MK Ethik, Einige zusätzliche Ausschnitte aus der NE (Ü: Lasson) A

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MK Ethik, Einige zusätzliche Ausschnitte aus der NE (Ü: Lasson)
A) Verantwortung
III 1 Da der sittliche Charakter sich in dem Verhalten gegenüber den Eindrücken der
Gegenstände und in der tätigen Einwirkung auf die Gegenstände zeigt; da ferner frei gewollte
Handlungen zu Lob oder Tadel, nicht frei gewollte Handlungen zur Nachsicht, bisweilen sogar
zum Mitleid Anlaß geben: so ist es für den Forscher über die Fragen des sittlichen Lebens eine
unumgängliche Aufgabe, die frei gewollten und die nicht frei gewollten Handlungen
gegeneinander abzugrenzen; zugleich aber ist es eine Hilfeleistung für den Gesetzgeber, schon in
Hinsicht auf die Zuerkennung von Ehrenerweisungen und Strafen. Als nicht frei gewollt gilt das,
wozu jemand durch Zwang oder durch Irrtum veranlaßt wird. Durch Zwang bewirkt ist eine
Handlung, deren bewegende Ursache außerhalb des Handelnden liegt. Dahin gehören zunächst
solche Handlungen, bei denen derjenige, der etwas bewirkt oder erleidet. Überhaupt nicht
mittätig ist; z.B. wenn jemanden ein Luftstoß fortträgt, oder auch wenn Menschen, die ihm zu
befehlen haben, ihn zu etwas drängen. Wenn dagegen etwas getan wird aus Furcht vor einem
größeren Übel oder aus Liebe zu einem wertvollen Gute / z.B. ein Machthaber, der über
jemandes Eltern und Kinder Gewalt hat, befiehlt ihm etwas Schändliches zu tun, mit der
Bestimmung, daß sie am Leben bleiben, falls er gehorcht, und den Tod erleiden müssen, falls er
nicht gehorcht, / da kann man im Zweifel sein, ob die Handlung frei gewollt ist oder nicht.
Ähnlich liegt der Fall, wo im Sturm Güter über Bord geworfen werden. Denn ohne weiteres wirft
niemand sein Hab und Gut ins Meer; zur eigenen Rettung dagegen wie zu der der anderen tut es
jeder Verständige. Solche Handlungen tragen somit gemischten Charakter, sie stehen aber den
frei gewellten näher. Denn, wo man dergleichen tut, da geschieht es mit Vorsatz; die Absicht
dabei aber ist allerdings durch den äußeren Anlaß auferlegt.
III 7 Da den eigentlichen Inhalt des Wollens der Zweck bildet, das was man beschließt und im
Vorsatz erfaßt aber die Mittel zum Zweck betrifft, so ergibt sich, daß die daraus entspringenden
Handlungen einem Vorsatz entsprechen und mithin frei gewollt sind. Gerade solche Handlungen
nun bilden das Gebiet der Sittlichkeit. Das Sittliche liegt demnach ebenso wie das Unsittliche in
unserer Macht. Denn da wo das Handeln bei uns steht, steht bei uns auch das Unterlassen, und
umgekehrt, wo das Unterlassen, da steht auch das Handeln bei uns. Liegt es also in unserer
Gewalt zu tun was edel ist, so liegt es auch in unserer Gewalt zu unterlassen was verwerflich ist,
und steht es bei uns zu unterlassen was edel ist, so steht es auch bei uns zu tun was niedrig ist
Haben wir aber die Gewalt, das Edle und das Verwerfliche zu tun und ebenso es zu unterlassen, /
und das hieß doch so viel wie gut oder schlecht zu sein, / so steht es also auch in unserer Gewalt,
edel und niedrig gesinntzusein. Wenn es also heißt: »Mit Willen schlecht ist keiner, noch ungern
beglückt,« so darf man das erste als falsch, und nur das zweite als wahr bezeichnen. Denn
glücklich ist in der Tat niemand wider seinen Willen; aber Schlechtigkeit stammt aus dem freien
Wollen. Sonst müßte man das eben Erörterte in Zweifel ziehen und dürfte nicht sagen, daß der
Mensch der Ursprung und Urheber seiner Handlungen ist, wie er der Erzeuger seiner Kinder ist.
[...] Dafür, scheint es, zeugt denn auch die eigene Erfahrung eines jeden einzelnen wie das
Verfahren der Gesetzgeber. Diejenigen die Böses tun straft und züchtigt man, sofern sie nicht
durch Zwang oder Irrtum unverschuldet auf Abwege geraten; dagegen ehrt und belohnt man
diejenigen, die recht handeln, beides doch in der Absicht, die einen anzufeuern, die anderen
abzuschrecken. [...] Selbst für einen Irrtum erleidet einer Strafe, wenn sein Irrtum verschuldet
erscheint; so setzt man auch wohl für Handlungen, die in der Trunkenheit begangen worden sind,
die Strafe doppelt so hoch an, weil der Täter die Schuld an der Trunkenheit selbst trägt. Denn er
wäre Herr genug gewesen, die Trunkenheit zu vermeiden; diese aber ist dann zur Ursache seines
Irrtums geworden. So bestraft man auch die Unkenntnis gesetzlicher Bestimmungen, die einer
kennen muß und deren Kenntnis ohne Schwierigkeit zu erlangen war. Das gleiche geschieht auch
sonst da, wo die Unkenntnis durch Fahrlässigkeit verschuldet ist, sofern es in der Macht der
Menschen stand die Unkenntnis zu meiden; denn sie waren Herren darüber sich sorgfältig
danach umzutun.
Nun sagt man ja vielleicht: es hat aber einer nun einmal die Natur, daß er keine Sorgfalt darauf
verwendet. Dann aber ist er eben schuld daran, daß er durch sorgloses In-den-Tag-hinein-leben
diese Natur angenommen hat. Wenn die Menschen ungerecht oder ausschweifend geworden
sind, so haben sie es selbst verschuldet, die einen dadurch, daß sie fremdes Recht verletzten, die
anderen dadurch, daß sie ihre Tage mit Trinkgelagen und ähnlichen Vergnügungen verbrachten.
Denn wie der Mensch sich im einzelnen Fall benimmt, danach gestaltet sich sein Charakter.
VII 2
Nach der allgemeinen Ansicht also gehört Selbstbeherrschung und Willensstärke zu den guten
und lobenswerten, Genußsucht und Willensschwäche dagegen zu den schlechten und
tadelnswerten Eigenschaften; ebenso gilt der Charaktervolle zugleich als derselbe, der der
vernünftigen Überlegung treue Folge leistet, ebenso wie der Genußsüchtige als der gilt, der dazu
neigt, ihr abtrünnig zu werden. Der Genußsüchtige handelt von seinem Triebe hingerissen
wissentlich schlecht; [...].
[Lösungsansätze (ziemlich knifflig) ⇒ VII 5; zum „nemo sua sponte peccat“: z.B. Platon
Protagoras 345e, Gorgias 446d, Nomoi 860c-d]
B) Die verschiedenen Sorten der Gerechtigkeit
V 5 Die eine Form der Gerechtigkeit im engeren Sinne und ebenso des Gerechten ist diejenige,
die beim Zuerteilen von Ehre, von Geld oder sonstigen Gütern zur Erscheinung kommt, an denen
die Staatsangehörigen teilzuhaben berechtigt sind; denn darin kann es geschehen, daß der eine
das Gleiche wie der andere, oder daß er Ungleiches empfängt. Eine zweite ist die, die sich als
wiederherstellende im [Umgang der Menschen miteinander (en tois syallagmasi)] betätigt. Von
dieser letzterengibt es wieder zwei Arten. [Die Formen des Umgang der Menschen miteinander]
beruhen teils auf freiem Wollen, teils sind sie nicht frei gewollte. Frei gewollt sind Geschäfte wie
Kauf und Verkauf, Zinsdarlehen und Pfand, Leihe, Hinterlegung und Miete; man nennt sie
freigewollt, weil diese Geschäfte ihren Ursprung in freier Willensentscheidung haben. Zu den
nicht frei gewollten gehören einerseits diejenigen, die aus heimlichen Vergehungen, wie
Diebstahl, Ehebruch, Giftmischerei, Kuppelei, Verführung von Sklaven, Meuchelmord, falschem
Zeugnis, andererseits diejenigen, die aus gewaltsamen Vergehungen, wie Mißhandlung,
Freiheitsberaubung, Totschlag, Raub, Verstümmelung, Verleumdung und Beleidigung
entspringen.
[Unterscheidung verschiedener Sorten von Gerechtigkeit ⇒ evtl. implizit gegen die einheitliche
Definition von Gerechtigkeit bei Platon, Pol.IV 433-443]
C) Zwei Arten der Zuneigung / Freundschaft / Befreundung (philia)
VIII 3 Wie nun die Gründe der Zuneigung der Art nach verschieden sind, so sind es
infolgedessen die Zuneigung und die Freundschaft selbst. Es gibt demnach drei Arten der
Befreundung, ebenso viele wie Arten ihrer Gründe. Für jede dieser Arten gilt es, daß eine
Erwiderung stattfindet, die nicht verborgen bleibt, und daß diejenigen, die einander befreundet
sind, einander alles Gute wünschen, und zwar Gutes in dem Sinne der Gründe, die die
Befreundung bewirken. Diejenigen, bei denen die freundschaftliche Verbindung durch den
Vorteil gestiftet ist, hegen solche freundliche Gesinnung nicht um der Persönlichkeit willen,
sondern um des Guten willen, das ihnen wechselseitig vom anderen zufließt. Das gleiche gilt von
denen, deren Zuneigung in dem Streben nach Annehmlichkeit wurzelt. So liebt man die guten
Gesellschafter nicht um ihrer Persönlichkeit willen, sondern wegen des Vergnügens, das sie
bereiten. Diejenigen, deren Zuneigung ihren Grund im Vorteil findet, lieben den anderen um des
eigenen Vorteils willen, und diejenigen, bei denen sie auf der Aussicht auf Annehmlichkeit
beruht, lieben ihn um ihres Vergnügens willen, also nicht weil der, dem sie ihre Neigung
zuwenden, diese Person ist, sondern sofern er Vorteil oder Vergnügen gewährt. Solche
Zuneigung also gründet sich auf Nebenrücksichten. Nicht deswegen, weil er ist der er ist, wird
derjenige dem man seine Neigung zuwendet zum Gegenstande der Neigung, sondern weil er in
einem Falle Vorteil, im anderen Falle Vergnügen bereitet.
Solche Verhältnisse sind denn auch leicht lösbar, wenn die Menschen nicht die gleichen
bleiben. Bereiten sie kein Vergnügen oder keinen Vorteil mehr, so erlischt die Zuneigung zu
ihnen. Vorteil aber erhält sich nicht dauernd, sondern ist zu verschiedenen Zeiten verschieden.
Schwindet nun der Grund, aus dem man befreundet war, so schwindet auch die freundschaftliche
Gesinnung, weil sie durch jenen bedingt war. Solche Freundschaftsverhältnisse kommen am
meisten bei Leuten im höheren Lebensalter vor, / denn diese sind nicht auf das Vergnügen,
sondern auf den Vorteil gerichtet, / unter den Leuten in den besten Jahren aber und unter den
Jünglingen findet man sie, wo die Rücksicht auf das Nützliche vorwaltet. In solchen
Verhältnissen pflegen denn auch die Leute keine Lebensgemeinschaft miteinander; in vielen
Fällen ist ihnen der Umgang nicht einmal angenehm; sie empfinden also auch kein Bedürfnis
nach solchem Umgang, außer sofern jene sich hilfreich erweisen. Denn nur soweit sind sie
willkommen, als sie die Aussicht auf einen Vorteil gewähren. Auf gleiche Linie stellt man dann
auch das gastfreundliche Verhältnis zu Auswärtigen.
Dagegen beruht bei jungen Leuten die Zuneigung auf dem Triebe zu dem was ihnen
Vergnügen bereitet. Denn die Jugend lebt ihren Gefühlen nach und hat am meisten im Auge was
vergnüglich ist und was der Augenblick bietet. Nimmt die Zahl der Jahre zu, so andern sich auch
die Dinge, an denen man Vergnügen findet. Deshalb wird in der Jugend Freundschaft schnell
geschlossen und auch schnell wieder gelöst; denn die Freundschaft schwindet wie die Freude,
und die Veränderung in dem was Freude macht geht schnell vonstatten. Junge Leute sind ferner
zu sinnlicher Liebe geneigt; sinnliche Liebe aber ist meistenteils leidenschaftlicher Art, und ihr
Streben geht auf Lust. So verliebt man sich denn schnell und hört auch schnell wieder auf,
zuweilen so, daß man noch an demselben Tage in seiner Liebe wechselt. Verliebte aber möchten
mit dem Gegenstand ihrer Neigung am liebsten den ganzen Tag zusammen sein und gemeinsam
leben; denn das ist der besondere Charakter, den bei ihnen das Verhältnis der Zuneigung
annimmt.
VIII 3 Die vollkommenste Zuneigung aber ist die, die Menschen von edler Art und gleicher
sittlicher Gesinnung verbindet. Diese wünschen einander als Menschen von edler Gesinnung
gleichmäßig alles Gute, und von edler Gesinnung zu sein macht ihr Wesen aus. Das aber
bezeichnet die innigste Freundschaft, den Freunden alles Gute zu wünschen rein um ihrer selbst
willen (ekeinôn heneka); denn da gilt die Zuneigung der Persönlichkeit selbst abgesehen von
Nebenrücksichten (di’ hautous gar houtôs echousi kai ou kata symbebêkos). [...]
[zur Unterscheidung „an sich“ (kat’hauto) vs. „akzidentiell“ (kata symbebêkos) ⇒ Met. V 30]
Weitere Lesehinweise
(1) Aus den meisten genannten Abschnitten aus der „Metaphysik“ finden sich relevante
Ausschnitte im Internet als Arbeitspapiere zu meinem Proseminar an der WWU Münster im WS
99/00.
(2) Einen Eindruck der Vielfalt antiker Lebensphilosophie oder Philosophie des Glücks geben
die Textausschnitte zu meinem Proseminar „Philosophie als Psychotherapie“ an der WWU
Münster.
(3) Mittlerweile zum Klassiker zu diesem Thema geworden ist Martha Nussbaums „The Therapy
of Desire“.
(4) Zur politischen Relevanz aristotelischer Ansätze vgl. bei weitergehenddem Interesse
(a) Nussbaums „Aristotelian Social Democracy“ Martha C. Nussbaum, Aristotelian Social
Democracy, in: R.Bruce Douglass, Gerald M. Mara, Henry S. Richardson (eds.): Liberalism and
the Good, New York (Routledge) 1990, 203-252. Kritisch dazu mein „Mi casa es tú casa – why
Aristotle is not the socialist Nussbaum would like him to be“ im von Angela Kallhoff
herausgegebenen Band zu den 4. Münsteraner Vorlesungen zur Philosophie, Münster (Lit), 2001.
(b) den (von mir hoch geschätzten) programmatischen Aufsatz „Skizze zur einer Grundlegung
der Bioethik“ von Ludwig Siep, Zeitschrift für philosophische Forschung 50 (1996), S. 236-253.
(5) Zur aristotelischen Politikvorlesung vgl. einführend meine „Four Lectures on Aristotle’s
‚Politics’, University of York 1999“ auf meiner homepage.
In der Zusammenstellung verwendete Ausgaben:
Lasson = Aristoteles: Nikomachische Ethik. Ins Deutsche übertragen von Adolf Lasson, Jena
(Eugen Diederichs) 1909. Übernommen in die CD: Philosophie von Platon bis Nietzsche,
Ausgewählt und eingeleitet von Frank-Peter Hansen. Berlin 1998 (Directmedia).
Gigon = Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, aus dem Griechischen und mit einer Einführung
und Erläuterungen versehen von Olof Gigon, Zürich (Artemis) 1967, Taschenbuch-Ausgabe bei
Beck, München, 1991 u.ö.
Die Gigon-Übersetzung ist viel wörtlicher, daher aber auch ungefähr so knorrig zu lesen wie das Original. Lasson ist
viel stärker interpretativ, expansiv, z.T. zu stark modernisierend, bei einzelnen Begriffen geradezu exzentrisch,
bietet aber, gerade weil er oft gut interpretiert, den besseren Lesefluss. Alle Ergänzungen griechischer Termini und
Ergänzungen in eckigen Klammern: N.St.
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