philoSCIENCE GOTT ZUFALL Die Philosophie beschäftigt sich großteils mit jenen Fragen, die an den Grenzen unseres Denkvermögens angesiedelt sind. Dazu gehört die Frage nach dem Ursprung des Universums, dem Ursprung des Menschen, dem Sinn des Seins, die Frage nach der Existenz eines ursprünglichen Wesens, mag man es nun Gott, das Eine oder das Sein nennen. Diese Fragen sind allesamt nicht zweifelsfrei zu beantworten. Seit sich auch die Wissenschaft an derartige Grenzfragen heranwagt, taucht immer wieder der Begriff „Zufall“ als Erklärung, als Lösung auf. Ist der Zufall die Lösung für die bedeutendsten Fragen, die sich Menschen stellen können? Oder sind Theorien, die auf dem Zufall aufbauen, eine Sackgasse und hat etwa Voltaire Recht, der sagte: „Zufall ist ein Wort ohne Sinn. Nichts kann ohne Ursache existieren“? Von Wigbert Winkler Der Zufall in der Antike Die erste philosophische Behandlung des Zufalls geht – nach den heute noch erhaltenen Quellen – bis auf Aristoteles zurück. Seine Vorstellung von der Seele ist sehr mit der Idee des Zufalls verbunden. Aristoteles1 sah die menschliche Seele bei der Geburt als „Tabula rasa“, als leere Schreibtafel an, die durch die Eindrücke der Sinne und die dem Wesen widerfahrenden Erlebnisse „beschrieben“ wird. Da diese Eindrücke bei den verschiedenen Menschen sehr unterschiedlich sind, hängt für jeden Menschen sehr viel von den Zufälligkeiten dieser Erlebnisse ab. Das Beispiel von der Schreibtafel hat Aristoteles aber von seinem Lehrer Platon übernommen2. Dieser allerdings hat es ganz anders verwendet. Für Platon gab es bei den „leer“ gemachten Schreibtafeln gehörige Unterschiede. War die Tafel wirklich heiß gemacht worden, dann war die Oberfläche sehr glatt und gut zu beschreiben. Wenn aber die Tafel nicht gut geglättet war, dann war es unmöglich, sie schön zu beschreiben. Diese unterschiedlichen Voraussetzungen haben bei Platon ihren Ursprung in den unterschiedlichen Handlungen im Vorleben der jeweiligen Menschen – denn Platon vertrat die Lehre der Wiedergeburt und Aristoteles nicht. Ähnlich zeigt sich dieser grundsätzliche Unterschied auch darin, wie Aristoteles und Platon den Ursprung der Philosophie erklärten. Aristoteles3 sah den Ursprung der Philosophie im Staunen des Menschen über die Natur, das zu einem Hinterfragen von bisher als selbstverständlich angenommenen Meinungen führt. Platon hingegen sah den Ursprung der Philosophie in der Reminiszenz4, der unterschwelligen Erinnerung der Seele an deren Erlebnisse im Jenseits und in Vorleben. In der Haltung Platons schwingen orientalische philosophische Lehren mit, die durch einen starken Determinismus geprägt sind. Die Karma-Lehre mit ihrem klaren 1 Vgl.: Aristoteles: De anima 2 Vgl.: Platon: Theaitetos 3 Vgl.: Aristoteles: Metaphysik 4 Vgl.: Platon: Phaidros Zusammenwirken von Ursachen und Wirkungen – auch über die Grenzen des Todes und der Wiedergeburt hinweg – enthält einen starken Determinismus, der allerdings durch die Notwendigkeit eines „freien Willens“, also der Möglichkeit, „richtig“ und „falsch“ zu handeln, begrenzt ist. Aristoteles hat dann auch die erste bekannte Definition des Zufalls formuliert: „Wenn im Bereich der Geschehnisse, die im strengen Sinn wegen etwas eintreten und deren Ursache außer ihnen liegt, etwas geschieht, das mit dem Ergebnis nicht in eine Deswegen-Beziehung zu bringen ist, dann nennen wir das ‚zufällig‘.“5 Wem das nicht so verständlich erscheint, Aristoteles hat es mit einem Beispiel erläutert: Ein Pferd entgeht dadurch, dass es aus dem Stall herauskommt, einem Unglück, es ist aber nicht herausgekommen, weil es dem Unglück entgehen wollte (es wusste nichts von dem drohenden Unglück). In diesem Fall würde man sagen: „Das Pferd ist zufällig herausgekommen.“ Die „Ursache“ ist hier das Herauskommen, das „Ergebnis“ ist, dass es dem Unglück entgeht, und zwischen beiden gibt es keine „Deswegen-Beziehung“ (das Pferd ist nicht herausgekommen, um dem Unglück zu entgehen), daher ist das Ganze zufällig. Was macht Aristoteles in dieser Definition? Er trennt zwei Ursache-WirkungsZusammenhänge vollständig voneinander. Einerseits folgt das Unglück einem deterministischen Ablauf. Andererseits folgt das Pferd seinen treibenden Impulsen, seien dies nun der Hunger, ein Duft oder eine lästige Fliege. Zwei deterministisch erklärbare Phänomene laufen unabhängig voneinander ab und können sich „zufällig“ kreuzen. Damit ist die die Antike prägende (im Kern orientalische) Vorstellung von einem harmonischen Ganzen, das sich als Ganzes koordiniert entwickelt, wo die einzelnen Geschehnisse miteinander verwoben und aufeinander abgestimmt sind, gebrochen. Andererseits muss man aber auch klar sehen, dass dieser „Bruch“ der Vorstellung irgendwann kommen musste, denn die Konzentration des Denkens auf eine „Vielheit“ muss auf die Konzentration des Denkens 5 Aristoteles: Physik, II 4.9 Je planmäßiger die Menschen vorgehen, desto wirksamer vermag sie der Zufall treffen. (Friedrich Dürrenmatt) auf eine „Einheit“ folgen, wie ein Fuß dem anderen folgt. Der Zufall im Mittelalter Die nächste wichtige Etappe bei der Auseinandersetzung mit dem Zufall fand im Mittelalter statt. In der Scholastik wollte man die geoffenbarten „Wahrheiten“ mittels der Vernunft bestätigen. Wesentliche Stützen waren dabei die Neuplatoniker und Aristoteles. Eine der wesentlichen Fragen, um die es ging, war, ob das Universum, wie es sich zeigt, zufällig so entstanden sei. Die Frage lautete noch direkter, ob Gott das Universum auch anders hätte schaffen können. Die arabische Scholastik war über das Prinzip der Notwendigkeit stark mit dem Determinismus verbunden und so vertrat sie im Wesentlichen die Ansicht, dass Gott nur das hatte schaffen können, was dann tatsächlich in Erscheinung trat. Die lateinische Scholastik hingegen führte das Prinzip der Zufälligkeit ein: Etwas kann geschehen oder auch nicht. Damit soll die Freiheit Gottes gewährleistet sein, die Welt zu schaffen oder sie zum Verschwinden zu bringen. Die christliche Scholastik sagte, dass Gott auch ein beliebiges anderes Universum hätte schaffen können. Mit dem Prinzip der Zufälligkeit wurde in diesem Denksystem auch das Problem des freien Willens geklärt, denn auch der Mensch hatte nun die Möglichkeit, sich für das Gute oder das Böse zu entscheiden. Damit war zumindest im lateinischen Gebiet die Idee des Zufalls wieder im Bewusstsein. Der Zufall in der Moderne Die Wahrscheinlichkeit, dass sich aus unbelebter Materie Leben entwickelt hat, beträgt eins zu einer Zahl mit 40.000 Nullen … Diese ist groß genug, um Darwin und die ganze Evolutionstheorie unter sich zu begraben. Sir Fred Hoyle, Astrophysiker Die Moderne ist geprägt durch die Naturbeobachtung, für die man nun immer neue und bessere Instrumente schuf. Teleskope, Mikroskope und verschiedenste Apparaturen konnten Naturprozesse immer besser messen oder sichtbar machen. Mit den zunehmenden Erkenntnissen Nr. 119 / Abenteuer Philosophie 13 philoSCIENCE dieser Beobachtungen entstand auch das Gefühl bzw. das Ziel, alles erklären zu wollen und auch zu können. Das Mysteriöse in der Natur „wurde ausgetrieben“. Wenn man alles erklären will, dann muss auch Gott, ob man ihn nun als ersten Beweger oder als Schöpfer verstand, verschwinden. Damit entstanden der Atheismus und auch die Vorherrschaft der Materie. Der Aufschwung der Wissenschaften und deren Erfolg war das Ergebnis dieses neuen Denkansatzes. Aber die Entwicklung brachte auch Unerwartetes. Statt die gen, gesunken. Die Frage nach der Existenz Gottes wird zu einer Frage, für die sich die Naturwissenschaften nicht zuständig fühlen. Die Frage nach dem Ziel des Universums, des Lebens, des Menschen wird auch ausgeklammert, indem man den aristotelischen Begriff der Zweckursache für unwissenschaftlich erklärt. Aber der Erklärungsnotstand bestand immer noch. Die in Erforschung befindlichen Systeme zeigten sich immer komplexer. Man erkannte, dass kleine Einflüsse oft ungeahnte Wirkungen haben konnten und dies ließ eine neue Art von Erklärung für wesentliche Fragen zu: den Zufall. Der Zufall ermöglichte einen Ausweg aus dem Dilemma, die wesentlichen Fragen nicht lösen zu können. Er hielt Einzug in den Darwinismus und wurde zur treibenden Kraft der Evolution, denn die von Darwin formulierte Zuchtwahl, „the survival of the fittest“, war nur mehr das Auswahlkriterium der Evolution. In der Quantentheorie ging man noch einen Schritt weiter. Hier wurde der Zufall nicht nur zu einem zentralen „Naturgesetz“, hier wurde auch die Kausalität zu Grabe getragen. In der Quantenfluktuation entstehen Teilchen aus dem Nichts, um gleich wieder in dieses zu verschwinden. Das Das, wobei unsere Berechnungen versagen, nennen wir Zufall. Vakuum, das Nichts, wurde zu einem hohen (Albert Einstein) Energiezustand, in dem alles passieren kann – natürlich zufällig. Auch über den Ursprung „Weltformel“ zu entdecken, die letzten Rätsel des Universums gibt es Hypothesen, nach nun klären zu können, traten immer mehr welchen der Urknall „zufällig“ entstanden Unklarheiten und Unstimmigkeiten auf. Die sein könnte. Somit wurde der Zufall zum Apparaturen brachten nicht die erwarteten Gott, der den Menschen und auch das UniErgebnisse, damit nicht genug, die Mess- versum geschaffen hätte. ergebnisse verursachten viele Risse in den bestehenden Erklärungsmodellen. Immer Das Problem der mehr ungelöste Fragen tauchten auf. Die Erfolgsgeschichte Wissenschaft wurde zu Wahrscheinlichkeit einer „Baustelle“ mit vielen offenen „BauDie zunehmende Verbesserung der Messgruben“. Die einzelnen Wissenschaften methoden, die bessere Klärung mancher begannen sich auch eigene Wege zu bah- Zusammenhänge hat nun bewirkt, dass nen, die nicht mehr mit jenen in anderen die erkannte Komplexität der untersuchten Wissenschaften in Verbindung standen. Systeme in einer Größenordnung zunahm, Aber die grundsätzlichen Fragen waren wodurch die Wahrscheinlichkeit des zufälnoch vorhanden. Die Frage nach dem ligen Zustandekommens z. B. von Leben Ursprung des Universums, dem Ursprung so klein ist, dass wir eigentlich gar nicht des Lebens und des Menschen waren noch existieren dürften. nicht gelöst. Bei einigen dieser Grundfragen Sir Fred Hoyle, ein Astrophysiker, hatte ist die Bereitschaft, sich damit zu beschäfti- mit seinem Assistenten Chandra Wickrama- 14 Abenteuer Philosophie / Nr. 119 singhe versucht, die Theorie der Urzeugung durch eine Analyse der Wahrscheinlichkeit der Entwicklung eines Bakteriums abzuschätzen. Für die Entwicklung eines Enzyms kam er auf die Zahl 1020, d.h. eine 1 mit 20 Nullen. Für ein Bakterium muss man 2000 funktionsfähige Enzyme zusammenfügen. Dies verringert die Chance der zufälligen Entwicklung eines einfachen Bakteriums auf 1 zu 1040000, also eine 1 mit 40 000 Nullen. Nach Hoyle wäre die Wahrscheinlichkeit eines derartigen Ereignisses nach seiner Schätzung vergleichbar mit der Chance, dass ein Tornado, der über einen Schrottplatz hinwegrast, aus den dort lagernden Materialien eine Boing 747 zusammenbläst. Das Pendel kehrt zurück Haben wir zu Beginn des Artikels davon gesprochen, dass es logisch ist, dass das Denken nach der Konzentration auf die Idee der Einheit irgendwann zur Idee der Vielheit umschwenkt, so befindet es sich nun nach etwa 2300 Jahren auf dem Weg zurück. Dieser Weg hat Erkenntnisse gebracht, aber auch gezeigt, dass es ein Weg fort von einem Zentrum war, dass wir mit dieser Art von Denken den wesentlichen Fragen nicht näher gekommen sind. Die Umweltprobleme, die Waffenarsenale, die Gefahren der Überbevölkerung, des Rohstoffmangels haben gezeigt, dass diese Art des Denkens sogar sehr gefährlich für den Fortbestand der Menschheit sein kann. Der Zufall – so vertraut diese Idee unserem Denken sein mag, so logisch sie erscheint – ist eine Idee ohne Zukunft. Der Trend wendet sich nun wieder von dieser Idee ab, auch wenn es noch Jahrzehnte und in manchen Aspekten sogar Jahrhunderte dauern wird, bis die Idee Zufall wieder Geschichte sein wird. ☐ Literatur: • Hoyle, Fred: Das intelligente Universum – eine neue Sicht von Entstehung und Evolution, Frankfurt 1984 • Dawkins, Richard: Der Gotteswahn, Berlin 2007, S. 575 • Mooser, Paul: Evolution – Gott, Zufall oder Geist, 2008, S. 310