Gesamten Artikel als PDF

Werbung
45
Hirnforscher untersuchen Gedankenwanderungen
in Vergangenheit und Zukunft
Zeitreisen – nicht nur
Science-Fiction
Ein Moment der Abwesenheit, ein Lidschlag und das Bild einer fremden Stadt
erscheint. Silbrige Gebäude ragen in den
sternenklaren Himmel, so hoch, dass ihre
Spitze mit bloßem Auge kaum auszumachen ist. In mehreren Etagen reihen sich
solarbetriebene Fluggleiter in den ewig
summenden Verkehr ein. Um in Sekundenschnelle an diesen Ort der Zukunft zu
gelangen, braucht es weder neue Naturgesetze noch Science-Fiction. Unser Gehirn
kennt keine Grenzen für Zeitreisen und
kann uns in einem Augenblick Bilder aus
unserer Vergangenheit oder unserer potentiellen Zukunft vor Augen führen.
Nicht nur in Momenten der Gedankenlosigkeit erscheinen Szenen aus einer anderen Zeit vor unserem inneren Auge, Menschen können ihre Gedanken auch willentlich in die Zukunft oder die Vergangenheit wandern lassen. Subjektiv ist uns
dabei meistens klar, was Erinnerung und
was Zukunftsvision ist. Schon lange beschäftigen sich Neurowissenschaftler mit
mentalen Zeitreisen in die Vergangenheit,
doch erst seit kurzem richtet sich das Interesse auch auf die Simulation der Zukunft.
Viele Studien haben in den letzten Jahren
gezeigt, dass beim Zeitreisen in beide Richtungen ein ähnliches Netzwerk an Hirn-
Abb.1: In Momenten der Gedankenlosigkeit entführt
unser Gehirn uns oft in eine andere Zeit und wir sehen uns selbst in unserer möglichen Zukunft vor
unserem inneren Auge.
46
rubin | sonderheft 10
Großhirn
Balken
Thalamus
November 2008
Januar 2009
Kleinhirn
Rückenmark
Wirbel
Zukunftsdenken
Erinnerung
Abb. 2: Auf ähnliche Aktivierungen für Erinnerung und Zukunftsdenken – am Beispiel des vergangenen
und bevorstehenden Weihnachtsfestes – deuten die bunten Flächen auf den MRT-Aufnahmen eines menschlichen Gehirns hin (rechts oben). Die Ansicht zeigt ein Schnittbild entlang des Scheitels des Gehirns.
arealen aktiv wird (Abb. 2) und dass wir
unsere Erinnerung benutzen, um die Zukunft vorherzusagen. Aber wie bewerkstelligt das Gehirn die Unterscheidung der beiden Zeitrichtungen, wenn beide Prozesse
mit ähnlichen Hirnaktivierungen einhergehen? Im Institut für Kognitive Neurowissenschaft (s. info 1) gehen wir genau dieser Frage nach und suchen Unterschiede
zwischen den Hirnaktivierungen für men-
tale Zeitreisen in Zukunft und Vergangenheit. Hierfür verwenden wir die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT,
s. Info 2) und die Elektroenzephalographie
(EEG, s. Info 3).
Für unsere Untersuchungen bitten wir
Probanden, sich zu Stichworten Ereignisse
auszudenken und so lebendig wie möglich
vorzustellen, während wir ihre Hirnaktivierung verfolgen. Achtzehn Teilnehmer ha-
info 1
Institut für Kognitive Neurowissenschaft
In der Abteilung Neuropsychologie des Instituts für Kognitive Neurowissenschaft unter Leitung von Prof. Dr. Irene
Daum beschäftigen sich Psychologen und Biologen mit
den Wechselwirkungen zwischen Gehirn und Verhalten.
Neben der Erforschung der Gesichterwahrnehmung und des Belohnungslernens ist
die Gedächtnisforschung ein zentrales Element unserer Arbeit. In einem Team um PD
Dr. Boris Suchan interessieren wir uns vor allem für die Rolle bestimmter Hirnstrukturen, z.B. des Hippocampus (Abb. 4), bei der Gedächtnisbildung und beim Gedächtnisabruf. Die Untersuchung des Hippocampus bei anderen Aufgaben wie etwa dem Zukunftsdenken ist relevant, um seine generelle Funktionsweise und somit auch seinen
Beitrag zum Gedächtnis besser zu verstehen.
47
Abb. 3: Immer im Blick: Die Doktorandin Julia Weiler beobachtet eine Teilnehmerin während ihrer Zeitreisen
in Zukunft und Vergangenheit im Kernspintomographen.
ben sich kurz vor Weihnachten während
einer Kernspinuntersuchung insgesamt 30
Ereignisse vorgestellt, die sie in den kommenden Feiertagen erleben könnten. Kurz
nach Weihnachten haben die gleichen Personen sich während einer zweiten fMRTUntersuchung an 30 Ereignisse erinnert,
die während der Feiertage stattgefunden
hatten. Auf diese Weise reisten unsere
Probanden sowohl vorwärts als auch rückwärts durch die Zeit zu demselben Ereignis (Abb. 2). Mit diesem neuen Versuchsdesign konnten wir den Inhalt der Erinnerungen und Vorstellungen, anders als in
vorherigen Studien, sehr ähnlich halten.
„Es war gar nicht so einfach, sich so viele
Weihnachtsgeschichten einfallen zu lassen,
vor allem weil es keine Traditionen sein
durften“, resümiert eine Teilnehmerin.
Bei einem Vergleich der Aktivierungsmuster für Erinnerungen und Zukunftsgedanken fanden wir eine Reihe von Unterschieden. Im hinteren Bereich des Gehirns, der Informationen des Sehsinns verarbeitet, waren mehrere Areale stärker während der Zeitreisen in die Vergangenheit
als in die Zukunft aktiv (Abb. 4). Erinnerungen scheinen zu einer erneuten Aktivierung der Hirnregionen zu führen, die während des eigentlichen Erlebens eines Ereignisses aktiv waren und zeichnen sich in der
Regel durch eine Fülle an visuellen Informationen aus, wie an einer beispielhaften
Beschreibung eines Teilnehmers deutlich
wird: „Ich sehe unser Apartment in Kalifornien. Neben der Couch in einer kleinen
Ecke steht der winzige Weihnachtsbaum.
Ich sehe die Gurke, die an dem Baum
hängt, und all den anderen komischen
amerikanischen Weihnachtsschmuck.“
Ein solches Erleben gibt es für Zukunftserlebnisse natürlich nicht und folglich sind
sie oft abstrakter: „Zum Weihnachtsessen
habe ich überlegt, ob es vielleicht SchokoMousse anstatt Bayrischer Creme gibt und
ich habe die Weingläser auf dem Tisch gesehen. Aber mehr nicht, keine Menschen,
keine Handlungen.“ Neurowissenschaftler nehmen an, dass die unterschiedlichen
Mengen an Sinnesinformationen in Erinnerungen und Zukunftsgedanken dem Gehirn helfen, die beiden Zeitrichtungen zu
unterscheiden. Dies kann jedoch nicht der
einzige Mechanismus sein, da einzelne Zukunftserlebnisse ebenfalls sehr detailreich
sein können, wie diese Vorstellung einer
Probandin zeigt: „Ich bin mit meiner Mutter bei meiner Schwester und sehe ihre Küche und wie wir Kekse ausstechen und die
mit Glitzerschrift verzieren. Meine Schwester tut goldene Perlen auf die Kekse und
wir haben einen Heidenspaß daran. Und
info 2
fMRT
Die funktionelle Magnetresonanztomographie (Kernspintomographie)
ermöglicht es, mit Hilfe von Radiowellen und Magnetfeldern Änderungen im Blutfluss des Gehirns
zu verfolgen und auf diese Weise
Hirnaktivitäten genau zu lokalisieren. Zwischen Datenaufnahme und
fertigem Bild (s. Abb. 3) liegen viele
Rechenschritte.
48
rubin | sonderheft 10
info 3
EEG
Bei der Elektroenzephalographie
werden mit Hilfe von Elektroden
Spannungsänderungen auf der Kopfhaut erfasst, die durch die Zellen
der Großhirnrinde verursacht werden. Physiologische Vorgänge in den
Nervenzellen führen zu Ladungsverschiebungen, deren Summe im sogenannten Elektroenzephalogramm
sichtbar wird. Mit dieser Methode
können die Zeitverläufe von Hirnaktivierungen genau verfolgt werden.
Hippocampus
Aktivierungsstärke
früh
spät
Vergangenheit
Zukunft
Abb. 4: Erinnerungen aktivieren mehrere visuelle Verarbeitungsareale stärker als Zukunftsvisionen (oben).
Einige Hirnregionen, z.B. der Hippocampus, zeigen Unterschiede in den Zeitverläufen der Aktivierungen, z.B.
frühe Aktivierung während der Erinnerung und späte Aktivierung während des Zukunftsdenkens (unten).
unsere Mutter fragt lachend, ob wir denn
nie erwachsen werden.“
Weitere Analysen ergaben einen zweiten
potentiellen Mechanismus, der an der Unterscheidung von Erinnerungen und Zukunftsgedanken beteiligt sein könnte. In
mehreren Hirnregionen fanden wir Hinweise auf Unterschiede in den Zeitverläufen der Aktivierungen: Der Hippocampus,
eine Gehirnstruktur, die wichtig für das
Gedächtnis ist, war z.B. sehr früh für Zeitreisen in die Vergangenheit aktiv, jedoch
erst spät für das Zukunftsdenken (Abb. 4).
Die zeitlichen Aktivierungsmuster analysierten wir in einer EEG-Studie mit ähnlichem Versuchsdesign genauer und wir
konnten die zuvor gefundenen Unter-
schiede bestätigen (Abb. 5). Viele Hirnregionen wurden für mentale Zeitreisen in
beide Richtungen aktiviert, jedoch zu unterschiedlichen Zeitpunkten der Vorstellung. Um Zukunft und Vergangenheit auseinanderzuhalten, benutzt das Gehirn also
möglicherweise zeitliche Information und
Information über die Aktivierungsstärke
vor allem in Bereichen, die Sinnesinformationen verarbeiten.
Wodurch aber könnten die Unterschiede
in den Zeitverläufen ausgelöst worden
sein? Auch wenn Vor- und Rückwärtsreisen durch die Zeit auf eine Reihe gleicher
Ressourcen zugreifen, stellen die beiden
Prozesse doch unterschiedliche Anforderungen an das Gehirn: Um ein potentielles
49
Abb. 5: Vorbereitungen treffen: Julia Weiler legt einer Probandin im Labor des Instituts für Kognitive Neurowissenschaft ein EEG an.
Zukunftsereignis zu simulieren, kombinieren wir Informationen verschiedener Erinnerungen, während wir für eine Zeitreise in die Vergangenheit nur eine Gedächtnisspur aufrufen müssen. Während
wir wissen, was in der Vergangenheit passiert ist, können wir nie sicher sein, was die
Zukunft bringen wird. Diese Asymmetrie
in den Anforderungen scheint sich in den
zeitlichen Aktivierungsmustern niederzuschlagen und könnte der Schlüssel für die
Unterscheidung von Zukunft und Vergangenheit sein. Es wird noch eine Weile dauern, bis wir genau verstehen, wie das Gehirn die beiden Zeitrichtungen unterscheidet. Doch schon jetzt kann eine mentale
Zeitreise uns in den Moment hineinverset-
zen, in dem wir das Rätsel lösen – und uns
so stets motivieren weiter zu forschen.
Julia Weiler
Neuroscientists investigate mental journeys
into the past and future
Our brain can travel through time mentally and thereby re-experience past and preexperience future events. Both processes rely on common neural substrates, raising
the question how the brain tells apart memories from future thoughts. In the Institute
of Cognitive Neuroscience, we used neuroimaging to reveal a number of differences
in the spatial and temporal brain activation patterns for memory and future thinking,
which may be the key for achieving a distinction between the temporal directions.
Herunterladen