[Skriv tekst] Wesentliche Erkenntnisse und Empfehlungen zu Melde- und Lernsystemen für Zwischenfälle auf dem Gebiet der Patientensicherheit in Europa Bericht der Untergruppe „Melde- und Lernsysteme in den Mitgliedstaaten“ der Arbeitsgruppe der Kommission „Patientensicherheit und Versorgungsqualität“ (PaSQ) Mai 2014 Titel: Wesentliche Erkenntnisse und Empfehlungen zu Melde- und Lernsystemen für Zwischenfälle auf dem Gebiet der Patientensicherheit in Europa Veröffentlicht im Mai 2014 © Europäische Kommission, Arbeitsgruppe „Patientensicherheit und Versorgungsqualität“ Diese Veröffentlichung darf unter Angabe der Quelle uneingeschränkt reproduziert oder nachgedruckt werden. Internet: http://ec.europa.eu/health/patient_safety/policy/index_de.htm Format: PDF Kontakt: Martin E. Bommersholdt, geprüfter Krankenpfleger, Master Qualitätsmanagement, leitender Beauftragter für Patientensicherheit. Nationale Behörde für Patientenrechte und Beschwerden, Dänemark E-mail: [email protected]. 2 Inhalt 1. Zusammenfassung .......................................................................................... 5 2. Die Untergruppe „Melde- und Lernsysteme“............................................... 10 3. Empfehlungen zu Melde- und Lernsystemen .............................................. 12 3.1. Empfehlung des Rates der EU zur Sicherheit der Patienten ................. 12 3.2. Empfehlung des Europarates zur Patientensicherheit .......................... 12 3.3. WHO-Programm Patientensicherheit.................................................... 13 4. Zweck und Funktion von Melde- und Lernsystemen .................................. 14 5. Vorgehensweise ............................................................................................ 16 6. Organisation.................................................................................................. 18 7. 8. 6.1. Der organisatorische Rahmen................................................................ 18 6.2. Ebene der Meldesysteme........................................................................20 6.3. Gründe für die Einführung eines Berichtssystems ................................ 21 6.4. Implementierung .................................................................................... 23 6.5. Finanzierung ...........................................................................................24 Wichtige Faktoren.........................................................................................25 7.1. Regulierungsrahmen .............................................................................. 25 7.2. Verpflichtende oder freiwillige Systeme ................................................ 27 7.3. Was wird gemeldet?................................................................................28 7.4. Wer kann melden?..................................................................................29 7.5. Meldungen durch Patienten und Angehörige ........................................ 31 7.6. Schutz des Gesundheitspersonals .......................................................... 32 7.7. Anonymisierung und Vertraulichkeit..................................................... 33 7.8. Wichtige Erkenntnisse............................................................................ 34 Schulung........................................................................................................35 8.1. Melde- und Lernkultur ........................................................................... 35 8.2. Schulungsmaßnahmen ........................................................................... 35 8.3. Wichtige Erkenntnisse............................................................................ 37 9. Komponenten eines Berichtssystems...........................................................38 9.1. Ablauf der Fallbearbeitung.....................................................................38 9.2. Mechanismen zur Datenerfassung .........................................................38 9.3. Versorgungsbereich ................................................................................ 39 9.4. Wie wird gemeldet? ................................................................................ 41 9.5. Meldeverfahren....................................................................................... 43 9.6. Feedbackschleife..................................................................................... 45 3 9.7. Datennutzung (Fallarbeit)......................................................................46 9.8. Klassifizierungssystem ........................................................................... 47 9.9. 10. Wichtige Erkenntnisse............................................................................48 Analyse .......................................................................................................49 10.1. Zentrale oder regionale Überprüfung ....................................................49 10.2. Wie sieht ein erfolgreicher Überprüfungsprozess aus ...........................50 10.3. Quantitative Statistiken.......................................................................... 51 10.4. Analyse auf lokaler Ebene ...................................................................... 51 10.5. Wichtige Erkenntnisse............................................................................ 54 11. Technische Infrastruktur ...........................................................................54 11.1. Automatisierung des Datenflusses ......................................................... 55 11.2. Unterstützung und kontinuierliche Entwicklung .................................. 56 11.3. Sicherheitsfragen .................................................................................... 56 11.4. Wichtige Erkenntnisse............................................................................ 56 12. Ziele ............................................................................................................58 13. Glossar........................................................................................................59 14. Referenzdokumente ...................................................................................62 4 1. Zusammenfassung In diesem Bericht werden die Ergebnisse der Untergruppe „Melde- und Lernsysteme“ (MLS-Untergruppe) zusammengefasst, deren Aufgabe es war, eine Reihe von wichtigen Erkenntnissen zu Melde- und Lernsystemen für Zwischenfälle in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union1 und Empfehlungen zur Umsetzung der Empfehlung 2009/C 151/012 des Rates hinsichtlich Melde- und Lernsystemen vorzulegen. Dieser Bericht soll eine Übersicht über die unterschiedlichen Vorgehensweisen der Mitgliedstaaten bei der Einrichtung ihrer Meldesysteme bieten und jenen Mitgliedstaaten, die ein überregionales Berichtssystem aufbauen möchten, einen Einblick vermitteln und Anregungen dazu liefern. Er basiert auf dem Leitlinienentwurf der WHO für Melde- und Lernsysteme für unerwünschte Ereignisse1, der Empfehlung 2009/C 151/012 des Rates und der EUNetPaS-Bibliothek3 und veranschaulicht, wie unterschiedlich die einzelnen europäischen Länder die Erkenntnisse der WHO und der EU bei der Einführung und Überarbeitung ihrer Meldesysteme angewendet haben. Trotz der erheblichen Unterschiede zwischen den Meldesystemen der einzelnen Mitgliedstaaten ist es der MLS-Untergruppe gelungen, wichtige Erkenntnisse zu gewinnen und Empfehlungen daraus abzuleiten. Ein wichtiges Anliegen der Untergruppe bestand darin, die Unterschiede zwischen den Meldesystemen aufzuzeigen, da diese zum Verständnis von deren unterschiedlichem Aufbau sowie der damit verbundenen Vor- und Nachteile beitragen können. Dieser Bericht geht nicht darauf ein, wie das Lernen aus Zwischenfällen bewerkstelligt werden kann. Zwischenfälle sollten normalerweise zusammen mit Qualitäts- und Sicherheitsdaten aus anderen Quellen analysiert werden. Eine gesonderte Analyse von Zwischenfällen, Beschwerden und anderen Qualitätsdaten könnte eventuell zu fragmentierten Lösungen führen, durch die sich das Problem nicht wirksam vermeiden lässt. Norwegen ist Mitglied der Europäischen Freihandelsassoziation, jedoch nicht der EU. Mit Mitgliedstaaten sind in diesem Bericht die EU-Mitgliedstaaten und Norwegen gemeint. 1 Empfehlung des Rates vom 9. Juni 2009 zur Sicherheit der Patienten unter Einschluss der Prävention und Eindämmung von therapieassoziierten Infektionen. 2 5 Wichtige Erkenntnisse und Empfehlungen Allgemeiner Aufbau 1. In den Mitgliedstaaten gibt es sowohl verpflichtende als auch freiwillige Meldesysteme, die beide ihre Vor- und Nachteile haben. 2. Bei einem verpflichtenden System sollten Sanktionsfreiheit der Meldungen und Vertraulichkeit klar geregelt sein. 3. Es können unterschiedliche Arten von Zwischenfällen gemeldet werden. Bei einer weit gefassten Definition können jedoch alle Anliegen gemeldet werden, einschließlich Beinaheschäden und Zwischenfälle „ohne Schaden“, was eine wertvolle Quelle für das Lernen und für Systemverbesserungen darstellt. 4. Nicht nur Leistungserbringer im Gesundheitswesen, sondern alle in Gesundheitsorganisationen Tätigen sollten sicherheitsrelevante Zwischenfälle melden können. 5. Meldungen von Patienten und ihren Familien sind eine potenziell wertvolle Ressource für das Lernen und die Verbesserung der Patientensicherheit und sollten gefördert werden. Es sind weitere Informationen darüber nötig, wie sich dies in verschiedenen Gesundheitsbereichen am besten ermöglichen lässt. 6. Es sollte eine Trennung zwischen Berichtssystem und formellen Beschwerde- und Gerichtsverfahren sowie Disziplinarmaßnahmen geben. Angehörige der Gesundheitsberufe, die einen Zwischenfall melden, sollten vor Disziplinarstrafen oder Klagen geschützt sein. Die Geheimhaltung der meldenden Person und die entsprechende Anonymisierung der Daten sollte gewährleistet werden. 7. Es sollten regelmäßig anonymisierte Datenmeldungen veröffentlicht und die daraus gewonnenen Erkenntnisse bekannt gemacht werden, um die Entwicklung und Überwachung von Initiativen zur Erhöhung der Patientensicherheit und Vermeidung von Zwischenfällen in der gesamten EU zu fördern. Melde- und Lernkultur Wichtige Erkenntnisse: 1. Das Ziel des Systems muss allen Akteuren klar sein, u. a. dem an vorderster Front tätigen Personal und den Patienten. 2. Die gemeldeten Zwischenfälle müssen zu sichtbaren Änderungen führen. 3. Patienten und Angehörige sollten einbezogen werden. Empfehlungen: 1. Allen Meldenden sollte klar sein, welchen Nutzen sie selbst von einer Meldung haben, da sich dadurch Zwischenfälle vermeiden lassen, die ihnen selbst oder dem Ruf ihrer Einrichtung schaden könnten. 2. Die oberste Führungsebene im Gesundheitssystem und die Leistungserbringer sollten kommunizieren, dass das Ziel „Straf- und Sanktionsfreiheit“ ist. 3. Die Leistungserbringer im Gesundheitswesen sollten eine Rückmeldung über die Untersuchungsergebnisse und die ergriffenen Präventivmaßnahmen erhalten. 4. Um den Lerneffekt zu erhöhen, sollte es für Patienten und Angehörige die Möglichkeit geben, unabhängig vom Beschwerdeverfahren Bericht erstatten zu können. 5. Bei Ereignismeldungenn von Gerichten oder der Polizei müssen legislative Änderungen hinsichtlich des Datenschutzes berücksichtigt werden, da diese für andere Zwecke eingeholt werden. 6. Die Meldungen sollten anonymisiert werden, da es dabei eindeutig nicht um das Eigeninteresse Einzelner geht, sondern vielmehr um ein grundlegendes Interesse am 6 Zwischenfall. Komponenten eines Berichtssystems Wichtige Erkenntnisse: 1. Es wird ein Mechanismus zur Erfassung und Speicherung der Daten benötigt. 2. Es sollte ein einheitliches Berichtsformular festgelegt werden. 3. Es sollte Feedbackmechanismen geben. 4. Die Bearbeitung sollte durch Experten in Zusammenarbeit mit dem Management erfolgen. Empfehlungen: 1. Es sollte spezielle Berichtsformulare geben: eines für Angehörige der Gesundheitsberufe, eines für Patienten und ihre Angehörigen. 2. Neben den festgelegten Datenangaben sollten die Berichtsformulare die Eingabe von Freitext erlauben. 3. Der benutzerfreundlichen elektronischen Meldung sollte der Vorzug gegeben werden. 4. Feedback von zentraler oder regionaler Ebene ist wichtig, um die Erkenntnisse über Risikoprozesse weiterzugeben. 5. Das Feedback an die Meldenden ist eine der wichtigsten Aufgaben. Um die Bereitschaft zur Meldung künftiger Zwischenfälle unter Angehörigen der Gesundheitsberufe zu erhöhen, sollte die meldende Person eine Empfangsbestätigung erhalten und über die ergriffenen Maßnahmen auf dem Laufenden gehalten werden. 6. Sowohl die Bearbeitung als auch die Analyse eines Zwischenfalls sollte durch Experten erfolgen, die mit dem Thema und den verschiedenen Analyseverfahren vertraut sind. Ein Beauftragter des Managements muss befugt sein, Maßnahmenpläne zu genehmigen. 7. Die Klassifizierung bzw. Taxonomie der Ereignisse sollte nach einem allgemeinen Klassifikationssystem erfolgen, das den Vergleich von Daten zwischen Dienstleistungserbringern ermöglicht. Zusätzlich können krankheitsspezifische und andere Klassifizierungen je nach Bedarf verwendet werden. Analyse Wichtige Erkenntnisse: 1. Eingehende Meldungen über Zwischenfälle sollten geprüft, anonymisiert und systematisch analysiert werden. 2. Präventionsempfehlungen sollten bekannt gemacht werden. 3. Die zeitnahe Analyse und Überprüfungen sollten durch glaubwürdige Experten erfolgen. Empfehlungen: 1. Es sollte eine Trennung zwischen lokaler Analyse von Ereignissen und zentraler bzw. regionaler Überprüfung der Meldungen geben. 2. Es sollten entsprechende Ressourcen für die Analyse und Überprüfung zugewiesen werden, u. a. für Experten, die die klinische Situation und die damit verbundenen Versorgungsprozesse verstehen und für das Erkennen von zugrunde liegenden Systemursachen ausgebildet sind. 3. Bei der Analyse oder Überprüfung auf zentraler oder regionaler Ebene sollte nicht nach Schuldigen gesucht werden. 4. Mit Unterstützung der zentralen Ebene sollten einheitliche Verfahren mit Beispielen für die Bearbeitung von Meldungen und den Zugriff auf Daten und Erkenntnisse eingeführt werden, um die Nutzung der Daten auf lokaler Ebene zu fördern. 5. Auf allen Ebenen sollte der Fokus eher auf der qualitativen Analyse als auf quantitativer Statistik liegen. 6. Es sollte eine möglichst zeitnahe Überprüfung jedes gemeldeten Zwischenfalls auf lokaler 7 Ebene und eine fallweise Priorisierung von Meldungen für die zentrale Analyse erfolgen. 7. Auf zentraler Ebene sollte eine Priorisierung der eingehenden Meldungen für die Überprüfung anhand eines automatisierten Algorithmus (z. B. durch Klassifizierung) vorgenommen werden. 8. Die an der lokalen Analyse beteiligten Personen sollten eine Schulung erhalten; während der zentralen oder regionalen Überprüfung sollte es ein Feedback zur qualitativen Analyse geben. 9. Präventionsmaßnahmen sollten über bereits vorhandene Kanäle verbreitet werden. Zusätzlich zur Ausgabe von separaten Warnhinweisen sollte die Aktualisierung bereits bestehender Leitlinien in Betracht gezogen werden. Technische Infrastruktur Wichtige Erkenntnisse: 1. Eine eingehende Datenanalyse sollte sowohl für Statistiken als auch einzelne Berichtsinhalte möglich sein. 2. Leistungserbringer im Gesundheitswesen sollte die Teilnahme unabhängig von ihrer ITAusrüstung möglich sein; Mindestanforderung könnte zumindest ein verfügbarer PC mit Internetverbindung sein. 3. Die Daten sollten schnellstmöglich elektronisch erfasst werden. 4. Die Onlineübertragung und gemeinsame Nutzung der Daten während der Fallbearbeitung sollten gewährleistet werden. 5. Die Datensicherheit (Verfügbarkeit, Integrität, Zugangsbeschränkung) bei der Übermittlung, Speicherung, Weitergabe und Archivierung von Daten muss gewährleistet werden. 6. Es muss für eine fortlaufende Systemverbesserung gesorgt werden. Empfehlungen: 1. Es sollten besser Daten für jeden einzelnen Zwischenfall erhoben werden als zusammenfassende Tabellen für die einzelnen Leistungserbringer im Gesundheitswesen auf zentraler Ebene. 2. Es sollte eine Technologie zur Datenanalyse zur Verfügung gestellt werden, die Benchmarking und Volltextsuche erlaubt. 3. Für technisch besser ausgerüstete Leistungserbringer im Gesundheitswesen sollten OnlineUploads und der gemeinsame Zugriff auf anonymisierte Daten möglich sein; für technisch weniger gut ausgestattete kleinere Gesundheitsorganisationen sollte es webbasierte Berichtsformulare geben. 4. Webbasierte Berichtsformulare sollten Patienten die Möglichkeit der Berichtseingabe und der Übertragung von Papiermeldungen ermöglichen. Die webbasierte Meldung sollte bei allen Leistungserbringern im Gesundheitswesen dem Personal vor Ort als eine zentrale Stelle für interne Meldungen dienen. 5. Die wichtigsten Daten aus den verschiedenen Berichtsquellen sollten gespeichert oder einheitlich dargestellt werden können, um eine integrierte Analyse zu ermöglichen. 6. Es sollte eine automatische Verlinkung mit Spezialsystemen wie Pharmakovigilanz geben, um Mehrfachmeldungen zu vermeiden. 7. Die Batchübertragung von Daten sollte vermieden werden, um für eine schnelle Datenverarbeitung zu sorgen und den Zeitraum zwischen Meldung und zentraler bzw. regionaler Überprüfung möglichst gering zu halten. Die Datenübermittlung und Weitergabe von Daten sollte über eine gesicherte Internetverbindung erfolgen. 8. Die IT-Kapazität sollte ausreichen, um kontinuierliche Systemverbesserungen zu gewährleisten. 8 Sonstiges Meldungen an eine Behörde oder eine andere nationale Stelle von einem lokalen Krankenhaus oder einer anderen Gesundheitsorganisation gehen meist auf einen einrichtungsinternen Bericht zurück, der vielleicht nur die gesetzlichen Anforderungen erfüllt. Eine Einrichtung, die Wert auf Patientensicherheit legt, wird jedoch ein internes Berichtssystem haben, das darüber hinausgehende Informationen erfasst. Die Ziele eines internen Berichtssystems für Lernzwecke sind: Ermittlung von Fehlern und Zwischenfällen und die Umgestaltung von Systemen, um die Wahrscheinlichkeit vermeidbarer Schäden für Patienten zu reduzieren. Dies kann durch eine Untersuchung (Ursachenanalyse) erreicht werden, bei der zugrunde liegende Systemfehler und unsichere Verfahren aufgezeigt werden. Der wichtigste Gedanke dabei und Kern eines sanktionsfreien Umgangs mit Zwischenfallsmeldungen ist die Erkenntnis, dass Zwischenfälle oder Beinaheschäden nur Symptome mangelhafter Systeme oder von Schwachstellen und nicht selbst Mängel sind. Das Melden, ob retrospektiv (Zwischenfälle und Fehler) oder prospektiv (Gefahren oder „vorprogrammierte Fehler“), steht am Beginn einer Untersuchung und systematischen Analyse von Systemmängeln, die bei geschicktem Vorgehen zu beträchtlichen Systemverbesserungen führen können. 9 2. Die Untergruppe „Melde- und Lernsysteme“ Die Untergruppe „Melde- und Lernsysteme“ (MLS-Untergruppe) untersteht der Arbeitsgruppe der Kommission „Patientensicherheit und Versorgungsqualität“. Die Aufgabe der MLS-Untergruppe bestand darin, eine Reihe von wichtigen Erkenntnissen zu gewinnen und Empfehlungen zur Umsetzung der Empfehlung 2009/C 151/01 des Rates hinsichtlich Melde- und Lernsystemen abzugeben. Die Arbeitsgruppe beauftragte die Untergruppe mit der Ausarbeitung dieses Berichts und bat sie, bestehende Melde- und Lernsysteme (MLS) in den Mitgliedstaaten zu beleuchten, wichtige Erkenntnisse zu gewinnen und einige erste Empfehlungen abzugeben in Bezug auf: • • • • • • • • • • • • den organisatorischen Rahmen Regulierungsstellen Anonymisierung und Vertraulichkeit Meldeberechtigte Art der Meldung freiwillige oder verpflichtende Meldungen Schulung Komponenten des Berichtssystems Verfahren für Analyse und Feedback Umsetzung von Verbesserungsmaßnahmen technische Infrastruktur Sicherheitsfragen Mitglieder der MLS-Untergruppe Behörde, Mitgliedstaat Nationale Behörde für Patientenrechte und Beschwerden, Dänemark Dienst für Öffentliche Gesundheit, Belgien GZA-Kliniken, Belgien GZA-Kliniken, Belgien Agentur für Qualität und Akkreditierung im Gesundheits- und Sozialwesen, Kroatien Ministerium für Gesundheit, Zypern Ministerium für Gesundheit, Tschechische Republik Ärztekammer Berlin, Deutschland Gesundheitsamt, Estland Bildungszentrum für Gesundheitsmanagement, Semmelweis Universität, Ungarn Ministerium für Gesundheit, Italien Ministerium für Gesundheit, Luxemburg Ministerium für Gesundheit, Lettland Norwegisches Wissenszentrum für das Gesundheitswesen, Norwegen Ministerium für Gesundheit, Polen Ministerium für Gesundheit, Slowenien Ministerium für Gesundheit, Zypern Ministerium für Gesundheit, Spanien Mitglied Martin E. Bommersholdt (Leiter der Untergruppe) Hilde Peleman Dr. Luc Van Looy Mark Etienne Jasna Mesaric Dr. Mary Avraamidou Zdenek Hrib Sonja Barth Eve Pilt Judit Lam und Eva Belicza Lucia Guidotti Martine Debacker Guna Jermacane Eli Saastad Anna Leśniewska Biserka Simčič und Bojana Peter Bandura Yolanda Agra 10 Aufsichtsbehörde für Soziales und Gesundheit, Schweden Nationales Melde- und Lernsystem, Vereinigtes Königreich Anita Bashar Aréen Marcos Manhaes Außerdem nahmen Vertreter der folgenden Organisationen und Projekte teil: • • • • • • • • Europäische Kommission European Health Management Association (EHMA) Europäisches Patientenforum (EPF) Pharmaceutical Group of the European Union (PGEU) European Federation of Nurses Associations (EFN) European Hospital and Healthcare Federation (HOPE) Weltgesundheitsorganisation (WHO) European Union of Private Hospitals (UEHP) Die folgenden Mitgliedstaaten haben Wissen über ihre Meldesysteme beigesteuert: • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • Österreich Belgien Kroatien Zypern Tschechische Republik Dänemark Estland Frankreich Deutschland Ungarn Irland Italien Lettland Luxemburg Niederlande Norwegen Polen Slowakei Slowenien Spanien Schweden Vereinigtes Königreich 11 3. Empfehlungen zu Melde- und Lernsystemen 3.1. Empfehlung des Rates der EU zur Sicherheit der Patienten In der Empfehlung 2009/C 151/012 des Rates hinsichtlich Melde- und Lernsystemen für Zwischenfälle wird den Mitgliedstaaten empfohlen, die Einführung bzw. den Ausbau der sanktionsfreien Meldungen von unerwünschten Ereignissen sowie von Lernsystemen zu unterstützen, die • eine angemessene Information über Umfang, Art und Ursachen von Fehlern, Zwischenfällen und Beinaheunfällen gewährleisten; • durch Schaffung eines offenen, fairen und sanktionsfreien Umfelds für die Meldungen die Arbeitskräfte im Gesundheitswesen dazu anzuregen, aktiv zu melden. Diese Meldungen sollte sich von den Disziplinarsystemen und verfahren der Mitgliedstaaten für die Arbeitskräfte des Gesundheitswesens unterscheiden, und die Rechtsfragen im Zusammenhang mit der Haftung dieser Personen sollten gegebenenfalls klar geregelt sein; • Patienten, ihren Angehörigen und sonstigen informellen Betreuern gegebenenfalls die Gelegenheit geben, über ihre Erfahrungen zu Bericht zu erstatten; • andere Systeme der Sicherheitsmeldungen wie etwa die Systeme der Pharmakovigilanz und der Medizinprodukte ergänzen, wobei es jedoch möglichst nicht zu einer Mehrfachmeldung kommen sollte.2 Ein kürzlich veröffentlichter Umsetzungsbericht ist verfügbar. Die Empfehlung basiert auf den Arbeiten auf dem Gebiet der Patientensicherheit, die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) durch ihre Weltallianz für Patientensicherheit (World Alliance for Patient Safey), vom Europarat und von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) geleistet wurden, und ergänzt diese.2 3.2. Empfehlung des Europarates zur Patientensicherheit Gemäß der Empfehlung des Ministerkomitees an die Mitgliedstaaten über den Umgang mit der Patientensicherheit und die Verhinderung von unerwünschten Ereignissen im Gesundheitswesen ist das primäre Ziel eines Berichtssystems für Zwischenfälle die Verbesserung der Patientensicherheit durch das Lernen aus Zwischenfällen und Fehlern. Das Melden und Erfassen von Daten zu Zwischenfällen ist nur sinnvoll, wenn die Daten analysiert und ausgewertet werden und wenn die an einem Zwischenfall beteiligten Personen ein entsprechendes Feedback erhalten, ebenso wie alle anderen, die aus dem Zwischenfall lernen könnten. 12 Meldesysteme für Zwischenfälle sind nicht dazu gedacht, einzelne Mitarbeiter, die in kritische Ereignisse verwickelt sind, zu identifizieren und zu bestrafen. Zwischenfälle können durch Angehörige der Gesundheitsberufe, Patienten und Angehörige oder durch andere informelle Betreuer und Dienste gemeldet werden.4 3.3. WHO-Programm Patientensicherheit Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat Leitlinien zu Melde- und Lernsystemen für unerwünschte Ereignisse entworfen, die 2007-2008 Gegenstand einer Konsultation waren. Auf dem Gebiet der Patientensicherheit ist es vor allem wichtig, zu wissen, wie sich Schäden für die Patienten bei der Behandlung und Pflege vermeiden lassen. Die wesentliche Aufgabe von Meldesystemen im Bereich der Patientensicherheit ist die Verbesserung der Patientensicherheit durch das Lernen aus Mängeln des Gesundheitssystems. Fehler in der Gesundheitsversorgung werden oft durch Schwächen in den Systemen ausgelöst und haben häufig gemeinsame Ursachen, die generalisiert und behoben werden können. Obwohl jedes Ereignis einzigartig ist, gibt es wahrscheinlich Ähnlichkeiten und Muster in den Risikoursachen, die unbemerkt bleiben können, wenn Zwischenfälle nicht gemeldet und analysiert werden. Meldungen sind wesentlich für das Erkennen von Problemen der Patientensicherheit. Allein dadurch lässt sich jedoch niemals ein vollständiges Bild aller Ursachen für Gefahren und Patientenschäden zeichnen. Deshalb werden in den Leitlinien weitere Informationsquellen für Patientensicherheit vorgeschlagen, die sowohl von den Gesundheitsdiensten als auch auf nationaler Ebene verwendet werden können. Bevor über die Einführung eines nationalen Melde- und Lernsystems entschieden wird, sollten die Staaten sorgfältig überlegen, was die Ziele des Systems sind, ob sie die Kapazitäten aufbauen können, auf die Meldungen zu reagieren, und welche Mittel erforderlich sein werden. Wichtig ist auch, in welchem Umfang gemeldet werden soll und welche Daten erfasst werden sollen. Die WHO-Leitlinien wurden 2005 veröffentlicht und enthalten zu jedem der behandelten Themen wichtige, aber einfache Kernaussagen darüber, was zu tun ist. Es werden zehn grundlegende Empfehlungen ausgesprochen. Sämtliche Kernaussagen und Empfehlungen in den Leitlinien besitzen immer noch volle Gültigkeit.1 13 4. Zweck und Funktion von Melde- und Lernsystemen Ein Berichtssystem dient vor allem dazu, die Ergebnisse der Datenanalyse und der Untersuchungen direkt für die Verbesserung der Gesundheitsversorgung zu verwenden und den Angehörigen der Gesundheitsberufe dabei zu helfen, ihre Arbeit sicherer zu machen. Tabelle 1: Bezeichnung der Meldesysteme EU-Mitgliedstaat Name des Berichtssystem für Zwischenfälle ÖSTERREICH 1. CIRSmedical.at. 2. Regionales CIRS-Netzwerk 3. Lokales Melde- und Lernsystem (MLS) BELGIEN ZYPERN TSCHECHISCHE REPUBLIK DÄNEMARK ESTLAND FRANKREICH* DEUTSCHLAND** UNGARN IRLAND ITALIEN LETTLAND LUXEMBURG NIEDERLANDE Melde- und Lernsystem für Zwischenfälle und Beinahezwischenfälle. Berichtssystem für unerwünschte Ereignisse und Beinahezwischenfälle in öffentlichen Krankenhäusern. Landesweites Zwischenfallberichtssystem. Ebene Regional (eigenständig) Lokal (eigenständig) Lokal (eigenständig) Lokal (eigenständig) National Dänische Patientensicherheitsdatenbank. Systeme in regionalen Krankenhäusern mit unterschiedlichen Namen – eigenständige lokale Systeme. Melde- und Lernsysteme auf regionaler und lokaler Ebene mit unterschiedlichen Namen. National National Lokal (eigenständig) 1. CIRSmedical.de. 2. Krankenhaus-CIRS-Netz (KH-CIRS-Netz) 3. FehlerMelde- und Lernsystem für Hausärzte in Deutschland 4. Netzwerk CIRS-Berlin Nationales Melde- und Lernsystem (NEVES) Nationales Managementsystem für unerwünschte Ereignisse (NAEMS – National Adverse Event Management System). Überwachungssystem für Sentinel Events. Bundesweit (1, 2, 3) Regional (4) Einige Krankenhäuser haben ihre eigenen Melde- und Lernsysteme eingeführt. Krankenhäuser haben ihre eigenen Meldeund Lernsysteme auf lokaler Ebene eingeführt. Landesweites Melde- und Lernsystem für Medikationszwischenfälle: Das Centrale Regional (eigenständig) Lokal (eigenständig) National National National Regional Lokal (Verbindung zu einem zentralen System) Lokal (eigenständig) Lokal (eigenständig) National Lokal (Verbindung 14 NORWEGEN SLOWAKEI SLOWENIEN SPANIEN SCHWEDEN VEREINIGTES KÖNIGREICH Medicatie-incidenten Registratie (CMR) wird gerade auf alle Zwischenfälle in der Gesundheitsversorgung ausgeweitet. Lokale Meldesysteme in Krankenhäusern und Arztpraxen. Zwischenfallberichtssystem. Verpflichtende Meldung von Zwischenfällen und freiwillige Meldung von Fehlern bei Krankenhausbehandlungen. Landesweites Zwischenfallberichtssystem. Sistema de Notificación y Aprendizaje para la Seguridad del Paciente (SINASP) Lex Maria. Nationale IT-Unterstützung für die Ursachenanalyse von unerwünschten Ereignissen (NITHA) und die nationale Datenbank für das Lernen aus Ursachenanalysen. Die nationalen Qualitätsregister. Jährliche Überprüfungen der medizinischen Aufzeichnungen (abgeändertes IHI Global Trigger Tool) zur Ermittlung unerwünschter Ereignisse, die der lokalen und nationalen Datenbank gemeldet werden. Das MLS der Patientenversicherung LÖF. Das MLS des Patientenbeirats. Sonstige regionale und lokale MLS. Nationales Melde- und Lernsystem (NRLS – National Reporting and Learning System) zum zentralen System) National National National National Regional Lokal (Verbindung zu einem zentralen System) National Regional Lokal National Lokal (Verbindung zu einem zentralen System) *Frankreich: Meldungen und Lernen zählen zu den wichtigsten Aufgaben des Nationalen Programms für die Patientensicherheit (2013-2017). Es besteht eine rechtliche Verpflichtung zur Meldung von Krankenhausinfektionen oder schwerwiegenden unerwünschten Ereignissen im Zusammenhang mit der Gesundheitsversorgung an die regionale Gesundheitsaufsichtsbehörde. Derzeit werden weitere Vorschriften für die Einrichtung und die Umsetzung eines umfassendes Melde- und Lernsystems erarbeitet. Drei regionale Gesundheitsaufsichtsbehörden (von 26) führen derzeit Versuche mit Melde- und Lernsystemen durch (unter verschiedenen Namen). Auf lokaler Ebene gibt es in jedem öffentlichen und privaten Krankenhaus Melde- und Lernsysteme. **Deutschland: Die oben genannten Meldesysteme sind nur Beispiele für die in Deutschland bestehenden Systeme. Es kann an dieser Stelle kein vollständiger Überblick vermittelt werden. Das Frustrierendste für Patienten wie auch für die im Gesundheitswesen Tätigen ist wohl, wenn trotz der Bemühungen, die Sicherheit zu verbessern, in Gesundheitssystemen aus Fehlern offenbar nicht gelernt wird. Es ist sehr wichtig, dass Leistungserbringer im Gesundheitswesen und Organisationen ihre im Rahmen einer Untersuchung gewonnenen Erkenntnisse möglichst umfassend weitergeben, denn darin liegt eine große Chance zur Verbesserung 15 der Gesundheitsversorgung. Angehörige der Gesundheitsberufe sollten jeden Unfall oder Zwischenfall sofort melden. Dafür muss es ein Melde- und Lernsystem und in Bezug auf die Meldung von Verletzungen am Arbeitsplatz eine Kultur geben, bei der es nicht um Schuldzuweisungen geht.5 Es muss verhindert werden, dass sich in den verschiedenen Bereichen Fehler wiederholen, die vermeidbar wären und durch die Patienten einem Schaden oder der Gefahr eines Schadens ausgesetzt werden. Eine Möglichkeit, dies zu verhindern, ist die Analyse der Daten und die Entwicklung spezifischer Maßnahmen. Leistungserbringer im Gesundheitswesen, Patienten und Angehörige sollten ihrer lokalen Gesundheitsorganisation Bericht erstatten, und diese wiederum über ein regionales oder nationales Berichtssystem an eine breitere Zielgruppe. Ein dynamisches Berichtssystem kann einige der wichtigsten Informationen für Verbesserungen in der Praxis der Gesundheitsversorgung liefern und ist innerhalb eines Krankenhauses oder einer anderen Gesundheitseinrichtung ein Indikator für eine gute Sicherheitskultur. Zumindest können Sicherheitsmeldungen beim Erkennen von Gefahren und Risiken helfen und Aufschluss darüber geben, wo Systemschwächen liegen. Dadurch können Initiativen und Maßnahmen zur Verbesserung ins Auge gefasst werden, um Verfahren und Systeme zu ändern und die Wahrscheinlichkeit eines Schadens für die Patienten zu reduzieren. Tabelle 1 vermittelt einen Überblick über die Meldesysteme in den Mitgliedstaaten und die Ebene, auf der sie betrieben werden. Daraus geht hervor, dass es viele verschiedene operative Ebenen gibt. So hat zum Beispiel Österreich nicht nur ein nationales System, sondern auch regionale und lokale Meldesysteme, die unabhängig und ohne Verbindung zu anderen Systemen funktionieren. 5. Vorgehensweise Dieser Bericht stützt sich hauptsächlich auf praktische Erfahrungen in der Entwicklung und dem Betrieb bestehender Meldesysteme in den Mitgliedstaaten. Der Bericht wurde in mehreren Phasen erstellt. In der ersten Phase, von Juli bis August 2013, wurden alle Länder ersucht, die Angaben über ihre Meldesysteme in der EUNetPaS-Datenbank zu aktualisieren. Das Ziel bestand darin, den Großteil der wichtigsten Meldesysteme zu erfassen und für die Richtigkeit der Kontaktdaten zu sorgen. In der zweiten Phase, von August bis Oktober 2013, wurde versucht, sich auf die einzelnen Punkte der Berichtsvorlage zu einigen. Dänemark arbeitete einen Entwurf für eine Berichtsvorlage aus, der mehrmals in der MLS-Untergruppe überarbeitet wurde. Dieser wurde mit Fragen für jeden Abschnitt ergänzt. Alle Mitglieder der Untergruppe wurden gebeten, den Entwurf mit Informationen über ihr eigenes Berichtssystem zu füllen. 16 In der dritten Phase, von November 2013 bis Februar 2014, wurden die Daten analysiert und der Bericht fertiggestellt. Das Ergebnis waren vorwiegend Informationen organisatorischer oder administrativer Art. Die MLS-Untergruppe beschloss daher, bei der Erfassung von Informationen hinsichtlich der Überlegungen und Entscheidungen im Zusammenhang mit der Einführung der Meldesysteme systematischer vorzugehen. Nach einer sorgfältigen Analyse ermittelte die Untergruppe wichtige Erkenntnisse und legte aus den Erfahrungen abgeleitete Empfehlungen zur Entwicklung von Meldesystemen vor. Die EU-Mitgliedstaaten, die nicht auf die Anfragen der MLS-Untergruppe geantwortet haben oder die nicht in der EUNetPaS-Datenbank registriert sind, werden in diesem Bericht nicht erwähnt. 17 6. Organisation Die Mitgliedstaaten sind beim Aufbau nationaler Meldesysteme unterschiedlich vorgegangen. Die verschiedenen Modelle sind von verschiedenen Aspekten abhängig wie Zweck, Ziel, historische Entwicklung, Akkreditierungsanforderungen und Qualitätsstandards, WHO-Empfehlungen. 6.1. Der organisatorische Rahmen Nationale oder systemweite Meldesysteme sind ohne Frage von großem Wert, wenn es darum geht, aus den Erfahrungen anderer zu lernen. Viele Zwischenfälle treten nur selten auf und können daher – Beobachtern in der Einrichtung – als isolierte Fälle (Ausreißer) erscheinen. Gemeinsamkeiten und eine gemeinsame Verursachung kristallisieren sich nur bei einer Analyse von aggregierten Daten heraus. Wenn aufgezeigt wird, dass schwerwiegende Ereignisse in vergleichbaren Einrichtungen mit gutem Ruf vorkommen, kann damit der typischen Reaktion entgegengewirkt werden, „dies könne hier nie passieren“, was die Leistungserbringer tatsächlich glauben könnten, wenn sie zu einem schwerwiegenden Ereignis wie einer Operation an der falschen Körperstelle befragt werden. Es gibt jedoch auch andere wertvolle Datenquellen zur Patientensicherheit, die sowohl auf organisationsinterner als auch auf nationaler Ebene verwendet werden können. Viele sind mit geringeren Kosten verbunden und stellen daher eine wichtige Option für Staaten und Gesundheitsorganisationen dar, die kein großes Berichtssystem finanzieren können, sollten aber auch von jenen mit hoch entwickelten Meldesystemen in Erwägung gezogen werden. Meldesysteme haben in jedem Mitgliedstaat ihre eigene Geschichte, und die Systeme unterscheiden sich daher hinsichtlich ihrer organisatorischen Rahmenbedingungen. Man unterscheidet drei Arten von Rahmenbedingungen: gesundheitspolitische, berufliche und jene der lokalen Gesundheitsorganisationen. 6.1.1. Gesundheitspolitische Rahmenbedingungen Welche Organisation für Meldesysteme zuständig ist, ist von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich. In den meisten Mitgliedstaaten liegt die Verantwortung beim Ministerium für Gesundheit oder bei Behörden unter dessen Aufsicht. Andere Mitgliedstaaten haben die Verantwortung für das Berichtssystem Regulierungsorganisationen in diesem Bereich übertragen. In einigen EU-Ländern gibt es ein überregionales Berichtssystem, während die Verantwortung für die lokalen Meldesysteme bei den jeweiligen Krankenhäusern liegt. In einigen Mitgliedstaaten wurden die Meldesysteme nach ein paar Jahren Erfahrung einer anderen Organisation übertragen. Meldesysteme sollten von jeglicher Autorität unabhängig sein, die den Meldungen oder die Organisation bestrafen kann und ein Interesse am Ergebnis 18 hat. Der Einsatz einer „Firewall“ zwischen der meldenden Behörde und der Disziplinarbehörde in einem Regierungssystem kann schwierig sein, ist aber wichtig, wenn das Vertrauen in die Meldungen erhalten bleiben soll. Gesundheitspolitische Rahmenbedingungen Dem Gesundheitsministerium unterstellte Behörden Die dänische Patientensicherheitsdatenbank (DPSD) wurde 2004 im Auftrag des Gesundheitsamts eingerichtet, das dem Gesundheitsministerium untersteht. Im Jahr 2011 wurde die DPSD der neuen dänischen Nationalen Behörde für Patientenrechte und Beschwerden (NAPRC) übertragen, einer unabhängigen staatlichen Einrichtung unter dem Gesundheitsministerium mit den Schwerpunkten Patientenrechte, Schadenersatz, unerwünschte Ereignisse und Lernen. Norwegen hat sein nationales MLS einer staatlich finanzierten Stelle übertragen, die aber keine Weisungsbefugnis gegenüber dem Gesundheitssystem oder Personal hat noch Strafen verhängen kann. Damit wird die notwendige Distanz und Unabhängigkeit gewährleistet und gleichzeitig die Finanzierung sichergestellt. Schweden: Nach dem Patientensicherheitsgesetz (2010:659) müssen alle Leistungserbringer im Gesundheitswesen der Aufsichtsbehörde für Soziales und Gesundheit Bericht erstatten, die von der Regulierungsbehörde, dem nationalen Gesundheits- und Wohlfahrtsamt, getrennt ist. Nach dem Patientenschadensgesetz (1996:799) können Patienten, denen im Rahmen der Behandlung oder Pflege ein Schaden entstanden ist, von der Patientenversicherung LÖF Schadenersatz fordern. Die Schadenersatzforderungen von Patienten bilden die Grundlage des MLS, das von Strafsystemen getrennt ist. Nach dem Patientenbeiratsgesetz (1998:1656) können Patienten einem regionalen Patientenbeirat Bericht erstatten. Das National Reporting and Learning System (NRLS) des Vereinigten Königreichs wurde 2003 unter der nationalen Behörde für Patientensicherheit (NPSA – National Patient Safety Agency) eingerichtet. Es ermöglicht auf nationaler Ebene die Sammlung und Analyse von Berichten zur Patientensicherheit aus Einrichtungen des gesamten staatlichen Gesundheitsdienstes (NHS – National Health Service) in England und Wales. Nach der Abschaffung der NPSA im Jahr 2012 ging die Gesamtverantwortung für das NRLS auf den NHS England über. Die NRLS-Daten sind Teil der nationalen Statistik des VK. Allerdings wurde das NRLS als ein freiwilliges System zur Meldung von Zwischenfällen auf dem Gebiet der Patientensicherheit eingerichtet und liefert daher keine Daten über die definitive Zahl von Zwischenfällen im Zusammenhang mit der Patientensicherheit im NHS. 6.1.2. Berufliche Rahmenbedingungen Mehrere Mitgliedstaaten empfehlen die Einbeziehung verschiedener Berufsorganisationen, wie Ärzte- und Pflegeverbände, in die Entwicklung neuer Meldesysteme. 19 Berufliche Rahmenbedingungen In Frankreich ist 2006 ein eigenes nationales Berichtssystem für Sentinel Events für Ärzte mit „risikobehafteten Fachgebieten“ unter dem Namen „Accreditation des médecins des spécialités à risques“ eingeführt worden. Es wird von der nationalen Gesundheitsbehörde koordiniert und von den jeweiligen Berufsorganisationen für die betreffenden Fachgebiete betrieben. Eine Weiterentwicklung dieses MLS steht an (insbesondere die Ausweitung auf unerwünschte Ereignisse. In Deutschland wird das 2005 ins Leben gerufene bundesweite Berichtssystem www.CIRSmedical.de vom ärztlichen Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ) organisiert. Cirsmedical.de ist internetbasiert und steht jedem offen, der einen Beinaheschaden berichten und analysieren lassen möchte. Ein weiteres deutschlandweites Berichtssystem, www.jederfehler-zaehlt.de, wurde 2004 gegründet und zielt auf die Primärversorgung ab. In Ungarn startete auf eine WHO-Anfrage hin das Bildungszentrum für Gesundheitsmanagement (HSMTC – Health Services Management Training Centre) der Semmelweis Universität 2006 ein Pilotprogramm zur Entwicklung eines nationalen Melde- und Lernsystems. Die zentralen Grundsätze (anonym, freiwillig, vertraulich, unabhängig, sanktionsfrei, Analyse durch Experten) stützten sich auf die Empfehlungen des WHOLeitlinienentwurfs für Melde- und Lernsysteme für unerwünschte Ereignisse. In den Niederlanden wurde 2006 ein landesweites Berichtssystem für Medikationszwischenfälle vom Verband niederländischer Krankenhausapotheker (NVZA) entwickelt. 2010 wurde das System auf das Personal in Arztpraxen und psychiatrischen Einrichtungen ausgeweitet und sollte ab 2014 für alle Zwischenfälle in der Gesundheitsversorgung zur Verfügung stehen. In der Slowakei wird das 2007 ins Leben gerufene Berichtssystem von der Gesundheitsaufsichtsbehörde getragen. Diese wurde gemäß dem Gesetz Nr. 581/2004 als eine juristische Person gegründet, die mit der Vollmacht ausgestattet ist, die Erbringung von Gesundheitsdienstleistungen und die staatliche Krankenversicherung im Bereich der öffentlichen Verwaltung zu überwachen. 6.1.3. Lokale Gesundheitsorganisationen Lokale Gesundheitsorganisationen Belgien, Zypern, Frankreich, Lettland, Luxemburg, Norwegen und Schweden haben keine nationale Datenbank, an die eine systematische Meldung von Zwischenfällen durch die Krankenhäuser erfolgen muss. Das Melde- und Lernsystem für Zwischenfälle und Beinahezwischenfälle ist als ein krankenhausweites System für alle Zwischenfälle gedacht. 6.2. Ebene der Meldesysteme Die meisten Mitgliedstaaten haben ein überregionales Berichtssystem oder ein überregionales Berichtssystem mit mehreren regionalen oder lokalen Systemen. In ein paar Mitgliedstaaten gibt es unabhängige lokale Meldesysteme in einzelnen Krankenhäusern. In Tabelle 1 wird gezeigt, auf welcher organisatorischen Ebene ein Berichtssystem betrieben wird. 20 6.3. Gründe für die Einführung eines Berichtssystems In diesem Abschnitt wird beschrieben, was die Mitgliedstaaten zur Einrichtung eines überregionalen Berichtssystems für Zwischenfälle oder Beinaheschäden bewegt oder motiviert hat. Die einzelnen Mitgliedstaaten haben ihre eigene Geschichte und eigenen Hintergründe in Bezug auf Einrichtung eines überregionalen Berichtssystems für Zwischenfälle oder Beinaheschäden, aber sie haben auch vieles gemeinsam, wie unten beschrieben wird. Für die meisten Mitgliedstaaten waren einer oder mehrere der folgenden Gründe ausschlaggebend. 6.3.1. Schwerpunkt liegt auf Meldungen und Lernen Alle Mitgliedstaaten haben angegeben, dass es ihnen vor allem um eine Förderung der Patientensicherheitskultur geht, um das Lernen aus Zwischenfällen, Fehlern, Gefahrensituationen und sonstigen Vorkommnissen zu ermöglichen. Es wird eine Verlagerung des Schwerpunkts von einer Kultur der Schuldzuweisung und Rechenschaftspflicht auf das Lernen angestrebt, um die Wiederholung von Fehlern zu vermeiden und die Bereitschaft zur Meldung zu erhöhen. Es waren aber auch andere Faktoren ausschlaggebend: die Notwendigkeit oder der Wunsch, Gesundheitsorganisationen hinsichtlich der Patientensicherheit miteinander zu vergleichen; Reaktion der Politik auf die Medienaufmerksamkeit für das Thema Patientensicherheit; nationale Akkreditierungspolitik für Krankenhäuser; Reaktion auf EU- oder WHOEmpfehlungen. All diese Faktoren haben die Mitgliedstaaten bei der Einrichtung lokaler, regionaler oder überregionaler Meldesysteme beeinflusst. 6.3.2. Benchmarking der Patientensicherheit Mitgliedstaaten, die ihre Meldesysteme vor 2009 eingeführt haben, gaben an, durch ausländische Studien angeregt worden zu sein. Sie führten ähnliche Studien in ihren eigenen Bereichen durch, die auf die Notwendigkeit der Erhöhung der Patientensicherheit hinwiesen. Davon ausgehend wurden eine oder mehrere nationale Studien durchgeführt, um auf nationaler Ebene Probleme im Bereich der Patientensicherheit zu ermitteln. Die 1999 erschienene Veröffentlichung „To err is human“ (Irren ist menschlich) des US-amerikanischen Instituts für Medizin (IOM – Institute of Medicine) rückte die Bedeutung der Vermeidung von unnötigen Schäden in der Gesundheitsversorgung verstärkt in das Bewusstsein von Politikern, Managern, Mitarbeitern und der breiten Öffentlichkeit. Seit damals haben verschiedene Organisationen (darunter WHO, Europarat und der Rat der Europäischen Union) die Entwicklung von Patientensicherheitsstrategien und -programmen empfohlen, die auf die Vermeidung von Fehlern und Zwischenfällen in Verbindung mit der Gesundheitsversorgung ausgerichtet sind. Einer Reihe von Studien zufolge (beginnend mit der Harvard Medical Practice Study, die 1991 in den USA erschien) liegt die Rate der Zwischenfälle in 21 Akutkrankenhäusern weltweit schätzungsweise zwischen 3 % und 17 %, in Europa zwischen 8 %und 12 %. Dänemark, Norwegen, die Niederlande, Spanien und das VK geben an, dass für sie auch das Benchmarking der Patientensicherheit entscheidend war. 6.3.3. Politischer Druck von der Öffentlichkeit, den Medien oder Fachkreisen In einigen Mitgliedstaaten haben schlechte Ergebnisse für Patienten aufgrund unsicherer Verfahren oder Systeme ein großes Medienecho ausgelöst und innenpolitischen Druck erzeugt, die Patientensicherheit zu verbessern. Die Einführung eines nationalen Patientensicherheitsgesetzes und eines überregionalen Berichtssystems in Dänemark im Jahr 2004 ist teilweise darauf zurückzuführen. In Dänemark, Deutschland, Norwegen, Spanien und dem VK ist ebenfalls der politische Druck der Öffentlichkeit und der Fachkreise ein Beweggrund gewesen. 6.3.4. Akkreditierungsprogramme für Krankenhäuser Einige Mitgliedstaaten gaben an, dass Überprüfungen im Rahmen von Akkreditierungsprogrammen für Krankenhäuser ergaben, dass in einzelnen Krankenhäusern ein lokales Berichtssystem für Zwischenfälle verpflichtend eingeführt werden sollte. Belgien, Dänemark und das VK sind auch durch Akkreditierungsprogramme angeregt worden. 6.3.5. EU-Empfehlung 2009 Mitgliedstaaten, die ihre Meldesysteme nach 2009 eingeführt haben, schrieben dies – zumindest teilweise – der Empfehlung des Rates von 2009 zu, aber auch internationalen Studien zur Patientensicherheit. Die Empfehlung des Rates basiert auf den Arbeiten auf dem Gebiet der Patientensicherheit, die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) durch ihre Weltallianz für Patientensicherheit (World Alliance for Patient Safey), vom Europarat und von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) geleistet wurden, und ergänzt diese. Der Empfehlung zufolge sollten die Mitgliedstaaten „umfassende Berichterstattungs- und Lernsysteme einrichten, aufrechterhalten oder verbessern, sodass Umfang und Ursachen von Zwischenfällen im Hinblick auf die Entwicklung effizienter Lösungen und Maßnahmen erfasst werden können. Die Patientensicherheit sollte einen festen Platz in der Aus- und Weiterbildung derjenigen haben, die im Gesundheitswesen arbeiten und entsprechende Leistungen erbringen.“ Ferner heißt es: „Zwecks Einführung effizienter und transparenter Programme, Strukturen und Strategien auf dem Gebiet der Patientensicherheit sollten auf 22 Gemeinschaftsebene vergleichbare und aggregierte Daten erhoben und bewährte Verfahrensweisen unter den Mitgliedstaaten verbreitet werden. Zur Erleichterung des Lernens voneinander ist es erforderlich, durch eine Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und der Europäischen Kommission eine einheitliche Terminologie der Patientensicherheit sowie gemeinsame Indikatoren zu entwickeln, wobei die Arbeiten der einschlägigen internationalen Organisationen berücksichtigt werden sollten.“ Die Tschechische Republik, Luxemburg und Lettland haben die Empfehlung des Rates als Anlass für die Einrichtung eines Berichtssystems angegeben. 6.3.6. Austauschprogramm HOPE In Lettland gab es Überlegungen, ein landesweites Berichtssystem einzuführen, da es dort weder ein regionales noch ein überregionales, sondern nur lokale Meldesysteme in einigen Krankenhäusern gibt. Der Grund für die Einführung eines Melde- und Lernsystems auf lokaler Krankenhausebene waren Erfahrungen, die ein Krankenhaus im Rahmen des internationalen Austauschprogramms HOPE (European Hospital and Healthcare Federation – europäischer Krankenhausverband) gewonnen hat3. Das Programm läuft seit 1981 und bietet eine vierwöchige Ausbildung für Führungskräfte in Krankenhäusern und Gesundheitseinrichtungen. 6.4. Implementierung Einige Methoden beruhen auf den Grundsätzen der Qualitätsverbesserung, andere stammen aus dem Projektmanagement. Welche Methode gewählt wird, hängt von den Umständen vor Ort ab. Tabelle 2 vermittelt einen Überblick über die häufigsten Vorgehensweisen bei der Einrichtung eines neuen Berichtssystems für Zwischenfälle. Tabelle 2: Wie wurde das Berichtssystem umgesetzt? Methode Mitgliedstaat Pilotprojekt Österreich, Zypern, Tschechische Republik, Deutschland, Ungarn, Italien, Niederlande, Norwegen, Spanien, Vereinigtes Königreich. Schrittweise Umsetzung Belgien, Kroatien, Tschechische Republik, Ungarn, Irland, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Spanien und Schweden. Sofortiger Vollbetrieb Dänemark, Slowakei und Slowenien. 3 http://www.hope.be/04exchange/exchangefirstpage.html. 23 6.5. Finanzierung Die Finanzierungsmodelle der Meldesysteme weichen voneinander ab. In den Mitgliedstaaten kann die Finanzierung von Meldesystemen durch Regierungen, Projektmittel, die WHO oder Krankenversicherungsgesellschaften erfolgen. Eine genaue Angabe der Kosten für Meldesysteme ist nicht möglich, da diese von vielen Faktoren abhängen: Systemkosten, Lizenzen und unsichtbare Kosten (z. B. Zeitaufwand für Entwicklung, Ausbildung, Fallverwaltung, Analyse, Verbesserung und Meetings). Da sich die Kosten auf die Gesundheitsorganisationen verteilen, lassen sie sich schwer quantifizieren. In Belgien, Kroatien, Dänemark, Deutschland, Italien, den Niederlanden, Norwegen, der Slowakei, Spanien und dem Vereinigten Königreich haben die Regierungen die Meldesysteme finanziert oder finanzielle Zuschüsse gewährt. Die Tschechische Republik gewährte in der Pilotphase eine jährliche staatliche Forschungsbeihilfe. Heute untersteht das System einer Regierungsstelle (Institut für Gesundheitsstatistik und Informatik), die zusätzliche Mittel für die Verwaltung des Systems erhalten hat. Die Analyse der schwerwiegendsten Ereignisse erfolgt durch eine im Ministerium untergebrachte Expertengruppe. In Dänemark wird das Berichtssystem vom Staat finanziert. Es gibt eine gemeinsame Verantwortung: der Staat besitzt das Berichtssystem, aber die Daten sind bis zum Abschluss der Analyse und der elektronischen Übertragung an die zentrale Ebene Eigentum der Regionen und Gemeinden. Die Regionen und Gemeinden stellen qualifiziertes Personal für die Bearbeitung der Ereignisse und die Durchführung der Analysen und kommen für die Analyse und das Lernen auf. In Deutschland sollen nach dem Patientenrechtegesetz von 2013 jene Krankenhäuser zusätzliche Mittel erhalten, die nicht nur interne Meldesysteme haben, sondern sich auf freiwilliger Basis auch an einrichtungsübergreifenden Systemen beteiligen. Das Berichtssystem in Ungarn geht auf eine Forderung der WHO zurück, die anfangs das NEVES-System finanzierte. Heute stehen Mittel im Rahmen des ungarischen Akkreditierungsprogramms für Systemverbesserungen zur Verfügung. In den Niederlanden wurde die Entwicklung und Umsetzung der ersten überregionalen Datenbank für Medikationszwischenfälle in Krankenhäusern von der niederländischen Krankenhausvereinigung und dem Verband niederländischer Krankenhausapotheker finanziert. Die Anpassung des Systems und seine Umsetzung in der Primärversorgung wurde zum Teil von der Regierung und zum Teil vom Verband der (Krankenhaus)Apotheker finanziert. Im Jahr 2012 hat eine unabhängige Stiftung die Verantwortung für die weitere Umsetzung eines überregionalen Melde- und Lernsystems übernommen. Die Stiftung wird durch Beiträge der Apotheker und vorübergehend staatlich finanziert. In der Slowakei wird das Berichtssystem von der Gesundheitsaufsichtsbehörde finanziert, die wiederum von den Krankenversicherungsgesellschaften finanziert wird. 24 7. Wichtige Faktoren 7.1. Regulierungsrahmen Die Mitgliedstaaten gehen bei der Regulierung von Meldesystemen im Bereich der Patientensicherheit unterschiedlich vor. Wie aus Tabelle 3 hervorgeht, gibt es in Mitgliedstaaten mit verpflichtenden Meldesystemen Gesetze oder Leitlinien zur Regulierung des Berichtsverfahrens sowie der Vertraulichkeit und Anonymität. Mitgliedstaaten mit freiwilligen Berichtsystemen verfügen nicht unbedingt über eine derartige Regulierung. Mitgliedstaaten, in denen die Meldung von Zwischenfällen geregelt ist, haben Gesetze oder Leitlinien zu folgenden Punkten eingeführt: • Auf welcher Ebene werden Meldesysteme betrieben? • Wann ist die Meldung eines Zwischenfalls verpflichtend bzw. wann ist sie freiwillig und wer ist dafür verantwortlich? • Welche Arten von Zwischenfällen sollen gemeldet werden? • Wer muss auf die Meldungen reagieren? • Inwieweit werden die Meldungen zum Schutz der Identität des Meldenden und (anderer) Angehöriger der Gesundheitsberufe anonymisiert und vertraulich behandelt? • Wie wird gewährleistet, dass der Meldende keine Sanktionen zu befürchten hat? Tabelle 3 zeigt, wer Zwischenfälle melden darf und welche Anforderungen es gibt. Mitgliedstaat Angehörige der Gesundheitsberufe Gesundheitsorganisationen Patienten Angehörige Öffentlich Gesetzlich geregelt ÖSTERREICH BELGIEN KROATIEN ZYPERN TSCHECHISCHE REPUBLIK DÄNEMARK ESTLAND FRANKREICH DEUTSCHLAND UNGARN IRLAND ITALIEN LETTLAND LUXEM-BURG freiwillig freiwillig verpflichtend freiwillig freiwillig nein nein nein nein nein nein freiwillig freiwillig nein nein nein nein nein nein nein nein nein nein nein nein nein teilweise teilweise nein nein verpflichtend verpflichtend verpflichtend freiwillig freiwillig verpflichtend verpflichtend freiwillig freiwillig nein nein nein freiwillig freiwillig ja ja nein nein freiwillig nein freiwillig freiwillig nein nein nein nein nein freiwillig nein freiwillig freiwillig nein nein nein nein nein nein nein freiwillig freiwillig nein nein nein nein nein ja teilweise teilweise * nein teilweise teilweise Teilweise nein NIEDER-LANDE freiwillig nein nein nein nein teilweise 25 NORWEGEN verpflichtend nein SLOWAKEI freiwillig verpflichtend SLOWENIEN freiwillig verpflichtend SPANIEN freiwillig nein SCHWEDEN verpflichtend verpflichtend Vereinigtes freiwillig verpflichtend Königreich * Rechtsvorschriften in Deutschland: § 137 SGB V nein nein nein nein freiwillig freiwillig nein nein nein nein freiwillig freiwillig nein nein nein nein freiwillig freiwillig ja nein nein nein ja teilweise Der Gemeinsame Bundesausschuss bestimmt in seinen Richtlinien über die grundsätzlichen Anforderungen an ein einrichtungsinternes Qualitätsmanagement nach Absatz 1 Nummer 1 erstmalig bis zum 26. Februar 2014 wesentliche Maßnahmen zur Verbesserung der Patientensicherheit und legt insbesondere Mindeststandards für Risikomanagement- und Fehlermeldesysteme fest. Über die Umsetzung von Risikomanagement- und Fehlermeldesystemen in Krankenhäusern ist in den Qualitätsberichten nach Absatz 3 Nummer 4 zu informieren. Als Grundlage für die Vereinbarung von Vergütungszuschlägen nach § 17b Absatz 1 Satz 5 des Krankenhausfinanzierungsgesetzes bestimmt der Gemeinsame Bundesausschuss Anforderungen an einrichtungsübergreifende Fehlermeldesysteme, die in besonderem Maße geeignet erscheinen, Risiken und Fehlerquellen in der stationären Versorgung zu erkennen, auszuwerten und zur Vermeidung unerwünschter Ereignisse beizutragen. 26 7.2. Verpflichtende oder freiwillige Systeme In einigen Mitgliedstaaten ist die Meldung von Zwischenfällen verpflichtend, in anderen freiwillig. Mitgliedstaaten mit verpflichtender Meldung haben dies entweder durch Gesetze oder lokale Vorschriften geregelt. In diesem Abschnitt werden Beispiele dafür angeführt, was die Mitgliedstaaten zu ihrer Entscheidung bewogen hat. In Deutschland sind Meldesysteme in Krankenhäusern verpflichtend, die Meldung ist freiwillig. Der Schwerpunkt liegt auf der Meldung von Beinaheschäden. In Ungarn bestand das ursprüngliche Ziel des Melde- und Lernsystems NEVES darin, Gesundheitsorganisationen bei der Untersuchung von Zwischenfällen durch Ursachenanalysen zu unterstützen. Dafür wurden ereignisspezifische Berichtsformulare erarbeitet. Das System ist freiwillig, um Angst vor Strafe und persönlicher Haftung zu vermeiden. Das italienische System ist nach einem Ministerialerlass von 2009 und einer Vereinbarung zwischen den Regionen und der zentralen Regierung von 2008 verpflichtend. Der Schwerpunkt liegt auf sehr schwerwiegenden Zwischenfällen. Angehörige der Gesundheitsberufe melden Zwischenfälle an die regionale Ebene, indem sie die entsprechende Kategorie aus einer Liste von 16 Kategorien auswählen. In den Niederlanden sind Angehörige der Gesundheitsberufe verpflichtet, schwerwiegende Zwischenfälle an die Gesundheitsaufsichtsbehörde zu melden. Die Meldung der übrigen Zwischenfälle ist freiwillig, wird aber von den Berufsorganisationen empfohlen. In Norwegen besteht für Krankenhäuser und andere Spezialeinrichtungen eine gesetzliche Meldepflicht. Das bedeutet, dass Krankenhäuser ein System einrichten und aufrechterhalten müssen, das dem Personal Meldungen ermöglicht. Es hat einen Vorschlag gegeben, das Gesundheitspersonal gesetzlich dazu zu verpflichten, doch das wurde nie beschlossen. Warum dies nicht weiterverfolgt wurde, ist nicht bekannt. Rechtlich festgelegt wird die Meldepflicht für das Personal im Beschäftigungsvertrag. In Polen ist ein Berichtssystem nach den Akkreditierungsstandards für Krankenhäuser verpflichtend. Rechtlich gesehen ist es jedoch freiwillig, da die Akkreditierung für Krankenhäuser freiwillig ist. Die einzigen Personen, die Bericht erstatten, sind also Krankenhausmitarbeiter. In der Slowakei ist die Meldung von Fehlern bei der Erbringung von Gesundheitsdienstleistungen für das Gesundheitspersonal freiwillig und anonym. Nur Krankenhäuser zeichnen ihre eigenen Fehler auf und analysieren diese, was jährlich an die Gesundheitsaufsichtsbehörde gemeldet werden muss. In Spanien ist das Berichtssystem freiwillig und bezieht sich auf alle Arten von Zwischenfällen. Meldende sind durch den derzeitigen spanischen Rechtsrahmen nicht geschützt. In Schweden sind nach dem Patientensicherheitsgesetz Angehörige der Gesundheitsberufe verpflichtet, dem Leistungserbringer im Gesundheitswesen jedes Risiko eines unerwünschten Ereignisses und auch Zwischenfälle, die zu einem unerwünschten Ereignis geführt haben oder führen hätten können, zu melden. Zudem sind alle Leistungserbringer im Gesundheitswesen verpflichtet, einschließlich private, schwerwiegende unerwünschte Ereignisse an die Aufsichtsbehörde für Soziales und Gesundheit zu melden. Die Meldung an die NITHA-Datenbank und andere Meldesysteme ist jedoch freiwillig. Seit 2011 ist es nach dem oben genannten Patientensicherheitsgesetz auch für Patienten und Angehörige möglich, eine Beschwerde über Zwischenfälle an die Aufsichtsbehörde und die Leistungserbringer im Gesundheitswesen zu richten. Patienten können sich auch an die Patientenversicherung LÖF und die Patientenbeiräte wenden. 27 In den Mitgliedstaaten gibt es sowohl verpflichtende als auch freiwillige Meldesysteme. Jede Art von Berichtssystem hat ihre Vor- und Nachteile. Für jedes verpflichtende System sollte es Regelungen für sanktionsfreie Meldungen und klare Vertraulichkeitsbestimmungen geben. 7.3. Was wird gemeldet? Was in den MLS der Mitgliedstaaten als meldepflichtiges Ereignis definiert wird, ist sehr unterschiedlich. Die „Meldepflichtigkeit“ wird gewöhnlich durch einen der folgenden Aspekte bestimmt: • • • • Schwere des Zwischenfalls – in einigen Mitgliedstaaten wird nur eine schwere Schädigung des Patienten gemeldet (z. B. in Norwegen); Art des Zwischenfalls – in einigen Mitgliedstaaten werden nur bestimmte Arten von Ereignissen gemeldet (z. B. in Ungarn oder Polen von akkreditierten Krankenhäusern); Kombination aus beiden (z. B. in Dänemark und Italien); Beinaheschäden (z. B. Deutschland). Daneben gibt es auch Systeme, die auf einer weiten Definition eines „Patientensicherheitszwischenfalls“ beruhen und grundsätzlich alle Meldungen entgegennehmen (z. B. in der Tschechischen Republik, in Dänemark, Irland, Spanien, Schweden, im Vereinigten Königreich). Alle Definitionen und Methoden haben ihre Vor- und Nachteile, je nach Ziel des Berichtssystems. Eine einfache Liste der meldepflichtigen Zwischenfälle ist von den Meldenden gewöhnlich leichter zu verstehen und ermöglicht die Konzentration auf bestimmte Probleme. Eine weiter gefasste Definition erlaubt es den Meldenden dagegen, einfach alles zu melden, was ihnen Sorgen bereitet, ohne sich darüber Gedanken machen zu müssen, ob das der richtige Weg ist: es gibt nur einen Weg für alle Meldungen. Damit es zu keiner Verwirrung kommt, muss jedoch immer klar und einfach angegeben werden, was gemeldet werden soll. 28 In Belgien sollen im lokalen Melde- und Lernsystem nur unerwünschte Ereignisse und Beinaheschäden gemeldet werden, die die Patientensicherheit betreffen. Ereignisse, die allgemein die Sicherheit von Patienten betreffen (z. B. "Diebstahl"), sollten über ein entsprechendes anderes Tool im Krankenhaus gemeldet werden. In der Tschechischen Republik wird so vorgegangen, dass der Zwischenfall definiert wird als „Ereignis oder Umstand, der zu einem unnötigen Schaden für einen Patienten geführt hat oder führen hätte können. Dazu zählen auch Schäden für das Personal oder die Gesundheitseinrichtung. Es kann sich dabei um körperliche, seelische oder wirtschaftliche Schäden handeln.“ Kurz gesagt: „Ein Problem, das man gerne vermeiden möchte.“ Die Tschechische Republik stellt Krankenhäusern ein einfaches Tool zur Verfügung, um zu bewerten, ob ein Ereignis als Zwischenfall einzustufen ist. Dazu sollten drei einfache Fragen gestellt werden: Ist es in Ordnung, wenn dies passiert, und wenn das wieder vorkommt, besteht kein Schadensrisiko für den Patienten, mich oder unser Krankenhaus? War dies wirklich nötig und gab es keine Möglichkeit, es besser zu machen? Wenn das mir oder meinen Angehörigen passierte, würden mich die Maßnahmen unseres medizinischen Personals zufriedenstellen? Wenn eine dieser Fragen mit Nein beantwortet wird, handelt es sich um einen Zwischenfall. Im italienischen System sind die einzelnen Schritte und Daten genau festgelegt. Die Einfachheit des Systems erleichtert das Datenmanagement, da Daten zu bestimmten Kategorien von unerwünschten Ereignissen leichter erfasst werden können. Alle zwei Jahre erstellt das italienische Gesundheitsministerium eine Datenanalyse und veröffentlicht die Ergebnisse in einem Bericht, was einen Vergleich der einzelnen Jahre erlaubt. Dies ermöglicht eine Datenanalyse basierend auf Rankings und einen Leistungsvergleich nach Art des Ereignisses. Im Vereinigten Königreich lautet die Definition der an das National Reporting and Learning System zu meldenden Zwischenfälle: "Ein Patientensicherheitszwischenfall ist jeder unbeabsichtigte oder unerwartete Zwischenfall, der im Rahmen einer vom NHS finanzierten Behandlung zu einem Schaden für einen oder mehrere Patienten geführt hat oder führen hätte können." In Dänemark gibt es mehrere Vorschriften dafür, welche Arten von unerwünschten Ereignissen in den verschiedenen Gesundheitsbereichen berichtet werden müssen. Krankenhäuser müssen z. B. alle Arten von Zwischenfällen berichten, Apotheken nur Medikationszwischenfälle. Schwerwiegende Zwischenfälle sind immer zu melden. In Kroatien müssen nach der lokalen Gesetzgebung bestimmte Kriterien erfüllt werden, damit der Bericht von unerwünschten Ereignissen gültig ist: berichtende Person, Patient und Zwischenfall müssen identifizierbar sein. Das italienische System legt den Schwerpunkt auf sehr schwerwiegende Zwischenfälle. Angehörige der Gesundheitsberufe melden Zwischenfälle an die regionale Ebene, indem sie die entsprechende Kategorie aus einer Liste von 16 Kategorien auswählen. 7.4. Wer kann melden? Das MLS sollte nicht nur dem Gesundheitspersonal, sondern dem gesamten Personal der Gesundheitsorganisation die Möglichkeit bieten, Bericht zu erstatten, da auch in technischen Bereichen Zwischenfälle passieren können oder von Mitarbeitern aus anderen Bereichen beobachtet werden können. Einigen Empfehlungen (z. B. WHO) zufolge sollte das MLS auch Meldungen von Patienten und Angehörigen zulassen. Bisher ist dies erst in einigen wenigen Mitgliedstaaten umgesetzt worden. 29 Tschechische Republik: Derzeit können Angehörige der Gesundheitsberufe Bericht erstatten. Eine direkte Berichtseingabe in das System ist nur über einige Krankenhäuser möglich, die über ein eigenes internes System verfügen; die Übertragung von anonymisierten Berichten erfolgt im Hintergrund. Theoretisch hätten Patienten, Angehörige und die allgemeine Öffentlichkeit Zugang zum System, allerdings müsste das Krankenhaus dazu einen Link auf seine Website stellen. Bisher hat dies noch kein Krankenhaus gemacht. Informationen von Patienten, Angehörigen oder der allgemeinen Öffentlichkeit könnten aber trotzdem über einen Beschwerdemechanismus erfasst werden; wird ein Zwischenfall angezeigt, kann das Krankenhaus diesen als solchen behandeln. Zypern: Alle Angehörigen der Gesundheitsberufe in Krankenhäusern werden ermutigt, jegliche Zwischenfälle zu melden. Patientenberichte werden über Beschwerdemechanismen erfasst. In jedem öffentlichen Krankenhaus gibt es eine Beschwerdestelle für Patienten. Dänemark: Seit 2004 kann das Fachpersonal in Krankenhäusern Zwischenfälle melden. Im Jahr 2010 wurde das Gesetz auf das gesamte Gesundheitssystem ausgeweitet und das politische Ziel, Patienten und Angehörigen die Meldung von Zwischenfällen zu ermöglichen, im Jahr 2011 umgesetzt. Ein Jahr nach der Öffnung des Systems für Gemeinden durften auch Patienten und Angehörige das System nutzen. Die Gemeinden hatten daher Zeit, ihre Organisationen auf den Eingang und die Analyse von Zwischenfallsmeldungen vorzubereiten, bevor Patienten und Angehörige Zugang zum System bekamen. Im Jahr 2013 wurden rund 182 000 Berichte vom Gesundheitssystem in die Datenbank eingegeben. Rund 1,5 % stammten von Patienten und Angehörigen. Die Schwierigkeit besteht darin, diese Ereignisse zu bearbeiten und weiterzuverfolgen. In Belgien werden Krankenhäuser ermutigt, Patienten die Meldung von Zwischenfällen, Beinahezwischenfällen und unsicheren Situationen zu ermöglichen. Sie sind eine wichtige Informationsquelle und können einen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung der Patientensicherheit leisten. Derzeit können Patienten in 25 % der Krankenhäuser (verglichen mit 10 % im Jahr 2010) einen Zwischenfall über einen eigenen Kanal melden. Zudem kann auch ein Ombudsmann (verpflichtend in jedem Krankenhaus) eine Rolle bei der Erfassung von Informationen von Patienten spielen. Frankreich: Sowohl Angehörige der Gesundheitsberufe als auch Krankenhäuser können Bericht erstatten. Das Nationale Programm für die Patientensicherheit (2013-2017) ermutigt öffentliche und private Krankenhäuser dazu, Patienten die Meldung von Zwischenfällen zu ermöglichen. Das Verfahren sollte unabhängig vom Schadensersatzverfahren sein. Deutschland: Die Meldesysteme sind öffentlich, daher können auch Patienten Bericht erstatten. Faktisch erfolgen Meldungen hauptsächlich durch Angehörige der Gesundheitsberufe. Die Art der anzugebenden Informationen und der Rückmeldung trägt den Bedürfnissen der Mitarbeiter und ihrem beruflichen Lernbedarf Rechnung. Die Einrichtung eines Beschwerdemanagementsystems für Patienten ist inzwischen verpflichtend, unterscheidet sich aber vom hier beschriebenen Meldeund Lernsystem. Schweden: Es gibt mehrere Melde- und Lernsysteme auf verschiedenen Ebenen. Nach dem Patientensicherheitsgesetz (2010:659) müssen alle Leistungserbringer im Gesundheitswesen, einschließlich private, Zwischenfälle, die zu schwerwiegenden unerwünschten Ereignissen geführt haben oder führen hätten können, an die Aufsichtsbehörde für Soziales und Gesundheit melden. Darüber hinaus müssen alle Mitarbeiter dem Leistungserbringer im Gesundheitswesen jegliche Gefahr von unerwünschten Ereignissen und Zwischenfällen melden, die zu unerwünschten Ereignissen führen könnten oder führen hätten können (6:4 Patientensicherheitsgesetz) Die Aufsichtsbehörde kann auch durch Beschwerden z. B. von Patienten und/oder Angehörigen Informationen über unerwünschte Ereignisse erhalten. Zudem können Patienten Zwischenfälle an den Leistungserbringer im Gesundheitswesen, die Patientenbeiräte und die Patientenversicherung LÖF melden. Vereinigtes Königreich: Seit 2003 können Leistungserbringer im Gesundheitswesen über das elektronische NRLS-Formular Berichte eingeben. Im Jahr 2005 wurde ein elektronisches Formular für Patienten und die allgemeine Öffentlichkeit auf der Website der National Patient 30 7.5. Meldungen durch Patienten und Familienangehörige Die Untergruppe hat festgestellt, dass es in diesem Bereich an Wissen fehlt und ein Erfahrungsaustausch mit Mitgliedstaaten, in denen Patienten und Angehörige die Möglichkeit zur Meldung erhalten haben, sinnvoll wäre. Dabei dürften vor allem folgende Fragen von Interesse sein: Wie kann die Meldung durch Patienten und Angehörige ermöglicht werden? Was sind die spezifischen Systemanforderungen, z. B. Feedback? Welche Mechanismen sind erforderlich, um qualitative Informationen von Patienten zu erfassen? Sind Änderung in Systemen oder der Kultur nötig? Welche zusätzlichen Ressourcen sind erforderlich? Die Erfahrung in einigen Ländern (z. B. Dänemark) zeigt, dass die Anzahl solcher Meldungen zumindest am Anfang niedrig ist, dass diese aber ähnliche Muster aufweisen wie jene der Leistungserbringer im Gesundheitswesen. Es ist jedoch in allen Ländern so, dass diese Form des Meldens als eine Erweiterung der Meldungen durch die Leistungserbringer im Gesundheitswesen betrachtet wird und meist erst in späteren Entwicklungsphasen des MLS dazugekommen ist. Daher kann es sein, dass das System nicht optimal darauf ausgerichtet ist, die Meldebereitschaft unter Patienten und Familienangehörigen zu erhöhen. Zudem ist nicht bekannt, inwieweit Patienten und die Öffentlichkeit über die Möglichkeiten, Bericht zu erstatten, informiert worden sind und ihnen dies bewusst gemacht wurde. Wenn Meldungen von Patienten gewünscht werden, sollten diese von dieser Möglichkeit in Kenntnis gesetzt werden genauso wie sie auch auf die Möglichkeit der Beschwerde oder des Schadenersatzes hingewiesen werden. In der Pharmakovigilanz ist die direkte Meldung von Patienten in einigen Ländern wie etwa dem VK (Yellow Card Scheme), den Niederlanden (Lareb) und Dänemark gut etabliert. Die Erfahrung zeigt, dass sich mit zunehmendem Bewusstsein die Zahl der PatientenMeldungen mit der Zeit erhöht und dass die Qualität dieser Meldungen mit jener des Gesundheitspersonals verglichen werden kann. In vielen Fällen liefern sie genauere Beschreibungen, die eine wichtige Ressource für das Lernen darstellen können.4 Siehe beispielsweise: ‘The importance of direct patient reporting of suspected adverse drug reactions: a patient perspective’ von Claire Anderson, Janet Krska, Elizabeth Murphy und Anthony Avery, British Journal of Clinical Pharmacology, Band 72, Ausgabe 5, S. 806-822, November 2011; ‘Direct Patient Reporting of Adverse Drug Reactions: a Fifteen-Country Survey & Literature review’ von Andrew Herxheimer, Rose Crombag und Teresa Leonardo Alves (2010). Abrufbar unter 4 http://consumers.cochrane.org/sites/consumers.cochrane.org/files/uploads/10 %20May%202010 %20Re port%20Direct%20Patient%20Reporting%20of%20ADRs.pdf; Präsentationen des zweiten Stakeholderforums zur Umsetzung der neuen Pharmakovigilanzvorschriften von 2010 (Europäische Arzneimittelagentur – European Medicines Agency), 2011. Abrufbar unter http://www.ema.europa.eu/ema/index.jsp?curl=pages/news_and_events/events/2011/06/event_detail_ 000423.jsp&mid=WC0b01ac058004d5c3. 31 Um die strukturierte Analyse von Daten zu erleichtern, sollten bei Meldungen von Patienten und Angehörigen im Wesentlichen ähnliche Strukturen und Klassifizierungen verwendet werden wie für jene von Leistungserbringer im Gesundheitswesen. Bei der Gestaltung des Dateneingabeformulars sollten die Bedürfnisse von Laien berücksichtigt werden (u. a. keine Verwendung von medizinischer Terminologie), um öffentlichen Nutzern zugänglich zu sein. Die Nutzer sollten zudem gefragt werden, ob sie eine Weiterleitung des Berichts an den Leistungserbringer im Gesundheitswesen wünschen, bei dem sich der Zwischenfall ereignet hat. Es ist wichtig, dass die Meldungen für Patienten und Angehörige getrennt von den formellen Beschwerde- und Gerichtsverfahren abläuft und dass Patienten darüber auch ausreichend informiert werden. Darüber hinaus ist es wichtig, dem Meldenden Feedback zu geben und das öffentliche Bewusstsein über die Existenz und den Zweck des Systems zu erhöhen. 7.6. Schutz des Gesundheitspersonals Vorschriften können einen wichtigen Schutz für Angehörige der Gesundheitsberufe bieten, die keine Disziplinarmaßnahmen zu befürchten haben sollten, weil sie einen Zwischenfall gemeldet haben. Dieser Schutz ermöglicht die sanktionsfreie Meldung und ist wesentlich für die Meldebereitschaft des Personals. Durch Vorschriften können auch die Daten aus Meldungen über Zwischenfälle vor einer Verwendung in gerichtlichen oder anderen juristischen Verfahren geschützt werden. Rechtsvorschriften in Deutschland nach dem SGB V hinsichtlich des Schutzes des Meldenden: § 135a wurde folgender Absatz 3 hinzugefügt: "(3) Meldungen und Daten aus einrichtungsinternen und einrichtungsübergreifenden Risikomanagement- und Fehlermeldesystemen [...] dürfen im Rechtsverkehr nicht zum Nachteil des Meldenden verwendet werden. Dies gilt nicht, soweit die Verwendung zur Verfolgung einer Straftat, die im Höchstmaß mit mehr als fünf Jahren Freiheitsstrafe bedroht ist und auch im Einzelfall besonders schwer wiegt, erforderlich ist und die Erforschung des Sachverhalts oder die Ermittlung des Aufenthaltsorts des Beschuldigten auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre". Rechtsvorschriften in Dänemark nach dem Gesundheitsgesetz hinsichtlich des Schutzes des Meldenden: "Die Meldung von unerwünschten Ereignissen vom Regional- und Gemeinderat an die Nationale Behörde für Patientenrechte und Beschwerden ist im Hinblick auf den betroffenen Patienten als auch den Meldenden zu anonymisieren." "Informationen über die Identität der Person, die einen bestimmten Bericht vorgelegt hat, dürfen nur an jene Personen innerhalb der Region oder Gemeinde weitergegeben werden, die für die Weiterverfolgung des Berichts zuständig sind". "Der Meldende darf infolge seiner Meldung keinen Disziplinarverfahren oder -maßnahmen durch seinen Arbeitgeber, Aufsichtsmaßnahmen durch das nationale Gesundheitsamt oder strafrechtlichen Sanktionen durch die Gerichte unterworfen werden..." 32 7.7. Anonymisierung und Vertraulichkeit Die Anonymisierung und der Schutz der Vertraulichkeit können auf verschiedenen Ebenen erfolgen: der des Meldenden (insbesondere des Personals), der in das System eingegebenen Daten und des Mechanismus zur Gewährleistung der Vertraulichkeit. Die Erfahrung der MLS-Untergruppe hat gezeigt, dass Lernsysteme am erfolgreichsten sind, wenn die Meldungen vertraulich sind und der Meldende bei der Weitergabe von Informationen über Fehler und Beinaheschäden keine Sanktionen zu befürchten hat. Es wird von manchen Seiten sogar die Meinung vertreten, dass sich nur mit derart sicheren Meldesystemen verborgene Systemprobleme und die Vielzahl der potenziell beitragenden Faktoren erkennen lassen. Aus pragmatischer Sicht sind viele der Meinung, dass die Geheimhaltung von Gesundheitsorganisationen und Mitarbeitern die Meldebereitschaft signifikant erhöht. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Zwischenfälle vertraulich und anonym zu behandeln. In einigen Meldesystemen bleibt der Meldende während des gesamten Ablaufs völlig anonym; in anderen erfolgt eine manuelle oder automatische Anonymisierung nach einer ersten Analyse. In anderen Systemen wiederum erfolgt die Anonymisierung bei der Übertragung an das zentrale System. In einigen Mitgliedstaaten bleibt die Identität des Patienten anonym, während die Identität des Meldenden gespeichert wird, die Vertraulichkeit aber gewährleistet wird. 33 In Belgien sind mehrere Kriterien für ein krankenhausweites Melde- und Lernsystem festgelegt worden, u. a. dass eine Meldung in anonymer Form möglich sein muss. In Dänemark, der Tschechischen Republik und Spanien sollte der lokale oder regionale Sachbearbeiter die Berichte im Hinblick auf Patientendaten und Daten über den Meldenden anonymisieren. Informationen über die Identität des Meldenden dürfen nur an Personen innerhalb einer lokalen Organisation weitergegeben werden, die für die weitere Bearbeitung des Berichts zuständig sind. Bei der Bearbeitung des Falls auf lokaler Ebene sollte zudem sichergestellt werden, dass Angaben zur Identität einer Person nur in bestimmten Feldern des Berichtsformulars vorkommen (z. B. nicht im Volltextfeld). Auf diese Weise können Daten zur Identität von Personen vor der Übertragung an die zentrale Ebene gelöscht werden. Wird festgestellt, dass der Volltext in der nationalen Datenbank Rückschlüsse auf die Identität einer Person erlaubt, wird der Sachbearbeiter aufgefordert, dies zu korrigieren und den Bericht noch einmal zu senden. In Spanien werden solche Angaben durch die SiNASP-Software nach Ablauf von zwei Wochen automatisch gelöscht. In Dänemark werden die für die Identifizierung des Meldenden und des Patienten vorgesehen Felder bei der Übertragung an die zentrale Ebene permanent gelöscht. In Italien werden Patientendaten auf lokaler Ebene vor der Übertragung an die regionale Ebene anonymisiert. Informationen über die Identität des Meldenden sind vertraulich. In Luxemburg ist die Meldung in einigen, aber nicht in allen Krankenhäusern anonym. In Lettland werden alle persönlichen Daten entpersönlicht; die Vertraulichkeit wird stets garantiert. Im Vereinigten Königreich werden die einzelnen Gesundheitsorganisationen aufgefordert, ihre Berichte vor der Eingabe in das National Reporting and Learning System zu anonymisieren. Da diese Anforderung aber nicht immer von allen Gesundheitsorganisationen erfüllt wird, gibt es einen weiteren manuellen Anonymisierungsprozess bei Eingang der Berichte, bei dem jede identifizierbare persönliche und durch einen automatisierten Prozess markierte Information überprüft und aus dem Bericht gelöscht wird. Das Geburtsdatum der Patienten wird für die Berechnung des Alters des Patienten zum Zeitpunkt des Zwischenfalls verwendet und danach gelöscht. 7.8. Wichtige Erkenntnisse • In den Mitgliedstaaten gibt es sowohl verpflichtende als auch freiwillige Meldesysteme. Jede Art von Berichtssystem hat ihre Vor- und Nachteile. • Bei einem verpflichtenden System sollten Sanktionsfreiheit der Meldungen und Vertraulichkeit klar geregelt sein. • Es können unterschiedliche Arten von Zwischenfällen gemeldet werden. Bei einer weit gefassten Definition können jedoch alle Anliegen gemeldet werden, einschließlich Beinaheschäden und Zwischenfälle „ohne Schaden“, was eine wertvolle Quelle für das Lernen und für Systemverbesserungen darstellt. • Nicht nur Leistungserbringer im Gesundheitswesen, sondern alle in Gesundheitsorganisationen Tätigen sollten sicherheitsrelevante Zwischenfälle melden können. 34 • Meldungen von Patienten und ihren Familien sind eine potenziell wertvolle Ressource für das Lernen und die Verbesserung der Patientensicherheit und sollten gefördert werden. Es sind weitere Informationen darüber nötig, wie sich dies in verschiedenen Gesundheitsbereichen am besten ermöglichen lässt. • Es sollte eine Trennung zwischen Berichtssystem und formellen Beschwerde- und Gerichtsverfahren sowie Disziplinarmaßnahmen geben. Angehörige der Gesundheitsberufe, die einen Zwischenfall melden, sollten vor Disziplinarstrafen oder Klagen geschützt sein. Die Geheimhaltung der meldenden Person und die entsprechende Anonymisierung der Daten sollte gewährleistet werden. • Es sollten regelmäßig anonymisierte Datenmeldungen veröffentlicht und die daraus gewonnenen Erkenntnisse bekannt gemacht werden, um die Entwicklung und Überwachung von Initiativen zur Erhöhung der Patientensicherheit und Vermeidung von Zwischenfällen in der gesamten EU zu fördern. 8. Schulung 8.1. Melde- und Lernkultur Mehrere Mitgliedstaaten haben ihre Erfahrungen aus den Anfangsjahren für den Aufbau einer Berichtskultur genutzt, indem das Management einen sanktionsfreien Umgang mit Fehlern pflegte und sich auf systemische anstatt auf menschliche Faktoren konzentrierte. Der Aufbau einer guten Berichtskultur dauert mehrere Jahre. Nach ein paar Jahren wird der Fokus des Managements auf dem immer größeren Ressourcenverbrauch des Berichtssystems liegen, und es werden Lösungen und eine Dokumentation zur Sicherung der Ergebnisse benötigt werden. Im Laufe der Jahre wird sich eine Berichtskultur entwickeln, bei der es vor allem um das Lernen aus Zwischenfällen geht. 8.2. Schulungsmaßnahmen Es ist wichtig, von Anfang an Schulungen für Leistungserbringer im Gesundheitswesen zu den Bereichen Patientensicherheit als auch Meldungen von Zwischenfällen vorzusehen. Mehrere Länder bedauern, dass sie nicht sofort ein Schulungsprogramm für alle potenziellen Meldenden eingeführt haben. Einige Länder haben anfangs zwei bis drei Superuser in jedem Krankenhaus ausgebildet. Bald darauf forderten die Gesundheitsorganisationen Schulungen für alle Leistungserbringer im Gesundheitswesen. Wie aus Tabelle 4 hervorgeht, gibt es in den Gesundheitsorganisationen verschiedene Schulungsmaßnahmen. Es ist wichtig, dass alle Schulungsunterlagen und Leitlinien unter Berücksichtigung des Nutzerfeedbacks und von Systemverbesserungen aktualisiert werden. 35 ÖSTERREICH BELGIEN KROATIEN ZYPERN TSCHECHISCHE REPUBLIK DÄNEMARK FRANKREICH DEUTSCHLAND UNGARN IRLAND ITALIEN LETTLAND LUXEMBURG NIEDERLANDE NORWEGEN SLOWAKEI SLOWENIEN SPANIEN SCHWEDEN VEREINIGTES KÖNIGREICH ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ Anweisungen Leitlinien E-Learning Beauftragter Selbsterklärendes Berichtsformular Teamsitzungen Keine Schulung Mitgliedstaat Schulung aller Angehörigen der Gesundheitsberufe Tabelle 4: Tabelle 4 zeigt, wie in den Anfangsphasen die Vorbereitung auf das Melden von Zwischenfällen erfolgte. ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ 36 8.3. Wichtige Erkenntnisse Melde- und Lernkultur Wichtige Erkenntnisse: 1. Das Ziel des Systems muss allen Akteuren klar sein, u. a. dem an vorderster Front tätigen Personal und den Patienten. 2. Die gemeldeten Zwischenfälle müssen zu sichtbaren Änderungen führen. 3. Patienten und Angehörige sollten einbezogen werden. Empfehlungen: 1. Allen Meldenden sollte klar sein, welchen Nutzen sie selbst von einer Meldung haben, da sich dadurch Zwischenfälle vermeiden lassen, die ihnen selbst oder dem Ruf ihrer Einrichtung schaden könnten. 2. Die oberste Führungsebene im Gesundheitssystem und die Dienstleistungserbringer sollten dafür sorgen, dass allen klar ist, dass das Ziel „Straf- und Sanktionsfreiheit“ ist. 3. Die Leistungserbringer im Gesundheitswesen sollten eine Rückmeldung über die Untersuchungsergebnisse und die ergriffenen Präventivmaßnahmen erhalten. 4. Um den Lerneffekt zu erhöhen, sollte es für Patienten und Angehörige die Möglichkeit geben, unabhängig vom Beschwerdeverfahren Bericht erstatten zu können. 5. Bei Ereignismeldungen von Gerichten oder der Polizei müssen legislative Änderungen hinsichtlich des Datenschutzes berücksichtigt werden, da diese für andere Zwecke eingeholt werden. Die Meldungen sollten anonymisiert werden, da es dabei eindeutig nicht um das Eigeninteresse Einzelner geht, sondern vielmehr um ein grundlegendes Interesse am Zwischenfall. 37 9. Komponenten eines Berichtssystems 9.1. Ablauf der Fallbearbeitung Abbildung 1 stellt den üblichen Informationsfluss in einem MLS dar. Die Meldungen werden von unten nach oben weitergeleitet, und Feedback fließt zurück. Dieses Feedback ist ein wichtiger Motivationsfaktor für alle Systemebenen. Abbildung1: Ablauf der Fallbearbeitung Die regionale Ebene könnte ausgelassen werden, was in den meisten Mitgliedstaaten auch der Fall ist. Die Meldungen und das Feedback fließen dann direkt an die nächste Ebene. In einigen Mitgliedstaaten ist das Berichtssystem so strukturiert, dass alle Ereignisse auf jeder Stufe einem Validierungsverfahren unterzogen werden. Wenn das Gesundheitssystem von den Regionen bereitgestellt wird, stellt die regionale Ebene eine wichtige Zwischenstufe dar, weil dort eine zusätzliche Validierung erfolgt. 9.2. Mechanismen zur Datenerfassung Der wichtigste Mechanismus zur Erfassung von Informationen zur Patientensicherheit ist im Allgemeinen ein MLS, in das Leistungserbringer im Gesundheitswesen und, soweit zulässig, Patienten und Angehörige Meldungen eingeben können. In der Praxis werden aber auch andere zusätzliche Verfahren verwendet. Dazu gehört die Zusammenführung von Daten aus verschiedenen Quellen, die wichtige Informationen mit Relevanz für die Patientensicherheit enthalten können: • Beschwerdebearbeitung (Beschwerden können auf einen Zwischenfall hinweisen); 38 • Automatische Evaluierung von Verwaltungsdaten (z. B. strukturierte Meldungen für Krankenkassen über die erbrachte Versorgungsleistung, um ungewöhnliche Muster zu erkennen); • Automatische Evaluierung von Labordaten (um nicht gemeldete Krankenhausinfektionen zu entdecken); • Automatische Evaluierung von Apothekendaten (um nicht gemeldete Zwischenfälle im Zusammenhang mit Arzneimitteln zu entdecken); • Fehlermöglichkeits- und Einflussanalyse (Erkennen von potenziellen Risiken); • Halbautomatische Evaluierung von ärztlichen Aufzeichnungen; • Analyse der Sterblichkeitsrate; • Personalbefragung; • Patientenbefragung. Diese Verfahren müssen gewöhnlich auf der Ebene der Gesundheitsorganisation durchgeführt werden, können jedoch von der zentralen oder regionalen Ebene durch Empfehlungen zur Vorgehensweise und durch Schulungen unterstützt werden. Ermittelte Verdachtsfälle könnten unmittelbar oder bei der späteren Bestätigung als solche in ein MLS eingegeben werden. Diese Verfahren können nützliche Instrumente für die Ermittlung nicht gemeldeter Zwischenfälle sein. Dabei sollte jedoch bedacht werden, dass es hier um große Datenmengen geht und die Analyse großes Engagement vonseiten der Gesundheitsorganisationen verlangt. Zudem handelt es sich bei einigen Daten um interne Daten der Gesundheitseinrichtung, wie etwa Labordaten. Andere Daten, wie jene aus Befragungen und Patientenfragebogen, müssen erst in ein nutzbares Format gebracht werden. Ihre Analyse erfordert den Einsatz entsprechender Ressourcen. 9.3. Versorgungsbereich Es wird allgemein empfohlen, dass ein Melde- und Lernsystem alle Versorgungsbereiche umfassen und die Meldungen ermöglichen sollte, unabhängig davon, ob es sich bei der Gesundheitsorganisation um eine öffentliche oder private Einrichtung handelt. In der Praxis könnte es dabei jedoch einige Probleme geben, meist im Zusammenhang mit den Besonderheiten des Gesundheitssystems in den einzelnen Mitgliedstaaten. In diesem Bericht sind mit „allen Versorgungsbereichen“ neben Krankenhäusern (Akut-, Langzeitkrankenhäuser, Psychiatrie) Labors, bildgebende Diagnostik, Rehabilitationseinrichtungen, Ambulanzen (einschließlich Hämodialyse), Arztpraxen, Apotheken, Drogentherapiezentren, Rettungsdienste, Hauskrankenpflege und Leistungserbringer im Gesundheitswesen in den sozialen Diensten (Pflegeheime) gemeint. 39 Die Frage, ob private Leistungserbringer im Gesundheitswesen Zugang zu dem hauptsächlich aus öffentlichen Mitteln finanzierten Melde- und Lernsystem erhalten sollten, ist eine rein finanzielle. Das Finanzierungssystem des MLS sollte Gesundheitsorganisationen die Teilnahme unabhängig von ihrer Eigentümerschaft ermöglichen, weil der Hauptnutznießer immer der Patient ist. Tabelle 5 vermittelt einen Überblick über die Gesundheitsorganisationen, die Zwischenfälle melden können. Die Frage, ob bestimmte Dienstleistungsarten einbezogen werden sollen, ist dagegen schwieriger. In einigen Mitgliedstaaten ist das MLS nur auf die Versorgung in Krankenhäusern ausgerichtet. Das in diesem Dokument beschriebene MLS-Konzept eignet sich generell für Gesundheitsorganisationen, in denen die Gesundheitsversorgung durch mehrere Personen erfolgt. Dadurch lässt sich dieses Konzept in einigen Mitgliedstaaten in der Primärversorgung oder in der ambulanten spezialisierten Versorgung, wo diese Leistungserbringer sehr aufgesplittert (z. B. eine Ärztin und ein Pfleger) und nicht an eine größere Organisationsstruktur angegliedert sind, nur beschränkt verwenden. Bei derartigen Versorgungsbereichen müssen einige Änderungen am Konzept vorgenommen werden, damit das MLS in der Praxis funktioniert. Meist fällt die Rolle des lokalen Sachbearbeiters in solchen Fällen weg, und die entsprechenden Zuständigkeiten gehen auf den regionalen oder zentralen Sachbearbeiter über. Tabelle 5: Teile des Gesundheitssystems, die Zwischenfälle melden können ³ Sonstige anwendende Fachkräfte ³ ³ Apotheken ³ Hausärzte, Allgemeinärzte ³ ³ ³ ³ ³ ³ Private Pflegeagenturen ³ ³ ³ Primärversorgung ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ Prähospitale Versorgung ÖSTERREICH BELGIEN KROATIEN ZYPERN TSCHECHISCHE DÄNEMARK FRANKREICH DEUTSCHLAND UNGARN IRLAND ITALIEN LETTLAND* LUXEMBURG NIEDERLANDE NORWEGEN SLOWAKEI SLOWENIEN SPANIEN SCHWEDEN Privatkliniken Öffentliche Krankenhäuser Mitgliedstaat ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ 40 VEREINIGTES KÖNIGREICH ³ ³ ³ ³ ³ ³ *Lettland: Es gibt ein überregionales Beobachtungs- und Meldesystem für Nebenwirkungen von Arzneimitteln, Transfusionen von Blutbestandteilen und für medizinische Geräte. Diese Meldungen sind gesetzlich vorgeschrieben. Es könnte jedoch feinere Unterschiede zwischen den Berichtsmethoden der einzelnen Versorgungsbereiche geben. Zum Beispiel könnten die Klassifizierungssysteme für die Psychiatrie anders ausgeweitet werden als jene für die Rehabilitation. Es könnte ein eigener Formularabschnitt für bestimmte Versorgungsbereiche vorgesehen werden, um eine genau auf die Bedürfnisse dieses Bereichs zugeschnittene Datenerhebung zu ermöglichen. Das MLS sollte allgemein gehalten werden, aber die Möglichkeit offen lassen, in späteren Entwicklungsphasen die Besonderheiten von Versorgungsbereichen berücksichtigen zu können. Dadurch kann das MLS von den Akteuren (z. B. Ärztekammern) für weitere Zwecke verwendet werden. 9.4. Wie wird gemeldet? Es wird empfohlen, die Daten so bald wie möglich in elektronischer Form zu erfassen, vor allem weil dadurch die Datengenauigkeit erhöht und die Übermittlung oder gemeinsame Nutzung von Informationen sowie die statistische Analyse erleichtert wird. In Papierform lassen sich Informationen nicht so leicht analysieren, und es gibt gewisse Einschränkungen hinsichtlich der Weiterverarbeitung. Zuerst sollten die Leistungserbringer im Gesundheitswesen Zwischenfälle an das organisationsinterne lokale Risikomanagementsystem melden. Dadurch kann die Organisation sofort auf lokaler Ebene reagieren und den Zwischenfall entsprechend weiterverfolgen. Es gibt jedoch mehrere Situationen, in denen dies nicht machbar ist: • Einige Meldende möchten vielleicht völlig anonym bleiben; • Einige Gesundheitsorganisationen sind sehr klein und haben kein lokales Risikomanagementsystem; • Das System steht Patienten und Angehörigen nicht offen. Deshalb wird als eine Alternative zur automatischen Datenübermittlung vom lokalen Risikomanagementsystem die Ermöglichung einer direkten elektronischen Meldung an die zentrale Ebene – und die Umgehung des lokalen Sachbearbeiters – empfohlen. Es muss darauf hingewiesen werden, dass die Systeme europaweit unterschiedlich sind. Bei einigen werden nur die schwerwiegendsten Zwischenfälle erfasst, bei deren Auftreten die Gesundheitsorganisation sofort reagieren muss. Auch wenn kleine Organisationen meist nicht die Mittel für einen Risikomanager haben, ist der medizinische Leiter der 41 Gesundheitsorganisation dafür verantwortlich, dass jeder Zwischenfallsmeldung sofort nachgegangen und Patienten die notwendige Sicherheit geboten wird. Bei der Eingabe in eine zentrale Datenbank auf nationaler Ebene sollte sowohl der Upload, oder ein gemeinsamer Zugriff, aus lokalen Risikomanagementsystemen als auch das Ausfüllen von Onlineformularen möglich sein. Der Upload kann in Form einer unmittelbaren Onlineübertragung nach Bestätigung des Zwischenfalls (kein Spam) oder aber in Form einer Batchübertragung erfolgen. Da bei einigen Zwischenfallsarten die Zeit eine wichtige Rolle spielt, wird die sofortige Onlineübertragung empfohlen. Die Batchübertragung in regelmäßigen Abständen verzögert den Prozess und hat keine methodischen oder technischen Vorteile, wenn eine Onlineverbindung über drahtlose oder drahtgebundene Netzwerke leicht verfügbar ist. Gegebenenfalls können als eine Alternative zur Datenübermittlung Meldungen mit entsprechenden Sicherheitsmaßnahmen und Zugangsbeschränkungen zwischen Organisationen weitergegeben werden. In Systemen, in denen Patientendaten erfasst werden können, sollte der Informationsfluss so strukturiert sein, dass die von Patienten oder Betreuern eingehenden Daten erfasst und verwaltet werden. Dies ist wichtig, weil die Darstellung solcher Informationen stark variieren kann und es außerdem nicht möglich ist, diese Daten zu validieren. Es sollten von Anfang an standardisierte Berichtsformulare (zumindest für die wichtigsten Datensätze) verwendet werden. Dies ist wichtig, damit die Formularfelder im gesamten System eine einheitliche Bedeutung haben und nicht unterschiedlich interpretiert werden (z. B. könnte das Feld „Schaden“ in einer Organisation als „tatsächlicher Patientenschaden“ und in einer anderen als „potenzieller maximaler Schaden“ verstanden werden). Bei einigen MLS waren in den frühen Phasen ihres Betriebs Meldungen auf Papier möglich. Im Laufe der Zeit wurde dies in vielen Fällen eingestellt, und es werden inzwischen nur mehr elektronische Meldungen angenommen. Papiermeldungen, die erst später in elektronische Form umgewandelt werden, könnten in bestimmten Versorgungsbereichen oder in den frühen MLSEntwicklungsphasen gewisse Vorteile haben; wir empfehlen jedoch, die Daten so früh wie möglich elektronisch zu erfassen. Die Umwandlung von Papierdaten in elektronische Daten könnte wertvolle Ressourcen verbrauchen, die besser direkt zur Erhöhung der Patientensicherheit genutzt werden könnten. Zurzeit haben wir keine Kenntnis von telefonischen Meldungen in den Mitgliedstaaten. Im VK gab es über mehrere Monate ein Pilotprojekt, das jedoch nicht fortgesetzt wurde. Erfahrungen aus anderen Ländern (z. B. Australien) zeigen, dass die Möglichkeit der telefonischen Meldung zu einer höheren Zahl von Zwischenfallsmeldungen führen könnte. Tabelle 6 vermittelt einen Überblick über die verschiedenen Medien für die Meldung von Zwischenfällen in den Mitgliedstaaten. 42 Tabelle 6: Wie werden Zwischenfälle gemeldet Mitgliedstaat PC/Laptop ÖSTERREICH BELGIEN KROATIEN ZYPERN TSCHECHISCHE REPUBLIK DÄNEMARK FRANKREICH DEUTSCHLAND ESTLAND UNGARN IRLAND ITALIEN LETTLAND LUXEMBURG NIEDERLANDE NORWEGEN SLOWAKEI SLOWENIEN SPANIEN SCHWEDEN VEREINIGTES KÖNIGREICH ³ ³ ³ Papier App auf Smartphones Sonstige ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³* *Alle Internetgeräte ³ ³ ³ ³ ³ ³ Beispiel aus Belgien: Die Krankenhäuser müssen festlegen, auf welche Weise unerwünschte Ereignisse gemeldet werden können. Dies kann in einem "Meldeverfahren" beschrieben werden, das allen Leistungserbringer im Gesundheitswesen in der Einrichtung zugänglich ist. Darin sollte unbedingt darauf eingegangen werden, wie das Melde- und Lernsystem organisiert ist (elektronisch, schriftlich, mündlich, per E-Mail usw.) und welche Instrumente (d. h. Berichtsformular, Freitext, Checkliste usw.) dafür verwendet werden. Das Ziel ist ein Melde- und Lernsystem, das schnell, effizient, einfach und für alle benutzerfreundlich ist. Die Meldemöglichkeit von unerwünschten Ereignissen in elektronischer Form stieg von 63 % im Jahr 2008 auf 73 % im Jahr 2012. Beispiel aus Norwegen: Gesundheitseinrichtungen mit elektronischen Meldesystemen können Berichte elektronisch an das Norwegische Wissenszentrum für das Gesundheitswesen (NOKC) senden. Die Berichte gehen direkt vom internen Berichtssystem an die nationale Stelle für Patientensicherheit im NOKC. Das Feedback des NOKC erfolgt auf elektronischem Weg im Berichtssystem. Gesundheitseinrichtungen, die Berichte nicht auf elektronischem Weg senden oder empfangen können, können ein webbasiertes Formular über eine eigene Website verwenden. 9.5. Meldeverfahren Der erste Meldende (Leistungserbringer im Gesundheitswesen), der den ganzen Prozess als Whistleblower ins Rollen bringt, spielt im MLS eine wichtige Rolle. In vielen Empfehlungen wird auf die Notwendigkeit eines „möglichst einfachen“ 43 Berichtsformulars aus Sicht des Meldenden hingewiesen. Tabelle 7 vermittelt einen Überblick über die gewählten Formen der Meldung. ÖSTERREICH BELGIEN KROATIEN ZYPERN TSCHECHISCHE REPUBLIK DÄNEMARK ESTLAND DEUTSCHLAND UNGARN IRLAND ITALIEN LETTLAND LUXEMBURG NIEDERLANDE NORWEGEN SLOWAKEI SLOWENIEN SPANIEN SCHWEDEN VEREINIGTES KÖNIGREICH ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ Unterstützung und Hilfe durch Kollegen Unterstützung und Hilfe durch Callcenter Unterstützung und Hilfe durch Handbücher Unterstützung und Hilfe durch Helpdesk per E-Mail Telefonische Meldung Papierformular Mitgliedstaat Spezielles Formular für Patienten und Angehörige Elektronisches Berichtsformular Tabelle 7: Gewählte Form der Meldung ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ ³ In den meisten Ländern werden die Meldenden aufgefordert, sowohl den Zwischenfall als auch die Folgen zu beschreiben. Für Präventionsvorschläge, die Anonymisierung von Daten und die Klassifizierung der Art und Schwere der Zwischenfälle sowie der Prozesse und Ursachen sind in den bestehenden MLS unterschiedliche Personen zuständig: der Meldende, der lokale Sachbearbeiter oder der zentrale Sachbearbeiter. Jedes System hat seine Vor- und Nachteile. Vorteile bei Zuständigkeit des Meldenden: • Es können Präventivmaßnahmen aus der Sicht eines direkt am Zwischenfall Beteiligten vorgeschlagen werden; • Je nach Art des Zwischenfalls ist eine sofortige Meldung an einen entsprechenden Manager möglich; • Die Arbeitsbelastung der Sachbearbeiter ist geringer, sodass diese sich auf andere Aufgaben im Zusammenhang mit der Patientensicherheit konzentrieren können, oder die Arbeit auf den weiteren Bearbeitungsebenen wird erleichtert. 44 Vorteile bei Zuständigkeit des Sachbearbeiters: • Gezieltere Vorschläge von Präventivmaßnahmen durch eine Ursachenanalyse, bei der Aspekte des Zwischenfalls freigelegt werden können, die aus der Perspektive des Meldenden nicht zu sehen sind; • Klassifizierung durch einen Experten ist genauer, da Klassifizierungen (insbesondere basierend auf der Internationalen Klassifikation für Patientensicherheit der WHO) sehr komplex und für Laien auf dem Gebiet der Patientensicherheit schwer zu verstehen sein können; • Weniger Arbeit für den Meldenden, was wichtig sein kann, um die allgemeine Akzeptanz des Systems zu erhöhen. Welcher Ansatz gewählt wird, hängt wahrscheinlich vom jeweiligen Bereich ab, daher sollte sorgfältig bewertet werden, ob das MLS-Konzept auch für den beabsichtigten Zweck geeignet ist. Es wird jedoch allgemein empfohlen, eine Überprüfung der oben genannten Daten vor der Übertragung an die nächste Ebene durch einen lokalen Sachbearbeiter durchzuführen. Der lokale Sachbearbeiter ist für die Durchführung einer ersten Analyse der Daten, die Erstellung von Maßnahmenplänen und die Weiterbearbeitung der Ergebnisse zuständig. Regionale oder zentrale Sachbearbeiter können diesen Prozess jedoch unterstützen, Ratschläge erteilen und für die richtige Anwendung der Standardmethode sorgen. Die Unterstützung von der regionalen und zentralen Ebene ist ein wesentlicher Faktor, um eine einheitliche Bearbeitung der Zwischenfälle im gesamten System – in verschiedenen Organisationen und Versorgungsbereichen – zu gewährleisten, was ein Schlüsselfaktor für die Vergleichbarkeit der Daten ist. In einigen Systemen ist die Angabe der von der Gesundheitsorganisation ergriffenen Abhilfemaßnahmen erforderlich, wobei die Wirksamkeit dieser Präventionsmaßnahmen anhand von Indikatoren überwacht wird. In den meisten Ländern ist der regionale Sachbearbeiter nicht an der Bearbeitung der Zwischenfälle im MLS beteiligt. Dies ist nur in einigen Mitgliedstaaten mit einem nationalen Gesundheitswesen oder einer föderalen Struktur der Fall (z. B. Dänemark, Italien und Spanien). 9.6. Feedbackschleife In Abbildung 1 (Abschnitt 9.1) über den Ablauf der Fallbearbeitung wird der Feedbackmechanismus bei Berichtsprozessen dargestellt. Eine Rückmeldung an die Personen, die einen Zwischenfall melden, ist wichtig, um die Bereitschaft zur Meldung von künftigen Zwischenfällen zu erhöhen. Jedem einzelnen Meldenden ein Feedback zu geben wird jedoch ein sehr zeitaufwendiges Unterfangen sein. Daher wird eine Rückmeldung von der zentralen oder regionalen Ebene an die Gesundheitsorganisationen empfohlen. Auf diese Weise kann das Management die Leistungserbringer im 45 Gesundheitswesen, darunter die Meldenden, über geplante Maßnahmen aufgrund der gemeldeten Zwischenfälle informieren. Wenn Leistungserbringer im Gesundheitswesen einen Zwischenfall melden ohne zu wissen, wo der Bericht landet oder ob irgendwelche Maßnahmen ergriffen werden, besteht die Gefahr, dass sie nach einigen Versuchen keine Zwischenfälle mehr melden, selbst wenn sie dazu verpflichtet wären. Damit es nicht dazu kommt, ist es wichtig, Informationen über Zwischenfälle zu erfassen und die Daten zu analysieren. Die Daten sowie die Analysen sollten veröffentlicht werden, um die Entwicklungen in verschiedenen Jahren aufzuzeigen. Dadurch lassen sich die durch die Abhilfemaßnahmen der Organisationen bewirkten Änderungen aufzeigen. 9.7. Datennutzung (Fallarbeit) Die zwischen der lokalen und zentralen Ebene von MLS ausgetauschten Datensätze sind von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich, Folgendes wird aber meist als Minimum gesehen: • • • • • • • • • • Grundlegendes Profil des Patienten (Alter zum Zeitpunkt des Zwischenfalls, Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit – Meldungen sollten anonymisiert werden) Ort des Zwischenfalls (Versorgungsbereich, Organisation, Abteilung, Fachgebiet) Identität der Gesundheitsorganisation (um die Weiterverfolgung zu ermöglichen und breitere organisatorische Probleme zu ermitteln) Zeitpunkt des Zwischenfalls Art des Zwischenfalls (anhand eines Klassifizierungssystems) Ergebnis für den Patienten (anhand eines Klassifizierungssystems) Beschreibung des Geschehnisses Beschreibung der unmittelbar ergriffenen Maßnahmen Beschreibung der Ursache des Ereignisses Beschreibung der ergriffenen Präventionsmaßnahmen Auf welche Weise die Aufzeichnungen anonymisiert werden, hängt von den Rechtsvorschriften im Mitgliedstaat ab. Im Allgemeinen sollte die Anonymität der Aufzeichnungen durch die Gesundheitsorganisation, die den Bericht eingibt, gewährleistet werden. Da es dabei zu Ungenauigkeiten kommen kann, wird empfohlen, auf zentraler oder regionaler Ebene Verfahren einzuführen, um alle eingereichten Meldungen – zumindest stichprobenartig – auf das Vorhandensein von personenbezogenen Informationen zu prüfen. Werden Probleme festgestellt, sollten diese korrigiert oder der sendenden Organisation mitgeteilt werden, wo der Fehler in erster Linie korrigiert werden sollte. Neben der Anonymität der Aufzeichnungen sollte gewährleistet werden, dass es auf zentraler oder regionaler Ebene ein Verfahren zur Sicherung der inhaltlichen Qualität der vorgelegten Daten gibt. Dadurch sollte vor allem die richtige Klassifizierung gewährleistet werden. Dies kann jedoch auch als 46 Überwachungsmechanismus dienen, um standardisierte Methoden für die Analyse und weitere Bearbeitung der Aufzeichnungen auf lokaler Ebene in allen teilnehmenden Gesundheitsorganisationen verbindlich zu machen. Beispiel aus Dänemark, Spanien und dem Vereinigten Königreich: Zur Einhaltung der Vertraulichkeit werden personenbezogene Informationen entfernt; es gibt einen kombinierten automatischen und manuellen Filterprozess zur Erkennung und Entfernung solcher Informationen aus Freitextfeldern, u. a.. Patientennamen, Geburtsdaten, Fallnummern, Patientennummern, Mitarbeiternamen. Zum Beispiel wird „Paul Smith“ durch das Label „[Patientenname]“ ersetzt. Derzeit wird überprüft, ob eine weitere Anonymisierung solcher Informationen nötig ist. Beispiel aus Belgien: Krankenhäuser müssen ein Melde- und Lernsystem für unerwünschte Ereignisse umsetzen und diese klassifizieren. Um den Weg für die künftige Datenaggregation zu ebnen, wurden eine einheitliche Taxonomie (ICPS – International Classification for Patient Safety – internationale Klassifikation für Patientensicherheit) und ein Mindestdatensatz vorgeschrieben (Art und Besonderheiten des Zwischenfalls, Folgen für Patienten und Organisation). Schließlich wurde eine Codetabelle für ICPS-Begriffe und ein XMLExportmodell entwickelt, um die Datenaggregation und den Austausch zwischen den Krankenhäusern zu erleichtern. Zur Unterstützung von Krankenhäusern und Softwareanbietern wurden Leitlinien für die Verwendung des Exportmodells formuliert. Derzeit nehmen fallweise fünf belgische Krankenhäuser auf freiwilliger Basis an der Datenaggregation teil. 9.8. Klassifizierungssystem Der Zweck einer Taxonomie oder eines Klassifizierungssystems besteht darin, gültige Daten zu produzieren. Eine Klassifizierung kann zum Beispiel bei der Suche nach den richtigen Ereignissen für aggregierte Analysen helfen. Sie ermöglicht den Vergleich von Ereignissen im gesamten Gesundheitssystem. Mehrere Mitgliedstaaten stützen sich bei ihren Klassifizierungssystemen auf die ICPS-Taxonomie der WHO (ICPS – International Classification for Patient Safety – internationale Klassifikation für Patientensicherheit): Belgien, Tschechische Republik, Dänemark, Deutschland, Lettland, Norwegen und Spanien. Jeder verwendet jedoch unterschiedliche Elemente der ICPS, was zu potenziell großen Unterschieden in den daraus resultierenden Systemen führt. Auch das Ausmaß der Verwendung der WHO-Taxonomie ist unterschiedlich. Meist wird die „Art des Zwischenfalls“ verwendet, doch die Einstufung nach dem Schweregrad in der WHO-Taxonomie wird manchmal als unzureichend betrachtet und durch eigene Systeme ersetzt. Einige Mitgliedstaaten verwenden ihr eigenes nicht von der WHO-Taxonomie abgeleitetes Klassifizierungssystem (Vereinigtes Königreich) oder haben überhaupt kein standardisiertes System (Zypern und Luxemburg). Tabelle 8 vermittelt einen Überblick über die verschiedenen Klassifizierungssysteme der Meldesysteme. Selbst bei einer standardisierten zentralen Klassifizierung kann gleichzeitig auf lokaler Ebene der Gesundheitsorganisationen eine eigene Klassifizierung verwendet werden, die später in das standardisierte System übertragen wird. Manchmal gibt es historische Gründe dafür, da die lokalen Risikomanagementsysteme meist vor dem MLS vorhanden waren, ihre 47 Gültigkeit aber noch heute behalten. Die am häufigsten verwendeten Klassifizierungssysteme werden von der WHO-Taxonomie abgeleitet. Dabei handelt es sich um ein äußerst komplexes Klassifizierungssystem, das sehr allgemein gehalten ist und sich auf eine multidimensionale Struktur stützt. Einige seiner Begriffe sind daher für Leistungserbringer im Gesundheitswesen, deren Arbeitsbedingungen oft sehr spezifisch sind, nicht leicht zu verstehen. Deshalb wird empfohlen – selbst für ein völlig neues MLS – das parallele lokale Klassifizierungssystem in die Gestaltung einzubeziehen, damit Leistungserbringer im Gesundheitswesen eine vereinfachte Klassifizierung verwenden können, die auf ihren Bereich zugeschnitten ist. Die genaue Klassifizierungsarbeit im Zusammenhang mit der WHO-Taxonomie sollte den lokalen Sachbearbeitern überlassen werden. Tabelle 8: Klassifizierungssystem Klassifizierungssystem Mitgliedstaat Angepasste nationale Version des ICPS der WHO Belgien, Tschechische Republik, Dänemark, Deutschland, Irland, Lettland, Norwegen, Slowakei, Spanien und Schweden. Österreich, Zypern und Luxemburg Verschiedene Klassifizierungen in lokalen Krankenhäusern Überwachungssystem für Sentinel Events Eigene Klassifizierung Dänemark (seit 2014), Vereinigtes Königreich Ausgewählte Zwischenfälle Ungarn Italien In Ungarn wurden sechs verschiedene Arten von Zwischenfällen von einer Expertengruppe ausgewählt (Dekubitus, Patientenstürze, kardiopulmonale Reanimation, unerwünschte Ereignisse aufgrund der Anwendung bzw. Verabreichung eines Medikaments und Nadelstichverletzungen). Ungarn verwendet strukturierte Berichtsformulare mit Freitextfeldern und geschlossenen Fragen, die auf die Ursachen der Zwischenfälle abzielen und die Beteiligten zum Nachdenken über den Prozess anregen. Bis Ende 2014 sollten 20 meldepflichtige Ereignisse festgelegt werden. 9.9. Wichtige Erkenntnisse Wichtige Erkenntnisse: 1. Es wird ein Mechanismus zur Erfassung und Speicherung der Daten benötigt. 2. Es sollte ein einheitliches Berichtsformular festgelegt werden. 3. Es sollte Feedbackmechanismen geben. 4. Die Bearbeitung sollte durch Experten in Zusammenarbeit mit dem Management erfolgen. 48 Empfehlungen: 1. Es sollte spezielle Berichtsformulare geben: eines für Angehörige der Gesundheitsberufe, eines für Patienten und ihre Angehörigen. 2. Neben den festgelegten Datenangaben sollten die Berichtsformulare die Eingabe von Freitext erlauben. 3. Der benutzerfreundlichen elektronischen Meldung sollte der Vorzug gegeben werden. 4. Feedback von zentraler oder regionaler Ebene ist wichtig, um die Erkenntnisse über Risikoprozesse weiterzugeben. 5. Das Feedback an die Meldenden ist eine der wichtigsten Aufgaben. Um die Bereitschaft zur Meldung künftiger Zwischenfälle unter Angehörigen der Gesundheitsberufe zu erhöhen, sollte die meldende Person eine Empfangsbestätigung erhalten und über die ergriffenen Maßnahmen auf dem Laufenden gehalten werden. 6. Sowohl die Bearbeitung als auch die Analyse eines Zwischenfalls sollte durch Experten erfolgen, die mit dem Thema und verschiedenen Analyseverfahren vertraut sind. Ein Beauftragter des Managements muss befugt sein, Maßnahmenpläne zu genehmigen. 7. Die Klassifizierung bzw. Taxonomie der Ereignisse sollte nach einem allgemeinen Klassifikationssystem erfolgen, das den Vergleich von Daten zwischen Dienstleistungserbringern ermöglicht. Zusätzlich können krankheitsspezifische und andere Klassifizierungen je nach Bedarf verwendet werden. 10. Analyse Da überregionale Melde- und Lernsysteme gewöhnlich auf Meldungen von Leistungserbringern im Gesundheitswesen beruhen, sollte es eine klare Trennung zwischen lokaler Analyse und zentraler oder regionaler Überprüfung geben. 10.1. Zentrale oder regionale Überprüfung Das Berichtssystem auf zentraler oder regionaler Ebene sollte zumindest das Erkennen von neuen und unerwarteten Gefahren ermöglichen, wie z. B. von bisher unerkannten Komplikationen in Verbindung mit der Verwendung eines Arzneimittels oder eines neuen Geräts. Dies lässt sich einfach durch eine menschliche Überprüfung der eingehenden Meldungen bewerkstelligen. Wenn beispielsweise nur ein paar Personen melden, dass der Freiflussschutz bei einem bestimmten Pumpenmodell versagen kann, können die Berichtsempfänger daran vielleicht schon erkennen, dass es hier ein Problem gibt, die Lieferanten alarmieren und sich direkt mit dem Pumpenhersteller in Verbindung setzen. 49 Diese Art der Analyse erfordert eine Überprüfung der Meldungen durch sachkundige Experten, die Meldungen müssen aber nicht auf einer eingehenden Untersuchung durch die meldende Organisation beruhen. Besser als eine einmalige Übermittlung von Daten nach Abschluss aller Analysen auf lokaler Ebene ist es, zumindest vorläufige Ergebnisse sofort zu erhalten, die später aktualisiert werden können. 10.2. Wie sieht ein erfolgreicher Überprüfungsprozess aus Es hat sich gezeigt, dass ein erfolgreicher Überprüfungsprozess folgende drei Kriterien erfüllen sollte: Sachkundig – Die Meldungen müssen von Experten evaluiert werden, die die klinische Situation, in der die Zwischenfälle auftreten, verstehen und die dafür ausgebildet sind, die zugrunde liegenden Systemursachen zu erkennen. Obwohl es als einleuchtend erscheinen mag, dass es wenig Sinn macht, Daten zu sammeln ohne sie zu überprüfen, ist der häufigste Mangel bei staatlich betriebenen Meldesystemen, dass zwar Meldungen verlangt, aber nicht die nötigen Ressourcen für ihre Überprüfung zur Verfügung gestellt werden. Es werden riesige Mengen von Meldungen gesammelt, nur um dann in Schachteln oder Computern aufbewahrt zu werden. Die sachkundige Überprüfung stellt in jedem Berichtssystem einen wesentlichen und wichtigen Teil der Ressourcen dar. Glaubwürdig – Wenn die Empfehlungen akzeptiert und umgesetzt werden sollen, ist eine Überprüfung durch unabhängige und sachkundige Experten erforderlich. Zeitnah – Die Meldungen sollten ohne Verzögerung überprüft werden, und Empfehlungen sollten rasch an jene, die davon Kenntnis haben müssen, ausgegeben werden. Wenn ernste Gefahren erkannt werden, sollte umgehend eine Benachrichtigung erfolgen. Beim Überprüfungsprozess sollten Gefahren im Gesundheitssystem erkannt und für die weitere Evaluierung priorisiert werden. Beim Systementwurf sollten auch die zu überprüfende Datenmenge und die Auswahlkriterien festgelegt werden. Es ist möglich, sich nur auf Daten aus Meldungen zu konzentrieren, die einen tatsächlichen schweren Schaden für Patienten bedeuten, oder es können Meldungen je nach erkanntem maximalen möglichen Risiko aus der Sicht des Meldenden priorisiert werden. Theoretisch sollte es auch möglich sein, genügend Mittel für die Evaluierung aller Meldungen zuzuteilen, da ihr Lernpotenzial aus der Perspektive der meldenden Organisation vielleicht nicht klar ersichtlich ist. Das Ergebnis des Überprüfungsprozesses sollten Präventionsempfehlungen sein, die mit entsprechenden Methoden verbreitet werden sollten. Gewöhnlich ist es ratsam, einen bereits vorhandenen Kanal zu verwenden und Änderungen in die entsprechenden bestehenden Richtlinien einzuarbeiten anstatt nur einzelne Sicherheitswarnungen auszugeben. Der Status der Empfehlung (freiwillige oder verpflichtende Umsetzung) sollte deutlich gemacht werden, und es sollte eine mögliche Unterstützung für die Umsetzung auf lokaler Ebene 50 durch die zentrale oder regionale Ebene mit entsprechender Ressourcenzuteilung in Betracht gezogen werden. 10.3. Quantitative Statistiken Die Rückmeldung von Benchmarkingergebnissen und die Datenveröffentlichung werden oft als wichtigste Resultate von Melde- und Lernsystemen gesehen, selbst wenn der praktische Nutzen davon manchmal nicht richtig verstanden wird. Die Rückmeldung von Benchmarkingergebnissen könnte selbst bei einem Vergleich mit einer Blindgruppe einen wesentlichen Faktor darstellen, um die Meldebereitschaft von Gesundheitsorganisationen zu erhöhen, was eine wichtige Erkenntnis über Melde- und Lernsysteme ist. Da aber die auf passiver Meldung basierenden quantitativen Zahlen meist von der Qualität des Berichtssystemaufbaus und der Sicherheitskultur in der betreffenden Organisation abhängen, könnte dies nicht als ein direkter und klarer Indikator für die Qualität und Sicherheit der bereitgestellten Gesundheitsversorgung herangezogen werden, sondern nur für ihre Berichtskultur. Die Datenqualität für bestimmte Arten von Zwischenfällen könnte auch davon abhängen, ob der Leistungserbringer im Gesundheitswesen sein Augenmerk auf bestimmte Arten von Zwischenfällen richtet, z. B. aufgrund einer aktuellen internen Kampagne oder anderen Faktoren. In Ungarn erfolgt beim NEVES-System eine sofortige und automatische Rückmeldung der Ergebnisse sowohl in Form von Datentabellen als auch visuell. Die Administratoren können über Voreinstellungen Statistiken für die bevorzugte Auswertung der gemeldeten Ereignisse festlegen. Es kann auch eine kurze Erläuterung hinzugefügt werden. Jeder Nutzer kann zudem statistische Abfragen zu seinen eigenen Daten durchführen. Es sind deskriptive Analysen, Trendanalysen und Pivot-Tabellen verfügbar, die über eine grafische Oberfläche zusammengestellt werden können. Eine weitere Analyse der eigenen Daten des Nutzers ist über die Datenexportfunktion möglich. Zur zusätzlichen Information kann in jeder Analyse der Landesdurchschnitt als mögliches Benchmarkniveau angezeigt werden. Diese Informationen (und die druckbaren Datenerfassungsbogen) sind auch nicht registrierten Nutzern zugänglich. In regelmäßig abgehaltenen Diskussionsforen ist es möglich, Feedback zu geben oder zu erhalten. Auf der Plattform veröffentlichte Fallstudien erhöhen das Verständnis von Möglichkeiten zur Qualitätsverbesserung. Im Vereinigten Königreich werden in der halbjährlichen Veröffentlichung der amtlichen Statistik über Patientensicherheit die Zahlen für jeden berichtenden Leistungserbringer im Gesundheitswesen dargestellt. 10.4. Analyse auf lokaler Ebene Zwischenfälle sollten auf der Ebene der Leistungserbringer im Gesundheitswesen analysiert werden. Es ist wichtig, dass die Analyseverfahren sich nach Art und Typ des Zwischenfalls richten. Übliche Analyseergebnisse 51 sind eine Beschreibung des Problems, Schlussfolgerungen und ein Maßnahmenplan. Das alles muss ein Berichtssystem ermöglichen. Maßnahmenpläne sind eine besonders wichtige Quelle für das Lernen; für sie sollte es im Berichtssystem eine Volltextsuche geben. 1. Beim Sequenzanalysemodell kann die Art des Zwischenfalls mit einem einfachen linearen Modell in Beziehung gesetzt werden, mit unabhängigen Ursachen, Mängeln und Fehlfunktionen. Sie ist eine gängige Analyse bei Zwischenfällen, die aufgrund eines Defekts, z. B. von medizinischen Geräten, aufgetreten sind. Ein Beispiel für eine Analysemethode in dieser Kategorie ist das „5-Why“-Modell. 2. Beim epidemiologischen Analysemodell kann die Art des Zwischenfalls mit Zwischenfällen in komplexen Organisationen in Beziehung gesetzt werden, wobei die Ursache-Wirkungs-Beziehungen untersucht werden. Es muss eine chronologische Ereigniskette oder einen chronologischen Ablauf des Zwischenfalls geben. Analysemethoden in dieser Kategorie sind u. a. die Ursachenanalyse (Root Cause Analysis –RCA), die Fehlermöglichkeits- und Einflussanalyse (FMEA), die MTO-Analyse (Man-Technique-Organisation Analysis) und die PRISMA-Methode. 3. Das systemische Analysemodell kann ergänzend zum epidemiologischen Analysemodell verwendet werden. Die Art des Zwischenfalls kann zur Variabilität in komplexen soziotechnischen Organisationen in Beziehung gesetzt werden. Der Zweck besteht darin, Risikoprozesse zu erkennen, bei denen eine Variabilität besteht, und diese durch Vorschriften zu reduzieren. Zu den Analysemethoden in dieser Kategorie gehört das FRAM-Modell (Functional Resonance Analysis Model). Tabelle 9: In den Ländern verwendete Analysemethoden Analysemodell Methode Analyse auf lokaler oder regionaler Ebene Sequenzanalysemodell 5 Why Epidemiologisches Analysemodell Ursachenanalyse Lettland (in einem Krankenhaus) Österreich, Belgien, Zypern, Tschechische Republik, Dänemark, Ungarn, Italien, Lettland (in einem Krankenhaus), Luxemburg, Slowenien, Spanien, Schweden und Vereinigtes Königreich. Luxemburg Belgien, Luxemburg Belgien, Dänemark, Lettland (in einem Krankenhaus), Luxemburg und Schweden NITHA* Alarmmethode PRISMA Fehlermöglichkeits- und Einflussanalyse (FMEA bzw. HFMEA) Analyse auf zentraler Ebene 52 Systemisches Analysemodell Andere Modelle FRAM (Functional resonance analysis model) Beschreibende Statistik Dänemark Ungarn und Spanien Dänemark, Ungarn Spanien Aggregierte qualitative Dänemark Vereinigtes Analyse Ungarn (geplant) Königreich, Spanien Dänemark *Schweden: Nationaler IT-Support für die Ursachenanalyse von unerwünschten Ereignissen und eine nationale Datenbank für das Lernen **Frankreich: Verwendung verschiedener Analysemethoden. Um eine hochwertige Analyse auf lokaler Ebene zu gewährleisten, sollte es dafür entsprechende Unterstützung von zentraler oder regionaler Ebene geben, z. B. in Form einer einheitlichen Methodologie, von Handbüchern, Schulungsmaßnahmen vor Ort, E-Learning-Kursen oder direktem Feedback zu eingegangenen und geprüften Meldungen. Obwohl viele Handbücher für die Durchführung einer Analyse auf lokaler Ebene in Englisch verfügbar sind, ist es – für den Aufbau eines bestimmten Systems in einem nicht englischsprachigen Land – meist nötig, ausgewählte Schulungsunterlagen zu übersetzen und anzupassen, um das Lernen zu erleichtern. Im Vereinigten Königreich führen Analytiker des NRLS Daten- und Informationsabfragen auf Grundlage der Analysetabellen des NRLS durch, um Informationen und Analysen zur Unterstützung der Arbeit im Bereich der Patientensicherheit zu liefern. Die Analyse von Patientensicherheitszwischenfällen im NRLS umfasst mehrere Arten von Tätigkeiten und Stufen: Programmierung von Suchanfragen zu bestimmten Arten, Versorgungsbereichen und Besonderheiten von Zwischenfällen, quantitative Analyse von Mustern und Trends und eingehende Prüfung einzelner Zwischenfälle durch klinische Experten und Patientensicherheitsexperten. Die quantitative und qualitative Datenanalyse des NRLS wird für verschiedene Zwecke durchgeführt: • für NHS-Organisationen in ganz England und Wales zwecks Benchmarking bzw. Vergleich von lokalen und nationalen Daten; • für die Studie oder Veröffentlichung durch eine nationale Organisation wie das Nationale Institut für Gesundheit und klinische Exzellenz (NICE – National Institute for Health and Clinical Excellence), die Arzneimittelbehörde MHRA (Medicines and Healthcare Products Regulatory Agency), Universitäten und Royal Colleges; • zur Beantwortung parlamentarischer Anfragen; • zur Beantwortung von Medienanfragen; • zur Beantwortung von Anfragen von Einzelpersonen der Bevölkerung gemäß dem Gesetz über die Informationsfreiheit; und • zur Information anderer Organisationen wie der Aufsichtsbehörde (CQC – Care Quality Commission). In Schweden erhalten Leistungserbringer im Gesundheitswesen bei der Charakterisierung von unerwünschten Ereignissen und der Durchführung einer Ursachenanalyse Unterstützung durch ein nationales elektronisches Tool (NITHA). Die Ergebnisse der Analysen werden in eine nationale Datenbank eingegeben. Die Hauptziele von NITHA und der Datenbank sind die Standardisierung von Ursachenanalysen und der Terminologie sowie die Förderung des Lernens. 53 10.5. Wichtige Erkenntnisse 1. Eingehende Meldungen über Zwischenfälle sollten geprüft, anonymisiert und systematisch analysiert werden. 2. Präventionsempfehlungen sollten bekannt gemacht werden. 3. Die zeitnahe Analyse und Überprüfungen sollten durch glaubwürdige Experten erfolgen. Empfehlungen: 1. Es sollte eine Trennung zwischen lokaler Analyse von Ereignissen und zentraler bzw. regionaler Überprüfung der Meldungen geben. 2. Es sollten entsprechende Ressourcen für die Analyse und Überprüfung zugewiesen werden, u. a. für Experten, die die klinische Situation und die damit verbundenen Versorgungsprozesse verstehen und für das Erkennen von zugrunde liegenden Systemursachen ausgebildet sind. 3. Keine Suche nach Schuldigen bei der Analyse auf zentraler oder regionaler Überprüfung. 4. Mit Unterstützung der zentralen Ebene sollten einheitliche Verfahren mit Beispielen für die Bearbeitung von Meldungen und den Zugriff auf Daten und Erkenntnisse eingeführt werden, um die Nutzung der Daten auf lokaler Ebene zu fördern. 5. Auf allen Ebenen sollte der Fokus eher auf der qualitativen Analyse als auf quantitativer Statistik liegen. 6. Es sollte eine möglichst zeitnahe Überprüfung jedes gemeldeten Zwischenfalls auf lokaler Ebene und eine fallweise Priorisierung von Meldungen für die zentrale Analyse erfolgen. 7. Auf zentraler Ebene sollte eine Priorisierung der eingehenden Meldungen für die Überprüfung anhand eines automatisierten Algorithmus (z. B. durch Klassifizierung) vorgenommen werden. 8. Die an der lokalen Analyse beteiligten Personen sollten eine Schulung erhalten; während der zentralen oder regionalen Überprüfung sollte es ein Feedback zur qualitativen Analyse geben. 9. Präventionsmaßnahmen sollten über bereits vorhandene Kanäle verbreitet werden. Zusätzlich zur Ausgabe eines separaten Warndokuments sollte die direkte Aktualisierung von bestehenden Leitlinien in Betracht gezogen werden. 11. Technische Infrastruktur Die erforderliche technische Infrastruktur zur Unterstützung des Berichtssystems kann sehr einfach oder ziemlich ausgeklügelt sein. Im Allgemeinen sollte das System auf die Meldung von Zwischenfällen ausgerichtet sein; nur zusammengefasste Daten zu sammeln trägt nicht zur Erfüllung des 54 eigentlichen Ziels des Melde- und Lernsystems bei. Der Schwerpunkt eines solchen Systems könnte nur auf quantitativen Statistiken liegen, die in diesem Bereich immer von vielen Faktoren beeinflusst werden. Das System sollte den Überprüfungsprozess und die Volltextanalyse der Aufzeichnungen unterstützen. Bei der Gestaltung der zentralen oder regionalen Datenbank sollte der derzeitige Stand der IT-Ausrüstung der Leistungserbringer im Gesundheitswesen berücksichtigt werden. 11.1. Automatisierung des Datenflusses Meldesysteme sind meist mehrstufig, da mehrere Organisationen am Prozess teilnehmen. Das System muss daher notwendigerweise eine effiziente Datenübermittlung zwischen den Zuständigkeitsebenen ermöglichen. Um zusätzlichen Arbeitsaufwand für das Gesundheitspersonal vor Ort oder für Qualitätsbeauftragte zu vermeiden, muss für einen automatischen Datenfluss anstatt einer manuellen Neueingabe gesorgt werden. Dies kann auf zwei verschiedene Arten geschehen: 1. Cloud-Plattform — Wenn Leistungserbringer im Gesundheitswesen kein lokales Risikomanagementsystem für die Speicherung von internen Aufzeichnungen über Zwischenfälle haben, könnte es von Nutzen sein, ein Cloud-basiertes System bereitzustellen, um die Bearbeitung von Ereignissen auf lokaler, regionaler und zentraler Ebene zusammenzuführen. Eine solche Lösung hat den Vorteil, dass die Meldungen für alle autorisierten Nutzer auf allen Ebenen sofort sichtbar sind und dass keine fehleranfällige Zusammenführung von verschiedenen Softwareanbietern unabhängig voneinander durchgeführt werden muss. 2. Zusammenführung — Wenn Leistungserbringer im Gesundheitswesen ein lokales Risikomanagementsystem für die Speicherung ihrer internen Aufzeichnungen über Zwischenfälle haben, dann werden sie ihre eigenen Systeme lieber mit der zentralen oder regionalen Datenbank zusammenführen. Dadurch lässt sich eine Umschulung ihres Personals auf eine neue Benutzeroberfläche vermeiden und die Daten bleiben innerhalb ihrer eigenen Sicherheitsdomänen. Wie immer die technische Lösung auch aussieht, sie sollte auch Patienten und ihren Angehörigen die Teilnahme ermöglichen und deshalb immer webbasierte Formulare für Meldungen von außen umfassen. Bei einem gemischten Konzept der Datenerfassung sollte die technische Lösung die Speicherung von gemeinsamen Datensätzen in einer einzigen einheitlichen Struktur und damit eine einheitliche Datenanalyse unabhängig von der ursprünglichen Datenquelle ermöglichen. Bei der Gestaltung des Systems sollte die Geschwindigkeit des Datenflusses beachtet werden. Der Bericht sollte so bald wie möglich in elektronischer Form erfasst werden, um eine einfache Bearbeitung zu ermöglichen; die Übermittlung 55 von Daten zwischen Einrichtungen oder Systemen sollte online erfolgen und nicht gesammelt. Da Breitbandinternet weithin verfügbar ist, ist die Batchübertragung von Daten aus technischer Sicht nicht mehr zu rechtfertigen und bietet keinen methodischen Vorteil gegenüber der Onlineübertragung. 11.2. Unterstützung und kontinuierliche Entwicklung Alle Systeme sollten einen technischen Support für Nutzer anbieten, die Hilfe brauchen, sei es bei Papierformularen oder Onlinemeldefunktionen. Daher sollte im Vertrag mit dem Anbieter auch angegeben werden, wie viel Arbeit (Arbeitstage) pro Monat oder Jahr für eine feste Gebühr für die weitere Systementwicklung erforderlich ist. 11.3. Sicherheitsfragen Meldungen innerhalb von Gesundheitsorganisationen sind oft sehr ausführlich und enthalten meist Informationen, die Rückschlüsse auf die betroffenen Personen erlauben. Es ist jedoch wichtig, dass solche Informationen aus allen Meldungen, die an andere nationale oder regionale Systeme übertragen werden, entfernt werden, und dass die Meldungen zum Schutz der Patienten, Dienstleistungserbringer und Meldenden anonymisiert werden. Dies ist gewöhnlich nach der nationalen Gesetzgebung eines Mitgliedstaates verpflichtend: Die Verarbeitung personenbezogener Daten ist natürlich innerhalb von Gesundheitsorganisationen möglich, es ist aber gewöhnlich verboten, solche Daten ohne Zustimmung der betreffenden Personen und ohne triftigen Grund an andere Stellen weiterzugeben. Für das Lernen ist in den meisten Fällen keine Identifizierung einzelner Personen nötig. Folglich gibt es meist keine Rechtfertigung dafür, und die Einholung einer Einwilligungserklärung ist eine unnötige Verkomplizierung. Der Schutz vor unbefugtem Zugriff auf vertrauliche Daten sollte durch ein Datenschutzsystem umgesetzt werden. Dies kann einen Prozess zur Anonymisierung von Meldungen bei deren Eingang oder bei Einleitung einer Nachfolgeuntersuchung umfassen. Neben der Gewährleistung des Schutzes personenbezogener Daten sollte es allgemeine Grundsätze der Datensicherheit (Verfügbarkeit, Integrität, Zugangsbeschränkungen) bei der Übertragung, Speicherung und Archivierung von Daten geben. Dazu gehört ein klar definiertes Service Level Agreement im Lieferantenvertrag basierend auf der erwarteten Systemverfügbarkeit. 11.4. Wichtige Erkenntnisse 1. Eine eingehende Datenanalyse sollte sowohl für Statistiken als auch einzelne Berichtsinhalte möglich sein. 2. Leistungserbringer im Gesundheitswesen sollte die Teilnahme unabhängig von ihrer IT-Ausrüstung möglich sein; Mindestanforderung könnte zumindest ein verfügbarer PC mit Internetverbindung sein. 56 3. Die Daten sollten schnellstmöglich elektronisch erfasst werden. 4. Die Onlineübertragung und gemeinsame Nutzung der Daten während der Fallbearbeitung sollten gewährleistet werden. 5. Die Datensicherheit (Verfügbarkeit, Integrität, Zugangsbeschränkung) bei der Übermittlung, Speicherung, Weitergabe und Archivierung von Daten muss gewährleistet werden. 6. Es muss für eine fortlaufende Systemverbesserung gesorgt werden. Empfehlungen: 1. Es sollten besser Daten für jeden einzelnen Zwischenfall erhoben werden als zusammenfassende Tabellen für die einzelnen Leistungserbringer im Gesundheitswesen auf zentraler Ebene. 2. Es sollte eine Technologie zur Datenanalyse zur Verfügung gestellt werden, die Benchmarking und Volltextsuche erlaubt. 3. Für technisch besser ausgerüstete Leistungserbringer im Gesundheitswesen sollten Online-Uploads und der gemeinsame Zugriff auf anonymisierte Daten möglich sein; für technisch weniger gut ausgestattete kleinere Gesundheitsorganisationen sollte es webbasierte Berichtsformulare geben. 4. Webbasierte Berichtsformulare sollten Patienten die Möglichkeit der Berichtseingabe und der Übertragung von Papiermeldungen ermöglichen. Die webbasierte Meldungen sollten bei allen Leistungserbringern im Gesundheitswesen dem Personal vor Ort als eine zentrale Stelle für interne Meldungen dienen. 5. Die wichtigsten Daten aus den verschiedenen Berichtsquellen sollten gespeichert oder einheitlich dargestellt werden können, um eine integrierte Analyse zu ermöglichen. 6. Es sollte eine automatische Verlinkung mit Spezialsystemen wie Pharmakovigilanz geben, um Mehrfachmeldungen zu vermeiden. 7. Die Batchübertragung von Daten sollte vermieden werden, um für eine schnelle Datenverarbeitung zu sorgen und den Zeitraum zwischen Meldung und zentraler bzw. regionaler Überprüfung möglichst gering zu halten. Die Datenübermittlung und Weitergabe von Daten sollte über eine gesicherte Internetverbindung erfolgen. 8. Die IT-Kapazität sollte ausreichen, um kontinuierliche Systemverbesserungen zu gewährleisten. 57 12. Ziele Meldungen sind eine Möglichkeit, an die gewünschten Informationen zu kommen, aber nicht die einzige. Die Ziele eines Berichtssystems ergeben sich aus den Anforderungen eines Patientensicherheitsprogramms. Meldungen sind ein Mittel, um an Sicherheitsinformationen zu gelangen. Ein überregionales Berichtssystem kann daher sinnvollerweise als ein Instrument betrachtet werden, Fortschritte in der öffentlichen Politik in Bezug auf die Patientensicherheit zu erzielen. Es sollte die Erweiterung eines Programms zur Qualitätsverbesserung und Fehlervermeidung sein. Um effizient zu sein, sollten die aus der Analyse von Meldungen gewonnenen Erkenntnisse in ein System eingespeist werden, durch das Änderungen in der Politik und im Versorgungsalltag erarbeitet und bekannt gemacht werden, die die Sicherheit erhöhen. Ist das Engagement für eine Verbesserung nicht sehr groß oder gibt es keine Infrastruktur für die Umsetzung der Änderungen – wie eine Behörde mit Zuständigkeit für die Erhöhung der Sicherheit – wird ein Berichtssystem nicht von großem Nutzen sein. Einfach ausgedrückt, ist es wichtiger, ein Reaktionssystem aufzubauen als ein Berichtssystem. Wenn es ein Engagement für die Erhöhung der Patientensicherheit und eine gewisse Infrastruktur gibt, aber nur geringe Ressourcen zur Verfügung stehen, dürften andere Methoden zur Feststellung von Problembereichen besser sein. Zusätzlich zur Meldung von Zwischenfällen im Bereich der Patientensicherheit sollten alle anderen Meldesysteme und Kanäle für die Datenerhebung genutzt werden. Es sollte ein Register solcher Quellen geben, wie jene für Fehler medizinischer Geräte, Beschwerden, Schadenersatzansprüche, Anträge auf Invaliditätsrenten, Untersuchungen von Todesfällen und Meldungen von unerwünschten Arzneimittelwirkungen. Auf regionaler oder nationaler Ebene sollten Mechanismen eingerichtet werden, um diese Informationen zu erfassen und die daraus gewonnenen Erkenntnisse an jene weiterzuleiten, die Maßnahmen ergreifen können. Wichtige Erkenntnisse und Empfehlungen Einen Überblick über alle wichtigen Erkenntnisse und Empfehlungen finden Sie am Anfang dieses Berichts in Kapitel 1. 58 13. Glossar Zwischenfall (Incident): Jede Abweichung von der üblichen medizinischen Behandlung, die zu einer Schädigung des Patienten führt oder bei der die Gefahr einer Schädigung besteht. Dazu zählen Fehler, vermeidbare Zwischenfälle und Gefahren. Hinsichtlich der Definition der beiden Begriffe „Zwischenfall“ und „unerwünschtes Ereignis“ gibt es einige Unklarheiten. Die Begriffe werden in einigen EU-Mitgliedstaaten gleich verwendet. Die MLS-Untergruppe hat sich dafür entschieden, in diesem Bericht „Zwischenfälle“ zu verwenden, die „unerwünschte Ereignisse“ einschließen. Unerwünschter Arzneimittelschaden (ADE – Adverse Drug Event): Durch die Anwendung bzw. Verabreichung von Medikamenten bedingter Zwischenfall. Fehler: Ein Fehler wird definiert als „ein Vorhaben, das nicht wie beabsichtigt durchgeführt wird (d. h. Ausführungsfehler) oder dem ein falscher Plan zugrunde liegt (d. h. Planungsfehler)“. Es ist zwar innerhalb von Einrichtungen manchmal üblich, alle Fehler zu melden, unabhängig davon, ob dabei ein Schaden entstanden ist, doch dies kann zu einer überwältigenden Zahl von Meldungen führen. Daher wird gewöhnlich eine Art Schwelle eingeführt, wie etwa „schwerwiegende“ Fehler oder solche, die zu Schäden führen können (auch „Beinaheschäden oder „Beinaheunfälle“ genannt). Die Einführung einer solchen Schwelle für ein Berichtssystem kann sich als schwierig erweisen, daher handelt es sich bei den meisten „Fehlermeldesystemen“ eigentlich um Systeme zur Meldung von „Zwischenfällen aufgrund von Fehlern“. Ereignis: Jede Abweichung von der üblichen medizinischen Behandlung, die zu einer Schädigung des Patienten führt oder bei der die Gefahr einer Schädigung besteht. Dazu zählen Fehler, vermeidbare Zwischenfälle und Gefahren. Fehlermöglichkeits- und Einflussanalyse (FMEA bzw. HFMEA – (Healthcare) Failure Mode and Effect Analysis): Eine FMEA ist häufig der erste Schritt einer Systemanalyse. Dabei werden möglichst viele Komponenten, Systemgruppen und Untersysteme überprüft, um Fehlerarten, ihre Ursachen und Wirkungen zu erkennen. Für jede Komponente werden die Fehlerarten und ihre Wirkung auf das restliche System in einem spezifischen FMEA-Arbeitsblatt aufgezeichnet. Die FMEA ist im Prinzip eine Vorwärtsanalyse; die Fehlerwahrscheinlichkeit kann jedoch nur geschätzt oder durch das Verstehen des Fehlermechanismus reduziert werden. Bei dem Unfallentstehungsmodell FRAM (Functional Resonance Accident Model) wird davon ausgegangen, dass negative Behandlungsergebnisse auf unerwartete Kombinationen der normalen Variabilität von Systemfunktionen zurückzuführen sind. Mit anderen Worten sind es die engen Verknüpfungen, die zu negativen Ergebnissen führen, und nicht die Abfolge von Ursache(n) und Wirkung(en). Da hierbei außerdem nach Systemfunktionen anstatt nach Strukturen gesucht wird, ist es weniger problematisch, wenn sich eine genaue 59 Beschreibung als schwierig erweist. Funktionen können sich im Laufe der Zeit ändern, während Systemstrukturen dauerhafter sein müssen. Funktionen sind mit der sozialen Arbeitsorganisation und den Anforderungen einer spezifischen Situation verbunden. Strukturen sind mit physischen Systemen und der Ausrüstung verbunden, die sich nicht von einer Situation zur nächsten ändern. Gefahren und unsichere Zustände: Die Meldung von Gefahren oder „vorprogrammierten Unfällen“ ist eine weitere Möglichkeit der Prävention, ohne dass erst ein Schaden eintreten muss, um daraus zu lernen. Wenn die Gesundheitsversorgung so sicher wäre wie einige andere Branchen, würde es mehr Gefahrenmeldungen – potenzielle Ursachen für Zwischenfälle (im Gegensatz zu Beinaheschäden, die tatsächliche Fehler sind) – als Meldungen von tatsächlichen Ereignissen geben. Von allen größeren Systemen ist das System für arzneimittelbedingte Ereignisse des Instituts für sichere Medikamentenanwendung (ISMP – Institute for Safe Medication Practices) am erfolgreichsten bei der Erfassung von Gefahren (z. B. Verwechslung ähnlich klingender („Sound-alike“) oder ähnlich aussehender („Look-alike“) Medikamente) und der Forderung von Abhilfemaßnahmen zur Vermeidung eines vorhersehbaren Fehlers. Innerhalb einer Gesundheitsorganisation erhöhen Gefahrenmeldungen die Wachsamkeit für unsichere Zustände, so dass sich Leistungserbringer im Gesundheitswesen durch die Wahrnehmung von Systemschwächen und ihre praktische Erfahrung vorprogrammierte Unfälle vorstellen können. Mit der entsprechenden Analyse können diese Meldungen wertvolle Informationen für Systemänderungen liefern. Latenter Fehler (oder latentes Versagen): Ein Mangel in der Planung, Organisation, Ausbildung oder Wartung in einem System, der zu Anwenderfehlern führt und dessen Auswirkungen sich normalerweise erst nach einiger Zeit zeigen. Es sind zahlreiche andere Begriffe gebräuchlich: negative Ergebnisse, Pannen, unerwünschte oder unerwartete Ereignisse usw. Die WHO hat die Entwicklung einer internationalen Taxonomie für Patientensicherheit in Auftrag gegeben, um eine stärkere Standardisierung der Terminologie und Klassifizierung zu fördern. Bis dahin verwenden wir für diesen Bericht die einfacheren Begriffe Fehler, Gefahren und Zwischenfälle. Mensch-Technik-Organisations-Analyse (MTO – Man-TechnologyOrganisation analysis): Bei der MTO-Analyse wird explizit betrachtet, wie durch die Wechselwirkung von menschlichen, organisatorischen und technischen Faktoren ein Risiko entsteht, wodurch sich erklären lässt, wie es zu bisherigen Unfällen gekommen ist. Die grundlegenden Fragen in der Analyse lauten, wie die Fortsetzung der Unfallsequenz verhindert werden hätte können und was die Organisation in der Vergangenheit tun hätte können, um den Unfall zu vermeiden. Der letzte Schritt in der MTO-Analyse besteht darin, Empfehlungen zu erarbeiten und auszusprechen. Diese sollten technischer, menschlicher und organisatorischer Art sein. Die MTO-Analyse liefert daher eine genaue Beschreibung und Erklärung von Faktoren, die entweder zum Unfall geführt oder dazu beigetragen haben. 60 „Beinaheschaden“ oder „Beinaheunfall“: Ein „Beinaheschaden“ oder „Beinaheunfall“ ist ein schwerwiegender Fehler oder Unfall, der zu einem Zwischenfall führen kann, aufgrund glücklicher Umstände oder durch rechtzeitiges Eingreifen aber noch verhindert wurde. Es wird angenommen (ist jedoch nicht erwiesen), dass die zugrunde liegenden Systemmängel für Beinaheschäden dieselben sind wie für tatsächliche Zwischenfälle. Daher sollte das Verständnis ihrer Ursachen zu Änderungen der Systemgestaltung und damit zu einer höheren Sicherheit führen. Ein wesentlicher Vorteil eines Berichtssystems für Beinaheschäden ist, dass hier für den Meldenden keine Gefahr einer Schuldzuweisung oder eines Verfahrens besteht, weil es zu keiner Schädigung gekommen ist. Die betreffende Person dürfte vielmehr Lob dafür verdienen, dass ein Fehler verhindert und eine Schädigung abgewendet werden konnte. Dieser positive Aspekt des Meldens von Beinaheschäden hat dazu geführt, dass von einigen Seiten empfohlen wird, in Gesundheitsorganisationen oder anderen Gesundheitseinrichtungen, in denen nach wie vor eine Kultur der Schuldzuweisung besteht, ein internes System für die Meldung von Beinaheschäden einzuführen. Allerdings wird jedes Krankenhaus, dem ernsthaft etwas daran liegt, aus Fehlern zu lernen, auch zur Meldung von Beinaheschäden auffordern. Potenzieller Zwischenfall: Ein schwerwiegender Fehler oder Unfall, der zu einem Zwischenfall führen kann, aufgrund glücklicher Umstände oder durch rechtzeitiges Eingreifen aber nicht dazu geführt hat oder noch verhindert werden konnte (auch Beinaheschaden oder Beinaheunfall genannt). Vermeidbarer Zwischenfall: Ein Zwischenfall, der durch einen Fehler oder andere System- oder Ausrüstungsmängel verursacht wird. MLS: Melde- und Lernsystem für Zwischenfälle Bei der Ursachenanalyse (RCA – Root Cause Analysis) geht man davon aus, dass negative Ergebnisse als Folge einer oder mehrerer Sequenzen von Ereignissen oder einer Kette oder mehrerer Ketten von Ursachen und Wirkungen beschrieben werden können. Es wird daher versucht, die eigentliche(n) Ursache(n) herauszufinden, indem der Unfall zurückverfolgt wird, was die Rückverfolgbarkeit des Systems voraussetzt. Die Methode erfordert zudem ein nur lose gekoppeltes System, da man sich sonst nicht sicher sein könnte, dass es durch die Korrektur oder Beseitigung der Ursache nicht wieder zu diesem Unfall kommt. Sicherheit: Bewahrung des Patienten vor unbeabsichtigten Schädigungen. Sentinel Events: Besonders schwerwiegende Zwischenfälle, die möglicherweise auf eine grobe Fehlfunktion des Systems schließen lassen und die zum Tod oder einer schweren Schädigung des Patienten führen sowie einen Vertrauensverlust der Bevölkerung in das Gesundheitswesen bewirken können. Aufgrund der Schwere des entstandenen Schadens reicht ein einmaliges Auftreten für eine sofortige Untersuchung aus, um festzustellen, welche Faktoren dazu geführt oder beigetragen haben, und um entsprechende Abhilfemaßnahmen durch die Organisation einzuleiten. 61 System: Eine Gesamtheit von ineinandergreifenden Elementen (Menschen, Prozesse, Ausrüstung), die zur Erreichung eines gemeinsamen Ziels interagieren. 14. Referenzdokumente Weltgesundheitsorganisation: WHO Draft Guidelines for Adverse Event Reporting and Learning Systems — from information to action, 2005 veröffentlicht 1 Empfehlung des Rates vom 9. Juni 2009 zur Sicherheit der Patienten unter Einschluss der Prävention und Eindämmung von therapieassoziierten Infektionen (2009/C 151/01) 2 EUNetPas Library – Verzeichnis der Melde- und Lernsysteme in der dänischen nationalen Behörde für Patientenrechte und Beschwerden, 2013 aktualisiert 3 Europarat, Ministerkomitee: Empfehlung Rec(2006)7 des Ministerkomitees an die Mitgliedstaaten über den Umgang mit der Patientensicherheit und die Verhinderung von unerwünschten Ereignissen im Gesundheitswesen (angenommen vom Ministerkomitee am 24. Mai 2006 auf der 965. Sitzung des Komitees der Ministerbeauftragten). 4 5 European Federation of Nurses Associations (Europäischer Berufsverband für Pflegeberufe). Bericht über die Umsetzung der Richtlinie 2010/32/EU zur Vermeidung von Verletzungen durch scharfe/spitze Instrumente im Krankenhaus- und Gesundheitssektor. http://www.efnweb.be/wpcontent/uploads/2013/12/EFN-Report-on-Sharps-Injuries-DIR32Implementation.pdf 62