die volkswirtschaftlichen Risiken und Folgen der Krise besser zu überschauen. Für ein epidemisches Ausbreiten der Krise spricht zunächst einiges. Die Insolvenz einer Bank nötigt viele ihrer Anteilsinhaber zu Abschreibungen und zwingt sie damit eventuell auch in die Insolvenz. Die Illiquidität einer Bank verhindert deren Zahlungen an andere Banken, bei denen die Zahlungseingänge bereits fest für eigene Auszahlungen eingeplant waren. Aus Angst vor Illiquidität schränken diese ihre Kredite an die Privatwirtschaft ein. Ein zweiter Blick auf diese Zusammenhänge lässt jedoch einige Fragen zum Ausmaß eines solchen Szenarios aufkommen. Denn Zahlungen können nicht einfach in einem schwarzen Loch versinken – sie haben immer einen Empfänger. Dem Mangel an einer Stelle muss daher ein Überschuss an anderer Stelle entgegenstehen. Erspartes wird weiterhin angelegt Gemäß den Entwicklungsindikatoren der Weltbank werden jedes Jahr weltweit brutto mehr als 10 000 Mrd. $ gespart, insbesondere von privaten Haushalten. Diese Ersparnisse legen die Menschen bei Banken und Versicherungen an, kaufen Aktien, Immobilien und festverzinsliche Wertpapiere. Wenn in den USA die Ersparnisbildung zu knapp ausfällt, beziehen Investoren überschüssige Ersparnisse aus Asien und den Golfstaaten. Die Höhe der globalen Ersparnisse wird von der weltweiten Konjunktur und Sparneigung bestimmt. Jedenfalls müssen die Ersparnisse angelegt werden, das gilt auch in der derzeitigen Finanzkrise. Droht dann also überhaupt eine Kreditverknappung für Investoren? Drei Risiken sind hierfür im Moment zu nennen. Erstens könnte das Angesparte zwar weiter den Investoren zufließen, aber nur, wenn hierfür erhöhte Risikoprämien bezahlt werden. Dies ist tatsächlich zu beobachten. Selbst den solventen Unternehmen vertrauen viele nur noch bei hohen Prämien ihr Vermögen an. Hiermit verteuern sich Kredite zunehmend, der Anreiz zu Investitionen wird gesenkt, und die Krise greift auf die Realwirtschaft über. Diesem Herdenverhalten der Anleger kann allerdings relativ leicht entgegengewirkt werden: Die Leitzinsen der Zentralbanken können und müssen weiter deutlich gesenkt werden, damit Darlehen insgesamt wieder günstiger werden. Die bisherigen Zinssenkungen der Europäischen Zentralbank (EZB) reichen nicht aus, um die durch Risikoprämien erhöhten Kreditzinsen der Unternehmen zu senken. Abflüsse werden kompensiert Zweitens könnten Haushalte Geld horten, statt ihre Ersparnisse durch die Finanzbranche den Kreditnehmern zukommen zu lassen. Der Anstieg der Bargeldversorgung der EZB innerhalb der letzten zwei Jahre um 130 Mrd. € legt diesen Effekt tatsächlich nahe und bewirkt Liquiditätsabflüsse im Bankensystem. Drittens ist es möglich, dass neben den Haushalten die Banken sich dafür entscheiden, Geld zu horten. Anstatt vorhandene Mittel in Form von Krediten an Investoren oder andere Banken weiterzureichen, halten sie Überschussreserven bei der Zentralbank. Tatsächlich stiegen die Einlagen der Geschäftsbanken bei der EZB in den letzten zwei Jahren um rund 260 Mrd. €. Auch damit wurde dem Bankensystem Liquidität entzogen. Allerdings versorgt die EZB die Banken im Rahmen ihrer Refinanzierungsfazilitäten – also der Möglichkeit für ihre Kunden, kurzfristig Kredite in Anspruch zu nehmen – derzeit mit 800 Mrd. €. Das sind 370 Mrd. € mehr als vor zwei Jahren. Die genannten Liquiditätsabflüsse wurden damit weitgehend kompensiert. Sofern also die Kreditzinsen für Unternehmen wieder gesenkt werden können, ließe sich die derzeitige Finanzkrise gut eindämmen und ein Übergreifen auf die Realwirtschaft vermeiden. Notleidende Banken werden im Rahmen der Finanzkrise ihre Kreditvergabe reduzieren. Aber diesen stehen andere Banken mit überschüssiger Liquidität entgegen. Ersparnisse werden auch in anderer Form von Anlegern in Asien und in den Golfstaaten gehalten und lassen sich deutschen Investoren zuführen. Insgesamt sind daher die Befürchtungen einer allgemeinen Kreditklemme übertrieben. Die Wege, auf denen Ersparnisse zu Investoren finden, werden sich wandeln. Solche Prozesse werden für Einzelne schmerzhaft sein. Dass es jedoch zur Kernschmelze einer ganzen Branche kommt, bei der Ersparnisse und Zahlungen in einem schwarzen Loch verschwinden, ist volkswirtschaftlich unlogisch. JOHANN GRAF LA MBSDORFF ist Professor für Volkswirtschaftstheorie an der Universität Passau. IMPRESSUM Die Financial Times Deutschland ist überregionales Pflichtblatt aller acht deutschen Wertpapierbörsen Chefredakteur: Steffen Klusmann Stellvertretende Chefredakteure: Sven Clausen, Stefan Weigel Geschäftsführende Redakteurin: Isabelle Arnold Chefin vom Dienst: Cosima Jäckel Cheflayouter: Dominik Arndt, Carsten Lüdemann Bildchef: Peter Raffelt Infografikchef: Andreas Mohrmann Chef Seite 1 und 2: Philipp Jaklin Ressort Unternehmen: Guido Warlimont (verantw.), Jörn Paterak (Stv.); Claus Gorgs (Industrie/Dienstleistungen); Matthias Lambrecht (Reports) Ressort Politik: Andreas Theyssen (verantw.), Peter Ehrlich (Chefkorrespondent); Dr. Arne Delfs (Deutsche Politik), Ines Zöttl (Ausland); Wolfgang Proissl (Europapolitik) Ressort Finanzen: Tim Bartz, Ina Lockhart (verantw.); Jörg Berens (Das Kapital), Christina Rathmann (Finanzmärkte) Ressort Agenda: Dr. Nikolaus Förster (verantw.), Christian Baulig (Stv.), Horst von Buttlar (Agenda), Christian Schütte (Kommentar) Ressort Electronic Media: Dr. Anton Notz (verantw.); Joachim Dreykluft (Nachrichten); Martin Virtel (Multimedia) Chefökonom: Thomas Fricke Beilagen: Volker Bormann Lektorat: Astrid Froese I Übersetzungen: Matthias Schulz Verantwortliche Redakteure im Sinne des Presserechts sind die als solche genannten Redakteure für ihren Bereich, im Übrigen die Chefredaktion. 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KG, 58099 Hagen; BVZ Berliner Zeitungsdruck GmbH, 10365 Berlin A B H M Quelle: The Financial Times Geld verschwindet nicht – es wird gespart. Die Finanzkrise lässt sich bremsen, wenn diese Ersparnisse Investoren zugänglich gemacht werden Banker in der Rezession leiden unter Risikoentzugserscheinungen. Das wäre zumindest eine Erklärung dafür, dass sie gerade so rege auf Websites für Seitensprünge nach dem Kick suchen VON LUCY KELLAWAY m vergangenen Monat habe ich 247 Männer aufgerissen. Ein hartes Stück Arbeit für gerade mal vier Wochen, aber ich habe mich ordentlich reingekniet. Während meiner Auszeit von der Financial Times habe ich auf einer Seitensprungwebsite wie besessen Fremde angemailt – und mich an der heißesten Rezessionsaktivität beteiligt, die der Markt im Moment zu bieten hat. Zu meinen neuen Bekanntschaften zählen ein ehemals mächtiger Hedge-Fonds-Manager, Scharen neuerdings unbeschäftigter Banker, ein paar Unternehmer, eine Handvoll Vorstände, ein bekannter Musiker, Anwälte und ein äußerst attraktiver Bauarbeiter. Als ich mich also bei der exklusivsten unter den Seitensprungwebsites, „Illicit Encounters“ (verbotene Begegnungen) anmeldete, geschah dies rein zu Recherchezwecken für mein Buch über Internetseitensprünge. Doch schon innerhalb der ersten halben Stunde nach Eingabe meiner Daten (unter dem Pseudonym Sophie Scribe) hatte ich 20 Bekanntschaften an Land gezogen. Nach einer Stunde war ich süchtig. Illicit Encounters ist eine Art Hamam, in dem sich 230 000 vor allem berufstätige, verheiratete Personen durch virtuellen Dampf Blicke zuwerfen auf der Suche nach jemandem, der als Affäre infrage kommt. Rege Aktivität herrschte vor allem unter denen, die als Beruf Finanzdienstleistungen angaben. Immer wieder wurde ich von Männern mit Kennungen wie „Alpha123“, „Civilised1“ oder „City- Gent“ angeschrieben. Und alle er- te: Wie verhält man sich korrekt, zählten die gleiche Geschichte: Ich wenn man auf einer Seitensprungbin ein erfolgreicher Banker, habe website über jemanden stolpert, jetzt viel Zeit und suche Abenteu- den man kennt? Ich wage zu beer/Liebe/Romanze/Gelegenheitshaupten, dass dies immer häufiger sex und so weiter. geschieht. Tatsächlich verdächtige Die Websitebetreiber erzählten, ich seit meiner vierwöchigen dass seit September die Zahl regis- Unterwanderung des Lebens untrierter männlicher Mitglieder aus treuer Ehegatten jetzt jeden Mann, dem Londoner Finanzsektor um ein Doppelleben auf Illicit Enfast 300 Prozent gestiegen sei. Je counters zu führen. kälter der Stellenmarkt, desto heiVergangene Woche aß ich mit ßer offenbar der Markt für Seiten- John Quelch zu Mittag, Marketingsprünge. professor an der Harvard Business Noch mehr als die schiere Zahl School. Ich fragte ihn, wie er das verblüfften mich die alles deute. Wie Männer selbst. Die, kommt es, dass so Je kälter der viele Geschäftsleute mit denen ich mich unterhielt, waren Stellenmarkt, von Rang und Namen keine schmierigen mit Seitensprüngen desto heißer auf die Rezession reaSchürzenjäger. Für viele war es der erste der Markt für gieren? Seitensprung, und sie Er sagte, in einer ReSeitensprünge zession gehörten auch eher in wollten die die Kategorie „Banker Menschen in den Arm mit Haarausfall von nebenan“ als in genommen werden. Diese Erklädie der George-Clooney-Doubles. rung war mir zu dürftig. Es muss Für Leser, die noch keine per- doch einfachere Wege geben, in sönlichen Erfahrungen mit Illicit den Arm genommen zu werden, Encounters haben, hier eine Erklä- als seine Ehe aufs Spiel zu setzen? rung, wie die Seite funktioniert: Seine Kinder zu umarmen oder – Die Mitglieder bedienen sich eines in der allergrößten Verzweiflung – falschen Namens und geben ihre den eigenen Partner erscheint mir Bilder nur für Mitglieder frei, deren einfacher und sicherer. Namen sie ansprechen. Angesichts Das sei eben der springende der hohen Dichte an FT-Lesern on- Punkt, sagte Quelch: der Reiz des line stellte dies ein heikles Problem Risikos. Diese Banker leiden an dar. Nach einem kurzen Blick auf Risikoentzugserscheinungen. Ihr mein Foto ergriffen einige beängs- Arbeitsleben ist zwangsläufig risitigt die Flucht: „Oh Gott, sind Sie koarm geworden, und nun verLucy Kellaway?“ Ich habe aller- suchten sie vielleicht, dies zu komdings nicht nur Leser getroffen, pensieren, indem sie ihr Privatsondern auch jemanden, der frü- leben mit Risiko anreichern. Wenn das stimmt, muss man sich her für die Zeitung geschrieben hat. Dies katapultierte mich in eine fragen, wie sich das makroökonoganz neue Sphäre der Büroetiket- misch niederschlägt. Wenn sich die Risikobereitschaft im großen Stil vom Finanzmarkt auf den heimischen Markt verlagert hat, bedeutet das dann auch private Instabilität im großen Stil, die sprunghaft ansteigende Scheidungsraten et cetera mit sich bringt? Die Gründer der Website reklamieren für sich, durch das Bereitstellen eines geordneten Marktplatzes für Ehebruch sogar Stabilität im Privaten zu schaffen. 70 Prozent der Kunden von Illicit Encounters sagen, Seitensprünge seien eine Alternative zu Scheidung, kein Vorbote. Das ist vielleicht nicht ganz lachhaft, aber es scheint noch etwas früh, in irgendeine Richtung Schlüsse zu ziehen. Drei andere Schlussfolgerungen sind aber schon jetzt möglich. Erstens haben Leute, die immer noch Arbeit haben, zu gängigen Bürozeiten offenbar ungemein viel freie Zeit. Zweitens lügen alle: Sie geben sich jünger, attraktiver, fitter, humorvoller, als sie sind. Und drittens hat sich bestätigt, was wir längst wissen: Mehr Männer als Frauen suchen Seitensprünge. Die Website versucht, diese Verzerrung durch die Preise zu korrigieren – Männer zahlen 119 £ (137 €) monatlich, Frauen gar nichts. Aber das Ungleichgewicht bleibt. Außerdem musste ich feststellen, dass wohl nicht mein Charme dafür verantwortlich war, dass ich 247 Bekanntschaften gemacht habe. Als ich einer Freundin von der Seite erzählte, meldete sie sich auch an. Ihre Trefferquote nach nur einer Woche: 295. LUCY KELL AWAY ist Kolumnistin der Financial Times. Vergesst die Ingenieure Deutschlands wichtigste Industriezweige haben ihren Zenit überschritten. Es ist Zeit, sich neu zu orientieren WOLFGANG MÜNCHAU I ch habe mich in den letzten Wochen oft gefragt, warum Bundeskanzlerin Angela Merkel angesichts dieser schweren Krise so sehr zaudert. Ich kann mir nur erklären, dass ihr Wirtschaftsberater folgendermaßen räsoniert hat: Deutschland leidet im Gegensatz zu den USA nicht unter einer Überschuldung der Privathaushalte. Anders als den vielen kleinen USBanken geht es den deutschen Sparkassen und Volksbanken relativ gut. Die Kreditversorgung ist trotz der Krise noch gesichert. Darüber hinaus sind die Hausaufgaben gemacht. Der Bundeshaushalt ist nahezu ausgeglichen, und die Lohnkosten sind international wettbewerbsfähig. Natürlich trifft uns als weltgrößter Exporteur ein von den USA ausgehender Abschwung der Weltwirtschaft. Aber wir sind bei Weitem nicht so betroffen wie andere Länder. Die Argumentation ist in jedem Punkt richtig. Das Problem liegt in der quantitativen Einschätzung. Unterschätzt werden vor allem der Rückgang der globalen Nachfrage und dessen Auswirkung auf die deutsche Wirtschaft. Für ein Land unserer Größe – immerhin die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt – sind wir ungewöhnlich exportabhängig. Dass Deutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine exportbasierte Wachstumsstrategie verfolgte, war richtig und ohne Alternative. Auch Chinas Wachstumspolitik beruht seit den 70er-Jahren auf demselben Modell – eine Exportstrategie mit real unterbewerteter Währung. Exportweltmeister ist kein Ehrentitel Die von volkswirtschaftlichem Denken weniger geprägten deutschen Tageszeitungen feiern jedes Jahr den Umstand, dass Deutschland erneut Exportweltmeister geworden ist, so als sei die globale Wirtschaft eine Bundesliga mit Deutschland in der Rolle von Bayern München. Ziel der Wirtschaftspolitik aber ist natürlich nicht die Führung in einer fiktiven Tabelle, sondern nachhaltiges Wachstum, Vollbeschäftigung und Preisstabilität. Wir werden uns im weiteren Verlauf dieser Krise nicht erneut um die Frage drücken können, ob unsere Wachstumsstrategie wirklich in unserem langfristigen Interesse ist. Deutschlands Wachstumskurve ist mittlerweile gekennzeichnet von langen Abschwungphasen und einem sehr starken, aber kurzen Aufschwung. Dieser begann Ende 2005 und endete im ersten Quartal 2008. Der Abschwung, den wir jetzt erleben, ist besonders stark und wird vermutlich noch ein oder zwei Jahre dauern. Es ist eine gute Zeit, um sich wirtschaftspolitisch neu zu orientieren. Ein Ziel der strategischen Änderungen sollte es sein, die Abhängigkeit von der Automobilindustrie zu verringern. Früher war dies unser Vorzeigesektor. Doch mit den Autos gibt es eine Reihe fundamentaler Probleme. Zum einen halten die seit den 90er-Jahren gebauten Autos mittlerweile zehn Jahre oder noch länger – selbst die aus den USA. Es ist für viele Menschen überhaupt kein Problem, einen alten Wagen noch ein paar weitere Jahre zu fahren. Das heißt aber auch: Kommt eine Rezession, erlebt der Autobau einen massiven Einbruch, weil die Nachfrage plötzlich einbricht. Und da gerade Die drittgrößte Volkswirtschaft der Erde ist viel zu abhängig vom Export die deutschen Autobauer in einer Rezession nicht ihre Preise kräftig senken, kommt es zu einem Stillstand in der Produktion. Diese Industrie ist massiv prozyklisch. Es gibt noch weitere strukturelle Probleme. Vor wenigen Monaten unterhielt ich mich mit einem Vorstandsmitglied eines großen deutschen Automobilbauers. Er sagte mir, die Zeit der bahnbrechenden Innovationen im Automobilsektor sei vorbei. Sicherheitsgurte und Airbag waren die wichtigsten Erfindungen, die die Anzahl der Verkehrsopfer drastisch reduzierten. Natürlich wird immer noch gebastelt, es werden Außenairbags oder Netzhaut-Scanner entwickelt, aber die Branche ist längst auf einem Pfad fallenden Grenznutzens. Das Hybridauto ist ebenfalls erfunden, und wir werden sicherlich auch in der Zukunft neue Methoden entwickeln, den Ausstoß von Abga- sen zu senken. Es ist aber kaum etwas denkbar, das sich mit der Einführung von Katalysator oder Rußpartikelfilter vergleichen ließe. Natürlich ist der Technologiezyklus in dieser Industrie noch längst nicht beendet, aber er hat seinen Höhepunkt mittlerweile deutlich überschritten. Ich schätze, wir sind bei den Autos jetzt da, wo die Kohle in den 50er- oder 60erJahren angelangt war. Es ist immer noch eine große und wichtige Industrie, aber bald nicht mehr die Schlüsselindustrie. Längst MediumTech, nicht mehr Hightech. Die neuen Bergarbeiter In der Chemie haben wir diese Entwicklung längst erlebt. Deutschland war einst die führende Nation in dieser Disziplin. Bis vor wenigen Jahren galt es als Voraussetzung für ein Chemiestudium, dass der Betreffende die deutsche Sprache beherrschte. Wir hatten die größten und besten Industrieunternehmen. Zwar errang ein deutscher Forscher im letzten Jahr noch den Chemienobelpreis. Doch die Wissenschaft hat ihren Zenit längst überschritten. In der Elektrotechnik sieht die Lage in Teilbereichen besser aus, wie zum Beispiel in der Energietechnik. Auch Umwelt- und Medizintechnik haben sicher eine Zukunft. Nur sollten wir nicht glauben, dass wir uns im 21. Jahrhundert weiterhin als Land der Produktion in der Weltwirtschaft empfehlen können. Ich halte es für völlig unverantwortlich, wenn Eltern ihren Kindern ein Ingenieurstudium empfehlen, weil sie sich davon einen sicheren Arbeitsplatz versprechen. Selbst in den 70er-Jahren glaubten die Menschen im Ruhrgebiet noch daran, dass es immer Bergarbeiter geben wird. Das stimmt zwar global, aber eben nicht für das Ruhrgebiet. Das gleiche Schicksal wird die Ingenieure ereilen. Die Politik sollte aufhören, auf die jammernde Industrie zu hören, die sich vor Kurzem noch über den Ingenieurmangel beschwerte und die in den nächsten Monaten junge Ingenieure massenweise in die Arbeitslosigkeit entlassen wird. Es ist Zeit, unseren Ingenieurkult und den deutschen Sonderweg zu beenden. Im 21. Jahrhundert sollten wir von einer Exportwirtschaft zu einer normalen Volkswirtschaft übergehen – mit einer breiten Palette von Industrien und Dienstleistungen. E-M AI L [email protected] WOLFGANG MÜNCHAU ist FTD- und FT-Kolumnist. Er leitet den Informationsdienst Eurointelligence.com.