GOTT UND DIE WELT Luthers östliche Elite Polnische Protestanten

Werbung
Abteilung:
Sendereihe:
Sendedatum:
Kirche und Religion
Gott und die Welt
23.07.2017
Produktion: 17.07.2017
Redaktion: Anne Winter
Autorin: Marta Kupiec
Sendezeit: 9.04-9.30 Uhr/kulturradio
9.15-17.00 Uhr/T9
___________________________________________________________________________________________________
Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt; eine Verwertung ohne Genehmigung des Autors ist nicht gestattet.
Insbesondere darf das Manuskript weder ganz noch teilweise abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt
werden. Eine Verbreitung im Rundfunk oder Fernsehen bedarf der Zustimmung des RBB (Rundfunk Berlin-Brandenburg).
___________________________________________________________________________________________________
GOTT UND DIE WELT
Luthers östliche Elite
Polnische Protestanten im Jubiläumsjahr der Reformation
Sprecherin:
Nina West
OV-Sprecher:
Marian Funk
Regie:
Paul Sonderegger
2
1. Atmo – Jagodziński Trio „Warownym Grodem“ (Ein feste Burg ist unser Gott;
Jazz)
1. O-Ton Patrycja Prostak
1. OV-Sprecherin
Die Eltern meines Ehemannes brauchten etwas Zeit, um zu akzeptieren, dass ich
evangelisch bin. Aber es soll niemanden wundern, denn Polen ist ein überwiegend
katholisches Land.
2. O-Ton Karol Modellmog
1. OV-Sprecher
Es gibt viele deutschstämmige Menschen in Polen, die zu der Entwicklung dieses Landes
beigetragen haben, z.B. unser Bischof, Juliusz Bursche. Auch ich könnte eine deutsche
Abstammung nachweisen, doch ich habe längst eine polnische Mentalität.
3. O-Ton (Deutsch) Prof. Dorothea Wendebourg
Wir denken ja heute: Polen ganz und gar katholisch, aber das stimmt für das 16./17 Jh.
nicht. Da gab es eine Vielfalt an Konfessionen und Religionen, viel mehr als in
Deutschland. Es waren überwiegend Polen, religiös interessierte, intellektuell lebendige
Polen: Adlige, aber auch Bürger, die evangelische Strömungen aufsogen - die
verschiedensten.
Titelsprecherin
Luthers östliche Elite
Polnische Protestanten im Jubiläumsjahr der Reformation
Eine Sendung von Marta Kupiec
2. Atmo – Gesang Abendmahl, St. Martin in Krakau
Sprecherin
Jeden Sonntag strömen in die sonst stille Krakauer St. Martins-Kirche über 500 Gläubige.
Für Pfarrer Roman Pracki gibt es wie immer viel zu tun. Drei Gottesdienste, SeelsorgeGespräche und eine besondere Zeremonie stehen auf dem Programm: Die Aufnahme
zweier katholischer Konvertiten in die evangelische Gemeinschaft, die ihren ÜbertrittsWillen öffentlich bekunden.
3. Atmo – Aufnahme eines Ehepaares in die Gemeinschaft
Über 70.000 Mitglieder in sechs Diözesen zählt die drittgrößte religiöse Gemeinschaft in
Polen. Die Mehrheit sind Akademiker - Rechtsanwälte, Ärzte, Politiker. Fast 30 Prozent
seiner Gemeindemitglieder besuchen jede Woche einen Gottesdienst, sagt der lutherische
3
Geistliche, der statt mit Pastor mit Priester angesprochen wird, was für deutsche Ohren
etwas befremdlich klingt. Auch das Abendmahl heißt wie bei Katholiken „Kommunion“:
4. O-Ton Roman Pracki
2. OV Sprecher
Die Liturgie ist bei uns altpreußisch. Wir stehen viel, singen alte Choräle, die Kommunion
empfangen wir kniend. Unsere Kirche ist der alten lutherischen Kirche in Deutschland
ähnlich.
Sprecherin:
Die Evangelisch-Lutherische Kirche Augsburger Konfession in Polen geht auf die
„Confessio Augustana“ zurück, mit dem die lutherischen Reichsstände in Deutschland
1530 auf dem Reichstag zu Augsburg ihren Glauben bekundeten. Die ersten
Reformationsströmungen in Krakau gab es schon kurze Zeit nach dem Auftreten von
Martin Luther. An deren Verbreitung waren Kaufleute, Studenten und Wissenschaftler
beteiligt, die zwischen dem damaligen Sitz des Königshauses und Kursachsen hin und her
pendelten. Doch es waren überwiegend kirchenkritische, weltoffene Polen - Krakauer
Adelige, Theologen und berühmte Schriftsteller, die die Gemeinde aus der Taufe gehoben
haben:
5. O-Ton Roman Pracki
2. OV Sprecher
Unsere Gemeinde wurde 1572 gegründet. Bereits ein Jahr nach der Veröffentlichung der
Thesen von Martin Luther gab es darüber eine Debatte an der Krakauer Universität. Viele
waren begeistert. /Während der Gegenreformation war damit aber Schluss. Es gab
Tumulte, folglich wurde die evangelische Gemeinde mehrmals zerstört.
Sprecherin
Deshalb mussten sich die Krakauer Gemeindemitglieder außerhalb der Stadt treffen.
1816 übergab der Senat der freien Stadt Krakau den Gläubigen, zu denen Deutsche,
Polen und sogar einige Schotten gehörten, die St. Martins-Kirche. Es war ein
Versöhnungszeichen nach der Zeit der Verfolgung und der Beginn einer eher ruhigen
Phase, in der die Lutheraner polenweit an Stärke gewannen.
6. O-Ton Roman Pracki
2. OV Sprecher
1918, als Polen die Unabhängigkeit wiedererlangte, funktionierten fünf evangelische
Organisationen. Manche von ihnen waren administrativ und rechtlich mit Berlin
4
verbunden, andere wiederum mit Königsberg oder Wien. Es gab zwar eine polnische
Reformation im 16. Jh. und polnische Protestanten, doch wegen der Migration vom
Westen in den Osten hielt man diese Kirche für eine deutsche Kirche. //Vor dem zweiten
Weltkrieg waren 80 Prozent der Mitglieder deutscher Abstammung.
Sprecherin
In Krakau kam es in dieser Zeit zu Spannungen zwischen den deutschen und polnischen
Gläubigen. Als Hitlers Soldaten einmarschierten, brachen für die polnischen Lutheraner
schwere Zeiten an, sagt der Pfarrer:
7. O-Ton Roman Pracki
2. OV Sprecher
1940, während der Nazibesatzung erlebte die Gemeinde eine tiefe Spaltung. Polnischstämmige Mitglieder mussten das Gotteshaus verlassen, aber dank eines katholischen
Priesters haben sie in der St. Agnes-Kirche weiter beten können. St. Martin wurde in eine
deutsche Garnisonkirche umgewandelt.
Sprecherin
„Evangelisch“ heißt nicht automatisch „deutsch“, doch jahrzehntelang wurde dazwischen
ein Gleichheitszeichen gesetzt. Während diese Bezeichnung auf die Bewohner der
ehemaligen Reichsprovinzen zutraf, war sie in Bezug auf viele andere Gläubige einfach
falsch. Trotzdem wollte man im kommunistischen Nachkriegspolen diesen gravierenden
Unterschied nicht sehen. Mit schwer wiegenden Folgen – gesellschaftlichem Druck,
Schuldzuweisungen, Enteignungen und Vertreibungen der Deutschen aus den ehemaligen
deutschen Gebieten, erklärt Dorothea Wendebourg, Professorin für Reformationsgeschichte an der Theologischen Fakultät der Berliner Humboldtuniversität.
8. O-Ton Dorothea Wendebourg
Wurden sie verfolgt als Evangelische oder als Deutsche? Für viele stark katholisch
Geprägte war das gleich. Ein richtiger Pole ist katholisch, da hat es eine Menge an
ungerechten Behandlungen gegeben. //Denn natürlich war der Verdacht groß,
Protestanten sind Deutsche, die in Schlesien, Ostpreußen oder Pommern gesessen haben
und die jetzt weg müssen. Oder solche, die kollaboriert haben - das war schwer.
Sprecherin
Nach 1945 schrumpften die evangelischen Gemeinden in Polen massiv. Immerhin zählten
sie bis dahin eine halbe Million Menschen. Viele evangelische Kirchen mutierten zu
katholischen Gotteshäusern. Glücklicherweise gab es aber lutherische Theologen, wie
5
Dietrich Bonhöffer oder Juliusz Bursche, an deren Erbe die verbliebenen Protestanten
anknüpfen konnten. Der erste Landesbischof der evangelisch-augsburgischen Kirche
bemühte sich bereits vor dem 2. Weltkrieg um ein friedliches Nebeneinander zwischen
deutschen und polnischen Lutheranern. Er wollte alle dahin führen, dass sie sich,
unabhängig von ihrer Nationalität, als bekennende Protestanten fühlten. Den Nazis war
die polenfreundliche Haltung des deutschstämmigen Geistlichen ein Dorn im Auge.
9. O-Ton Dorothea Wendebourg
Also Julius Bursche als Anführer der evangelischen Kirche Polens – deutschstämmig aber
bewusst für Polen optierend, auch seinen Namen anpassend. Der hat ein tragisches
Schicksal. Als die Deutschen Polen erobert haben, haben sie ihn als Verräter betrachtet.
Der ist dann elend umgekommen unter den Deutschen.
Sprecherin
Erst wurde er als Häftling ins KZ Sachsenhausen verbracht, dann nach Berlin ins
Gefängnis Moabit, wo er 1942 im Alter von 80 Jahren starb. Stets bemüht, den
gemeinsamen Glauben über nationale Interessen zu stellen, zählt der perfekt
zweisprachige Juliusz Bursche zu den Wegbereitern des deutsch-polnischen Dialogs. Als
die Kommunisten an die Macht kamen, war man davon weit entfernt und das gegenseitige
Vertrauen mächtig getrübt, erklärt der pensionierte Landwirtschaftsingenieur, Karol
Modellmog.
10. O-Ton Karol Modellmog
1. OV-Sprecher
Viele riefen mir Schwabe, also Deutscher nach - allein mein deutscher Nachname weckte
schon Misstrauen/ In Pommern, in meinem Wohnort, war ich der einzige Protestant auf
der Schule. Für die katholische Mehrheit waren wir Menschen zweiter Klasse. An
Fronleichnam mussten wir einen Altar vorbereiten, sonst wurden die Fensterscheiben
eingeworfen. Die ganze Klasse nahm am Religionsunterricht teil, nur ich nicht. Meine
Mitschüler haben das nicht verstanden. Ich fühlte oft ein Unbehagen, musste mich sogar
mit anderen Jungs prügeln - das Thema Religion war gefährlich.
Sprecherin
Aufgrund von Schikanen und Ausgrenzungen emigrierten auch noch lange nach dem
Zweiten Weltkrieg deutschstämmige Protestanten aus Polen. 1989 wurden die
Kommunisten mit überwältigender Mehrheit von der Solidarność abgelöst. Mit der Wende
verbesserte sich auch der Status der Evangelisch-Augsburgischen Kirche Polens. Sie
baute das Diakonische Werk auf, bekam einen eigenen Militär-Seelsorger und das Recht,
6
eigenen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen zu organisieren. Auch Karol
Modellmog musste seine konfessionelle Zugehörigkeit nicht mehr rechtfertigen. Trotz
aller Differenzen plädiert der Lutheraner für eine verstärkte Annäherung zwischen
katholischer und evangelischer Kirche:
11. O-Ton Karol Modellmog
1. OV-Sprecher
Johannes Paul der II., der polnische Papst, hat diesbezüglich sehr viel bewegt. Er war der
erste Papst, der bei einer Pilgerreise nach Polen eine evangelische Kirche besuchte. Es ist
wichtig, dass wir bei all den Unterschieden unsere Kräfte bündeln. Das Christentum ist
gerade im Rückzug. Muslimische Frauen haben drei, vier Kinder. Christinnen viel weniger.
Sprecherin
Dass sich Europa von seinen christlichen Wurzeln immer weiter entfernt, führe zu einer
Stärkung des Islam, meint der Rentner. Damit es nicht so weit komme, müssten die
Katholiken mehr mit der Zeit gehen:
12. O-Ton Karol Modellmog
1. OV-Sprecher
Wir glauben an denselben Gott, doch bei uns ist vieles weniger theatralisch als in der
katholischen Kirche. Die katholische Kirche hat Probleme mit den Geschiedenen, daran
muss sie arbeiten. So wie ich es gelesen habe, wird derzeit in Polen die Hälfte der
Ehepaare bereits drei Jahre nach der Eheschließung geschieden.
13. O-Ton Roman Pracki
2. OV Sprecher
Ein ausgezeichneter katholischer Theologe, Prof. Wacław Hryniewicz, schrieb, dass die
Kirche mehrstimmig sei. Für die Ablehnung oder sogar eine Spaltung gibt es keinen Platz.
Auch für mich ist die Kirche eins. Katholiken und Protestanten wohnen nicht in getrennten
Häusern. Höchstens in getrennten Zimmern.
Sprecherin
Sagt der Pfarrer der Krakauer St. Martinsgemeinde, Roman Pracki. Und groß sind die
Unterschiede nicht: In puncto Frauenordination ist die evangelische Kirche in Polen
genauso konservativ wie die Katholiken: Eine Pfarrerin oder gar Bischöfin? Das bleibt
Zukunftsmusik.
7
14. O-Ton Roman Pracki
2. OV Sprecher
Schon vor 25 Jahren wollte der Bischof, Jan Szarek, die Frauen ordinieren, doch die
Synode sagte „nein“. Um ein Haar wäre es letztes Jahr eingeführt worden, doch 8
Stimmen fehlten, um eine qualifizierte Mehrheit zu erreichen. Dass Frauen zum
Abendmahl einladen, ist bereits Tatsache.
Sprecherin
Es sei überwiegend kulturell bedingt, dass Frauen, die sonst vielerorts predigen, das
Abendmahl zelebrieren und Kinder taufen, noch nicht zum geistlichen Amt ordiniert
werden und selten Führungsposten übernehmen, meint der smarte Geistliche im
schwarzen Talar mit dem weißen Beffchen, aber Jesus werde schon alle Hürden aus dem
Weg räumen. Zwischen den christlichen Konfessionen ist ihm das offenbar schon
weitgehend gelungen: Jedes Jahr nehmen Lutheraner und Katholiken an der
Gebetswoche für die Einheit der Christen teil. Es gibt einen gemeinsamen Bibel-Marathon
und ökumenische Kreuzwegandachten. Oder Charity-Aktionen, wie den Verkauf von
Adventskerzen oder das Engagement für Flüchtlinge, sagt die Pressesprecherin der
Evangelisch-Augsburgischen Kirche in Polen, Agnieszka Godfrejów–Tarnogórska.
15 OT Agnieszka Godfrejów–Tarnogórska
2. OV Sprecherin
Wir bemühen uns in erster Linie um eine Hilfe vor Ort, also im Ausland. Die Lutheraner
sammelten Geld für das jordanische Flüchtlingslager in Zaatari. Wir unterstützen dort
Bildungsprojekte, die den Menschen helfen, sich zu integrieren und eine Arbeit zu finden.
Außerdem betreuen wir eine christliche Familie aus Syrien, die nach einem Aufenthalt in
Polen nach Deutschland ausgewandert ist. Mittlerweile sind die Angehörigen wieder bei
uns. Oft erleben wir, dass die Öffentlichkeit über solche Aktionen einzelner Gemeinden
nichts erfährt, da es keine Zustimmung unserer Regierung zu der Aufnahme von
Flüchtlingen gibt.
Sprecherin
Bei vielen ökumenischen Initiativen steht die Familie im Mittelpunkt. Im Krakauer
Johannes Paul II.-Sanktuarium treffen sich interkonfessionelle Ehepaare, deren Zahl von
Jahr zu Jahr steigt. In einer Ehe, die auf gegenseitigem Respekt und Christus baut, schaut
man über theologische Differenzen hinweg, sagt Patrycja Prostak. Bis auf einen Punkt, der
der fünffachen Mutter schwer zu schaffen macht:
8
16. O-Ton Patrycja Prostak
1. OV-Sprecherin
Wir preisen gemeinsam Gott, lesen aus der Bibel und beten. Das Einzige, was wir nicht
gemeinsam machen, ist die Kommunion. Das tut weh. Oft empfinde ich es als schmerzhaft,
wenn einer von uns auf der Bank bleiben muss. Eine Änderung, was das betrifft, werde ich
sicherlich nicht erleben, aber vielleicht meine Kinder.
4. Atmo Sonntagsschule – Bastelarbeit, singen mit kleinen Kindern
Sprecherin
Dass sie evangelisch und ihr Mann katholisch ist, hält Patrycja Prostak für eine
Bereicherung. In der Sonntagsschule ihrer Gemeinde, wo sie mit Vorschulkindern
spielerisch mehr über den evangelischen Glauben lernt, steht sie mit dieser Meinung nicht
alleine da. Doch ihr sonntäglicher Kirchgang ähnelt oft einem Hindernislauf.
17. O-Ton Patrycja Prostak
1. OV-Sprecherin
Sonntags gehen wir gemeinsam in die evangelische Kirche. Sobald der erste Teil des
Gottesdienstes zu Ende ist, nehme ich die Kinder zur Sonntagsschule mit. Zur gleichen
Zeit geht mein Mann ins Dominikanerkloster, wo eine katholische Messe beginnt. Wenn wir
dorthin verreisen, wo keine evangelische Kirche ist, gehen wir selbstverständlich in eine
katholische Kirche. Für mich steht das nicht zur Debatte – jeder Sonntag wird bei uns
gefeiert.
5. Atmo „Ein feste Burg ist unser Gott“, Kirchentag, Gesang auf dem Berg Równica
Sprecherin
Auch das diesjährige Reformationsjubiläum wird in Polen begangen. Ende Juni feierte die
Lutherische Kirche Polens ihren Kirchentag, der alle vier Jahre stattfindet. Zu den
Veranstaltungen unter dem Motto. „Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch
in Ewigkeit“ im Teschener Land kamen dreitausend Menschen. Der Kirchentag begann mit
einem Waldgottesdienst auf dem Berg Równica. Der abgelegene Ort hatte in der Zeit der
Gegenreformation den Protestanten Schutz geboten.
Mehr als die Hälfte aller Lutheraner wohnen in diesem Gebiet im Südosten
Oberschlesiens. Der berühmte Skispringer Adam Małysz und der ehemalige Präsident des
Europäischen Parlaments Jerzy Buzek sind die prominentesten. In der überwiegend
9
protestantischen polnisch-tschechischen Doppelstadt Cieszyn steht die größte
evangelische Kirche Polens.
6. Atmo – Musik Reformationskonzert, eine Jugendband singt
Bei den Konzerten und Bibelforen waren Jugendliche nicht zu übersehen.
18 OT-OV Polnisch Collage –zwei Jugendliche reden über EKT
1. und 2. OV-Sprecher
Junge 1 Es ist eine tolle Möglichkeit, sich auszutauschen und neue, gleichgesinnte
Menschen kennen zu lernen. Hier muss ich meinen Glauben vor niemandem rechtfertigen.
Junge 2 Ich bin erstaunt, wie toll die Gemeinschaft der lutherischen Jugend ist, wie gut
wir miteinander kommunizieren.
Sprecherin
Bei dem Kirchentag überraschte Polens protestantische Minderheit mit ihrem
Ideenreichtum. Auf dem Marktplatz von Ustroń wurde ein Wagen der Marke Wartburg
aufgestellt – in Erinnerung an Luthers Aufenthalt auf der Wartburg, wo er das Neue
Testament übersetzte. Zum Reformationsjubiläum sind weitere Highlights geplant, bei
denen es nicht nur um religiöse oder historische Aspekte geht. Man wolle Flagge zeigen –
sowohl vor der katholischen Mehrheitsgesellschaft als auch vor der protestantischen
Kirchengemeinschaft weltweit, betont die Pressesprecherin der EvangelischAugsburgischen Kirche in Polen, Agnieszka Godfrejów–Tarnogórska.
19 OT Agnieszka Godfrejów-Tarnogórska
2. OV Sprecherin
Wir möchten ein Signal senden, dass wir seit 500 Jahren Bestandteil der polnischen
Gesellschaft sind, dass es einen polnischen Protestantismus gibt und dass man hier den
eigenen Weg geht. Wir zeigen, dass reformatorische Strömungen deutschen Ursprungs
auch bei uns auf fruchtbaren Boden fielen, die polnische Gesellschaft sowie die Kirche
verändert haben. Viele Initiativen haben einen ökumenischen Charakter. Zu der
Eröffnungsfeier des Jubiläumsjahres haben wir den Primas von Polen, Wojciech Polak
eingeladen.
Sprecherin
Netzwerke bilden, international agieren - polnische Lutheraner sind Globalplayer. Viele
der 130 Gemeinden pflegen bis zu fünf internationale Partnerschaften, zu denen auch
deutsche Gemeinden in Hessen, Nordrhein-Westfalen und Bayern gehören. Bereits nach
10
dem Ende des 2. Weltkrieges wurden die ersten Kontakte geknüpft, sagt Anna Wrzesińska,
die in Warschau, dem Hauptsitz der evangelisch-augsburgischen Kirche, die
Zusammenarbeit koordiniert.
20.OT Anna Wrzesińska
3. OV-Sprecherin
Evangelische Kirchen gehörten zu den Pionieren der Versöhnungsarbeit zwischen
Deutschen und Polen. Durch Grenzverschiebungen wurden Millionen von Menschen
gezwungen, ihren Wohnort zu verlassen. Ein Kontakt zu Polen war ihnen wichtig, man
suchte danach. In der schwierigen Nachkriegs- oder kommunistischen Zeit stand die
humanitäre Hilfe im Vordergrund der Zusammenarbeit. Heute geht es vielmehr um eine
gleichberechtigte Beziehung. Das bedeutet, dass beide Seiten bemüht sind, etwas
gemeinsam zu bewegen.
Sprecherin
So trifft man sich etwa zu gemeinsamen Bibelarbeiten. Und immer wieder schöpfen
polnische Lutheraner aus der Erfahrung der deutschen Mutterkirche, besonders wenn es
um die Seelsorge oder Medienarbeit, Mediation oder Konfliktlösung geht:
21. OT Anna Wrzesińska
3. OV-Sprecherin
An Deutschland bewundere ich die Dialogbereitschaft. Beim deutschen Kirchentag
beobachtete ich oft, wie offen die Menschen miteinander reden. Aus ihrem Glauben
schöpfen sie die Kraft für das gesellschaftliche Engagement. Das wünschte ich mir auch
für unsere Kirche.
Sprecherin
Die zentralen Feierlichkeiten im Jubiläumsjahr finden im Herbst statt. Ein Staffellauf
zwischen Wittenberg und Cieszyn, bei dem der Gedanke der Zusammenarbeit und der
Weitergabe des Glaubens sehr wichtig ist, soll den Auftakt bilden. Besonders auf
Kirchenferne soll dabei ein Funke überspringen. In der säkularisierten Welt kann sich die
lutherische Kirche nicht in Sicherheit wiegen. Auch in Polen ist sie von Überalterung und
Nachwuchssorgen betroffen. Viele Geistliche müssen mehrere Gemeinden betreuen. Und
die Jugend sei schwer zu motivieren, meint die Theologin Agnieszka Godfrejów–
Tarnogórska.
11
22. OT Agnieszka Godfrejów–Tarnogórska
2. OV-Sprecherin
Es ist kein Idealzustand. Außerhalb der Kirche gibt es so viele Angebote, umso wichtiger
ist es, die jungen Menschen an die Kirche zu binden und ihnen das Gefühl der
Verantwortung für die Gemeinschaft zu vermitteln. Wir begleiten die jungen Menschen bei
all dem was in der Kirche und außerhalb stattfindet. „Ich glaube, also bin ich“ – heißt eins
unserer Projekte. Jugendliche sollen eine Chance bekommen, sich für die Gemeinde und
die Gemeinschaft an ihrem Wohnort einzusetzen, sei es bei der Organisation von
Seniorentreffen oder beim Vorbereiten von Hilfspaketen für Kinder.
7. Atmo – Jugendkatechese
Sprecherin
Jahr für Jahr treffen sich junge Gläubige beim evangelischen Jugendtreffen. Alle sechs
Diözesen organisieren auch Sommercamps oder Exerzitien. Immer mehr setzt man auf die
Medien, um die frohe Botschaft zu verbreiten. Die lutherische Kirche ist auch in sozialen
Netzwerken wie twitter oder facebook vertreten. Einen eigenen Fernseh- oder Radiokanal
wie das katholische „Radio Maryja“ hat sie nicht, aber dafür jede Menge Sendungen im
öffentlich-rechtlichen Rundfunk.
8 Atmo – evangelische Sendung im Radio
Vor allem die Gottesdienst-Übertragungen sind wichtig – denn sie erreichen Gläubige
selbst dort, wo akuter Priestermangel herrscht.
Die Lutherische Kirche Polens entsendet auch Seelsorger ins Ausland. In Irland,
Großbritannien und Holland, auch in Essen und in Düsseldorf können Arbeitsmigranten
und Auswanderer polnisch sprachige evangelische Gottesdienste besuchen. Zunehmend
muss sich die Kirche auch um die Konvertiten kümmern, von denen viele der katholischen
Kirche den Rücken kehren, sagt Anna Wrzesińska, die rechte Hand des Landesbischofs.
23. OT Anna Wrzesińska
3. OV-Sprecherin
Die Zahl von 250-300 Personen jährlich ist seit einigen Jahren konstant geblieben. Für
uns ist das eine Gemeinde mittlerer Größe. 90 Prozent Gemeindemitglieder in Lublin sind
ehemalige Angehörige der römisch-katholischen Kirche. Viele Gemeinden betreuen recht
lange Konvertiten – manchmal dauert dieser Prozess einige Monate oder sogar mehr als
12
ein Jahr. Wir wollen, dass es eine durchdachte Entscheidung ist. Denn leicht ist es nicht,
ein guter evangelischer Christ zu sein, in einem durch den Katholizismus dominierten
Land.
Sprecherin
Einer dieser Konvertiten ist Piotr Dyrda. Mit seiner Entscheidung habe er niemanden vor
den Kopf gestoßen, sagt der Informatiker. Vom Denken her sei er schon immer
„protestantisch“ gewesen und einen Mittler zwischen Mensch und Gott brauche er nicht.
Bei der katholischen Kirche habe er vor allem ein stärkeres Mitbestimmungsrecht der
Gläubigen vermisst.
24. OT Piotr Dyrda
2. OV Sprecher
Die katholische Kirche ist durch ihr hierarchisches Denken rückwärtsgewandt.// Zur Zeit
des 2. Vatikanischen Konzils gab es den Spruch: „ecclesia semper reformanda“, was so
viel bedeutet, wie „eine sich ständig reformierende Kirche“. Das ist für mich das Vorbild
einer christlichen Kirche // Ich wünsche mir, das sich die katholische Kirche das „nationale
Denken“ abgewöhnt, sich mehr auf die Hilfe für die Armen und Bedürftigen konzentriert.
Die Bibel muss stets im Zentrum stehen und nicht etwa die Vorstellung, dass ein Pole
zwingend ein Katholik sein muss.
Sprecherin
Mehr reformatorischen Geist wünscht sich Piotr Dyrda, der auch Theologie studierte,
sogar in den eigenen Kirchenstrukturen. Vorbilder gäbe es mehr als genug.
25. OT Piotr Dyrda
2. OV Sprecher
Die evangelische Kirche in Deutschland ist sehr liberal, ähnlich wie der Staat. Im Vergleich
dazu ist unsere Kirche ziemlich konservativ. Wir sind die Bewahrer. Da geht es nicht nur
um die Frauenordination, sondern auch um die kirchliche Demokratie. Aber alles geht in
die richtige Richtung, würde ich sagen.
Sprecherin
Im Jubiläumsjahr der Reformation stellt sich die evangelische Kirche Polens als eine stets
kleine, aber feine Gemeinschaft dar, die teilweise noch an alten Riten hängt. Ein
Anhängsel der deutschen Mutterkirche will sie nicht sein, auf die Fahne schreibt sie sich
seit Jahrhunderten die Menschennähe und Caritas, die christliche Nächstenliebe. Deshalb
13
steht nicht ohne Grund über dem Eingang der Krakauer St. Martin’s Kirche die lateinische
Aufschrift: „Frustra vivit, qui nemini prodest". Auf Deutsch heißt das so viel wie: "Der lebt
umsonst, der niemandem nützt".
1 Atmo – Jagodziński Trio „Warownym Grodem“ (Ein feste Burg ist unser Gott; Jazz)
Titelsprecherin
Luthers östliche Elite
Polnische Protestanten im Jubiläumsjahr der Reformation
Sie hörten eine Sendung von Marta Kupiec
Es sprachen: Nina West und Marian Funk
Ton: Bettina Mikulla
Redaktion: Anne Winter
Regie: Paul Sonderegger
Das Manuskript der Sendung können Sie telefonisch bei unserer Service-Redaktion bestellen, aus
Berlin oder Potsdam unter 97993-2171. Oder per email: [email protected]. Und zum
Nachhören oder Lesen finden Sie die Sendung auch im Internet unter Kulturradio.de
Herunterladen