Juni 2011 KOMPAKT 2. LUNCHTIME TALK ZUM THEMA „FREMDE WELTEN? Herausforderungen der gesellschaftlichen Integration deutscher und ausländischer Jugendlicher in der Bundesrepublik“ Referenten: Kernaussagen: Hans-Jürgen von Wensierski • Die Aussiedler gelten als Beispiel für eine gelungene Integration in Deutschland Christian Pfeiffer Autoren: Juliane Steinberg Gabriele Doblhammer-Reiter • Die geringste Integration ist bei jungen Muslimen festzustellen • Sie stehen im Spannungsfeld zwischen Herkunftskultur und deutscher Gesellschaft • Dem Bildungssystem kommt eine Schlüsselfunktion bei der Integration von Muslimen zu • Integration ist eine Frage der Teilhabe an Bildung, ökonomischen Wohlstand und sozialer Position in der Gesellschaft www.rostockerzentrum.de EINE GEMEINSAME INITIATIVE DER UNIVERSITÄT ROSTOCK UND DES MAX-PLANCKINSTITUTS FÜR DEMOGRAFISCHE FORSCHUNG Juni 2011 Prof. Dr. Hans-Jürgen von Wensierski Universität Rostock, Lehrstuhl für Erziehungswissenschaft, Jugendbildung, Erwachsenenbildung, Neue Medien DIE JUGENDPHASE JUNGER MUSLIME – AUS MODERNE UND TRADITION ENTSTEHT VIELFALT Junge Muslime in Deutschland stehen vor der Aufgabe, ihre Lebensentwürfe im Spannungsfeld zwischen ihrer Herkunftskultur und der deutscher Gesellschaft zu entwickeln. Dabei ist die Jugendphase der deutschen Gesellschaft heute durch lange Bildungszeiten, Prozesse der Individualisierung und der Ablösung geprägt. Zudem unterliegt sie eher weltlichen, kommerziellen und kulturellen Interessen. Auf diese Lebenswelt stoßen auch die muslimischen Jugendlichen. Ihre Jugendphase zeigt daher auch viele Parallelen zu der der Deutschen – aber es gibt auch Unterschiede. Junge Muslime leben in einer komplexen Landschaft aus Jugendszenen, die global-islamisch, westlich, traditionell, modern, religiös und auch weltlich beeinflusst sind. Auffällig verschieden zur deutschen Jugendphase ist vor allem der Umgang mit der Sexualität, die Entwicklung eigener geschlechtlicher Beziehungen oder Lebensformen und das Verhalten innerhalb von Familienstrukturen. SEXUALMORAL, FAMILIENMORAL, DOPPELMORAL – SPEZIFIKA DER MUSLIMISCHEN JUGENDPHASE Eine Verbotsmoral bestimmt die sexuelle Entwicklung muslimischer Jugendlicher. Das Thema Sexualität wird in der Familie nicht besprochen, vor- und außereheliche Sexualität ist verboten und das Gebot der Jungfräulichkeit gilt für alle Mädchen. So kommt der Sexualität nur eine religiös definierte Funktion zu: Die islamische Familie und ihre patriarchalische Sozialordnung sollen reproduziert werden. Aus der verbotsorientierten Sexualmoral folgt, dass es kaum Raum für junge Menschen gibt, geschlechtliche Beziehungen zu erproben. Zudem sind sexuelle Erlebnisse nur innerhalb des Idealbildes einer Ehe mit einem Angehörigen aus der eigenen religiös-ethnischen Gruppierung erlaubt. Die muslimischen Jugendlichen brechen jedoch bei der Gretchenfrage verstärkt aus diesem Korsett der Normen aus. Während westlich-modern erzogene Jugendliche in den Jahren zwischen Kindheit und Erwachsensein lernen, selbstbestimmt und selbstverantwortlich den eigenen Weg zu gehen, ist die Verselbständigung muslimischer Jugendlicher im Familienverband verbindlich vorstrukturiert und mit Regeln besetzt: Traditionelle und patriarchalische Familienstrukturen begrenzen und erschweren die Abnabelung der jungen Muslime. Dies ist auch nicht erwünscht. Denn das Ziel der Jugendphase ist eher der Statuswech- 2ii Denkwerkstatt Demografie KOMPAKT - Juni 2011 sel innerhalb der Generationenfolge. Wollen muslimische Jugendliche eigene Wege gehen, kann dies zur Ausgrenzung aus der Familie führen. Diese harte Strafe wird als bedrohlich wahrgenommen und mindert die Wahrscheinlichkeit, dass muslimische Jugendliche unabhängige Lebenswege einschlagen. Bei all dem gibt es einen gravierenden Unterschied zwischen Jungen und Mädchen. ES GIBT KEINEN STEREOTYPEN, JUNGEN MUSLIMEN Die muslimischen Jugendlichen wachsen unter gleichen äußeren Bedingungen wie deutsche Jugendliche auf, erleben aber vieles anders, nicht zur gleichen Zeit oder unter der Bedingung immer wieder moralische Konflikte mit sich und dem Elternhaus auszutragen. Das Ergebnis ist eine als islamisch-selektiv modernisiert bezeichnete Jugendphase: Eine Vielfalt verschiedener Lebensstile und Biographien wird von den jungen Muslimen gelebt. Man kann also schließen: Es gibt keine stereotype muslimische Jugendbiographie, das Kopftuch der streng religiösen Neo-Muslima sagt nichts über deren individuellen, karriereorientierten Lebensentwurf aus und der Minirock sowie das stylische Outfit der jungen Alevitin machen sie noch nicht zur emanzipierten Frau. Die Analyse der muslimischen Jugendphase und Jugendszenen weist daraufhin, dass Integration keine Frage des kulturellen Lebensstils ist, sondern der Teilhabe an Bildung, an ökonomischem Wohlstand und an sozialen Positionen in der Gesellschaft. Dazu gehört für junge Muslime allerdings auch die gesellschaftliche Anerkennung ihrer Religiosität, wie sie etwa durch islamischen Religionsunterricht, einen islamischen Wohlfahrtsverband und die Ausbildung von Imamen in Deutschland dokumentiert werden könnte. Juni 2011 Prof. Dr. Christian Pfeiffer Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen e.V. INTEGRATION HEIßT, KULTURELLE UNTERSCHIEDE ZU ERLEBEN UND AKZEPTIEREN ZU LERNEN Deutschland kann ein Beispiel für gelungene Integration vorweisen: die Aussiedler. Innerhalb der letzten beiden Jahrzehnte haben sie etwa in der Bildungsbeteiligung stark aufgeholt und sind nicht mehr die führende Gruppe in der Jugendgewalt. Heute treten die meisten Probleme bei der Gruppe junger Menschen mit muslimischem Hintergrund auf. Junge Muslime scheinen von allen Migranten am wenigsten integriert: Sie streben in geringem Ausmaß ein Abitur an, haben am wenigsten deutsche Jugendliche unter ihren besten Freunden und nur wenige muslimische Jugendliche definieren sich als Deutsche. Sie sind auch die Migrantengruppe, die von den Deutschen die stärkste Ablehnung erfährt, während sie selbst sehr wohl an einem Austausch mit deutschen Jugendlichen interessiert wären: Deutsche Jugendliche würden beispielsweise Türken als ein Vertreter des islamischen Glaubens am wenigsten gern zum Nachbarn haben. Türken wiederum wünschen sich nach einem Türken an zweiter Stelle am liebsten einen Deutschen zum Nachbarn. nach Bundesländern. Dies lässt darauf schließen, dass das Bildungssystem die entscheidende Rolle bei der Integration spielt: Länder, in denen eine frühe und verbindliche Selektion der Kinder nach Schultyp vorgenommen wird, bieten schlechtere Bildungschancen für Zuwandererkinder als ein Bildungssystem, in dem alle Schüler möglichst lange gemeinsam unterrichtet werden. Deshalb plädiere ich für eine Ganztagsschule, in der Raum für individuelle Betreuung der Schüler und eine Begegnung von deutschen und ausländischen Kindern ist. Und auch schon im Kindergartenalter können entscheidende Wurzeln für die Integration auf dem weiteren Lebensweg gepflanzt werden: Haben muslimische Kinder schon im Kindergarten Kontakt zu vielen deutschen Kindern gehabt, haben sie im Alter 15 um 50 Prozent mehr deutsche Freunde als Migrantenkinder, die in einen primär von Kindern mit muslimischem Migrationshintergrund besuchten Kindergarten gegangen sind. In der frühstmöglichen gemeinsamen Freizeitgestaltung liegt die integrierende Chance für die Zivilgesellschaft, kulturelle Unterschiede zu erleben und akzeptieren zu lernen. Aber nicht nur in der Schule wird gelernt. In Moscheen lernen junge Muslime von ausländischen Imamen, den Koran zu lesen und den Islam zu leben. Bis heute kommen die Imame immer nur kurzfristig nach Deutschland und kaum mit der deutschen Kultur in Berührung, so dass der Islam vollständig getrennt von der deutschen Kultur gelehrt wird. Würden Imame in Deutschland ausgebildet, würde Integration weitergehend gelebt und befördert BIRGT DIE MACHOKULTUR GEWALT? Die Ablehnung auf Seiten der Deutschen resultiert häufig daraus, dass sich beide Gruppen im Alltag gar nicht treffen oder nicht treffen wollen – meist aus Unsicherheit, aber auch weil männliche Jugendliche aus muslimischen Kreisen oft eine Art Machokultur leben, die Vorurteilsstrukturen bedient und gegenseitige Toleranz verhindert. Diese Machokultur ist eng mit der islamischen Religion verbunden: Die Zustimmung zu Gewalt legitimierenden Männlichkeitsnormen nimmt unter muslimischen Jugendlichen mit steigender Religiosität zu – vor allem wenn Anerkennung im Alltag fehlen und das Männlichkeitsbild Verstärkung braucht. Jedoch kann daraus nicht geschlossen werden, dass der Islam für die Gewaltproblematik direkt verantwortlich ist – der Einfluss anderer Faktoren muss weiter analysiert werden. GEMEINSAMES LERNEN IST DER SCHLÜSSEL ZUM ERFOLG Eines der größten Probleme bei der Integration muslimischer Kinder und Jugendlicher ist die geringe Bildungsbeteiligung. Hier zeigen sich jedoch große Unterschiede www.rostockerzentrum.de EINE GEMEINSAME INITIATIVE DER UNIVERSITÄT ROSTOCK UND DES MAX-PLANCKINSTITUTS FÜR DEMOGRAFISCHE FORSCHUNG ii3 Juni 2011 VERANSTALTER DER DENKWERKSTATT DEMOGRAFIE Department „Altern des Individuums und der Gesellschaft“ der Interdisziplinären Fakultät der Universität Rostock Das Department vereint in der Altersforschung ausgewiesene Wissenschaftler aus der Medizin, der Demografie, den Ingenieurwissenschaften sowie den Geistes- und Sozialwissenschaften. Das Department entwickelt durch eine interdisziplinäre Herangehensweise neue Lösungsansätze für die Herausforderungen des demografischen Wandels. Rostocker Zentrum zur Erforschung des Demografischen Wandels Das Rostocker Zentrum ist eine gemeinsame Initiative der Universität Rostock und des Max-Planck-Institus für demografische Forschung. Schwerpunkt ist die Erforschung der politikrelevanten Ursachen und Konsequenzen des demografischen Wandels. Max-Planck-Institut für demografische Forschung Im Max-Planck-Institut für demografische Forschung untersuchen Forscher aus aller Welt den demografischen Wandel, Alterung und Geburtenverhalten, biologische Demografie und andere Themen der demografischen Grundlagenforschung. Das MPIDR gehört zur MaxPlanck-Gesellschaft, einer der weltweit renommiertesten Forschungsgemeinschaften. Population Europe Population Europe ist ein Netzwerk der führenden europäischen Wissenschaftsinstitute im Bereich der Bevölkerungsforschung mit dem Ziel, das Wissen über die demografische Entwicklung Europas zu erweitern und die Öffentlichkeit zu informieren. DENKWERKSTATT DEMOGRAFIE Die Veranstaltungsreihe Denkwerkstatt Demografie bietet Experten aus Politik und Wissenschaft, aus zivilgesellschaftlichen Institutionen und den Medien einen Rahmen, um über aktuelle Aspekte der Bevölkerungsentwicklung zu diskutieren. Im Rahmen eines Lunchtime Talks im WissenschaftsForum Berlin geben zwei renommierte Experten Impulse für die anschließende Diskussion in einem Kreis von 30 bis 40 Teilnehmern. REFERENZEN - - Baier, D., Pfeiffer, C., Rabold, S., Simonson, J. & Kappes,C. (2010): Kinder und Jugendliche in Deutschland : Gewalterfahrungen, Integration, Medienkonsum: Zweiter Bericht zum gemeinsamen Forschungsprojekt des Bundesministeriums des Innern und des KFN (KFN-Forschungsbericht; Nr.: 109). Hannover: KFN. Baier, D., Pfeiffer, C., Simonson, J., Rabold, S. (2009): Jugendliche in Deutschland als Opfer und Täter von Gewalt : Erster Forschungsbericht zum gemeinsamen Forschungsprojekt des Bundesministeriums des Innern und des KFN (KFN-Forschungsbericht; Nr.: 107). Hannover: KFN. 4ii Denkwerkstatt Demografie KOMPAKT - Juni 2011 - - - - - - Pfeiffer, C., Baier, D. (2010). Christentum und Islam als Einflussfaktor der Integration und des abweichenden Verhaltens Jugendlicher. In: Huinink, J., Windzio, M. (Hrsg.), Migration und regionale Entwicklung. Oldenburg: Universitätsverlag Isensee, S. 67-90. Wensierski, H.-J. von, Lübcke, C. (2011): Als Moslem fühlt man sich hier auch zu Hause - Jugendbiographien und Alltagskulturen junger Muslime in Deutschland. Opladen. Barbara Budrich Verlag (350 Seiten). Wensierski, H.-J. von, Lübcke, C.(2009): HipHop, Kopftuch und Familie - Jugendphase und Jugendkulturen junger Muslime in Deutschland. In: Andresen, Sabine; HummerKreisel, Christine (Hrsg) „Kindheit und Jugend in muslimischen Lebenswelten: Aufwachsen und Bildung in deutscher und internationaler Perspektive“. Wiesbaden. Wensierski, H.-J. von, Lübcke, C.(2009): In Deutschland habe ich mit meinem Kopftuch nie Probleme gehabt. - Zur Religiosität junger Muslime der Zweiten Generation in Deutschland. In: Jacobs Summer Research Group (Hrsg.): Jugend - Migration - Religion. Zur Bedeutung der Religionszugehörigkeit im Einwanderungskontext. Zürich (PanoVerlag) und Baden-Baden (Nomos). Wensierski, H.-J. von (2009): Das islamisch-selektive Bildungsmoratorium - Zur Struktur der Jugendphase junger Muslime in Deutschland. In: Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit e. V. (IDA) (Hrsg.): Lebenslagen junger Muslimas und Muslime. Düsseldorf. Wensierski, H.-J. von, Lübcke, C.(Hrsg.)(2007): Junge Muslime in Deutschland. Lebenslagen, Aufwachsprozesse und Jugendkulturen. Opladen. IMPRESSUM Herausgeber: Rostocker Zentrum zur Erforschung des Demografischen Wandels Redaktion: Stephanie Mohneke, Gabriele Doblhammer-Reiter Layout: Stephanie Mohneke Titelbild: © zander85 / Fotolia.com Kontakt: Rostocker Zentrum zur Erforschung des Demografischen Wandels, Konrad-Zuse-Str. 1, 18057 Rostock Telefon: +49 (0)381 498-4393, Fax: +49 (0)381 498-4395 E-Mail: [email protected] Web: www.rostockerzentrum.de