Dieses Manuskript stimmt nicht unbedingt mit dem Wortlaut der Sendung überein. Es darf nur zur Presse- und Hörerinformation verwendet und nicht vervielfältigt werden, auch nicht in Auszügen. Eine Verwendung des Manuskripts für Lehrzwecke sowie seine Vervielfältigung und Weitergabe als Lehrmaterial sind nur mit Zustimmung der Autorin/des Autors zulässig. hr2-kultur – Camino – Religionen auf dem Weg Sonntag, 30.07.17, 11.30 – 12.00 Uhr Die Lust am Tabubruch Was hält eine Gesellschaft zusammen? Von Michael Hollenbach Musik Instrumental Max Raabe Tabu (unter O-Ton-Collage) 1. Collage: 0:25: (Hauschild)Es gibt keine Religion ohne Tabu. 9:20 (Kraft) Die Täter sind nicht daran interessiert, dass ihr Tabubruch aufgedeckt wird. 9:00 (Ates) es gibt so viele Dinge, die immer gegen den mainstream erkämpft werden mussten. 23:30: (Kraft) Eine tabulose Gesellschaft gibt es nicht Höcke: wir Deutschen sind das einzige Volk, das sich ein Denkmal der Schande in das Herz seiner Hauptstadt gepflanzt hat. 2:50. (Schlobinski) Tabubruch. Das ist ein bewusster und geplanter 11:30: (Kraft) Tabus wird es immer geben. Musik Max Raabe: Tabu, Tabu, Tabu 2. 0:45: (Kraft) Tabus sind Meidungsgebote, deren Übertretung mit Ausschluss aus der Gemeinschaft bedroht ist. Der Kölner Psychiater Hartmut Kraft. 3.0:55: Und das wichtige dabei ist der zweite Teil: Dass eine Gemeinschaft bei Übertretung eines Meidungsgebotes mit Ausschluss droht. Dann geht es doch um was Wichtiges. (..) Es geht um die Identität der Gemeinschaft, die sich mit Tabus schützt und klar stellt: was gehört zu uns, was gehört nicht zu uns, und dementsprechend einen Tabubrecher mit dem Ausschluss bedroht. So wird in der katholischen Kirche exkommuniziert, wer zum Beispiel das Beichtgeheimnis verletzt, aktiv an einer Abtreibung beteiligt ist, wer sich der Häresie, der Apostasie oder des Schismas schuldig macht. Musik traditionelle Hawaii-Musik Tabu – der Begriff tauchte im europäischen Raum zum ersten Mal Ende des 18. Jahrhunderts auf. Der englische Seefahrer James Cook entdeckte in Polynesien das religiöse Konzept des Tabus: 4. 1:00 (Menter)Das Tabu oder Kapu ist ein Verbot. Eigentlich eine Kennzeichnung von den Menschen, Bereichen, Tätigkeiten, die dem Heiligen zugeordnet werden, die in Bezug zu dem Göttlichen stehen, und die für viele Menschen gefährlich sein können und mit denen sie sich nicht konfrontieren sollten. Ulrich Menter ist Mitarbeiter des Stuttgarter Lindenmuseums für Völkerkunde. Das Tabu könne man nicht von dem Begriff des Mana trennen, sagt der Hawaii-Experte 5. 1:45: (Menter) Mana ist eine in ganz Ozeanien verbreitete Vorstellung einer besonders wirksamen Kraft, einer spirituellen Essenz, die sich vom Göttlichen herleitet und die auch Menschen innewohnen kann, und es notwendig macht, diesen Menschen auf besondere Art zu begegnen. Auf Hawaii seien – nach den religiösen Vorstellungen - die traditionellen Oberhäupter früher mit sehr viel Mana ausgestattet gewesen: 6. 2:25: (Menter) Was sich dadurch erklärte, dass sie sich von den Göttern herleiteten. Sie stammten letztlich von der göttlichen Sphäre ab. Das bedeutet, dass der Umgang mit ihnen und auch ihr Umgang mit den anderen Menschen mit sehr vielen Regeln besetzt war. Die Dinge, die sie berührten, wurden tabu, sie selbst waren kapu, Kleidungsstücke, besondere Gegenstände waren kapu, also durfte auch von anderen nicht gehandhabt werden. 7. 0:25: (Hauschild)Es gibt keine Religion ohne Tabu. Im ursprünglichen Wortsinn heißt es Außerordentlich und jede Religion arbeitet mit dem Außerordentlichem. Der Ethnologe Thomas Hauschild ist Gastprofessor am Exzellenzcluster "Religion und Politik“ der Uni Münster. 8. 12:40: (Hauschild) Tabus sind Ordnungen, sie bieten im Alltag eine Orientierung. So wie im Judentum: 9. 0:30 (Ahrens) Wir haben Beispiele aus der Zeit des Tempels: was ist heilig, was ist profan; was zum Tempeldienst gehörte, durfte nicht zu profanen Zwecken genutzt werden: wir haben Beispiele der rituellen Reinheit und Unreinheit (…): In Bezug auf Sexualität: wenn eine Frau in der Periode ist, dann darf der Mann mit ihr keine sexuellen Beziehungen haben. Als besonderes Beispiel, was im Judentum tabu ist, führt der Darmstädter Rabbiner Jehoschua Ahrens die Speisevorschriften an: 10. 2:35. (Ahrens) Es geht hier vor allem um den tierischen Konsum. Das hat was mit Ethik und Moral zu tun. Tiere sind auch Lebewesen wie wir, die haben auch Seelen wie wir. Ich darf mich der Tiere nicht einfach als Objekt bedienen, als Sache, die ich einfach so benutzen darf, sondern da gibt es klare Regeln und Tabus. In der Tora, im dritten Buch Moses, steht, dass nur Tiere, die zweigespaltene Hufe haben und Wiederkäuer sind, als koscher gelten. Außerdem das Fleisch nicht blutig sein. Deshalb muss es geschächtet werden. 11. 3:10(Ahrens) Eigentlich haben wir im Judentum das Ideal des Veganismus. Das sieht man in der Schöpfungsgeschichte bei Adam und Eva, dass wir nur Grünzeug essen dürfen. Erst später nach der Geschichte mit Noah durfte das erste Mal Fleisch konsumiert werden, aber dieser Fleischkonsum ist nur in einem bestimmten Rahmen, es gibt nur bestimmte Tiere, die gegessen werden dürfen, und es dürfen nur Tiere sein, die gezüchtet wurden für den Verzehr Das heißt, es darf keine Jagd geben, es darf kein Töten von Tieren aus Spaß geben. Der orthodoxe Rabbiner sieht die Jahrtausende alten Vorschriften zum koscheren Essen durchaus im Einklang mit postmoderner Ernährung: 12. 9:00 (Ahrens)Jemand, der nur koschere Dinge konsumiert, der wird bewusster konsumieren. Der wird schauen, wo kommt das her, wie wird das produziert, und dieses Bewusstsein ist ja was, was ein Trend wird. Also: nicht alles in sich hineinfrisst, was da ist, sondern dass man genau überlegt, wie wird unser Essen produziert. Tabus in den Religionen wurden oft schriftlich niedergelegt – zum Beispiel in den Zehn Geboten. Doch das ist nicht immer der Fall: 13. 1:44. (Kraft) Tabus haben ein breites Spektrum der Vermittlung: Es reicht von lautstark diskutierten Tabus wie in Deutschland das Antisemitismustabu, aber es geht bis zu nonverbalen Tabus, wo zum Beispiel in einer Familie klar gestellt wird durch Räuspern, durch Heben der Augenbraue, durch Verlassen des Raumes, dass dieses Thema jetzt nicht erwünscht ist. Zum Beispiel das Thema der nationalsozialistischen Vergangenheit innerhalb einer Familie. Alexandra Senfft hat diesen Tabubruch gewagt. Sie ist die Enkeltochter von Hanns Ludin. Der SA-Mann war in der Slowakei verantwortlich für den Tod von 60.000 deportierten Juden. Erika Ludin, das älteste Kind von Hanns Ludin und die Mutter von Alexandra Senfft, wurde nie mit den Verbrechen und der Todesstrafe für ihren Vater fertig. Sie wurde zur Alkoholikerin und starb mit 64 Jahren. Auch Alexandra Senfft fiel es früher schwer, mit ihrer Mutter über deren Nazi-Vater zu sprechen: 14. 47:25 (Senff) Weil ich merkte, (..) dass, wenn ich sie auf ihn ansprach, sie sofort betroffen war oder sogar weinte, damit nicht umgehen konnte; ich folglich also gelernt habe: das ist so ein Tabuthema, das fasst du lieber gar nicht an. Bei vielen Kindern und Enkelkindern von Nazi-Verbrechern endet an diesem Punkt die Auseinandersetzung, das Nachfragen, das Bohren. Nicht so bei Alexandra Senfft. Doch auch sie kostete es Überwindung, weiter zu fragen, zumal sie ein gutes Verhältnis zu ihrer Großmutter hatte, der Frau des NSVerbrechers Hanns Ludin: 15. 1:06:55 (Senff) Für mich war es das Schwierigste, die Angst, meine Familie zu verlieren im Laufe des Prozesses; (…) ich habe auch gemerkt, ich muss mich von vielen Idealen, die ich in Bezug auf meine Familie habe, trennen. Für einige Familienmitglieder wurde der Opa Hanns Ludin vom nationalsozialistischen Täter, de facto verantwortlich für den Tod von 60.000 Juden, zu einem Opfer, der von der Allierten gehängt worden war. Bis heute gebe es in ihrer Familien – und das ist typisch für viele Familien von Nazi-Tätern – eine Art Apologetik: 16. 16:55 (Senff) Die Vorstellung, mein Großvater sei sich der Konsequenzen seines Handelns nicht bewusst gewesen, hält sich in meiner Familie hartnäckig. Schließlich gibt es auch keine eindeutige Aussage von ihm, dass er die Vernichtung der Juden bewusst in Kauf genommen hat, und er gehörte auch nicht zu denen, die an der Grube standen und schossen und das Gas aufdrehten. Wie kann man ihn für schuldig erklärten? Bis heute gelte für viele Familienangehörige der Spruch ihrer Oma: 17. 15:55: (Senff) Ein guter Mensch kann doch keine Verbrechen begehen. Alexandra Senff hat ein Buch über ihren Großvater geschrieben. Nicht alle in ihrer Familie fanden das gut. Doch für einige war es auch eine Befreiung von der dunklen Last des Tabus. Musik Der Psychiater Hartmut Kraft, der ein Buch über „Die Lust am Tabubruch“ geschrieben hat, betont, Tabus seien eigentlich sehr wichtig für eine Gesellschaft. Aber: 18. 17:55. (Kraft) Tabus, die überflüssig geworden sind wie zum Beispiel die verkrustete Sexualmoral der Nachkriegsära, in diesem Zusammenhang können wir sagen, dass Tabubrüche notwendig sind, um einen Entwicklungsprozess in Gang zu setzen zu einer freieren Gesellschaft. Wann ein Tabu zur Disposition steht, merkt man oft an den Reaktionen der Betroffenen: 19. 22:30: (Kraft) Es ist immer ein recht positiver Schritt, wenn aus einem Tabu ein Streitthema wird, über das öffentlich gestritten, diskutiert werden kann. Das sieht der Ethnologe Thomas Hauschild ganz ähnlich. Tabus würden die Ordnung einer Gruppe, einer Gesellschaft prägen, allerdings: 20. 18:20: (Hauschild)Wenn der Punkt überzogen wird, wenn zu viele Tabusierungen herrschen, dann werden menschliche Ordnungen negativ davon beeinflusst, dann muss es wieder zu eine Enttabuisierungswelle kommen. (..) es muss ein bestimmtes Maß an orientierenden und tabuisierenden Verhaltensweisen geben. Dieses Maß sei im Islam aber längst überschritten, sagt Seyran Ates. Die Feministin und Rechtsanwältin hat kürzlich in Berlin die liberale Ibn-Rushd-Goethe-Moschee gegründet. Aus Sicht des konservativen islamischen Mainstreams hat sie dabei gleich mehrere Tabus gebrochen: 21. 3:30: (Ates) Das erste ist, dass wir als Männer und Frauen gemeinsam beten. Das geht gar nicht in den Augen Konservativer. Es gibt keine im Koran oder in den Hadithen nachweisbare Stelle, die das widerlegt. Wir machen nichts, was gegen unsere Religion ist. Und das Tabu ist auch, dass wir ohne Kopftuch oder mit Kopftuch - je nachdem wie die Frau das gerade möchte -, dass das beides geht, und dass eine Frau einer gemischten Gruppe vorbetet. Das sind die drei Tabus, aber das allerschlimmste, was uns als Argument entgegengebracht wird, ist, dass Frauen und Männer miteinander beten. Dementsprechend groß war die Empörung. Selbst die islamische Online-Satireseite Noktara reagierte nicht nur bissigironisch, sondern eher giftig-verletzend: SprecherIn: Im Islam gibt es Bekleidungsvorschriften, sowohl für Männer als auch für Frauen. Diese sind besonders im Gebet zu beachten, da sonst das ganze Prozedere für die Katz ist. Man geht ja auch nicht im Badeanzug zum Vorstellungsgespräch. Seyran Ates ist wenig überrascht über derartige Reaktionen: 22. 4;20 (Ates) Weil von Marokko bis Indonesien die gesamte islamische Welt extrem sexualisiert ist, die sexualisieren alles, und die sexualisieren auch den Besuch in der Moschee, und deshalb trennen sie Männer und Frauen, wo sie nur können. Männer und Frauen gemeinsam beten – das fand die Macher der Satireseite Noktara gar nicht lustig: SprecherIn: Wenn jedoch Männer und Frauen gemeinsam beten, dann hat der Vorbeter ein Mann zu sein und die Frauen stellen sich hinter den Männern auf. Das ist kein männlicher Chauvinismus, sondern eine Frage des Anstands. In einer liberalen Moschee sieht man dies jedoch anders und lässt unverschleierte Frauen vor den Augen der Männer Verbeugungen und Niederwerfungen in Miniröcken ausführen. Respekt an die Männer, die sich da noch konzentrieren können! 23. 5:50: (Ates) Es ist absurd, was an Argumenten kommt, es liegt daran, dass es Männer gibt, die Frauen immer als Sexualobjekt sehen. Das ist ihr Problem. SprecherIn: Letztlich kann man eine liberale Moschee auch daran erkennen, dass dort kein anständiger Muslim zum Beten hingehen wird. Die in Istanbul geborene Seyran Ates, die auch in der Deutschen Islamkonferenz mitwirkte, will bestimmte islamische Tabus aufbrechen: 24. 6:50: (Ates) Indem man was Anderes vorlebt. Das ist das einzige, wo man sagen kann, das führt zum Erfolg. Ich bin der Ansicht, dass das, was wir hier gemacht haben, genau der richtige Schritt ist. Nur wenn wir vorleben und zeigen, dass es anders geht, und auch den Kindern und Jugendlichen das anders erzählen, haben sie die Chance auszusuchen. Ich sage ja nicht, dass alle liberal werden müssen. Die 54-jährige Rechtsanwältin weiß aber auch, dass sie bislang nur eine kleine Minderheit im Islam vertritt: 25. 9:00 (Ates) Es gibt so viele Dinge, die immer gegen den mainstream erkämpft werden mussten. (…) es gab immer eine Bewegung, die mit wenigen Menschen begonnen hat, was dann nachher zum Mainstream wurde. Musik Ein anderes Tabuthema war Jahrhunderte lang die sexualisierte Gewalt in Familien. Der Psychiater Hartmut Kraft: 26. 8:20: (Kraft) Es bestand (…) einerseits Klarheit und offen diskutierte Einigkeit über das Verbot des elterlichen Inzest mit ihren Kindern, gleichzeitig bei dieser Klarheit bestand eine größte Verschwiegenheit über die Häufigkeit dieses Missbrauchs. Eines Missbrauchs, der nicht nur in Familien, sondern auch beispielsweise in Sportvereinen und kirchlichen Gruppen stattfand und bis in die 1980er Jahre oft unter der Decke gehalten wurde: 27. 9:00 (Kraft) Das war eine Tabuisierung der Häufigkeit des Tabubruchs. Obwohl sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche zu den großen Tabus zählt, wurden die Täter oft nicht zur Rechenschaft gezogen: 28. 9:20 (Kraft) Wir wissen ja auch, mit welcher Macht so was aufrechterhalten wird. Die Täter sind nicht daran interessiert, dass ihr Tabubruch aufgedeckt wird, und solange die Täter, die Männer, die männlich dominierte Gesellschaft die Macht hat, hat sie es geschafft, so viel Druck auszuüben, dass Zeugen eingeschüchtert waren, dass Opfer eingeschüchtert waren, und dass es nicht zur einer Verfolgung des Straftatbestandes kam. Der Jesuitenpater Klaus Mertes wagte es vor sieben Jahren, den Jahrzehntelangen sexuellen Missbrauch am Berliner Jesuitengymnasium Canisius-Kolleg öffentlich zu machen. Im Januar 2010 schrieb Mertes einen Brief an 600 ehemalige Schüler aus den betroffenen Jahrgängen der 70er und 80er Jahre. Der Jesuitenpater, der heute das Kolleg St. Blasien im Schwarzwald leitet, ermutigte mit seinem Vorgehen viele Opfer sexueller Gewalt – nicht nur am Canisiuskolleg - ihr Schweigen zu brechen. 29. 7:10 (Mertes) Das war für mich eine Selbstverständlichkeit. Wenn Sie als Schulleiter erfahren, dass vor 20, 30 Jahren mindestens 100 Jugendliche von einem Lehrer, und dann 150 von zwei Lehrern sexuell missbraucht worden sind, dann gibt es gar keine andere Antwort, als sich an die potentiell betroffenen Jahrgänge zu wenden und zu sagen: Sprecht. Innerhalb der katholischen Kirche stieß Mertes aber auch auf Kritik. Mit seinem Tabubruch würde er das Ansehen seines Ordens und seiner Kirche beschmutzen: 30. 14:20 (Mertes) Die Verwechslung beim Institutionenschutz besteht ja darin, dass man meint, die Institution zu schützen, wenn man vertuscht und verschweigt, um zu schützen. Weil man dann im Kern der Institution auch schadet, nämlich ihrer Glaubwürdigkeit. (…) Die Aufklärung hat am Ende (…) noch mal den Sinn, dass sie hilft, dass die Kirche als Institution an der Wahrheit wieder gesund wird. Denn das Ziel der Kirche kann doch nicht sein, Täter zu schützen, das Ziel der Kirche muss sein, der Wahrheit die Ehre zu geben und Opfer vor Gewalt zu schützen. Wobei Klaus Mertes betont, dass es natürlich primär um die Opfer sexueller Gewalt gehe; Glaubwürdigkeit zu erreichen, dürfe kein Selbstzweck sein. 31. 18:00 (Mertes) Man gewinnt keine Glaubwürdigkeit, wenn man Dinge tut, um Glaubwürdigkeit zu gewinnen, sondern es geht um Gerechtigkeit. Und wenn Bischöfe vertuscht haben oder verantwortlich sind für ein System, in dem vertuscht worden ist, dann geht es um Übernahme von Verantwortung: Das ist man den Opfern schuldig und im Übrigen auch dem eigenen Kirchenvolk. Sieben Jahre nach der Aufdeckung der sexualisierten Gewalt in dem Jesuiten-Internat ist Klaus Mertes von seiner Kirche enttäuscht. 32. 28:30 (Mertes) Das eine ist die Enttäuschung, was in der Vergangenheit von der Institution unterlassen wurde; das eine sind die Täter, das andere sind die, die um die Taten wussten und unangemessen reagiert haben, aber noch bitterer fand ich, wie man versucht hat, das Vertuschen zu vertuschen. Kann es denn wirklich sein, dass so viele, die in verantwortlichen Positionen in der katholischen Kirche sind, tatsächlich der Imagefrage den Vorrang geben vor der Anerkennung der Wahrheit? Und ich musste diese Frage in vielen Fällen einfach mit Ja beantworten. (…) Das war eine Enttäuschung. Kritik an seinem Vorgehen, dass er den Skandal öffentlich gemacht habe, bekommt Mertes bis heute vor allem aus rechtskatholischen Kreisen. 33. 17:15 (Mertes) Ich erlebe Widerstand bei unverbesserlichen, turbokatholischen Außenseitern, die aber leider manchmal sehr lautstark sind und die leider auch einen großen Einfluss haben auf bestimmte Bischöfe in der Hierarchie. Die innerkirchliche Kritik daran, dass er im Januar 2010 offenbar ein Tabu verletzt und nicht geschwiegen habe, sei durchaus kein Randphänomen: 34. 29:50 (Mertes) Ich denke auch an einen Satz wie den, den Papst Benedikt am Ende des Priesterjahres 2010 gesagt hat, der dann zum Januar 2010 sagte: Da hat uns im Priesterjahr der Teufel Dreck ins Gesicht geschmissen. Da hab ich mich gefragt: wen meint der denn jetzt? Das ist doch schief. Musik Tabu, Tabu, Tabu Sexualisierte Gewalt an Minderjährigen ist in allen Gesellschaften tabu. Doch manche Vorgaben, manche Normen findet man nur in bestimmten Gemeinschaften: 35. 11:30: (Kraft) Tabus wird es immer geben, weil jede Gemeinschaft sich definiert: das gehört zu uns, und dass gehört überhaupt nicht zu uns, das greift unsere Identität an. Gerade in einer multikulturellen Gesellschaft wie der deutschen sei es wichtig, Tabus unterschiedlicher Gruppen zu verstehen, meint Hartmut Kraft: 36. 24:30: (Kraft) Es gibt keine Möglichkeit über Tabus zu reden, wenn wir nicht definieren, für welche Gruppe das Tabu gilt. Und wenn wir eine multikulturelle Gesellschaft haben, dann haben wir es mit vielen Tabus zu tun, die nur für die Gruppe gelten. (..) Und je vielfältiger wir in der Gesellschaft werden, haben wir mit sehr verschiedenen unterschiedlichen Tabus der einzelnen Gruppen zu tun, die sich teilweise überschneiden, teilweise widersprechen und immer wieder ausgehandelt werden müssen. Tabus wie zum Beispiel die Vorgabe in manchen Religionsgemeinschaften wie bei den Jesiden, nur innerhalb der eigenen Gruppe zu heiraten. Wer von dieser Norm abweicht, dem droht der Ausschluss aus der Gemeinschaft, aus der Großfamilie. 37. 25:20 (Kraft) Das muss ich ja nicht teilen, aber ich denke, es ist gut für das Zusammenleben, wenn ich etwas akzeptieren kann, sofern es nicht meinem Verständnis zutiefst entgegenläuft. Und wenn es den eigenen ethischen Auffassungen widerspricht, geht es dennoch um die Einhaltung einer demokratischen Diskussionskultur. Doch die wird vor allem im Internet häufig verletzt. 38. 0:03: Intro Wort zum Sonntag Diese Erfahrung mit Hasskommentaren musste Annette Behnken machen. Vor zwei Jahren sprach die Pastorin in der ARD das Wort zum Sonntag. Das Thema: „Gender – es gibt mehr als Mann und Frau“. 39. 2:24 (Wort zum Sonntag) Die Vielfalt der Geschlechter ist keine Bedrohung, sondern eine Wirklichkeit. Schöpfung ist Vielfalt und Gott hat keinen Fehler gemacht, als er uns vielfältig schuf. (…) Weibliche Männer, männliche Frauen, das irritiert viele immer noch. Dabei kann man wissenschaftlich gar keine eindeutige Grenze zwischen männlich und weiblich ziehen. Wissenschaftler sprechen von Tausenden Geschlechtervarianten bei uns Menschen. Nachdem dieses Wort zum Sonntag auf einer Facebook-Seite diffamiert wurde, erhielt Annette Behnken in den Tagen danach rund 500 Hassmails – vor allem aus dem evangelikalen Bereich: 40. 6:36: (Behnken) Es war schon so was dabei: Verrecke! Du gehörst in eine Anstalt. Viel sexualisiertes Zeug, wer was mit mir machen soll. Ich wurde als Mann angesprochen, weil ich offenbar nicht wüsste, ob ich Mann oder Frau bin. Die Pastorin vermutet vor allem einen Grund für die heftigen Reaktionen: 41. 1:55 (Behnken) Offenbar ist es das Thema Identität, was viele aggressiv macht und wo wahrscheinlich eine große Unsicherheit bei vielen Menschen ist: nationale Identität, aber auch sexuelle Identität. Auch Seyran Ates, die Gründerin der liberalen Moschee, bekam zahlreiche beleidigende und menschenverachtende Posts. 42. 10:50: (Ates) Die Menschen trauen sich mit Fake-Namen und Fake-Accounts sehr viele Dinge zu sagen, die sie sich vorher nicht getraut hätten, weil diese Menschen sind feige, die nicht ihren Namen nennen. Vor allem über so genannte soziale Netzwerke wie facebook oder twitter erhielt sie zahlreiche Hasskommentare, die in den Religionen eigentlich tabu sein sollten. Der Rabbiner Jehoschua Ahrens: 43. 13:35 (Ahrens)Es gibt auch strikte Tabus in Bezug, wie man mit anderen Menschen umgeht. Dazu gehört auch, dass ich nicht über eine andere Person schlecht spreche, und wenn man sich in den sozialen Medien anschaut, wie ich über andere herziehen kann, Häme, wirklich böse Dinge, solche Dinge sind auch nach der jüdischen Religion verboten. Das so genannte soziale Netz forciere Enttabuisierungen im Miteinander der Menschen, beklagt der Sprachwissenschaftler Peter Schlobinski: 44. 8:00 (Schlobinski) Man hat mehr Freiheit, man ist teilweise geschützt durch die Anonymität, und das führt dazu, dass man Behauptungen aufstellt, die man vielleicht im Alltag nicht aufstellen würde und dass man auch sprachliche Register zieht: Beschimpfungen, Wörter aus der Fäkalsprache, aus dem Sexualwortschatz, die man im Alltag normalerweise gegenüber Kommunikationspartnern nicht benutzen würde. Die Bundesregierung will nun mit einem Gesetz gegen Hasskommentare in den sozialen Medien vorgehen und facebook und Co dazu veranlassen, entsprechende Posts schneller zu löschen. Das könne aber erst der Anfang sein, meint Thomas Hauschild: 45. 32:30 (Hauschild)Im Internet sind die Dinge wie losgelassen, und ich glaube nicht, dass eine menschliche Kommunität lange überleben kann, die das so losgelassen in einem großen Bereich von Öffentlichkeit laufen lässt. Ich bin mir sicher, dass es immer härter zu Regulierungen kommen wird. Denn es gibt keine Gesellschaft ohne Regulierungen der Tabuisierungen und Enttabuisierungen. 46. 9:00 (Schlobinski) Wir können schon beobachten, dass bestimmte Grenzen sich verschieben. Wenn bestimmte Tabubrüche immer häufiger auftreten, dann führt das auch zu einem bestimmten Abnutzungseffekt und dann wird die Grenze Stück für Stück weiterverschoben. Gerade bei religiösen Themen rufen Tabubrüche schnell Fundamentalisten auf den Plan, die auch vor der Androhung von Gewalt nicht zurückschrecken. 47. 27:20: (Kraft) Da wird Angst gesät, und die soll natürlich klar der Durchsetzung des Tabus dienen, und wenn es um Leib und Leben geht, dann ist man mit der Frage konfrontiert, welches Risiko will ich eingehen. Vor dieser Frage steht auch Seyran Ates. Nachdem sunnitische Religionswächter der ägyptischen Al-Azhar-Universität in einer Fatwa die Gründung liberaler Moscheen verboten hat, steht Seyran Ates unter Polizeischutz. 48. 14:15 (Ates) Das ist ein klares Zeichen für diese Verrohung, weil man weiß nicht, wohin das führen kann, wozu die fähig sind. Eine Verrohung mache sich auch im politischen Spektrum breit – vor allem im Rechtspopulismus. Der Psychiater Hartmut Kraft: 49. 15:40: (Kraft) Tabubrüche erregen (…) gerade auch in der Politik (..) zumindest Aufmerksamkeit, sie erregen Gegenwehr und insofern kann man sicher sein, wenn man Aufmerksamkeit erreichen möchte, dass es durchaus angebracht sein kann, die Tabus des Gegners, des anderen zu brechen oder auch die Tabus der eigenen Gruppe zu brechen, wenn man meint, diese Gruppe, zu der ich gehöre, hat sich in Tabus verfangen, die längst überfällig sind. Wie zum Beispiel die Dresdener Rede des AfD-Rechtsaußen Björn Höcke: 50. O-Ton: wir Deutschen sind das einzige Volk, das sich ein Denkmal der Schande in das Herz seiner Hauptstadt gepflanzt hat. 51. 2:15: (Schlobinski) Ich kann mir vorstellen, dass bezogen auf seine Wählerschicht das durchaus erfolgreich war. Wenn man das gesamtgesellschaftlich sieht, dann war das ein Schuss nach hinten und für ihn persönlich auch, weil er aus der Mitte der AfD stark angegriffen worden ist. Sagt Peter Schlobinski, Vorsitzender der Gesellschaft für deutsche Sprache. 52. 4:55 (Schlobinski) Ich finde noch interessanter die Sachen, die eher unverdächtig erscheinen. Wenn wir in den Rechtspopulismus schauen und die Grenze zum Rechtspopulismus. Damit zielt Peter Schlobinski auf einen Satz des SPDKanzlerkandidaten Martin Schulz gegen die Politik von Angela Merkel: 53. O-Ton: Martin Schulz: Ich nenne das einen Anschlag auf die Demokratie. 54. 5:10: Das ist ja auch eine starke Übertreibung und konzipiert. Man kann einen Tabubruch – einen Angriff auf die Demokratie – man kann diesen Tabubruch inszenieren und ich denke, diese kleinen unverdächtigen Äußerungen, die sind interessanter als die großen Keulen wie völkisch oder Lügenpresse. (…) Ich glaube, sie sind gefährlicher, weil da wird eine Spirale in Gang gesetzt mit einem schleichenden populistischen Sprachgebrauch, der sich in den demokratischen Institutionen durchsetzt, der mittel- und langfristig gefährlicher ist als diejenigen, die am rechten Rand die verbale Keule zücken. Musik Pe Werner: Man lügt nicht bei der Beichte Redet nie mit vollem Mund (…) Man sagt nicht "Neger" zu 'nem schwarzen Mann Eine Frau lacht sich keine jüngeren Männer an Refrain: Tabu - was man nicht dürfen darf Tabu - auch wenn man wollen würde ist man noch so scharf Tabu - Tabu Lange Zeit galt der Tabubruch als etwas Positives: verkrustete Strukturen wurden aufgebrochen, überkommende Moralvorstellungen in Frage gestellt. So mancher äußerte die Vision einer tabulosen Gesellschaft: 55. 23:30: (Kraft) Das halte ich für absoluten Unsinn. Eine tabulose Gesellschaft gibt es nicht und aus meiner Sichtweise wird es das auch niemals geben. Und auch für den Ethnologen Thomas Hauschild ist der Tabubruch durchaus zwiespältig: 56. 14:55: (Hauschild) Als Ethnologe kann ich nur sagen, dass Menschen Tabuisierung brauchen und dass es keine Menschen gibt, die ohne Tabuisierungen leben und jede Bewegung, die eine Enttabuisierung einleitet, wird beantwortet durch eine Bewegung, die neue Tabuisierungen setzt. Event. trad. Hawaiianische Musik drunter legen Wie wichtig Tabus sein können, zeigt das Ende der hawaiianischen Religion. Der Ethologe Ulrich Menter berichtet über die radikalen Veränderungen auf Hawaii um 1820: 57. 9:10: (Menter) Als der erste König Kamehameha (..) starb, kam es zu einer Situation, in der seine Witwe zusammen mit seinem Nachfolger, seinem Sohn, ein ganz zentrales Tabu ganz bewusst gebrochen hat: das war eine Speisetabu, das ein gemeinsames Speisen von Männern und Frauen, das in der Religion untersagt war, eine religiöse Regel, und dieser folgenlose Bruch des Tabus hat letztlich zur Auflösung der traditionellen Religion geführt, man hat Tempel zerstört, es sind Götterskulpturen vernichtet worden. Damit war die offizielle Religion, die von den Priestern vertretene Religion, aufgelöst. Musik hoch und abwürgen 58. 10:00: (Menter)Man hat dem ganzen System die Grundlage entzogen. Durch die Aufhebung des Tabus war das Verhältnis zwischen Menschen und Göttern aufgehoben. Stattdessen setzten Missionare im 19. Jahrhundert ihre Religion durch: das Christentum - mit eigenen Tabus. Musik: Pe Werner Es gibt 'ne Menge Kurioses auf der Welt Erlaubt ist doch nicht alles was gefällt Eine Frau liebt keine Frau und ein Mann keinen Mann Und wen der Papst in Rom liebt geht keinen was an Tabu - was man nicht dürfen darf Tabu - auch wenn man wollen würde ist man noch so scharf Tabu - Tabu