INHALT - Land Tirol

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INHALT
0.
EINFÜHRUNG.................................................................................................................4
1.
VORÜBERLEGUNG - "KAMPF DER KULTUREN" UND "EURO-ISLAM"..... 6
2.
ISLAM IN DEUTSCHLAND......................................................................................... 8
3.
ISLAM, RELIGIÖSITÄT UND INTEGRATIONSCHANCEN .............................. 36
5.
FAZIT - EURO-ISLAM ALS EMPIRISCHER TATBESTAND?........................... 45
LITERATUR .......................................................................................................................... 47
3
4
0
Einführung
Die Bedeutung des Islam in Europa wächst mehr und mehr. Dies ist nicht allein der steige nden Zahl der Muslime geschuldet, sondern auch der Tatsache, dass die Auseinandersetzung
mit der "fremden" Religion seit dem 11. September 2001 eine neue Qualität bekommen hat.
Die Vereinbarkeit von islamischer Tradition und westlicher Moderne werden diskutiert, die
Muslime angesichts des islamisch-fundamentalistischen Terrors verstärkt zu einer Klärung
der eigenen Position veranlasst usw.
Gegenwärtig wächst in allen EU-Staaten der Bevölkerungsanteil der Muslime. Innerhalb der
Grenzen der heutigen EU gab es bis 1961 beispielsweise nur rund 140.000 türkischstämmige
Muslime, die in erster Linie als Minderheit in Griechenland lebten. Im Rahmen der Gastarbeitermigration und des Familiennachzugs wurde der Islam aber dann zu einer der großen
Religionsgemeinschaften in der EU.
Sind die Muslime in Europa integriert? Leben sie in einem Zustand kultureller Zerrissenheit?
Wie bewältigen Muslime in der Migration das Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne? Dies sind oft gestellte Fragen, deren Beantwortung je nach gesellschaftspolitischer Zielvorstellung, politischer Ausrichtung oder wissenschaftlicher Herangehensweise sehr unterschiedlich ausfallen kann. Die vorliegende Studie versteht sich als Beitrag zu dieser Diskussion und argumentiert mit quantitativ-statistischen Daten.
Letztendlich stellt sich die Frage, welche Art von Islam in Europa momentan vorherrscht und
wie er in Zukunft aussehen wird.
In allen 57 muslimisch geprägten Staaten unterscheidet sich der Islam. Dabei lebt die Großzahl der 1,2 Milliarden Muslime untereinander und mit ihren Nachbarn in Frieden. Terrorbewegungen wie die FIS in Algerien, die Muslimbruderschaft in Ägypten, die Taliban in Afghanistan und der islamische Fundamentalismus in der Türkei stehen nicht für den Islam als
Ganzes, erwecken aber große Befürchtungen vor den Muslimen insgesamt. In der EU prägen
die Kaplan-Bewegung oder fanatische Muslime in Spanien ein negatives Bild des Islam.
Die Lebenswirklichkeit der Muslime ist indessen eine andere. Innerhalb Europas ist ein Islam
europäischer Prägung entstanden, der sich nach den Normen der Industriegesellschaft ric htet.
Aber ist diese Entwicklung als sich etablierender "Euro-Islam" zu interpretieren, der oftmals
postuliert wird? Unsere hier vorgestellten Befunde belegen, dass die Entwicklung eines
migrationsspezifischen, angepassten Islamverständnisses durchaus empirische Substanz hat.
5
Der Islam in der Migration unterliegt einem dynamischen Wandel, dessen Endprodukt ein
Islamverständnis sein könnte, das sich von nicht-pluralistischen Traditionslinien der Religionsentwicklung deutlich emanzipiert. Diese Erkenntnis ist um so bemerkenswerter, als diese
Entwicklung seitens der deutschen Aufnahmegesellschaft bisher kaum aktiv gefördert wurde.
Die quasi erzwungene Modernisierung der Lebensweisen in der Migration hat ebenso wenig
in einer Verfestigung eines traditionellen Religionsverständnisses wie in einer Abkehr vom
Islam resultiert - sondern in religiös-kulturellem Wandel. Dies bedeutet, dass eine aktive Förderung eines europäischen, pluralistischen Islam bei den muslimischen Migranten in Europa
auf fruchtbaren Boden fallen würde und damit aus integrationspolitischer Sicht mehr als lo hnend erscheint. Es gibt Bewegung, und diese Bewegung deutet für die absolute Mehrheit des
Muslime nicht in Richtung der Einigung unter dem Dach von Fundamentalismus oder Islamismus.
Allerdings müssen die islamischen Organisationen in Europa diesen Wandel ihrer Klientel
deutlich entschlossener mitvollziehen und theologisch begleiten als es bisher der Fall ist. Ein
Euro-Islam entwickelt sich, er ist aber noch nicht in dem Sinne integriert, als sich das Problem
der kulturellen Zerrissenheit für seine Angehörigen nicht mehr stellen würden.
Das ZfT führt im Jahr 2004 zum Thema verschiedene Veranstaltungen durch, so in Kooperation mit der Friedrich-Ebert Stiftung in Deutschland und dem Renner-Institut in Österreich.
Auch in den Niederlanden, in Frankreich und in der Türkei beteiligt sich das ZfT an der Debatte. Die vorliegende Studie ist Arbeitsgrundlage des ZfT für die Förderung eines europäischen Islam.
Faruk Sen, Direktor der Stiftung Zentrum für Türkeistudien
6
1.
Vorüberlegung - "Kampf der Kulturen" und "Euro-Islam" 1
Die Wirkung von Samuel P. Huntingons These des "Clash of Civilizations" war und ist, obwohl sie Mitte der 90er Jahre, als sie zuerst formuliert wurde, 2 zunächst auf Ablehnung gestoßen war, doch außerordentlich breit. Nun scheint sie nicht nur nach dem 11. September, sondern umso mehr angesichts des indisch-pakistanischen oder des israelisch-palästinensischen
Konflikts neue Nahrung zu erhalten, werden doch hier religiös-kulturelle Grenzen und politische Gegensätze zunehmend deckungsgleich und bestimmend für die internationale Politik,
wo die sogenannte "Allianz gegen den Terror" zunächst noch kultur- und religionsübergreifend geschmiedet werden konnte. Andererseits zeigen die Konflikte im Irak und in Afghanistan, dass die Trennlinien mitunter auch innerhalb der Kulturen verlaufen können
Huntingtons Szenario, unabhängig von der Frage seines Erklärungswerts und seiner Plausib ilität, beschreibt den Extrempol in der Interpretation kultureller Konflikte: kulturelle Konflikte
als Aufeinanderprallen etwa von westlicher Moderne und kulturellen Bezugsystemen, die sich
dieser Moderne widersetzen, originär andere Wertesysteme aufweisen und selbständige Entwicklungswege einschlagen. Die Gegenposition zu Huntington, in den letzten Jahren weniger
dezidiert verfochten, lautet in zugespitzter Form: Die Betonung kultureller, religiöser oder
ethnischer Eigenheiten seitens bestimmter Gruppen der Weltgesellschaft sind Symptom ma ngelnder Teilhabe an den positiven Effekten der Globalisierung. 3
Zwischen Huntington und Weltgesellschaft
Diese beiden Extrempositionen sind weit von der angemessenen Erfassung der Realität entfernt: Kulturelle, religiöse und ethnische Unterschiede zwischen Menschen und Gruppen sind
1
2
3
Der vorliegende Text ist die überarbeitete, erweiterte und aktualisierte Fassung des ZfT aktuell
No. 89 (2002)
Vgl. Huntington, Samuel P.: The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order. New
York 1996.
Insbesondere Inglehard, Ronald: Changing values, economic development and political change.
In: International Social Science Journal (1995), S. 379-403, weist in einer weltweit durchgeführten Querschnittstudie nach, dass 1) der Verlauf kulturellen Wandels in allen Weltregionen einem
ähnlichen Muster folgt und 2) die Geschwindigkeit des kulturellen Wandels mit der wirtschaftlichen Entwicklung korreliert. Nach seinen Ergebnissen ist der Verlauf kulturellen Wandels nicht
beliebig - vielmehr ist in jeder Gesellschaft mit verbesserter ökonomischer Performance die zumindest tendenzielle Abwendung von traditionellen Werten und Staatsverständnissen festzustellen. Diese Ergebnisse stützen die Signifikanz der oben skizzierten Debatte und relativieren dabei
die Bedeutung der "Islamischen Moderne" als langfristige und nachhaltige gesellschaftliche Entwicklungen.
7
weder unüberwindbare Hindernisse, noch bloße Rückzugsräume und Protestformen für die im
Zuge des fortschreitenden Modernisierungsprozesses Marginalisierten. Vielmehr können sie
als individuelle und kollektive Dispositionen und Identitäten bestimmende, eigenwertige Faktoren sowohl Ursache für gesellschaftliche Fragmentierung als auch durch ihre explizite Thematisierung und Akzeptanz eine Voraussetzung für die interkulturelle Verständigung und
Integration von Gesellschaft sein. Bassam Tibis immer wieder postulierter "Euro-Islam" gewinnt eben vor dem Hintergrund dieser Überlegungen an Gewicht. 4 Wie sieht ein Islamve rständnis aus, das zugleich identitätsstabilisierend wirkt und nicht auf Kollisionskurs mit der
"westlichen Moderne" gerät? Unter welchen Voraussetzungen kann sich ein solches Islamverständnis in den Staaten des Westens entwickeln? Und die wichtigste Frage: Gibt es empirisch
belegbare Hinweise darauf, dass ein solches Islamverständnis tatsächlich Substanz haben
könnte, oder ist der Euro-Islam nur ein akademisches Konstrukt?
Dieser letzten Frage geht der vorliegende Text nach, indem er authentische Veränderungen im
Islamverständnis der Muslime in Deutschland aufzuspüren sucht. Sind diese Einstellungsänderungen nicht vorhanden oder der Aufnahmegesellschaft nur entgangen? Letzteres ist nicht
unwahrscheinlich - im Zusammenleben von Migranten und Einheimischen, Muslimen und
Christen, sind die Verständigungsvoraussetzungen nicht immer ideal. Dies hat aber gerade in
Europa tief gehende sozialgeschichtliche Ursachen: "Die Fähigkeit, die Erfahrung von
Fremdheit zu verarbeiten und in Verhaltensformen zu übersetzen, scheint mit der Vermehrung
dieser Erfahrung nicht Schritt zu halten." - so Joachim Matthes. 5 Die Ursachen für diesen Befund verortet er in der europäischen Kulturgeschichte:
Das europäische Prinzip der kulturellen und territorialen Sortierung von Fremdem und Eigenem hat sich bis in die "tiefsten" Schichten des Alltagslebens und des Alltagswissens hinein
in die Vorstellungs- und Handlungswelt der Europäer eingelassen. Im Zuge dieser Entwic klung hat die neuzeitliche europäische Welt etwas verloren, worüber sie zuvor durchaus verfügte: ein Verständigungs- und Regelwerk für die Koexistenz mit Fremdem im "eigenen
Haus", in räumlicher Mischung. 6
Diese allgemeinen Vorüberlegungen sind notwendig, um den gesellschaftlichen Debattenkontext des Themas "Euro-Islam" abzustecken. Diese Debatte scheint Grundfragen des Zusammenlebens zu berühren, wird als Zeichen für Fragmentierung und fehlgeschlagene Integration
4
5
Siehe insbesondere Tibi, Bassam: Der Islam und das Problem der kulturellen Bewältigung sozialen Wandels. Frankfurt/Main 1991; ders.: Fundamentalismus im Islam. Eine Gefahr für den
Weltfrieden? Darmstadt 2000.
Matthes, Joachim: Wie steht es um die interkulturelle Kompetenz der Sozialwissenschaften? In:
Michael Bommes (Hg.): Transnationalismus und Kulturvergleich (IMIS-Beiträge 15/2000), S.13.
8
der Muslime in Deutschland verstanden und vor dem Hintergrund der Angst vor fundamentalistischen Strömungen in der deutschen Öffentlichkeit gar als heraufziehende Marginalisierung der politischen und sozialen Grundwerte der Mehrheitsgesellschaft gedeutet. Dabei ist
die Einschätzung der Chancen und Risiken für das Zusammenleben tatsächlich nur durch eine
genaue Betrachtung des Zusammenhangs von notwendiger ethnisch-religiöser Identitätsbestimmung, verschiedener Formen und Inhalte islamischer Glaubensrichtungen und unmittelbarer und mittelbarer Integrations- und Fragmentierungseffekte möglich. Der vorliegende
Text versteht sich als Beitrag zu dieser Diskussion.
2.
Islam in Deutschland
In der bundesdeutschen Öffentlichkeit und in der einschlägigen Literatur wird häufig davon
ausgegangen, dass Integrationsprobleme auf Kultur und Religion beruhen. Nur allzu oft wird
der Islam und die Muslime mit der in einigen Ländern praktizierten radikal-fundamentalistischen Ausprägung gleichgesetzt und - insbesondere nach dem 11. September 2001 - dabei
nicht beachtet, dass in vielen islamischen Ländern seit langem (in der Türkei seit 1923) eine
Trennung zwischen Staat und Religion besteht. Trotz der inzwischen 40jährigen Migration
von Muslimen ist das Wissen über den Islam in der deutschen Öffentlichkeit gering geblieben. Allein die Annahme, alle Türken seien gläubige und praktizierende Muslime, ist schon
falsch. Dabei untergliedern sich die Muslime in mindestens ebenso viele unterschiedliche
Richtungen wie die Christen, mit unterschiedlichen religiösen Vorschriften, Regeln, Riten und
Maximen sowie mit unterschiedlichen Graden an Religiosität. Darüber hinaus ist im Islam die
Individualität des Gläubigen sehr viel ausgeprägter als im Christentum: Der Islam hat keine
der christlichen Kirchen entsprechende Hierarchie oder Organisationsstruktur. Verbindlich ist
lediglich der Bezug auf den Koran, seine fünf Säulen und die Überlieferungen des Propheten
Mohammed ("sunna" und "hadith"), deren Auslegung und Interpretation durch die muslimischen Gelehrten und Rechtsschulen jedoch zahlreiche Facetten aufweist. Es existieren keine
formale Mitgliedschaft und keine formalen Aufnahmeriten wie die christliche Taufe oder die
Konfirmation bzw. Kommunion, sondern man gehört dem Islam aufgrund des persönlichen
Bekenntnisses an. Allerdings trennt der Islam nicht Sakrales und Profanes, die Religion spielt
6
Ebd., S.13f.
9
so eine zentrale Rolle im Alltag der Menschen. Der Glaube hat dadurch einen prägenden Einfluss auf die Identität und das Leben der türkischen Muslime.
Das Wort "Islam" ist arabisch und bedeutet etwa "Ergebung in den Willen Gottes". Der Islam
entstand als jüngste Weltreligion im 7. Jahrhundert auf der arabischen Halbinsel. Der Religionsstifter und letzte Prophet des Islams war Mohammed (ca. 570-632), ein Händler aus Mekka, der im Alter von 40 Jahren begann, die Offenbarungen, die ihm nach muslimischem Verständnis durch den Erzengel Gabriel von Allah (Gott) gesandt wurden, unter seinen Anhä ngern zu verbreiten. Mit der Verbreitung des Islam und den göttlichen Weisungen als Rechtsgrundlage baute er gleichzeitig einen islamischen Staat auf und einte Arabien.
Islam und Christentum - für viele gelten diese beiden Religionen als grundverschieden. Dabei
ist den meisten nicht bekannt, dass der Islam wie das Christentum und auch das Judentum
eine abrahamitische Religion ist. Viele Elemente aus dem Alten Testament sind im Koran
wiederzufinden. Auf die Bereitschaft Abrahams, seinen Sohn auf Gottes Befehl hin zu opfern,
geht z.B. eines der wichtigsten islamischen Feste, das Opferfest, zurück. Gemeinsamkeiten
können auch im Alltag entdeckt werden, so sind z.B. bei den Muslimen viele auch bei den
Christen bekannte Namen gebräuchlich wie Adem (Adam), Ibrahim (Abraham), Davut (David), Cebrail (Gabriel) etc.
Zwei wesentliche Unterschiede zwischen dem Religionsstifter Mohammed und Jesus Christus
sind zu betonen: Mohammed war zugleich der religiöse und staatliche Führer; als Religionsstifter ist er lediglich Prophet Gottes, ihm selbst haftet nichts Göttliches an. Jesus, für die
Muslime ebenfalls ein anerkannter und einer der wichtigsten Propheten, gilt für die Christen
dagegen als Sohn Gottes, was Muslime deswegen nicht akzeptieren können, weil sie dies mit
dem Bruch der Einzigartigkeit Gottes gleichsetzen. Deswegen sollten sie auch nicht analog zu
Christen als Mohammedaner bezeichnet werden, sondern als Muslime (Anhänger des Islam).
Der Koran
Der Koran (arab. Lesung, Rezitation) sind die Botschaften, die Allah Mohammed offenbart
hat. Mohammeds Anhänger haben diese gesammelt und auf Arabisch niedergeschrieben. Daher ist der Koran die theologische Grundlage des Islam, mit zahlreichen Bestimmungen zur
islamischen Gesellschaftsordnung sowie zu den Pflichten des einzelnen Gläubigen.
Obwohl sich der Islam als die letztgültige Weltreligion versteht, erkennt er die vor ihm entstandenen Buchreligionen, Judentum und Christentum, und damit deren Propheten, an.
10
Der Islam trennt nicht zwischen Weltlichem und Heiligem im Lebensalltag der Menschen, die
Gebete sind Teil des Tagesablaufes und können in der jeweiligen Umgebung auf sauberem
Boden - und hier kann anstelle eines Teppichs auch eine frische Zeitung dienen - verrichtet
werden. Betont wird besonders die Bedeutung des Einzelnen innerhalb der Gemeinde der
Gläubigen (arab.: umma), die sich nur auf den gemeinsamen Glauben an Gott beruft, über alle
Stammesgrenzen und damit auch heutige Nationalitäten hinweg. Folglich ist der Islam in seinem Wesen weder nationalistisch noch rassistisch.
Aufgrund des Gleichheitsprinzips aller Muslime vor Gott gibt es keinen Priesterstand, der
zwischen Gott und den Menschen vermittelt. Es gibt nur Leiter einzelner Gemeinden (imam,
hoça), die keiner besonderen Weihe bedürfen, aber nach orthodoxer Praxis eine theologische
Ausbildung haben sollten, um ihr Amt ausüben zu können.
Moscheen
Ein gläubiger und praktizierender Muslim betet fünfmal am Tag zu festgelegten, aber u.U.
flexibel zu handhabenden Tageszeiten. Das Gebet wird in Richtung der Stadt Mekka verrichtet, die das größte Heiligtum des Islams, die Kaaba (ein würfelartiger Bau, der von einer Moscheeanlage umgeben ist), beherbergt und auch Geburtsstadt des Propheten Mohammed ist.
Vor dem Gebet findet, gemäß den Weisungen des Korans und dem Vorbild des Propheten
Mohammed, eine rituelle Reinigung bestimmter Körperteile nach festgelegter Art und Weise
statt. Das Gebet kann überall verrichtet werden, vorausgesetzt, der Ort ist sauber, d.h. nicht
rituell beschmutzt durch Blut, Kot etc., was durch die Verrichtung des Gebetes auf einem
Teppich, Tuch oder eben im Notfall einer Zeitung gewährleistet ist.
Im Islam wird das Gemeinschaftsgebet als um ein vielfaches verdienstvoller gewertet als das
allein praktizierte Gebet. Jedoch sind nur die Männer verpflichtet, das Gebet in der Gemeinschaft zu sprechen. Die Frauen können sowohl zu Hause als auch in der Moschee beten, wo
zumeist ein getrennter Bereich für sie vorgesehen ist, der von Männern nicht betreten werden
darf. Andernfalls beten die Frauen in den hinteren Reihen.
In Deutschland, wo sich die Migranten mit den vorgefundenen gesellschaftlichen und damit
auch infrastrukturellen Rahmenbedingungen arrangieren müssen, sind Moscheen oftmals in
ehemaligen Fabriken oder anderen Gebäuden untergebracht. Diesen Moscheen sieht man von
außen ihre Funktion nicht an. Der Bau von Moscheen mit einer Kuppel und dem typischen
Minarett, von den muslimischen Gläubigen gewünscht, wird hier von den Gemeinden nicht
11
vorbehaltlos genehmigt. Probleme um die Höhe des Minaretts, etwa auch im Vergleich mit
den höchsten Kirchtürmen der Stadt, sind nicht selten. Auch bezüglich des Gebetsrufes durch
den Müezzin (Gebetsrufer) gibt es Schwierigkeiten in den Kommunen, da dies als für die
nichtmuslimischen Anwohner belästigend abgelehnt wird.
Insgesamt bildet der Islam in Deutschland die drittgrößte Religionsgemeinschaft neben den
beiden christlichen Konfessionen. Im allgemeinen wird angenommen, dass der Islam erst mit
den türkischen Arbeitnehmern in den sechziger Jahren nach Deutschland gekommen sei und
somit für Deutschland ein neues Phänomen darstelle. Da mag die Tatsache verwundern, dass
seit mehr als 260 Jahren Muslime in Deutschland leben. Bereits im Jahr 1731 vermachte der
Herzog von Kurland dem Preußenkönig Wilhelm I. zwanzig türkische Gardesoldaten. In den
darauf folgenden 230 Jahren existierten weiterhin immer einige kleinere muslimische Gemeinden in Deutschland, vor allem in Berlin, doch spielten sie nur eine sehr untergeordnete
Rolle.
Sunniten, Schiiten, Aleviten
Es gibt zwei Hauptströmungen im Islam, die Sunniten und die Schiiten. Schiiten sind der Überzeugung, der Nachfolger Mohammeds müsse aus dessen Familie stammen, um auf diese
Weise göttlich legitimiert zu sein. Sunniten dagegen vertreten die Ansicht, die Mehrheit der
Muslime müsse einen Kalifen wählen, der nicht zwangsläufig über göttlich legitimierte Autorität verfügen muss. Der überwiegende Teil der Muslime in Deutschland ist sunnitisch.
Mehrere 100.000 Muslime in Deutschland gehören der alevitischen Richtung des Islam an.
Sie können als eine anatolische Variante des Schiismus angesehen werden. In den alevitischen
Glauben sind viele Elemente des Schamanismus (Naturreligion der Türken Zentralasiens vor
Übernahme des Islam) und der islamischen Mystik eingeflossen. Aleviten glauben, dass Mohammed und Ali, der Schwiegersohn und Cousin des Propheten, Lichtwesen Gottes seien und
aus dem gleichen Lichtpartikel Gottes geschaffen seien. Ali, daher der Name Aleviten, gilt als
Signal Gottes auf Erden. Im Unterschied zu sunnitischen oder schiitischen Muslimen hat die
Frau bei den Aleviten einen dem Mann größtenteils gleichgestellten Rang: Fatima, die Tochter Mohammeds und Frau Alis, verkörpert die göttliche Vollendung in weiblicher Gestalt.
Frauen nehmen an Gottesdiensten und Familienentscheidungen gleichermaßen teil; es gibt
keine rigide Geschlechtertrennung. Aleviten unterscheiden sich von den sunnitischen Muslimen auch dadurch, dass sie keine Moscheen für ihre gemeinschaftlichen Gebete benutzen,
sondern sogenannte Çem-Häuser, eine Art Gemeindehaus.
12
2.1
Organisationsstrukturen des Islam in Deutschland
Die islamischen Gemeinschaften in Deutschland haben keinen offiziellen Rechtsstatus als Religionsgemeinschaft inne, der sie berechtigt, Schulen zu eröffnen und zum Beispiel karitative
und soziale Aktivitäten mit finanzieller Unterstützung des Staates anzubieten. Um aber in
Deutschland ihre Interessen im demokratischen System vertreten zu können, haben sich die
Muslime auf verschiedenen Ebenen organisiert. Neben zahlreichen Einzelorganisationen bestehen Dach- und Spitzenverbände. Bei den Zusammenschlüssen ist zu differenzieren zw ischen der Zusammensetzung der Mitglieder (herkunftshomogen oder herkunftsheterogen) und
der Organisationsebene. Neben bundes- oder auch europaweit aktiven Dachorganisationen,
deren Zentralen sich in den meisten Fällen in Deutschland befinden, gibt es regionale und
auch lokale Zusammenschlüsse muslimischer Selbstorganisationen. Sie nehmen jeder für sich
in Anspruch, auf der jeweiligen Ebene die Muslime gegenüber der Mehrheitsgesellschaft zu
vertreten, führen aber zugleich teilweise harte Kontroversen untereinander. Da berücksichtigt
werden muss, dass das Selbstverständnis dieser Organisationen nicht demjenigen klassischer
Vereine in Deutschland entspricht, bei denen sich Tätigkeit und Verantwortung auf die eindeutig definierte Zahl von Mitgliedern beschränken, sondern sie eher in der Tradition der islamischen Stiftungen stehen, deren Angebote für alle offen sind, ist die Inanspruchnahme der
Interessenvertretung für alle Muslime durch die Dachverbände doch problematisch.
Inzwischen existieren in der Bundesrepublik rund 2.400 Moscheegemeinden, von denen die
überwiegende Mehrheit an türkisch-muslimische Dachorganisationen aufgrund infrastruktureller Vorteile (Bereitstellung eines ausgebildeten Imams, Bereitstellung von schriftlichem
Material, Hilfe bei bürokratischen Schwierigkeiten) angeschlossen sind. Es existieren auch
eine Reihe von Gemeinden, die keiner übergreifenden Organisation angehören. Schätzungen
gehen davon aus, dass ca. 15% der sunnitischen Muslime in Deutschland organisiert sind. Die
Nutzung der insbesondere von den Moscheevereinen angebotenen Dienstleistungen und Freizeitangebote sagt letztlich nichts über die auch ideelle Zugehörigkeit einer Familie zu dem
Moscheeverein, dessen Dienstleistungen sie annimmt, aus, da es eben keine zwingende formale Mitgliedschaft gibt.
Ausrichtung der Moscheevereine
Die Moscheevereine decken ein weites Spektrum mit unterschiedlichen politischen, kulturellen, berufsständischen, landsmannschaftlichen und religiösen Aufgaben und Zielsetzungen ab.
Aufgrund der Tatsache, dass die türkischen Migranten die größte Gruppe bilden, ist der Islam
13
in Deutschland überwiegend türkisch geprägt. Dabei ist zu bedenken, dass die ebenfalls mitgliederstarke Gemeinschaft der Aleviten in den großen Dachverbänden und Spitzenorganisationen nicht vertreten wird, ebenso wenig wie die vergleichsweise geringe Zahl der Schiiten.
Die Aleviten haben sich jedoch in einem eigenen Verband - die Föderation der Aleviten Gemeinden in Deutschland / Almanya Alevi Birlikleri Federasyonu - organisiert, ein zweiter, die
"Cem-Stiftung", ist bemüht, sich zu etablieren
Bis in die 80er Jahre waren die religiösen Vereine noch stark auf die religiösen Bedürfnisse
und Anforderungen der ersten Generation ausgerichtet. Darüber hinaus agierten viele Vereine
stark Türkei-bezogen. Ihr weltliches Interesse galt ausschließlich der Türkei, ihr religiöses
Interesse war darauf gerichtet, den vermeintlich zeitweilig in einem nicht-muslimischen Land
lebenden Migranten einerseits einen Raum zur Religionsausübung zur Verfügung zu stellen
und andererseits Beistand in religiösen Fragen zu leisten. Erst im Laufe der 80er Jahre übernahmen die Moscheevereine langsam soziale und gesellschaftliche Aufgaben sowie weltliche
Beratungsdienste, die sich auf das Leben in Deutschland bezogen. Heute existiert organisationsübergreifend die Tendenz, die Zielsetzung und Angebotsstruktur der Tatsache anzugleichen, dass die türkische Bevölkerung auf Dauer in Deutschland leben wird. Inzwischen
kann man bei einer Reihe der Vereine eine ve rstärkte Hinwendung auch zum gesellschaftlichen Leben in Deutschland feststellen. Eine repräsentative telefonische Befragung der
Stiftung Zentrum für Türkeistudien unter 1.500 über-16-jährigen türkischstämmigen Migranten zu ihrer Beteiligung und ihrem Engagement im Frühjahr 2004 belegt dies: 41% der religiösen Organisationen richten ihre Tätigkeit hauptsächlich auf das Leben in Deutschland aus,
weitere 15% auf Deutschland und die Türkei. Lediglich ein Fünftel der Moscheevereine konzentrieren sich hauptsächlich auf die Türkei. 7
7
Halm, Dirk/Martina Sauer: Freiwilliges Engagement von Türkinnen und Türken in Deutschland. Projekt
der Stiftung Zentrum für Türkeistudien im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend. Unveröffentlichtes Manuskript, Essen 2004.
14
Abbildung 1: Länderbezug der inhaltlichen Ausrichtung religiöser Organisationen
(Prozentwerte)
Deutschland
43%
Internationale
Ebene
19%
Türkei
22%
Deutschland
und Türkei
16%
Quelle: ZfT
Daneben sind eine Vielzahl der Vereine in politischer Hinsicht wesentlich moderater und die
radikalen Töne entschieden leiser geworden, fast alle Gruppen signalisieren Dialogbereitschaft mit den deutschen Stellen, wenden sich gegen fundamentalistische oder islamistische
Bestrebungen und betonen eine integrationspolitische Zielsetzung.
In der Regel bieten die Vereine neben Korankursen und Religionsunterricht geistliche Betreuung in Einzelfällen, sie begleiten und organisieren Beisetzungen, Hochzeiten, Beschneidungen und Pilgerfahrten, sie bieten Fortbildungskurse, Freizeit- und Sportangebote, soziale
Beratung und kulturelle Angebote sowie Informationsveranstaltungen zu unterschiedlichen
Themen an.
Hier ein Überblick über die wichtigsten islamischen Verbände in Deutschland:
Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religionen e.V./Diyanet Isleri Türk Islam Birligi
(DITIB) - Die DITIB wurde 1982 zuerst in Berlin als regionaler Dachverband mit 15
registrierten Moscheen gegründet. Damit reagierte der türkische Staat auf die Situation, dass
sich in der Bundesrepublik zahlreiche religiöse Vereine, z.T. mit Unterstützung radikaler
Gruppen aus der Türkei, um die religiösen Belange der Türken kümmerten und dabei auch
antilaizistische und antikemalistische Haltungen vertraten. Die Union ist derzeit die
mitgliederstärkste islamische Gruppierung. Sie arbeitet eng mit dem "Staatlichen Präsidium
für religiöse Angelegenheiten" in der Türkei zusammen. Hiesige Botschaften und Konsulate
übernehmen die Koordination vor Ort. Insgesamt gibt es in Deutschland 800 Vereine. Die
15
Union vertritt die offizielle laizistische Grundhaltung zum Verhältnis von Staat und Islam und
agiert in diesem Rahmen in der Bundesrepublik, d.h. ihre religiöse Haltung entspricht
weitgehend derjenigen der offiziellen türkischen Staatspolitik. Sie sieht sich als offizieller
Ansprechpartner bezüglich der türkischen Muslime in Deutschland und setzt sich für
Integration und Freizügigkeit innerhalb der EU ein.
Die DITIB bietet einen Bestattungsdienst an und organisiert Pilgerfahrten nach Mekka.
Außerdem werden Korankurse angeboten, die nicht als reine Koranrezitationskurse, sondern
vielmehr als Religionsunterricht konzipiert sind. Die Arbeit der Organisationen finanziert sich
weitgehend durch Spenden, von denen Moscheen gebaut werden, als deren Inhaber dann das
Präsidium für religiöse Angelegenheiten eingesetzt wird. Die Imame werden als Staatsbeamte
vom türkischen Staat entsandt und bezahlt. Daraus ergibt sich die Problematik, dass sie sich
turnusmäßig, d.h. höchstens vier Jahre, in Deutschland aufhalten und danach wieder abgelöst
werden. Die Beamten sind somit am Anfang ihres Dienstes in den seltensten Fällen mit dem
Leben in Deutschland und den spezifischen Problemen der muslimischen Minderheit hier
vertraut. Bis sie sich auch mit den staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen hier vollständig vertraut gemacht haben, ist ihre Dienstzeit oft schon vorbei. Je nach Zusammensetzung
der jeweiligen Vereinsvorstände haben sich einige DITIB-Moscheen aber auch zu engagierten
Kooperationspartnern für deutsche Stellen entwickelt. Sie gewähren mitunter effektiven Zugang zu den Türkinnen und Türken für die Stadtteilarbeit. Einige Moscheen kooperieren inzwischen auch eng mit den deutschen Schulen, so dass ihre Bildungsarbeit mitunter weit über
die Unterweisung im Islam hinausgeht und sich den Problemen der Jugendlichen im Aufna hmeland zuzuwenden beginnt.
Islamische Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG) - Die IGMG ist die größte staatsunabhängige
muslimische Gemeinschaft in Deutschland. Gleichwohl sind in den diesem Verband zugehörigen Vereinen nur etwa 10% der Moscheevereinsmitglieder in Deutschland organisiert. Nach
eigenen Angaben sind europaweit über 600 Vereine Mitglied der IGMG, in Deutschland 274,
deren Europazentrale ihren Sitz in Kerpen bei Köln hat. Der Verfassungsschutz gibt die Zahl
der Mitglieder mit 26.500 an. Die IGMG wird seit einigen Jahren beobachtet und als verfassungsfeindlich eingestuft. Dies ist insbesondere den als antisemitisch gedeuteten Publikationen des Verbands und seiner Mitglieder geschuldet.
Die IGMG ging aus dem 1976 gegründeten Verein "Türkische Union Europas" hervor. 1983
erfolgte zunächst die Umbenennung in "Islamische Union Europas", von der sich im selben
16
Jahr eine radikalislamistische Gruppe um Cemalettin Kaplan abspaltete, der sogenannte "K alifatstaat". Unter dem heutigen Namen firmiert die Gemeinschaft seit 1995. In den 80er Jahren unterhielt die IGMG intensive Verbindungen zu Erbakan und seiner Wohlfahrtspartei.
Offiziell wurde eine Sympathie seitens des Verbandes zu dieser Partei nie bestritten, wohl
aber eine organisatorische Verflechtung. Zur jetzigen türkischen Regierungspartei AKP hat
Milli Görüs ebenfalls intensive Verbindungen. Es ist zu vermuten, dass die IGMG auch aus
radikalislamischen Staaten finanzielle Unterstützung erhält. Die Imame, in der Regel in der
Türkei ausgebildet, werden aber zuvorderst von häufig großzügigen Spenden der
Vereinsmitglieder bezahlt. Darüber hinaus betreiben viele Vereine zur Deckung der laufenden
Kosten kleine Einzelhandelsgeschäfte. Die IGMG begreift sich als Organisation, die die Mitglieder bei religiösen, kulturellen und sozialen Belangen betreut. Auf regionaler Ebene finden
monatliche Versammlungen statt, in denen die Aktivitäten der Mitgliedsvereine koordiniert
werden. Die Vorsitzenden der Gebietsvorstände kommen ebenfalls monatlich zu Beratungssitzungen in der Zentrale zusammen. Im Vorstand der Verbandszentrale gibt es eigenständige
Abteilungen für Organisation, Bildung, Verwaltung, Rechtswesen, Jugend, Studenten, Frauen,
Öffentlichkeitsarbeit, Rechnungswesen, Pilgerfahrt, Handel, Publikationswesen, Außenbeziehungen und Sozialwesen. Einen wichtigen Arbeitsbereich des Verbandes stellt die Bildungsarbeit bezogen auf Kinder und Jugendliche dar. Der Verband führt flächendeckend Wochenend- und Ferienfreizeiten durch, die für Jungen und Mädchen, nach Geschlechtern getrennt,
angeboten werden. In Bergkamen besteht eine Internatskoranschule für Mädchen, in Köln
unterhält der Verband eine Akademie. Die IGMG ist auch publizistisch aktiv. Eine Tage szeitung, die dem Verband nahe steht, ist die Milli Gazete. Sie erscheint in einer DeutschlandAusgabe, die über einen Versand an Abonnenten verteilt wird. In den regionalen Nachrichten
zu Deutschland bzw. anderen europäischen Ländern finden sich sehr häufig Nachrichten aus
dem Vereinsleben der IGMG vor Ort. Seit Mitte der 80er Jahre ist die IGMG bemüht, mit
allen Organisationen der türkischen Bevölkerung in Deutschland freundschaftlichen Kontakt
zu pflegen. Dabei wird die Rolle des Islam als identitätsstiftender Faktor für die Mitglieder
betont. Die gesellschaftliche Zielvorstellung ist entsprechend eher ein Nebeneinander als eine
Verschmelzung der Kulturen. Zugleich ist aber der Kontakt zu den christlichen Kirchen und
Öffentlichkeitsarbeit in der Aufnahmegesellschaft ein zentraler Teil des Selbstverständnisses.
Verband der islamischen Kulturzentren e.V. (VIKZ)/Islam Kültür Merkezleri Birligi - Der
VIKZ geht zurück auf die 1967 gegründete "Türkische Union", die nach 1973 ihre Aktivitäten
als "Islamisches Kulturzentrum" fortführte und deren Gemeinden sich 1980 zum "Verband
17
der islamischen Kulturzentren" zusammenschlossen. Der VIKZ war der erste Verband, der
sich - schon in den 60er Jahren - für die Schaffung einer gemeinsamen Bewegung auf Bundesebene einsetzte. Heute hat er nach eigenen Angaben 300 Gemeinden in Deutschland mit
rund 20.000 Gemeindemitgliedern. Die Mitglieder der VIKZ werden auch von Türken in
Deutschland oftmals als Süleymanc is (Anhänger der Süleymanc i-Bewegung) bezeichnet. Ihnen widerstrebt diese Titulierung, da sie auf die sunnitisch-hanefitische Erneuerungsbewegung gleichen Namens in der Türkei zurückgeht, zu der zwar Verbindungen bestünden, die
jedoch nicht organisatorischer Natur seien.
Während sich die Veröffentlichungen des Verbandes früher eher gegenüber der deutschen
Gesellschaft abgrenzten, signalisieren sie seit den 90er Jahren Dialogwünsche. Dieser Wandel
äußerte auch in vielen Dialogkreisen mit christlichen Gemeinden. Der VIKZ betont heute,
offenbar als Reaktion auf entsprechende anderslautende Vorwürfe, seine integrative Orientierung. Der VIKZ hat keine engeren Verbindungen zur IGMG und zur DITIB, wird aber von
diesen toleriert.
Neben dem Bemühen um eine Bestandswahrung der vorhandenen Gemeinden gilt das Interesse vor allem den Jugendlichen, wie bei allen anderen islamischen Vereinigungen in Deutschland auch. Im Vordergrund steht hierbei das Bemühen um die Wahrung einer islamischen
Identität der Jugendlichen, da diese besonders in Deutschland gefährdet seien, in kriminelle
Peer Groups abgedrängt zu werden. Im Zentrum der Aktivitäten steht längst nicht mehr nur
das Korankursangebot, mit welchem die Bewegung bekannt wurde, sondern weiter reichende
seelsorgerische und soziale Hilfeleistungen sowie kulturelle Angebote. Hocas und Moscheen
werden hauptsächlich von den Spenden der Mitglieder unterhalten. Der VIKZ betreibt darüber hinaus, ebenso wie die anderen Moscheevereinigungen, eigene Läden, aus deren Einnahmen Unkosten bezahlt werden. Der Verband gehörte bis zum Jahr 2000 zu den Mitgliedern des islamischen Spitzenverbandes "Zentralrat der Muslime in Deutschland" (ZMD) und
bildete seinen stärksten Einzelverband. Seit dem Ausscheiden aus dem ZMD ist auch ein
Rückzug aus dem interreligiösen Dialog zu beobachten, an dem Vertreter des Verbandes sehr
rege beteiligt waren. Die Neuorientierung wurde begleitet von Veränderungen im Vorstand
des Verbandes.
Die Islamische Gemeinschaft Jama`at un-Nur e.V. ist eine interkulturell geprägte, sektenähnliche Bewegung. Sie existiert in Deutschland seit 1967. Grundlage ihres theologischen Verständnisses sind Koran, Sunna und Risale-i Nur (Schrift des Lichts). Letztere ist das zentrale
18
Werk des Begründers der Sekte, Bediuzzaman (= Licht unserer Zeit) Said Nursi (1877-1960).
Mit seiner Schrift wollte er eine Neuinterpretation des Islam ermöglichen, die den zeitgenössischen Problemen und Erfordernissen angepasst sein sollte. Vor allem sein Mystizismus
weckte von Anfang an das Misstrauen des offiziellen, sunnitisch-orthodoxen Islam. Die Nurculuk-Bewegung versteht sich als religiöse Reformbewegung, die moderne Technologie und
Islam miteinander verbinden will. Mittlerweile gehören der "Islamischen Gemeinschaft Jama’at un-Nur" bundesweit ca. 40 Medresen (theologische Ausbildungsstätten) an. Die Zahl
der Anhänger dieser Bewegung liegt zwischen 5.000 - 6.000. Eigenen Angaben zufolge soll
die Bewegung weltweit ca. 1,5 Mio. Anhänger in mehr als 60 Ländern haben. Im Gegensatz
zu den meisten islamischen Verbänden haben die Medresen keine Imame, da sie nicht als Moscheen angelegt sind. Aufgrund der anderen Zielsetzungen unterscheidet sich auch die Organisationsstruktur des Verbandes. Die Gesamtleitung der Bewegung liegt bei einer Arbeitsgemeinschaft "gleichberechtigter Brüder" in Istanbul. Die einzelnen Medresen, auch in
Deutschland, arbeiten weitgehend selbständig. Wichtige Entscheidungen werden von einem
länderbezogenen Beratungsgremium (mesveret) getroffen. Die Zentrale der Jama’at un-Nur
organisiert und koordiniert auch unter Mithilfe ihrer Anhänger in den verschiedenen Städten
größere Veranstaltungen. Neben Koran- und Fortbildungskursen wird in den Medresen die
Lehre Said Nursis vermittelt. Der Verband versteht sich nicht als konkurrierende Organisation
zu den Moscheen. So sind Anhänger dieser mystischen Bewegung zugleich auch bei den verschiedenen islamischen Dachorganisationen zu finden. Die Hauptzielgruppe der NurculukBewegung sind die in Deutschland aufwachsenden Jugendlichen. Durch die intellektuelle
Auseinandersetzung zwischen göttlichem Willen und technischem und wissenschaftlichem
Fortschritt will man sie in ihrem Glauben stärken oder für diesen zurückgewinnen. Diese
Form der religiösen Betätigung wird von vielen türkischen Muslimen der zweiten Generation
angenommen, die sich in Studienzirkeln zusammenfinden. In der Türkei organisiert die Bewegung jährliche Symposien mit Teilnehmern aus dem Ausland, die religiösen Fragestellungen vor dem Hintergrund zeitgenössischer Probleme gewidmet sind. Auch die Jama’at un-Nur
in Deutschland hat damit begonnen, Symposien zu organisieren. Ein erstes zum Thema "Said
Nursi - eine zeitgenössische Annäherung an den Islam" fand im Dezember 1999 in Bonn
statt. An dieser Veranstaltung nahmen auch Referenten aus dem Ausland, hierunter Vertreter
anderer Religionsgemeinschaften, teil, so dass hier auch ein grenzüberschreitender interreligiöser Dialog stattfand. Die Jama’at un-Nur verfügt über sehr gute Kontakte zu anderen islamischen Gruppierungen und betreibt eine dialogorientierte Politik, beispielsweise durch die Zusammenarbeit mit kirchlichen Organisationen. Sie ist Mitglied im Islamrat für die Bundesre19
publik Deutschland, einem der beiden islamischen Spitzenverbände. Sympathisanten sind bei
allen anderen türkisch-islamischen Vereinen zu finden. In ihrer traditionell dialogorientierten
Politik unterscheidet sich die Nurculuk-Bewegung insofern von den anderen Dachverbänden,
als sie in ihren deutschen Veröffentlichungen einen eher intellektuellen Kreis von Personen
anspricht. So kooperiert sie z.B. eng mit der katholischen Pfadfinderschaft St. Georg.
Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Europa e.V./Avrupa Demokratik Ülkücü Türk Dernekleri Federasyonu (ADÜTDF) - Der Verein wurde am 18. Juni 1978 in
Frankfurt/M. gegründet. Er wird abgekürzt Türk Federasyonu (Türkische Föderation) genannt. Er verfolgte zunächst eine nationalistisch-pantürkische Ideologie mit einer starken Betonung der vorislamischen Geschichte und Kultur der Türken. Zu ihrem Symbol gehört der
Graue Wolf, ein Totemtier der Türken in ihrer zentralasiatischen Ursprungsregion (AltaiGebirge) vor der Übernahme des Islam, um das sich eine mythologische Sage zur Herkunft
der Türken rankt. Durch die Arbeit in der Diaspora und in Reaktion auf den Militärputsch in
der Türkei 1980 wandte sich der Verein einer verstärkten Betonung des islamischen Elements
zu. Dennoch besteht im Gegensatz zu den zuvor vorgestellten islamischen Vereinen eine nach
wie vor stärkere Betonung des nationalistischen Elements, was der Organisation eher einen
politischen als religiösen Charakter gibt. Die Mitgliederzahl der ADÜTDF wurde 1980 bundesweit auf 26.000 geschätzt, organisiert in ca. 110 Vereinen. Durch die Abspaltung des religiösen Flügels unter Musa Serdar Çelebi, dem etwa die Hälfte der Mitglieder in den neuen
Verband ATIB folgte, hat die ADÜTDF einen starken Mitgliederschwund zu verzeichnen.
Die Mitgliederzahl dürfte heute bei 5.000 bis 6.000 liegen.
Türkisch-Islamische Union in Europa/Avrupa Türk Islam Birligi (ATIB) - Die ATIB hat sich
von der ADÜTDF abgespalten und legt ihr Schwergewicht eher auf eine Synthese zwischen
türkischem Nationalismus und Islam, wobei dem Islam mehr Raum beigemessen wird als bei
der ADÜTDF. Die ATIB hat sich inzwischen von den Gewalttaten der Grauen Wölfe in den
siebziger Jahren in der Türkei und der Bundesrepublik distanziert. Der ATIB sind eigenen
Angaben zufolge bundesweit 123 Vereine angeschlossen. Die Zahl der Mitglieder wird mit
11.500 angegeben. Die Imame der von der ATIB betriebenen Moscheen sind teilweise Religionsbeamte der türkischen Anstalt für religiöse Angelegenheiten, deren Gehalt zum Teil vom
türkischen Staat, zum Teil von der Organisation bezahlt wird.
20
Die Föderation der Weltordnung in Europa/Avrupa Nizam-i Alem Federasyonu (ANF) gehört
zu den neueren türkisch-islamischen Dachverbänden. Die Anfänge reichen in das Jahr 1994
zurück. Aufgrund persönlicher und ideologischer Differenzen löste sich zu Beginn der 90er
Jahre eine Gruppe um Muhsin Yazicioglu in der Türkei von der nationalistischen Partei MHP
und gründete die "Partei der Großen Einheit" (Büyük Birlik Partisi). In Folge dieser Abspaltung begannen auch einzelne Mitgliedsvereine der der MHP nahe stehenden Türk Federasyon
in Deutschland sich zu verselbständigen. 1994 wurde der Dachverband gegründet, dem insgesamt dreißig Vereine in verschiedenen Ländern angehören. Der größte Teil von ihnen - zwanzig - befindet sich in Deutschland, einzelne weitere in Österreich, Frankreich, Holland, Be lgien und Dänemark. Die Zentrale des Verbandes hat ihren Sitz in Ludwigshafen. Die Organisation bekennt sich offen zu ihrer Verbindung zur Büyük Birlik Partisi und ihrem Führer in
der Türkei, bezeichnet sich aber als zivilgesellschaftliche Organisation, die sich für die nationale und islamische Identität der Türken in Deutschland einsetzt. Ähnlich wie die anderen
islamischen bzw. türkisch-islamischen Dachverbände bietet die ANF bestimmte Dienstleistungen an. Hierzu gehört ein Bestattungsfonds und die Teilnahme an Pilgerfahrten nach Mekka. In der türkisch-islamischen Organisationslandschaft ist die ANF insgesamt bedeutungslos.
Die Vereinigung der Aleviten-Gemeinden e.V. reicht in ihren Anfängen in die beginnenden
90er Jahre zurück. Alevitische Vereine wurden verstärkt ab der zweiten Hälfte der 80er Jahre
gegründet. Zum einen war diese Entwicklung Reaktion auf die verstärkte Gründung von Moscheevereinen durch sunnitische Muslime. Zum anderen traten nach dem Zusammenbruch des
Ostblocks und der folgenden Desorientierung bei vielen linksorientierten Organisationen viele
Mitglieder aus diesen aus, um sich verstärkt ihrer alevitischen Identität zuzuwenden. Der
Auslöser, der zu einer weiteren Mobilisierung führte, war der Brandanschlag islamischer
Fundamentalisten auf ein Hotel in Sivas während eines Festivals im Jahr 1993, durch den
zahlreiche alevitische Künstler ermordet wurden.
Bereits 1991 wurde ein Vorläufer des heutigen Dachverbandes gegründet. Die offizielle
Gründung der Föderation erfolgte 1993 unter der Bezeichnung "Föderation der AlevitenGemeinden in Europa". Im Zuge des raschen Anstiegs der Mitgliedsvereine wurde am Ende
der 90er Jahre der Verband neu organisiert und in eine Konföderation umgewandelt. Der
Föderation der Aleviten-Gemeinden in Deutschland gehören 90 Vereine an, die selbständig
und unabhängig arbeiten. Die Föderation koordiniert auf der Bundesebene Aktivitäten wie
beispielsweise jährliche Festivals, die meist in Köln durchgeführt werden. Innerhalb des
21
Verbandes gibt es verschiedene Abteilungen und auch Nebenorganisationen, die sich mit
spezielleren Themen bzw. Zielgruppen befassen. Eines der wichtigsten Ziele des Vereins ist
die Vermittlung alevitischer Religionsinhalte an alevitische Jugendliche. Außerdem geht es
dem Verein darum, Vorurteile bei Aleviten und Nicht-Aleviten zu bekämpfen, um besonders
die Identitätsfindung alevitischer Jugendlicher zu unterstützen und die zerstreuten alevitischbektaschitischen kulturellen Werte zusammenzubringen. Die Föderation steht hinter den
laizistischen, rechtsstaatlichen Grundlagen des türkischen Staates und den Menschenrechten.
Sie nimmt Menschen aus allen Gruppen und Religionsgemeinschaften auf. Eines ihrer
Hauptanliegen ist Religionsfreiheit und die Berücksichtigung des Alevitentums bei einem
potentiellen Islam-Unterrichtskonzept für Schüler muslimischen Glaubens in Deutschland.
Entsprechend der alevitischen Tradition und Lehre betreiben die Vereine keine Moscheen,
sondern die Vereinsräume dienen als Versammlungsorte für die Cem, die religiöse
Zusammenkunft. Obwohl Bereitschaft zu Kontakten mit anderen islamischen Organisationen
besteht, sind diese eher inoffiziell und selten. Nach wie vor gibt es Ressentiments der
sunnitischen Organisationen gegenüber den Aleviten. Zur Aufnahmegesellschaft hat die
Vereinigung traditionell sehr gute Kontakte.
Eine weitere Organisation, die versucht, als alevitischer Dachverband zu organisieren, ist die
Cem-Stiftung bzw. das "Republikanische Stiftungszentrum für Bildung und Kultur" (Cumhuriyetçi Egitim ve Kültür Merkezi Vakfi). Sie entstand als Ableger einer gleichnamigen Stiftung in der Türkei. Dort ist die Organisation darum bemüht, dass die alevitische Glaubensle hre als eigenständige Konfession vom Staat anerkannt und entsprechend berücksichtigt wird.
Der deutsche Zweig wurde 1996 gegründet und hat seinen Sitz in Essen.
Islamische Dachverbände - Mit dem Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) und dem
Islamrat existieren zwei konkurrierende Dachverbände der Muslime in Deutschland. Beim
ZMD wird auch am Namen erkennbar, dass er - ähnlich wie der Zentralrat der Juden in
Deutschland - als Repräsentant und Ansprechpartner für alle bzw. einen größeren Teil der
Muslime in Deutschland angesehen werden möchte. Der ZMD entstand im Dezember 1994
und ging aus dem 1989 gegründeten "Islamischen Arbeitskreis in Deutschland" hervor. Im
Zentralrat der Muslime sind derzeit 19 Organisationen Mitglied. Neben Dachverbänden und
Einzelorganisationen, die bundesweit tätig sind, gehören auch einzelne lokale islamische
Zentren zu den Mitgliedern. Der Verband selbst nennt eine Einzelmitgliederzahl von 43.000.
Eine deutliche Schwächung hat der ZMD durch den Austritt des Verbandes der islamischen
22
Kulturzentren (VIKZ) im Jahr 2000 hinnehmen müssen. Weitere Dachverbände des ZMD
sind die Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine (ATIB), die Vereinigung islamischer
Gemeinden der Bosniaken in Deutschland und die Union der Islamisch-Albanischen Zentren
in Deutschland. Auf eine Initiative des ZMD geht der "Tag der offenen Moschee" zurück, der
jährlich am 3. Oktober durchgeführt wird und Außenstehenden die Möglichkeit geben soll,
Moscheen zu besuchen und kennen zu lernen. Die Entstehung des Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland datiert auf das Jahr 1986. Durch die Gründung sollte eine bundesweite
Koordinierungsinstanz und ein gemeinsames Beschlussorgan islamischer Organisationen geschaffen werden. Mitglied des Islamrates sind derzeit 17 islamische Bundesverbände, zehn
Landesverbände sowie zehn regionale und lokale Vereinigungen. Der stärkste Mitgliedsverband des Islamrates ist die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG). Als Spitzenverband
sind im Islamrat Muslime unterschiedlicher Herkunft organisiert. Neben türkischen und deutschen sind dies bosniakische, marokkanische und andere afrikanische Muslime. Als Spitzenverband möchte der Islamrat als Interessenvertretung der Muslime in Deutschland angesehen
werden, der diese religiös, sozial und kulturell betreut. Neben den bundesweit aktiven sind in
den vergangenen Jahren islamische Dachorganisationen gegründet worden, die auf der Ebene
eines Bundeslandes bzw. der Ebene einer Region oder Stadt aktiv sind. Einer der ältesten regionalen islamischen Dachorganisationen ist die Islamische Föderation Berlin. Sie wurde bereits 1980 gegründet.
Islamischer Religionsunterricht
Gerade unter den jungen Türkeistämmigen entwickelt sich, wie später gezeigt werden wird,
ein Verständnis des Islam, das immer weniger im Widerspruch steht zu individualistischen
und liberalen Einstellungen. Dabei ist die Verbesserung der Bildungsteilhabe ein stark begünstigender Faktor. Bei der Frage nach einer Verbesserung der Bildungsteilhabe von
Migrantinnen und Migranten sollte der Religionsunterricht für Muslime immer mit gedacht
werden - um nicht ohne Not Abschottung durch alleinige religiöse Unterweisung in den islamischen Selbstorganisationen zu befördern. Eine solche Politik sieht sich allerdings dem
Problem der nicht vorhandenen Alleinvertretung der Muslime, die an der Curriculaentwicklung im Sinne des Grundgesetzes mit den Kultusministerien zusammenwirken könnte,
gegenüber. Die Bundesländer haben inzwischen unterschiedliche Versuche unternommen,
dieses Dilemma zu lösen, allerdings weniger mit der Absicht integrationspolitischer Weiche n-
23
stellungen, als vielmehr in Reaktion auf die Aktivitäten einzelner muslimischer Vereine und
Verbände.
Seit Ende der neunziger Jahre hat sich in der Bundesrepublik insgesamt die Diskussion um
die Einführung eines islamischen Religionsunterrichtes ausgeweitet. Hintergrund ist zum einen die von islamischen Organisationen gestellte Forderung nach Einführung und Mitverantwortung des Religionsunterrichtes, zum anderen ist die Förderung der Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft ein weiterer Grund dafür, dass sich auch die Politik hierzu intensivere Gedanken macht bzw. auch erste Schritte unternommen hat.
Dem Grundgesetz entsprechend wird Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Glaubensgemeinschaft erteilt. In diesen Fällen handelt es sich um einen konfessionellen Bekenntnisunterricht. Dies gilt etwa für den konfessionellen Unterricht, der von der katholischen oder evangelischen Kirche inhaltlich verantwortet wird. Gestützt auf die Bestimmung im Grundgesetz und der ihnen gewährten Rechte im Rahmen der Staatskirchenverträge
haben die beiden Großkirchen das Recht auf Ausbildung der Religionspädagogen. Es gibt
hiervon abweichende - ökumenische - Modelle.
Für Muslime gibt es bislang keine etablierte Form eines Unterrichts im Sinne eines ordentlichen Schulfaches. Bislang dominiert die religiöse Unterweisung, deren Aufgabe es nicht ist,
die Schüler im Glauben zu stärken, sondern Informationen über die Inhalte der eigenen und
auch anderer Religionen zu vermitteln. Dieser religionskundliche Unterricht für Kinder und
Jugendliche muslimischen Glaubens wird in den meisten Fällen im Rahmen des Muttersprachlichen Ergänzungsunterrichtes (MEU) erteilt. Es gibt in der Bundesrepublik weitere
Modelle. Gemeint ist hiermit insbesondere das Fach Lebenskunde - Ethik - Religion (LER),
das seit einigen Jahren im Bundesland Brandenburg angeboten wird. In den neuen Bundesländern leben kaum Muslime, so dass auch die Frage nach Einführung eines Religionsunterrichtes nicht zur Diskussion steht. Mit dem Fach LER hat sich seit einigen Jahren
das Bundesverfassungsgericht zu befassen, da die beiden Großkirchen in Deutschland gegen
das Fach geklagt haben, das sie im Widerspruch zu den Bestimmungen des Grundgesetzes
sehen.
Am weitesten ist die Entwicklung derzeit in NRW fortgeschritten, auch wenn es noch kein
etabliertes System gibt. Nordrhein-Westfalen ist das Bundesland mit der höchsten Zahl an
Muslimen. Hier leben mit 1,1 Mio. ein Drittel aller Muslime in Deutschland. Entsprechend
groß ist die Zahl der muslimischen Schülerinnen und Schüler von 260.000. Seit dem Schuljahr 1999/2000 wird erstmalig ein religionskundlicher Unterricht für Muslime in deutscher
24
Sprache angeboten. Hierbei handelt es sich um einen Modellversuch an mehreren Schulen. Im
Schuljahr 2002/2003 hatte sich die Zahl der Schulen, die sich an dem Versuch beteiligen, um
dreißig erhöht und liegt jetzt bei 55 insgesamt. Zugrundegelegt wurde das für den MEU vorbereitete Lehrmaterial, das ins Deutsche übertragen wurde. Dies wurde bereits in den achtziger Jahren vom Landesinstitut für Schule und Weiterbildung in Soest entwickelt. Im Fach
Religiöse Unterweisung werden derzeit diejenigen Lehrer des ehemaligen MEU eingesetzt,
die über Deutschkenntnisse verfügen. Es fehlen mithin bislang ausgebildete Religionspädagogen. Der hierzu erforderliche Entschluss wurde jedoch im Mai 2002 getroffen. An der Unive rsität Münster soll ein Lehrstuhl für Islamkunde eingerichtet werden, der mittlerweile schon
ausgeschrieben wurde. Der Lehrbetrieb soll im Sommersemester 2003 aufgenommen werden. Der Lehrstuhl für Islamkunde soll in dem künftigen "Centrum für Religiöse Studien"
angesiedelt sein, von dem aus die Lehrerausbildung betreut werden wird.
Das erklärte Ziel der Landesregierung in Nordrhein-Westfalen ist es, parallel zum evangelischen und katholischen auch islamischen Religionsunterricht einzuführen, der den erstgenannten gleichgestellt ist. Verfassungsrechtliche Voraussetzung wäre jedoch die Bildung einer oder mehrerer Religionsgemeinschaften, die Ansprechpartner der Landesregierung sind,
um sich auf die Lerninhalte zu verständigen. Diese Ansprechpartner gibt es aus Sicht der
Landesregierung bislang nicht, obwohl sich einzelne Verbände in dieser Richtung bemühen.
Bis es einen oder mehrere verbindliche Ansprechpartner gibt, soll die religiöse Unterweisung
ausgeweitet werden. Absolventen des Studienganges in Münster sollen auf beide Varianten
fachlich vorbereitet werden, d.h. sowohl als Lehrer der religiösen Unterweisung als auch in
einem zukünftigen islamischen Religionsunterricht eingesetzt werden können. Die Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer in Münster bedeutet ein viersemestriges Erweiterungsstud ium. Bei Erfüllung entsprechender Voraussetzungen soll auch ein grundständiges Studium
eingerichtet werden. Es gibt in Nordrhein-Westfalen an den Universitäten auch einzelne Bemühungen, Lehramtsstudierenden eine Zusatzqualifikation zu verschaffen, die sie zum Einsatz als Religionspädagogen für muslimische Schüler fachlich befähigt. So bietet die Islamwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum Veranstaltungen an, die sich gezielt an Lehramtsstudierende richten.
Die Bemühungen bestehender Verbände, in NRW einen islamischen Bekenntnisunterricht
einzuführen, schlugen bislang fehl. Der Zentralrat der Muslime und der Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland hatten gemeinsam auf Einführung eines islamischen Religionsunterrichtes geklagt. Das Düsseldorfer Verwaltungsgericht wies diese Klage 2001 jedoch mit
25
der Begründung zurück, beide Verbände verträten nur einen Teil der Muslime und könnten
nicht als Repräsentanten aller anerkannt werden.
2.2
Bedeutung der Religion im Alltag
Anhand einer repräsentativen Befragung des ZfT unter 2.000 erwachsenen türkischstämmigen
Migranten in Deutschland vom Oktober 2000 kann auf die unterschiedlichen Facetten des
religiösen Alltagsleben der türkischen Migranten, den Grad der Religiosität und religiöser
Orientierungen und Organisationsstrukturen der Muslime in Deutschland geschlossen werden.
Dabei stehen mögliche Differenzen zwischen den Generationen im Vordergrund der Analyse,
denn diese Differenzen indizieren religiös-kulturellen Wandel.
Abbildung 2: Grad der Religiosität (Prozentwerte)
7,0
64,6
24,5
3,3
0%
Sehr religiös
20%
40%
eher religiös
60%
80%
eher nicht religiös
100%
gar nicht religiös
Quelle: ZfT
Die Mehrheit der türkischstämmigen Migranten, die zu 93% dem Islam angehören, darunter
88% der sunnitischen und 11% der alevitischen Richtung, definiert sich selbst als religiös.
Zwei Drittel sehen sich dabei als eher religiös, lediglich 7% schätzen sich als sehr religiös ein.
Ein Viertel der Migranten stuft sich als eher nicht religiös ein und 3% empfinden sich als gar
nicht religiös.
Eine seit 1999 von der Stiftung Zentrum für Türkeistudien einmal jährlich durchgeführte repräsentative telefonische Befragung türkischstämmiger Migranten in NRW, die unterschiedliche Themenbereiche abdeckt, ergab seit 2002 eine Zunahme der Religiosität und eine stärkere
26
Polarisierung - mehr Migranten sehen sich sehr, zugleich weniger eher religiös. Darüber, ob
dies eine Folge des 11. September und der Kriege in Afghanistan oder Irak, also eine Folge
des "Kampfes der Kulturen" und einer mehr oder weniger "erzwungenen" stärkeren Auseinandersetzung mit der Religion und der Positionierung zum Islam ist, kann nur spekuliert
werden. Doch ergeben sich aus der ZfT-Befragung in NRW aus dem Jahre 2002 8 Hinweise
darauf, dass der 11. September das Zusammenleben von Muslimen und Deutschen dauerhaft
verändert und sich das Verhältnis verschlechtert hat. Fast jeder Zehnte gab dabei an, nach den
Anschlägen persönlichen Angriffen ausgesetzt gewesen zu sein. Mehr als ein Drittel empfand
nach und durch die Anschläge eine wachsende Fremdheit zwischen Muslimen und Deutschen,
die Diskussionen um den Krieg der Kulturen hat seine Spuren bei den Migranten hinterlassen.
Ein Viertel der türkischstämmigen Migranten gab jedoch auch an, sich durch diese Diskussion
stärker mit dem Islam auseinander gesetzt zu haben und sich stärker als Muslime zu identifizieren als vorher. Allerdings erlebten auch fast die Hälfte positive und konstruktive Diskussionen mit deutschen Bekannten, Nachbarn, Kollegen und Freunden.
Mit zunehmendem Alter steigt die religiöse Bindung: Die jüngeren Befragten sind weniger
religiös. Ob dies auf einen generellen Wertewandel bei der jüngeren Generation zurückzuführen ist, oder ein lebenszyklisches Phänomen kennzeichnet, kann anhand diese Daten zunächst
nicht beurteilt werden. Die in NRW festgestellte Zunahme der Religiosität erstreckte sich
zwar über alle Altersgruppen, in erster Linie betraf sie jedoch die Migranten im mittleren Alter, unter jungen Migranten war dieser Anstieg unterdurchschnittlich.
Aus dem Alterszusammenhang ergibt sich auch ein Zusammenhang zur Aufenthaltsdauer: Je
länger die Befragten in Deutschland leben, um so eher fühlen sie sich religiös. Ein langer
Aufenthalt in einer nichtmuslimischen Umgebung führt folglich nicht zur Loslösung von der
ursprünglichen Religion.
Doch wie äußert sich die Religiosität im Alltag? Welche Bedeutung haben religiöse Handlungen für die befragten Muslime? Religiöse Handlungen werden von der Mehrzahl auch der
jüngeren Muslime praktiziert, selbst wenn sie sich nicht als ausgesprochen religiös definieren.
Dies zeigt, dass die Bedeutung der religiösen Riten und Gebräuche auch eine kulturell-gesellschaftliche und nicht nur eine religiöse Ebene berühren. Auch die junge Generation wird, obwohl sie sich weniger religiös definiert, sich eng mit Deutschland verbunden fühlt und kaum
mehr an eine Rückkehr denkt, an bestimmten Riten und Handlungen als Teil der kulturellen
8
Goldberg, Andreas/Martina Sauer: Perspektiven der Integration der türkischstämmigen Migranten
in Nordrhein-Westfalen. Ergebnisse der vierten Mehrthemenbefragung 2002. Münster 2003.
27
Identität festhalten. Insbesondere das Fasten, das Spenden von Almosen, die Beteiligung am
Opferfest und die Einhaltung der Speisevorschriften werden relativ unabhängig von der Eigendefinition als religiös oder nichtreligiös praktiziert. Regelmäßiges Beten, der häufige Moscheebesuch und die Absicht zur Wallfahrt sind hingegen eher Zeichen für eine ausgeprägtere
Religiosität.
Tabelle 1: Häufig* ausgeführte religiöse Handlungen nach Altersgruppen
(Zeilenprozent, Mehrfachantworten)
Fasten
Tägl. Gebet Freitagsgebet
Feiertagsgebet
Almosen
18-29 Jahre
77,4
20,8
19,8
29,6
65,7
30-45 Jahre
76,8
32,5
26,1
36,1
83,5
46-60 Jahre
83,4
54,3
43,1
49,7
86,6
Älter als 60 Jahre
82,5
65,5
61,7
66,1
92,6
Insgesamt
78,7
35,9
30,3
39,1
79,5
Häufiger
Moscheebesuch
Wallfahrt
geplant
Einhaltung der Beteiligung
Speiseam Opferfest
vorschriften
18-29 Jahre
13,0
54,7
88,9
82,4
30-45 Jahre
16,3
59,5
88,1
75,4
46-60 Jahre
38,4
71,3
90,0
82,5
Älter als 60 Jahre
50,0
68,3
89,2
84,2
Insgesamt
22,4
61,3
88,7
79,5
Alter
Alter
*Zusammengefasste Kategorie "immer" und "meistens"
2.3
Religiöse Einstellungen
In der Forschung ist umstritten, in welchem Ausmaß religiöse, fundamentalistische oder aufgeklärte Orientierungen in der Migrantengesellschaft anzutreffen sind. So geht Heitmeyer von
einem Anteil zwischen 30% bis 50% Jugendlicher aus, die islamistisch-fundamentalistischen
28
Orientierungsmustern zuneigen. 9 Öztoprak hingegen stellte fest, dass sich deutsche und türkische Jugendliche in ihren Werthierarchien nur wenig unterscheiden und ein ausgeprägter
Wertekonservatismus, der religiöse Orientierungen einschließt, lediglich unter türkischen Jugendlichen in der extrem verdichteten Community in Berlin existiert. 10
Zur Untersuchung der Frage, inwieweit sich bei den befragten muslimischen Migranten türkischer Herkunft religiöse bzw. religiös-konservative oder moderne, nichtreligiös geprägte Einstellungen zeigen, wurde den Befragten eine Liste mit vier Aussagen, zwei religiöskonservative und zwei fortschrittliche Statements (Item-Liste) vorgelesen und nachgefragt, ob
sie diesen zustimmen oder ob sie die Statements ablehnen. 11
Die Einstellungen der befragten muslimischen Migranten zeigen bei dem Problem der Geschlechtertrennung im Unterricht und bei der Frage des Kopftuchzwangs für Frauen eine eher
liberale, aufgeklärte Haltung. Mit der Akzeptanz der Heirat nichtmuslimischer Ehepartner der
eigenen Kinder haben dagegen die Mehrheit der Befragten Schwierigkeiten. Insgesamt vertreten sie jedoch Einstellungen, die eher in eine moderne denn in eine streng religiöse Richtung weisen. Erwartungsgemäß zeigen sich hier ebenfalls Differenzen zwischen der ersten
und der zweiten Generation. Das Religionsverständnis ist bei der zweiten Generation ein eher
aufgeklärtes. Dennoch bleibt die türkisch-islamische Kultur ein zentraler Bezugsrahmen auch
der zweiten Generation.
Abbildung 3: Beurteilung religiös-konservativer und moderner Aussagen (Prozentwerte)
Es würde mir keine Probleme
bereiten, wenn mein Sohn eine
Nichtmuslime heiraten würde
Es würde mir keine Probleme
bereiten, wenn meine Tochter
18,6
18,4
18,2
25,5
15,9
31,2
25,2
34,2
6,3
6,5
einen Nichtmuslimen heiraten
würde
Muslimische Frauen sollten
generell in der Öffentlichkeit ein
9
13,7
13,5
23,5
Kopftuch tragen
34,7
14,5
Vgl. Heitmeyer, Wilhelm et al.: Verlockender Fundamentalismus. Frankfurt 1997.
Vgl. Öztoprak, Ümit: Wertorientierungen türkischer Jugendlicher im Generationen- und Kultur11,9 (Hg.):
6,8 Spagat
14,9 mit Kopftuch, 1997, S. 418-454.
64,5
1,9
vergleich. In: Reulecke, Jürgen
Als nichtreligiös-modern werden dabei die Aussagen "Es würde mir keine Probleme bereiten,
wenn mein Sohn eine Nichtmuslimin heiraten würde" und "Es würde mir keine Probleme berei0% einen
10% Nichtmuslimen
20%
30% heiraten
40%
50%
60%
70%
80%
90%
ten, wenn meine Tochter
würde"
definiert.
Die Aussagen
"Ich 100%
finde, am Sportunterricht oder an Klassenfahrten sollten Mädchen und Jungen nicht gemeinsam teilstimme voll zu
eher zu
eher nicht zu
gar nicht zu
keine Angabe
nehmen" und "Muslimische Frauen sollten generell in der Öffentlichkeit ein Kopftuch tragen"
10
Am Sportunterricht oder an
Klassenfahrten sollten Mädchen
und Jungen nicht gemeinsam
11
teilnehmen
29
Auch die Bildung hat starken Einfluss auf die religiösen Einstellungen. Je höher der schulische Bildungsgrad ist, desto eher neigen die Befragten zu modernen Ansichten. Zu berücksichtigen ist hier jedoch, dass sich in der Bildung sowohl das Alter als auch der Zuwanderungsgrund spiegeln und somit von einem sich summierenden Effekt ausgegangen werden
muss. Der Bildungszusammenhang schlägt sich auch in der beruflichen Stellung nieder, Arbeiter neigen in allen Fragen zu einer konservativeren Einstellung als Facharbeiter, Angestellte und Selbständige in freien Berufen haben modernere Einstellungen als Arbeiter und
Facharbeiter.
Tabelle 2: Bewertung religiöser Items (Mittelwert*) nach soziodemographischen
Merkmalen
Geschlech- Kopftuch Schwieger- Schwieger- summativer
tertrennung
sohn
tochter
Index
Alter
18-29 Jahre
30-45 Jahre
46-60 Jahre
älter als 60 Jahre
Cramers V.:
Zuwanderungsgrund
Gastarbeiter
Flüchtling
Familienzusammenführung
Studium/Ausbildung
in Deutschland geboren
Cramers V.:
Insgesamt
1,51
1,65
1,79
1,91
1,90
2,08
2,21
2,36
2,63
2,87
2,87
2,98
2,59
2,80
2,79
2,89
1,98
2,16
2,30
2,36
.20
1,90
1,18
1,62
1,41
1,40
2,29
1,67
2,10
1,71
1,68
2,86
2,67
2,92
2,46
2,41
2,77
2,67
2,85
2,41
2,36
1,61
1,99
2,77
2,71
2,29
2,05
2,20
1,84
1,81
.12
2,09
* Mittelwerte auf einer Skala von 1 = gar nicht konservativ-religiös bis 4=sehr konservativ-religiös
In einer weiteren Befragung von knapp 2000 erwachsenen türkischstämmigen Migranten
wurden die Befragten gebeten, ihre ihre generelle Orientierung zwischen ´traditionell und
modern zu verorten. 12
12
werden als religiös-konservativ eingestuft.
Fragetext: Schätzen Sie ihre Familie eher traditionell-religiös, eher modern-liberal oder in einigen
Themen traditionell und in einigen modern ein? Und wie schätzen Sie sich selbst ein?
30
Tabelle 3: Einschätzung der eigenen Orientierung nach Alter(Spaltenprozent, Mittelwert*)
Orientierung
Alter
18-25 Jahre 26-29 Jahre 30-44 Jahre 45-59 Jahre
Modern
41,8
30,7
34,7
31,0
teils/teils
44,8
52,8
52,2
48,6
traditionell
13,3
16,5
13,1
20,4
Mittelwert*
1,72
1,86
1,78
1,89
Anzahl
330
231
781
432
* Skala 1=modern-liberal; 2 = teils/teils; 3=traditionell-religiös
Gesamt
60 Jahre und mehr
23,8
44,1
32,2
2,08
143
33,8
49,6
16,6
1,83
1917
Insgesamt schätzen sich ein Drittel aller befragten Migranten selbst als modern-liberal ein, die
Hälfte sieht sich in einigen Fragen modern, in einigen traditionell und 17% bezeichnet sich
selbst als traditionell-religiös. Somit entspricht die Selbsteinschätzung der Migranten den Dimensionen der Zuordnung nach der Beurteilung der vorgegebenen Aussagen.
Bei den Jugendlichen ist der Anteil derjenigen, die sich als modern einschätzen, um 8% höher
als unter den Befragten insgesamt, traditionell-religiös sehen sich unter den 18-25-jährigen
nur 13%. Bei den jungen Erwachsenen ist dagegen der Anteil der "Modernen" mit 31% niedriger als bei allen Befragten. Sie ordnen sich zu einem höheren Anteil (53%) der Kategorie
"teils/teils" zu. Auch diese Selbsteinschätzung entspricht den Ergebnissen der Zuordnung
nach der Itemliste. Auch die Mittelwerte der verschiedenen Altersgruppen zeigen deutlich,
dass sich die jugendlichen Migranten erwartungsgemäß am modernsten einschätzen, dass jedoch die Befragten zwischen 26 und 29 Jahren traditionellere Einstellungen aufweisen als die
Altersgruppe zwischen 30 und 44 Jahre. Lediglich die Befragten über 60 Jahre schätzen sich
selbst etwas traditioneller ein als die jungen Erwachsenen. Dennoch befinden sich die Mittelwerte alle Altergruppen mit Ausnahme der über 60-jährigen im Bereich der liberal-modernen
Einstellungen, die Befragten aller Altersgruppen stufen sich folglich im Durchschnitt eher
modern-liberal als traditionell-religiös ein.
Diese Befunde legen zwei Schlussfolgerungen nahe: Das fortdauernde Selbstverständnis als
Muslim schließt in der zweiten und dritten Generation der Türken in Deutschland die Hinwendung zu modern-liberalen Orientierungen keineswegs aus. Die Gefahr der von Heitmeyer
heraufbeschworenen Fundamentalisierung der türkischen Jugendlichen wäre angesichts dieser
Befunde also zu relativieren. Gleichwohl ist die konkrete Ausgestaltung muslimischer Ident ität stark vom Bildungstand, und damit auch allgemein von der wirtschaftlichen sozialen Lage,
abhängig.
31
2.4
Religiöser Organisationsgrad
Wie wirkt sich das Bekenntnis zum Islam auf die religiöse Organisation in den unterschiedlichen Generationen aus? In der repräsentativen Befragung des ZfT unter 2.000 türkischstämmigen Migranten in Deutschland vom Oktober 2000 wurde auch die Nutzung und die Einstellung gegenüber islamischen Organisationen abgefragt.
Abbildung 4: Mitgliedschaft in einem Moscheeverein (Prozentwerte)
100
80
60
40
20
0
64,1
35,9
Mitgliedschaft
keine
Mitgliedschaft
Quelle: ZfT
Die Mehrheit der Befragten (55%) besuchen zwar eine bestimmte Moschee zum Beten oder
zu Veranstaltungen, von diesen sind dort jedoch nur 65% auch als Mitglieder formal eingetragen. Dies sind 36% aller befragten Muslime - damit jedoch deutlich mehr, als die bisherigen
Schätzungen, die bei 10%-15% lagen, ergaben.
Möglicherweise liegt dies daran, dass nicht nur die formal eingetragenen und beitragszahlenden Muslime sich als Mitglieder deklarierten, sondern auch Befragte, die zwar selbst direkt
keine formalen Mitglieder sind, aus deren Familien jedoch jemand als Mitglied eingetragen ist
oder die sich unabhängig von einer formalen Mitgliedschaft einem Moscheeverein verbunden
fühlen. Denn in der Praxis erstreckt sich die Mitgliedschaft eines Familienmitgliedes auf die
ganze Familie und ist anders als in deutschen Vereinsverständnis nicht an eine formale Mitgliedschaft gebunden, so dass die Befragten nicht zwischen einer formalen Mitgliedschaft und
der emotionalen Zugehörigkeit differenzieren.
Befragte aus der Altersgruppe zwischen 18 und 29 Jahren sind unter den Mitgliedern von Moscheevereinen unterrepräsentiert, das durchschnittliche Alter der Mitglieder in Moscheevereinen ist höher als in der gesamten Befragtengruppe. Ältere Befragte sind entsprechend
32
überrepräsentiert. So ist der Anteil der ehemaligen Gastarbeiter unter den Mitgliedern höher
als unter allen Migranten, hier Geborene sind unter den Mitgliedern entsprechend seltener
anzutreffen.
Die überwiegende Mehrheit der befragten Moscheevereinsmitglieder (71%) gehört Vereinen
an, die dem Dachverband "Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V. (DITIB)"
angeschlossen sind. Dies sind 26% aller befragten Muslime. Dieser Verband ist der Anstalt
für Religion der Türkei unterstellt und somit eine staatliche Organisation der Türkei.
Tabelle 4: Mitglieder von Moscheevereinen nach soziodemographischen Merkmalen
(Spaltenprozent)
Mitglieder
Alle Befragte
18-29 Jahre
20,8
30,2
30-45 Jahre
42,9
41,6
46-60 Jahre
28,6
22,4
Älter als 60 Jahre
Cramers V.: .12
7,7
5,9
Gastarbeiter
32,6
24,1
Flüchtling
0,3
1,8
Familienzusammenführung
55,1
53,1
Studium/Ausbildung
0,7
1,9
In Deutschland geboren
9,9
16,7
Alter
Zuwanderungsgrund
Cramers V.: .11
Quelle: ZfT
Sie vertritt die offizielle laizistische Haltung der türkischen Staatspolitik, konzentriert sich
stärker auf die religiöse Betreuung und versteht sich in erster Linie unpolitisch.
Von nennenswerter Bedeutung ist mit 8% der Moscheevereinsmitgliedern genannte Dachverband "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG)", die eine stärker politische Ausrichtung hat und sich für die Anerkennung der Muslime als religiöse Minderheit in Deutschland
einsetzt. Sie vertritt - inzwischen moderate - islamistische Positionen. Von allen befragten
Muslimen sind dort 3% organisiert.
33
Abbildung 5: Zugehörigkeit zu Dachverbänden* der Moscheevereine (Prozentwerte)
72,1
DITIB
8,3
IGMG
4,5
VIKZ
2,5
ATIB
ÇEM-Stiftung
1,9
keinem Dachverband
1,9
AABF
1,7
ADÜTDF
0,7
Jama at un-Nur
0,4
0,3
ICCB
0,1
ANF
3,3
Sonstige
0
10
20
30
40
50
60
70
80
* DITIB: Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V.; IGMG: Islamische Gemeinschaft
Milli Görüs; VIKZ: Verband der Islamischen Kulturzentren, ATIB: Union der TürkischIslamischen Kulturvereine in Europa; AABF: Föderation der Aleviten-Gemeinden in Deutschland
e.V.; ADÜTDF: Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Europa e.V.; ICCB:
Verband der Islamischen Vereine und Gemeinden e.V.; ANF: Föderation der Weltordnung in Europa.
Quelle: ZfT
Dem konservativ-orthodoxen, jedoch laizistisch orientierten "Verband der türkischen Kulturzentren e.V. (VIKZ)" gehören 5% der Moscheevereinsmitglieder und 2% aller Muslime an.
Den stärker politisch-nationalistisch bzw. islamistischen Organisationen "Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Europa e.V. (ADÜTDF)", dem "Verband der Islamischen Vereine und Gemeinden e.V. (ICCB)" und der "Föderation der Weltordnung in
Europa (ANF)" gehören wie der eher intellektuell ausgerichteten Reformbewegung "Jama at
un-Nur" jeweils weniger als 1% und zusammengenommen 1,5% der Moscheevereinsmitglieder, und damit weniger als 0,5% aller Muslime an. Bei der "Föderation der Aleviten-Gemeinden in Deutschland e.V. (AABF)" sind 2% der Mitglieder und 0,6% aller Muslime organisiert. Anderen Dachverbänden rechnen sich 3% und keinem Dachverband 2% der Mitglieder zu. DITIB kann als der Verband der mäßig religiösen, vorwiegend männlichen älteren
34
Befragten mit langer Aufenthaltsdauer und ehemaliger Gastarbeiter eingestuft werden. IGMG
ist dagegen der Verband der stärker religiös Geprägten. Frauen sind hier häufiger als in and eren Verbänden anzutreffen, ebenso die jüngeren Altersgruppen, auch viele hier Geborene.
Von den 18 bis 29-jährigen organisierten Migranten sind 11% Mitglieder der IGMG, das sind
3% aller türkischen Migranten dieser Altersgruppe.
Tabelle 5: Mitglieder ausgewählter Dachverbände und Mitglieder gesamt nach soziodemographischen Merkmalen (Spaltenprozent bzw. Mittelwerte)
Dachverbände
Religiösität
Religiös
Nicht religiös
Index religiöse Einstellungen*
Geschlecht
Männlich
Weiblich
Alter
18-29 Jahre
30-45 Jahre
46-60 Jahre
Älter als 60 Jahre
Altersdurchschnitt in Jahren
Aufenthaltsdauer
4-9 Jahre
10-20 Jahre
21-30 Jahre
Mehr als 30 Jahre
Durchschnittl. Aufenthaltsdauer
Zuwanderungsgrund
Gastarbeiter
Flüchtling
Familienzusammenführung
Studium/Ausbildung
Bin in Deutschland geboren
Heimatverbundenheit
Türkei
Deutschland
Beide Länder
Mitglieder Alle Musgesamt
lime
DITIB
IGMG
VIKZ
86,6
13,4
2,4
92,2
7,8
2,6
94,3
5,7
2,6
84,0
16,0
2,4
72,0
28,0
2,15
54,7
45,3
50,8
49,2
57,1
42,9
53,5
46,5
48,6
51,4
19,7
40,6
31,6
8,1
41,8
28,6
54,0
17,5
35,5
22,9
48,6
11,4
17,1
39,8
21,8
42,7
27,8
7,7
40,7
30,2
41,6
22,4
5,9
38,1
4,4
27,9
56,3
11,4
23,4
13,8
36,9
40,0
9,2
20,2
11,8
26,5
50,0
11,8
22,0
6,0
28,5
54,8
10,7
22,9
7,7
28,6
52,8
9,6
22,1
33,9
0,2
53,9
0,9
9,7
18,8
65,6
14,1
28,6
57,1
11,4
32,3
0,4
54,5
0,6
10,6
24,1
1,8
53,1
1,9
16,7
50,9
13,6
33,2
35,9
20,3
43,8
48,6
11,4
40,0
48,8
15,2
33,8
40,4
19,0
35,4
* Summativer Index der Einstellungen zu religiösen Statements, Skala von 1= nicht konservativreligiös bis 4= sehr konservativ-religiös
35
Die IGMG vertritt einen konservativen Ansatz mit stärkerer politischer Ausrichtung. Der
VIKZ vereint ebenfalls stärker religiös geprägte Muslime, ist männerdominiert und hat überproportional viele Anhänger unter den 30-45-jährigen und unter den über 60-jährigen. Er vertritt einen orthodoxen Islam, allerdings ohne politische Ausrichtung.
Keine generelle Gefahr der Fundamentalisierung
Diese Befunde zeigen die Schwierigkeit einer generalisierenden Betrachtung der Fundamentalismus-Gefahr bei der zweiten und dritten Migrantengeneration. Die Mehrheit der Jüngeren
scheint aufgrund ihrer eher modern-liberalen Orientierung eine geringere Neigung zur Organisation in religiösen Gemeinschaften aufzuweisen. Die Minderheit, die religiös-konservative
Einstellungen vertritt, ist aber in eher doktrinären Moscheevereinen organisiert. Soweit aus
diesem Umstand überhaupt auf die Gefahr der Fundamentalisierung geschlossen werden
kann, so wäre dies keine generelle Entwicklung, sondern ein Problem, das sich zuvorderst mit
Blick auf diejenigen Jugendlichen mit besonderes ungünstigen Perspektiven stellt.
3.
Islam, Religiösität und Integrationschancen
Dem Zusammenhang von Segregationstendenzen, Marginalisierung und Religiösität ist das
ZfT anhand von Befragungsdaten nachgegangen. Wir beziehen uns auf eine standardisierte
telefonische Befragung des Zentrums für Türkeistudien unter 1000 volljährigen Türkischstämmigen in NRW im Jahr 2001. 13
Zur Untersuchung der kulturellen Marginalisierung wurde den Befragten eine Liste von Aussagen vorgelesen und ihre Zustimmung oder Ablehnung erfragt (Item-Liste). Einige der Items
waren positiv in Richtung Zugehörigkeit, einige in Richtung Marginalisierung fo rmuliert.
Die Aussage, der mit 57% die Mehrheit zustimmte, war "Ich fühle mich in Deutschland zuhause". 21% stimmten hier zumindest teilweise zu. Das Item, das in die gleiche Richtung
weist, nämlich auf ein Zugehörigkeitsgefühl durch eine starke Nähe zu den Deutschen, erhielt
jedoch die geringste Zustimmung: Nur 12% stimmten dieser Aussage zu, 71% jedoch lehnen
13
Siehe auch Sauer, Martina: Kulturelle Integration, Deprivation und Segregationstendenzen türk ischer Migranten in Nordrhein-Westfalen. In: Goldberg, Andreas/Dirk Halm/Martina Sauer (Hg.):
Migrationsbericht des ZfT 2003. Münster 2003.
36
dies für sich selbst ab. Somit fühlen sich die meisten türkischstämmigen Migranten zwar in
Deutschland zuhause, aber den Deutschen nicht nahe und somit - so ist zu vermuten - bezieht
sich das Heimatgefühl auf die türkische Community und das engere (türkische?) Umfeld.
Tabelle 6: Zustimmung bzw. Ablehnung zu kultureller Zugehörigkeit und Marginalisierung
(Zeilenprozent)
Stimme
zu
Ich fühle mich in Deutschland zuhause
56,9
Ich fühle mich manchmal hin- und hergerissen zwischen der 46,7
Türkei und Deutschland
Manchmal fühle ich mich heimatlos und weiß nicht, wohin ich 41,1
gehöre
Eigentlich fühle ich mich weder in Deutschland noch in der 30,0
Türkei richtig zuhause
Ich finde es eigentlich einfach, die deutsche und die türkische 27,3
Lebensweise zusammenzubringen
Ich fühle mich den Deutschen ziemlich nahe
12,2
teils/
teils
Stimme
nicht zu
21,2
19,1
21,9
34,1
13,6
45,3
17,8
52,3
19,5
53,2
17,2
70,6
Um eine bessere Übersicht über den Grad der Marginalisierung zu bekommen und verschiedene soziale Gruppen besser miteinander vergleichen zu können, wurde ein summativer Index
der Marginalisierung aus diesen Items gebildet. Dazu wurden zunächst die Items in eine einheitliche Richtung umcodiert. 14 Anschließend wurden die Werte summiert. So entstand eine
Skala von 6 ( = kulturelle Zugehörigkeit) bis 18 ( = kulturelle Marginalisierung).
Insgesamt erreichen die Befragten einen Wert von 12,17 auf dem Index. Die Mitte der Skala
liegt bei 12,5. Je höher der Wert ist, um so stärker ist die empfundene Marginalisierung. Damit kann man interpretieren, dass die Migranten insgesamt - gemessen anhand der Summe zu
den sechs Aussagen - leicht in Richtung kultureller Zugehörigkeit tendieren.
Der Grad der Religiösität wirkt sich ganz eindeutig auf das Zugehörigkeitsgefühl aus: Je
(muslimisch-)religiöser die Befragten sind, um so weniger fühlen sie sich der christlich geprägten, bundesdeutschen Gesellschaft zugehörig.
14
Die Codierung der positiv in Richtung Zugehörigkeit formulierten Aussagen "Ich fühle mich in
Deutschland zuhause", "Ich finde es eigentlich einfach, die deutsche und die türkische Lebensweise
zusammenzubringen" und "Ich fühle mich den Deutschen ziemlich nahe" wurde umgekehrt, d. h.
die Zustimmung wurde als Ablehnung gewertet und Ablehnung als Zustimmung codiert.
37
Abbildung 6: Marginalisierungs-Index nach Religiösität (Mittelwert*)
14
13,5
13
12,75
12,31
12,5
12,05
11,78
12
11,5
11
sehr geligiös
eher religiös
eher nicht
religiös
nicht religiös
* Mittelwert auf einer Skala von 6 = kulturelle Zugehörigkeit
bis 18 = kulturelle Marginalisierung.
In manchen Fällen kann empfundene kulturelle Marginalisierung, das Bewusstsein für die
Andersartigkeit oder das Bedürfnis nach Bewahrung der ursprünglichen Kultur, zu einer gewollten Abgrenzung von der Aufnahmegesellschaft führen. Um solche Segregationstendenzen
zu untersuchen, wurde den Befragten wiederum eine Liste mit Aussagen (Item-Liste) vorgelesen und die Zustimmung oder Ablehnung erfragt.
Offensichtlich ist die türkische Community in Deutschland stark gespalten zwischen dem
Wunsch, einerseits die türkische Identität zu bewahren und sich andererseits in die deutsche
Gesellschaft einzugliedern. Fast die Hälfte der Befragten sieht eine Gefahr darin, langsam zu
Deutschen zu werden, nur 38% sehen dies nicht so. Andererseits stimmen nur 15% der Aussage zu, man solle sich von der deutschen Gesellschaft abgrenzen, um die türkische Lebensweise nicht zu verlieren; drei Viertel der Befragten lehnen einen Rückzug in die eigene ethnische Gruppe ab. Auch die Mischung der Nationalitäten und Kulturen durch Heirat - ein häufig
heikles Problem zwischen unterschiedlichen Kulturen und Nationalitäten - wird nur von einer
relativ kleinen Minderheit von 17% abgelehnt. Fast drei Viertel sind dagegen, nur innerhalb
der eigenen Ethnie zu heiraten. Somit geraten die Migranten in eine nicht leicht zu lösende
Situation: Einerseits möchten sie ihre kulturelle Identität bewahren, andererseits wollen sie
sich nicht von der deutschen Gesellschaft abschirmen.
38
Tabelle 7: Zustimmung bzw. Ablehnung zu Segregation (Zeilenprozent)
Stimme
Teils/
Stimme
zu
teils
nicht zu
Wir Türken müssen aufpassen, dass wir nicht allmählich zu Deut- 47,3
schen werden
15,3
37,4
Wir Türken müssen unter uns bleiben, um unsere türkische Le- 15,4
bensweise nicht zu verlieren
8,9
75,7
Wir Türken sollten möglichst nur unter uns heiraten
10,1
72,5
17,4
Wie bei der Item-Liste zur Marginalisierung wurde auch hier ein summativer Index der Segregationstendenzen gebildet. So entstand eine Skala, die von 3 ( = ausgeprägte Segregationstendenzen) bis 9 ( = keine Segregationsbestrebungen) reicht. Je höher der Wert ist, umso geringer sind die Segregationstendenzen.
Die Befragten erreichen insgesamt einen Wert von 7,06 auf der "Segregationsskala". Da der
Mittelpunkt dieser Skala bei 6 liegt, kann man insgesamt von eher geringen Segregationstendenzen sprechen.
Die Religiösität wirkt sich - wie im Fall der Marginalisierung - stark auf das Bedürfnis nach
Abschottung aus: Je religiöser die Befragten sind, umso eher möchten sie sich auf die eigene
Ethnie beziehen und die türkische Lebensweise bewahren. Nichtreligiöse Befragte vertreten in
sehr geringem Maß Abschottungstendenzen.
Abbildung 7: Segregations-Index nach Religiösität (Mittelwert*)
7,81
8
7,21
7,5
6,9
7
6,5
6,12
6
sehr religiös
eher religiös
eher nicht
religiös
gar nicht
religiös
*Mittelwert auf einer Skala von 3 = ausgeprägte Segregationstendenzen
bis 9 = keine Segregationstendenzen.
39
Die Europäisierung des Islam hat also in der Gesamtsicht noch nicht dazu geführt, dass Menschen mit starker muslimischer Identität sich in Deutschland auch wirklich heimisch fühlen.
Vielmehr scheint das Gefühl der kulturellen Zerrissenheit vorzuherrschen, wozu theoretisch
eine als zu wenig plural empfundene Aufnahmegesellschaft beitragen kann, was aber auch in
der Verantwortung der islamischen Gemeinden liegen mag, die eine auch inhaltlichtheologische Reform, die dem Leben der Muslime in der Migration gerechter wird als ein
traditioneller Ansatz, bisher versäumt haben. Damit bleibt der Islam als drängendes Integrationsproblem aktuell, an dem wiederum deutlich wird, dass Integration gleichermaßen eine
komplexe Aufgabe für Zuwanderer und Aufnahmegesellschaft ist. 15
4.
Islam in der Europäischen Union
In den 25 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union leben, wenn auch teilweise in sehr unterschiedlich großen Zahlen, Muslime. Die Gesamtzahl der Muslime in den "alten" EU-Staaten
liegt bei 13,5 Millionen. Gemessen an der EU-Gesamtbevölkerung liegt der Anteil bei 3,5%.
Bei dem übergroßen Teil handelt es sich um Muslime, die in den vergangenen Jahrzehnten
zugewandert sind bzw. um deren Kinder und Kindeskinder. Neben Staaten, in denen nur sehr
wenige Muslime leben - wie beispielsweise in Irland, Finnland oder Portugal -, gibt es andere
EU-Staaten, in denen die Zahl der Muslime eine beachtliche Größe erreicht hat. Die Staaten
mit den höchsten Zahlen in der EU sind Frankreich (5 Millionen), Deutschland (3,4 Millionen) und Großbritannien (1,6 Millionen). 16 Ebenfalls in größeren Zahlen leben Muslime in
den Niederlanden und Italien (jeweils 700.000), Spanien (400.000), Belgien (380.000), Österreich (370.000). Im Falle Griechenlands (370.000) ist auf eine Besonderheit hinzuweisen:
Hier handelt es sich überwiegend um langansässige Muslime (Türken und Pomaken). Während der Anteil der Muslime an der EU-Gesamtbevölkerung bei 3,5% beträgt, liegt er in
15
16
Zum Integrationsbegriff vgl. Sen, Faruk/Martina Sauer/Dirk Halm: Integration und intergenerativer Wandel von türkischen Zuwanderern. In: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik,
No.4/2001, S. 214-220.
In keinem dieser Länder lässt sich eine exakte Zahl ermitteln. Grund hierfür ist die steigende Zahl
eingebürgerter Personen, die in der Statistik nicht gesondert erfasst werden. Im Falle der Zahl der
Muslime in Großbritannien handelt es sich um die Eigenangabe der Personen, die in der Volkszählung 2001 nach ihrer Religionszugehörigkeit befragt wurden. Vgl. die Tabelle Religion in
Britain des Nationalen Amtes für Statistik in Großbritannien, abrufbar unter der Internet-Adresse
http://www.statistics.gov.uk/cci/nugget.asp?id=293.
40
Frankreich bei 8,1%, in den Niederlanden bei 4,6%, in Österreich bei 4,2% und in Deutschland bei 3,9% (vgl. Tabelle).
Tabelle 8: Muslime in der alten Europäischen Union 17
Mitgliedsstaat
Belgien
Dänemark
Deutschland
Frankreich
Finnland
Griechenland
Großbritannien
Irland
Italien
Luxemburg
Niederlande
Österreich
Portugal
Schweden
Spanien
Gesamt
Zahl der Muslime (Jahr) Gesamtbevölkerung
382.870 (2004)
151.500 (2004)
3.400.000 (2002)
5.000.000 (2002)
21.000 (2004)
372.600 (2004)
1.591.000 (2001)
10.000 (2002)
705.000 (2004)
7.500 (2004)
750.628 (2004)
372.800 (2004)
40.000 (2004)
305.500 (2004)
402.000 (2004)
13.512.000
10.348.276 (2004)
5.413.000 (2004)
82.440.300 (2002)
61.387.000 (2002)
5.214.512 (2004)
10.647.600 (2004)
58.789.000 (2001)
3.917.336 (2002)
58.057.000 (2004)
462.600 (2004)
16.318.199 (2004)
8,174,762 (2004)
10.500.000 (2004)
8,986,400 (2004)
40.280.780 (2004)
380.936.765
Anteil der
Muslime
3,7 %
2,8 %
3,9 %
8,1 %
0,4 %
3,5 %
2,7 %
0,2 %
1,2 %
1,6 %
4,6 %
4,2 %
0,4 %
3,4 %
1,0 %
3,5 %
Tabelle 9: Muslime in den Erweiterungsstaaten 2007
Mitgliedsstaat
Bulgarien
Rumänien
Kroatien
17
Zahl der Muslime
Gesamtbevölkerung
950.000 - 1.000.000 (2003) 7.900.000 (2003)
90.000 (2003)
22.355.551 (2003)
58.500 (2001)
4,496,869 (2001)
Anteil der
Muslime
12 % - 13 %
0.4 %
1.3 %
Die Zahle n beziehen sich auf unterschiedliche Jahre, da die Volkszählungen in den verschiedenen
EU-Mitgliedsstaaten in unterschiedlichen Jahren durchgeführt wurden, auf die sich die Zahlen
bzw. geschätzten Zahlen der Muslime und somit ihr Anteil an der Bevölkerung beziehen. Die
Ermittlung exakter Zahlen ist auch aufgrund der Einbürgerung von Muslimen nicht möglich, da
sie dann nicht mehr erfasst werden. Quellen: Zentrum für Türkeistudien; Maréchal, Brigitte
(coord.): L’Islam et les musulmans dans l’Europe élargie, Louvain-La-Neuve 2002; Für Großbritannien siehe National Statistics GB (http://www.statistics.gov.uk/cci/nugget.aps?id=293); zu
Irland siehe http://www.local.ie/content/22387.shtml/about_ireland/society/religion
41
Tabelle 10: Muslime in den Erweiterungsstaaten18
Slowakei
Malta
Zypern (inklusive
Norden)
Estland
Lettland
Litauen
Tschechische
Republik
Slowenien
Polen
Ungarn
Gesamt
Muslime
10.829
3.000
210.000
Gesamtbevölkerung
5.415.000
375.000
925.000
Anteil
0,2 %
0,8 %
22%
5000 - 10.000i
3.000ii
7.000
20.000 - 30.000
1.360.000
2.366.000
3.610.000
10.300.000
0,36 % - 0,72 %
0,12%
0,19 %
0,2% - 0,3%
30.247
4.000
3.000iii
1.394.576 – 1.459.576
1.951.000
38.634.000
10.106.000
109.794.420
1,6 %
0,005 %
0,02 %
1.27% - 1.32%
4.1. Türkisch geprägter Islam
Eine andere Zusammensetzung und eine längere Tradition als in der Bundesrepublik hat der
Islam in Österreich. Als Nachfolgestaat Österreich-Ungarns, das 1908 die Provinz BosnienHerzegowina mit seinen muslimischen Bosniaken annektiert hatte, haben Muslime bereits
1913 einen Status als Religionsgemeinschaft. Heute leben in Österreich rund 372.000 Muslime unterschiedlicher Herkunft, hierunter insbesondere muslimische Migranten aus der Türkei
und verschiedenen arabischen Ländern. Rund 15% der Muslime in Österreich kommen aus
dem ehemaligen Jugoslawien. Muslime leben in allen Landesteilen, eine größere Konzentration findet sich jedoch in Wien, wo rund ein Drittel aller Muslime des Landes lebt. Die Muslime in Österreich haben eine eigene, religiöse Infrastruktur errichtet, die sich hauptsächlich auf
einzelne Moscheegemeinden und verschiedene Dachgemeinden stützt. Am besten organisiert
sind Muslime aus der Türkei, die rund 45% aller Muslime im Land ausmachen. Sie sind in
drei verschiedenen Dachverbänden organisiert. Ebenfalls in Form eines bundesweiten Dachverbandes sind die bosnischen Muslime organisiert. Ähnlich wie in Deutschland gibt es Bemühungen, Muslime unterschiedlicher Herkunft unter einem Dach zusammenzufassen. In
diesem Sinne wirkt die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich. Bundesweit gibt es
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Alle Daten aus: Religious Freedom Report 2004 of the US State Department, CIA World Fact Book
2004, z. T. eigene Berechnungen. Weitere Daten von: Estonian Muslim Community, ii) www.tatar.ru,
iii) Hungarian Islamic Community.
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ca. 150 Moscheegemeinden. Aufgrund der längeren Tradition und des damit verbundenen
Status als Religionsgemeinschaft gibt es auch eigene Schulen, wie das islamische Gymnasium
in Wien. Auch bei den zugewanderten Muslimen in Österreich ist in den vergangenen Jahren
die Tendenz zur Einbürgerung gestiegen. Am augenfälligsten wird dies im Bundesheer, wo
die Zahl muslimischer Wehrdienstle istender stark angestiegen ist.
Beachtenswert hinsichtlich des türkisch geprägten Islam ist übrigens neben Deutschland und
Österreich auch Griechenland, wo heute 372.000 Moslems meist türkischer Volkszugehörigkeit leben.
4.2. Nicht-türkisch geprägter Islam
Eine vergleichsweise lange Einwanderungsgeschichte haben die Muslime in Großbritannien.
Bereits im 19. Jahrhundert kamen erste Muslime dorthin. In größeren Zahlen erfolgte dies jedoch erst in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts, hier zunächst überwiegend aus dem indopakistanischen Raum. Die 1,6 Millionen Muslime, die heute in Großbritannien, meist in den
Industriestädten, leben, stammen größtenteils aus Pakistan und Bangladesh. In den vergangenen Jahren sind - zumeist als Flüchtlinge - Muslime aus arabischen Ländern, vom Balkan
(Bosnier und Kosovaren) und teilweise aus Afrika (Somalia).
Mit einer Glaubensgemeinschaft von 5 Millionen Menschen ist der Islam heute die zweitgrößte Religion in Frankreich. Die Muslime in Frankreich sind, obwohl in der Mehrzahl aus dem
Maghreb stammend, eine sehr heterogene Gruppe, die sich aus Zuwanderern noch aus der
Kolonialzeit, Gastarbeitern der Nachkriegszeit sowie seit Neuerem auch schwarzafrikanischen
Zuwanderern zusammensetzen. Ihre in Frankreich geborenen Kinder sind indessen allesamt
Franzosen. Die französischen Muslime konzentrieren sich im Norden Frankreichs, in der Umgebung von Paris, in Ostfrankreich, sowie um Lyon und Marseille. Insgesamt haben sie rund
1500 Moscheen im Land etabliert.
In den Niederlanden gehören 4,6% der Bevölkerung dem muslimischen Glauben an, dies entspricht 750.000 Menschen. Die wichtigsten nationalen Gruppen bilden die Türken mit
319.600 Menschen und die Marokkaner mit 272.750 Personen, die zumeist als Arbeitsmigranten einreisten. Darüber hinaus leben rund 300.000 Surinamesen in den Niederlanden,
von denen 20% dem muslimischen Glauben angehören. Sie leben zumeist in vier größten
Städten des Landes. Da in den Niederlanden seit 1985 das kommunale Wahlrecht für Aus-
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länder gewährt wird, haben sich zahlreiche Organisationen gebildet, in Amsterdam alleine
106 türkische und ebenso viele marokkanische Organisationen, die jedoch nur zu einem Teil
religiöser Natur sind. Seit 1998 gibt es eine islamische Hochschule in Rotterdam.
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5.
Fazit - Euro-Islam als empirischer Tatbestand?
Die oben dargelegten Befunde belegen, dass die Entwicklung eines Euro-Islam durchaus empirische Substanz besitzt. Die in Deutschland lebenden Muslime haben sich nicht vordergründig deutsche Organisationsstrukturen angeeignet, innerhalb derer die von ihnen ausgeübte Religion statisch bleibt und schlimmstenfalls auf einen Kulturkonflikt zusteuert. Vielmehr unterliegt der Islam in der Migration einem dynamischen Wandel, dessen "Endprodukt" ein Islamverständnis sein könnte, das sich von nicht-pluralistischen Traditionslinien der Religionsentwicklung deutlich emanzipiert. Dieser Befund ist um so bemerkenswerter, als diese Entwicklung seitens der deutschen Aufnahmegesellschaft bisher kaum aktiv befördert wurde. Es muss
betont werden, dass die quasi zwanghafte Modernisierung der muslimischen Bevölkerung in
Deutschland eben so wenig in einer Verfestigung eines traditionellen Religionsverständnisses
wie in einer Abkehr vom Islam resultierte - die Modernisierung und das Leben in der Migration haben vielmehr zu religiös-kulturellem Wandel geführt. Wo dieser Wandel nicht stattfindet
- bei den Älteren, schlechter gebildeten - scheint sich indessen eher die Annahme der Abhä ngigkeit statischer (oder sogar sich vertiefender) traditionell-religiöser Orientierungen von der
schlechten Teilhabe an den gesellschaftlichen Ressourcen und Prozessen in Deutschland zu
bestätigen - religiöse Rückbesinnung als Antwort der Globalisierungs-Verlierer - als die Behauptung eines Islamismus als Speerspitze einer alternativen Modernisierung. Insofern finden
die jungen - auf den ersten Blick gut gebildeten, mit verhältnismäßig guten sozialen Chancen
ausgestatteten - Attentäter des 11. September auch keine Entsprechung in den soziodemographischen und sozioökonomischen Zusammenhängen mit dem Religionsverständnis der muslimischen Migranten in Deutschland.
Dies bedeutet, dass eine aktive Förderung eines europäischen, pluralistischen Islam bei den
muslimischen Migranten in Deutschland auf fruchtbaren Boden fallen würde und damit aus
integrationspolitischer Sicht mehr als lohnend erscheint. 19 Bestimmte normative Forderungen
wären an einen solchen "Euro-Islam" zu stellen. Er müsste auf fünf Säulen fußen: der Ablehnung einer traditionellen, überkommenen Scharia, dem Prinzip des Laizismus, der Kompatibilität islamischer Lebensweisen mit den Normen der Industriegesellschaft, Treue zur verfassungsmäßigen Ordnung der Aufnahmeländer und Zustimmung zu Demokratie und Pluralität.
19
Siehe auch Sen, Faruk / Halm, Dirk: Ethnisch-religiöse Differenz, Integration und Desintegration. Zur gesellschaftspolitischen Bedeutung des islamischen Religionsunterrichts in Deutschland.
In: Bildung und Erziehung, No. 4/2000, S. 397-409.
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Das Potential für einen europäischen Islam ist also vorhanden. Allerdings wird auch deutlich,
dass in der Realität noch immer ein Spannungsfeld zwischen Religiösität und Integration verbleibt. Diese zu schließen ist ein wichtige Aufgabenstellung sowohl für die deutsche Politik
wie auch die islamischen Gemeinden. Letztere müssen sich verstärkt einer Theologie zuwenden, die die veränderte Lebenswirklichkeit der Muslime aufgreift und sie nicht in einen Spagat zwischen Islam und Moderne zwingt. Flankiert werden muss eine solche Entwicklung
durch eine möglichst weitgehende Gleichstellung des Islam und der Muslime in Deutschland.
Obwohl entsprechende vergleichende Studien bisher fehlen, ist plausiblerweise davon auszugehen, dass eine Entwicklung zu einem authentischen Islamverständnis in der Migration
auch in den anderen europäischen Ländern mit nennenswerter muslimischer Bevölkerung
nachzuweisen sein dürften. Dennoch: Der Islam in Europa weist in den unterschiedlichen
Aufnahmeländern sehr unterschiedliche, herkunftsspezifische Ausprägungen auf. Ob die sich
in der Zukunft in der Migration herausbildenden, authentischen und neuen Formen des Islam
tatsächlich auch eine Annäherung der Muslime in Europa an einen gemeinsamen Euro-Islam
bedeuten werden oder ob dieser zunächst eine normative Setzung bleibt, ist noch offen. Aber
eines ist sicher: Es gibt Bewegung, und diese Bewegung deutet für die absolute Mehrheit des
Muslime nicht in Richtung der Einigung unter dem Dach von Fundamentalismus oder Islamismus.
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LITERATUR
Halm, Dirk/Martina Sauer: Freiwilliges Engagement von Türkinnen und Türken in Deutschland. Projekt der Stiftung Zentrum für Türkeistudien im Auftrag des Bundesministeriums für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Unveröffentlichtes Manuskript, Essen 2004.
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York 1996.
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Migranten in Nordrhein-Westfalen. In: Goldberg, Andreas/Dirk Halm/Martina Sauer (Hg.):
Migrationsbericht des ZfT 2003. Münster 2003.
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Bildung und Erziehung, No. 4/2000, S. 397-409.
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Tibi, Bassam: Der Islam und das Problem der kulturellen Bewältigung sozialen Wandels.
Frankfurt/Main 1991.
Tibi, Bassam: Fundamentalismus im Islam. Eine Gefahr für den Weltfrieden?, Darmstadt
2000.
Tibi, Bassam: Im Schatten Allahs. Der Islam und die Menschenrechte, München 2003.
Zentrum für Türkeistudien: Bestandsaufnahme der Potentiale und Strukturen von Selbstorganisationen von Migrantinnen und Migranten türkischer, kurdischer, bosnischer und maghrebinischer Herkunft in Nordrhein-Westfalen, in: Ministerium für Arbeit, Soziales und
Stadtentwicklung, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.): Selbstorganisationen von Migrantinnen und Migranten in Nordrhein-Westfalen. Wissenschaftliche
Bestandsaufnahme, Düsseldorf 1999, S. 75-127.
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Die Stiftung Zentrum für Türkeistudien
Das Zentrum für Türkeistudien wurde 1985 mit dem Ziel der Intensivierung der deutschtürkischen Beziehungen gegründet. Seine Aufgaben umfassen die Anregung und Organisation, Durchführung und Vernetzung wissenschaftlicher Forschung, die Sammlung sowie Dokumentation von Informationen über die wichtigsten Fragen der deutsch-türkischen Beziehungen, die Förderung des Wissenschaftleraustauschs zwischen der Türkei und Deutschland
und die Migrationsforschung. Das Institut ist eine Stiftung des Landes Nordrhein-Westfalen
und genießt als NGO Konsultativstatus beim Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) der Vereinten Nationen. Das ZfT ist Institut an der Universität Duisburg-Essen
Der interkulturelle Ansatz des ZfT spiegelt sich in seinen MitarbeiterInnen, die nicht nur
deutscher und türkischer Herkunft sind, sondern auch aus Polen, Bulgarien und Aserbaidschan stammen. Zusätzlich arbeiten am ZfT regelmäßig Gastwissenschaftler aus Europa,
Asien und den USA. Das ZfT hat insgesamt 30 Beschäftigte.
Das Zentrum für Türkeistudien hat seit 1985 über 150 Projekte abgeschlossen. Dazu zählen
Forschungsprojekte gleichermaßen wie Modellprojekte, die durch praktische Interventionen
die Zuwanderungswirklichkeit in Deutschland sowie die deutsch-türkischen Beziehungen
aktiv mitgestaltet haben. Die frühen Arbeiten des ZfT in den 1980er Jahren, etwa zur ethnischen Ökonomie, haben die gesellschaftliche Sicht auf die Chancen von Zuwanderung und
die Möglichkeiten von Integrationspolitik nachhaltig verändert. In elementaren Bereichen hat
das ZfT nicht nur neue Wege im Zusammenleben von deutschen und Zuwanderern und in der
internationalen Verständigung durch seine Forschungsergebnisse geebnet, sondern die Kopplung von Theorie und Praxis in der eigenen Arbeit vollzogen. Beispielhaft sind hier etwa die
Studien zum Ausbildungspotential in türkischen Unternehmen in Deutschland, die in Modellprojekte zur Förderung der Ausbildungsbereitschaft in türkischen Betrieben mündeten oder
Arbeiten zu interkulturellen Konflikten, deren Ergebnisse in die Programmierung von Praxisprojekten zum Konfliktmanagement einfließen.
Das ZfT gibt sowohl Monographien als auch Publikationsreihen heraus, die sein wissenschaftliche Arbeit dokumentieren. Mit der Zeitschrift für Türkeistudien ist darüber hinaus seit
1988 ein wissenschaftliches Periodikum mit interdisziplinärer Ausrichtung geschaffen wor49
den. Die Zeitschrift ist ein Forum für Forschungsergebnisse zur Türkei, ihrem regionalen Umfeld, den internationalen Beziehungen sowie der türkischen Migration und richtet sich gle ichermaßen an Politikwissenschaft, Soziologie, Ethnologie, Geschichte und verwandte Disziplinen.
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