Einführung in die Praktische Philosophie/Ethik

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Dietrich Böhler
WS 2009/2010
Einführung in die Praktische Philosophie/Ethik:
»Wo bist du? Was sollen wir tun?
Was heißt Zukunftsverantwortung«
0
Viererlei Erstaunen und zwiefaches Erschrecken als Anfänge des
Philosophierens.
I
Moral und Politik vor der Herausforderung der Zukunftsverantwortung.
II
Was heißt Zukunftsverantwortung? Und sind wir überhaupt einsehbar zu
etwas verpflichtet?
Die Aktualität von Hans Jonas und der Diskursethik.
III
Zukunftsverantwortung und Atomenergie.
IV
Idee des Diskurses und moralische Urteilsstufen.
Systematische und historische Grundlagen der Ethik.
V
Neuzeitliche Stationen der (Praktischen) Philosophie ─ Descartes, Hobbes
und Kant. Oder: Das sich selbst vergewissernde und sich
selbstbehauptende Subjekt zwischen instrumenteller Rationalität
und praktischer Vernunft.
VI
Gesinnungs- und Verantwortungsethik: Moral zwischen biblischem
Brüderlichkeitsethos und säkularer Erfolgsverantwortung.
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
27.10.2009
Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung.........................................................................................................................5
0
Vielerlei Erstaunen und zwiefaches Erschrecken als Anfänge
des Philosophierens…………………………………………………….......................6
I
Moral und Politik vor der Herausforderung der Zukunftsverantwortung .......... 9
1
Politik in der Komplementarität von Positivismus/Expertokratie und
Dezisionismus/Existentialismus ..................................................................................10
2
Ausweitung des menschlichen Handlungsbereichs und neue, prinzipienbezogene
Verantwortungsethik in der technologischen Zivilisation............................................13
3
‚Pragmatische‘ (Atom)Energiepolititik nach Helmut Schmidt ................................... 15
4
Diskursethische, also prinzipienbezogene Vermittlung von Moral und Politik oder
liberalistischer Rückgang auf faktische Übereinkünfte?...............................................17
II
Was heißt Zukunftsverantwortung? Und sind wir überhaupt einsehbar zu
etwas verpflichtet?......................................................................................................23
1
Zum Problem einer globalen Verantwortungsethik nach Max Weber.........................26
2
Hans Jonas, Karl-Otto Apel und die Berliner Diskursethik –
prinzipienethische Antworten auf die neuartigen Herausforderungen
der praktischen Vernunft durch die technologische Zivilisation................................. 30
3
Metaphysische versus reflexiv dialogische Begründung des Prinzips
Mitverantwortung. Läßt sich das Zugleich von Freiheit und Verantwortung
(Kants „Faktum der reinen Vernunft“) einholen?....................................................... 39
4
Absolute Pflicht zum Dasein der Menschheit? Hans Jonas’ orientierende
Gedankenexperimente................................................................................................. 46
5
Was heißt moralische Verantwortung für die Zukunft? Elemente des
Begriffs Zukunftsverantwortung................................................................................. 57
6
Die Grundnorm Achtung der Menschenwürde im Streit um
‚verbrauchende Embryonenforschung’ und PID........................................................69
2
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III
Zukunftsverantwortung und Atomenergie ...……………………………………... 73
1
Mit Jonas gegen Jonas: Gedankenexperiment der Wette versus „pragmatische“
Einstellung zur Atomenergie…………………………………………………………77
2
Atomkraft als verantwortungsethische Notwendigkeitsstrategie?...................................84
3
Spaemanns metaphysisch wertethisches Verdikt über die Atomenergie diskursiv
eingeholt……………………………………………………………………………… 86
4
Dialogpragmatische Kohärenzprüfung als kurzer Verantwortungsdiskurs. Keine
Zukunftsverantwortung mit Atomkraft……………………………………………….. 91
IV
Idee des Diskurses und moralische Urteilsstufen.
Systematische und historische Grundlagen.
1
„Wo bist du?“............................................................................................................... 95
1.1
Sokratische Dialogreflexion. Begründungsweg der Berliner
Diskurspragmatik..............................................................................................95
2
Praktische Vernunft oder: Was heißt und warum brauchen wir (argumentativen)
Diskurs?........................................................................................................................98
2.1
Diskurs als Befreiung aus dem tragischen Neben- und Gegeneinander von
Institutionen. Metakonventionelles Bewußtsein in der „Achsenzeit“ zwischen
800 und 200 v. Chr. .......................................................................................108
2.2
Die unbegrenzte Auswirkungsdimension menschlichen Verhaltens in der
hochtechnologischen Zivilisation. Kein Begriff der MenschheitsVerantwortung ohne die Geltungsidee des
Diskursuniversums..........................................................................................121
2.3
Diskurs und Vernunft: ideale versus reale Kommunikationsgemeinschaft
und Normen der Diskurspartnerrolle...............................................................128
3
Woher wir kommen: Biblisches Dialog- und Moral-Erbe, Erblasten der theoriaTradition......................................................................................................................141
4
Diskurs- und Moralstufen............................................................................................149
4.1
Lawrence Kohlberg und die Entwicklungslogik der ethischen Urteile...........150
4.2
Eine verantwortungsethische Stufe 7 oder: Das Problem der moralischen
Strategiebildung angesichts ‚schmutziger’ Handlungsbedingungen und
fragwürdiger Zumutbarkeit............................................................................´159
4.3
Erfüllte Autonomie: ‚Meine’ Verantwortung und Glaubwürdigkeit als
Diskurspartner................................................................................................171
5
Sokrates und ‚wir’ als Diskurspartner: Diskursglaubwürdigkeit und Moral..............178
5.1
Wie der Logosgrundsatz heißen sollte und was er bedeutet...........................182
5.2
Diskussion über Sokrates oder: Wie beurteilen Sie Sokrates’ praktische
Argumente im „Kriton“?.................................................................................190
5.3
Platonischer Sokrates versus Moral aus dem Dialog.....................................207
5.3.1 Pluralität und Verständigungsgegenseitigkeit im Diskurs versus
Expertenmetaphysik der Wahrheit.....................................................208
3
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
27.10.2009
5.3.2 Naturalistischer Fehlschluß in der Vertragstheorie und die Gefahr des
Rechtspositivismus..............................................................................210
5.3.3 Diskursglaubwürdigkeit versus faktische Anerkennung.....................216
5.3.4 Verantwortung für den Erfolg des Moralischen und Zumutbarkeit für
die Beteiligten bzw. Betroffenen verlangen moralische Strategien.....217
V
Neuzeitliche Stationen der (Praktischen) Philosophie: Descartes,
Hobbes und Kant. Oder: Das sich selbst vergewissernde und sich
selbstbehauptende Subjekt zwischen instrumenteller Rationalität
und praktischer Vernunft.........................................................................................222
1
Metaphysische Hintergrunderfahrung der Neuzeit oder: Kopernikanischer
Choc, selbstbewußtes Subjekt und mathematisierte Technologie............................. 222
2
Zwei Formen der Aufklärung – ein Preis: Verdrängung der Kommunikation
durch emanzipatorisch gemeinten Solipsismus der Methode.....................................225
3
Descartes: Selbstvergewisserung durch wissenschaftliche Methode und durch
Reflexion des Erkenntnissubjekts...............................................................................228
4
Thomas Hobbes oder die politische Hintergrunderfahrung der Neuzeit. Die
konfessionellen Bürgerkriege als Offenbarung einer Wolfsnatur und die
Antwort der zweckrationalistischen Vertragstheorie..................................................231
5
Immanuel Kants Suche nach praktischer Vernunft im Subjekt oder: Einsehbare
Verbindlichkeit in den Grenzen einer Zwei-Welten-Metaphysik und deren
Gesinnungsethik..........................................................................................................238
5.1
Kopernikanische Wende der Ethik: Verallgemeinerbarkeitstest als Weg zur
Verbindlichkeit................................................................................................247
5.2
Recht und Grenze einer idealistischen Vernunftethik in dualistischem
Rahmen...........................................................................................................252
VI
Gesinnungs- und Verantwortungsethik: Moral zwischen biblischem
Brüderlichkeitsethos und säkularer Erfolgsverantwortung…………………….260
1
Die biblisch jesuanische Liebes- und Brüderlichkeitsethik…………………..……..260
2 Zwei Stachel im Geist – die nach Max Weber und aufgrund der westlichen
Komplementarität offenen Fragen nach praktischer Vernunft………………………283
4
Vorbemerkung
Diese Vorlesung fügt sich in den Rahmenlehrplan des Instituts für Philosophie der Freien
Universität Berlin von 2008 ein. Sie dient als „Einführung in die Praktische Philosophie“ für
den Studiengang des „neuen Bachelor“, als Kolleg „Politische und Sozialphilosophie“ für den
Studiengang des „alten Bachelor“, nicht zuletzt als Basiselement des Studiengangs
Vergleichende Ethik und schließlich als Vorlesung für das, noch den Geist der universitas
atmende, nun aber – skandalöserweise – auslaufende Magisterstudium.
Da die inhaltlichen Vorgaben des Rahmenlehrplans im Wintersemester eher auf eine
Grundlegung der Praktischen Philosophie zielen, weil zudem der Dozent eine sogenannte
Einführung hier eigentlich für sinnlos hält, alldieweil sich Praktische Philosophie, nicht als
wären wir in der Schule, „unterrichten“ läßt, sondern darauf hinauswill, daß wir
philosophieren und über die Grundlagen der Ethik nachdenken, wird hier eine diskursive
Einleitung in die Praktische Philosophie vorgelegt. Sie lädt ein zum Diskurs mit uns selbst; so
nämlich, daß insbesondere Grundlagen der Ethik ausgewiesen werden, indem wir uns darauf
besinnen, was wir selber unweigerlich in Anspruch nehmen und implizit anerkennen.
Wir selbst? – Ja, wir als Denkende, und das heißt als Partner in einem argumentativen Dialog.
Eine zweistündige Vorlesung kann in einem Semester nur exemplarische Arbeit leisten.
Zumal dann, wenn der Diskurs auch unmittelbar praktiziert wird. Dazu lade ich alle
Interessierten freundlich ein.
Ob freilich die Vorlesung und mein zugehöriges Grundlagenseminar mitsamt den
notwendigen Texten und Veranschaulichungsmitteln (Arbeitsunterlagen, Schemata etc.) zu
Ende geführt werden kann, ist ungewiß. Es hängt davon ab, ob der Geschäftsführende
Direktor des Philosophischen Instituts und das Dekanat bzw. der Verwaltungsleiter dem
Lehrstuhl Praktische Philosophie/Ethik ab November wenigstens Mittel für die Kompensation
der fehlenden Sekretariatshilfe (40 Std. im Monat) einräumen.
Dietrich Böhler,
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
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Statt eines Mottos: Über das Erstaunen als viererlei Anfang des Philosophierens und
über das Erschrecken als zwiefacher Anfang des Verantwortungsdenkens extemporiert.
Was, sagt man, von alters, sei der Anfang der Liebe zur Weisheit oder des Philosophierens? –
Das Erstaunen.
Diese Antwort, die in der Philosophiegeschichte immer wieder zurückgekommen worden ist,
finden wir in Platons Dialog theaitheos, 155 d. Platon läßt dort Sokrates sagen, der Zustand
des Erstaunens sei der „eines gar sehr die Weisheit liebenden Mannes […]; ja es gibt keinen
andern Anfang der Philosophie als diesen, und wer gesagt hat, Iris sei die Tochter des
Thaumas, scheint die Abstammung nicht übel getroffen zu haben.“ Thaumas, eine archaische
Urgottheit, deren Name an „wunderbar“ anklingt, hat mit Elektra die regenbogenfarbene Iris
gezeugt. Sie bringt auf einem Regenbogen den Menschen göttliche Kunde, so daß man in
jeder Hinsicht über sie ins Staunen gerät: Über ihre schimmernde Schönheit ebenso wie über
ihre göttliche Botschaft. In der Odyssee wird sie durch den Götterboten Hermes verdrängt.
Letztlich ist das Erstaunen bei Platon eingebettet in seine „periagogé“, seine Umdrehung des
natürlichen Bewußtseins – weg von der sinnlichen Wahrnehmung und hin zur geistigen Schau
der Ideen als Strukturen des Seins und des Seins als ganzem bzw. als göttlich
wohlgeordnetem Kosmos. In diesem Rahmen lassen sich, scheint mir, drei
Bedeutungsaspekte des Erstaunens unterscheiden, nämlich Erstaunen
a) als verwunderte, befremdete Reaktion auf die insistierende Befragung bzw. den
kritischen Diskurs (élenchos). Verfährt Sokrates doch schon fast nach dem
diskursphilosophischen Motto: ‚Kannst Du Deinen Wissensanspruch, den Anspruch
auf Wahrheit Deiner Meinung begrifflich präzisieren und einlösen?’
b) Das Erstaunen als Reaktion auf die Selbstwahrnehmung im Diskurs mit dem
Hebammenkünstler Sokrates, dem Maieutiker und Dialektiker mit platonischem
Ideenwissen, der einem ein implizites Wissen aus der Seele bzw. dem Geist heraufholt
und es in begriffliches Ideenwissen transformiert.
c) Erstaunen über das Ideenwissen gipfelt in der Schau der höchsten Idee, der Idee des
Guten und Schönen und des Einen als Urgrund des Seins. Das kann schon ausgelöst
werden durch Betrachtung des Firmaments als des wohlgeordneten Kosmos, welche
Menschen zur Philosophie und durch Nachahmung (mimesis) zur Wohlordnung des
eigenen Denkens bringe (Timaios 47 und 28-30).
Es folgt eine mündliche Erläuterung des Schemas „Das Erstaunen“ (von II bis IV), sodann
des Schemas „Das Erschrecken“. (Forts. S. 6a fehlt noch…)
6
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
27.10.2009
Das Erstaunen oder:
Viererlei Anfang des Philosophierens – von der Betrachtung zur Reflexion.
I. Platons periagogé Wendung von
der sinnlichen Wahrnehmung zur
geistigen Schau der Ideen/des Seins
(oder der Dinge an sich)
II. Kants ‚kopernikanische‘ Wende
von der theoria/spekulativen Schau
der Dinge an sich zur
„transzendentalen“ Rekonstruktion
der Erfahrungs- bzw.
Erkenntnisbedingungen des
Vernunftsubjekts
(I.)
Sein
Arten
und
Drehungen
der
Betrachtung
III. Sprachpragmatische Drehung
der Betrachtung „um unser eigenes
Bedürfnis [nach Intersubjektivität]
als Angelpunkt“ (Wittgenstein)
oder um unsere Sprachpraxis bzw.
Dialogpraxis
IV. Reflexiv-sprachpragmatisch/
diskursreflexive Wende:
Von der Betrachtung/Analyse/
Rekonstruktion der Sprachpraxis
zur aktuellen Reflexion auf
mich/dich als demjenigen, der
gerade etwas als etwas
versteht/geltend macht/tut.
(II.)
Erkenntnissubjekt
(III.)
Sprache/Praxis/Diskurs
Wende
von der
Betrachtung
zur
aktuellen
Reflexion
(IV.)
Ich/Du/Es jetzt in
sprachlicher Praxis als
argumentativem Dialog
Folie zu S. 7
7
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
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Das Erschrecken: Zwiefacher Anfang des Verantwortungsdenkens
I.
Erschrecken vor dem technologischen Prometheismus.
Die äußere Herausforderung der Vernunft/des Diskurses ergibt sich aus der Einsicht
in die Gefährdung der Existenz der Menschheit auf Erden und damit in die
Gefährdung der Existenzbedingungen von „Diskurs und Verantwortung“ (Apel, 1988)
durch eine ökologische Dauerkrise und eine technologisch/ökonomische
Dauergefährdung menschenwürdigen Lebens auf Erden (Jonas, 1979).
II.
Erschrecken vor der Entethisierung von Vernunft/Wissenschaft als moralfreier Ratio.
In diesem Erschrecken spiegelt sich die innere Herausforderung der Vernunft (Apel
1973 u.ö.) durch einen Vernunftbegriff und die Praktizierung einer Rationalität ohne
Prinzipienbegründung – mithin ohne einsehbare Verbindlichkeit als universale
Verpflichtung zur Menschenwürde, zur Gerechtigkeit und zur Zukunftsverantwortung.
Folie zu S. 8
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I Moral und Politik vor der Herausforderung der Zukunftsverantwortung
„Moral und Politik“ bezeichnet die Themenstellung der politischen Ethik. Sie ergibt sich aus
dem bleibenden Konflikt zwischen der Interessendurchsetzung und Selbstbehauptung eines
Staatsvolkes oder einer Interessengruppe und der Anerkennung moralischer Grundsätze, die
zu Partnerschaftlichkeit und Konsensbemühung oder zumindest zur Kompromißbereitschaft
auffordern. Die beiden Elemente dieses Konflikts sind zwar Pole eines unauflösbaren
Spannungsverhältnisses, stehen sich aber weder in der Geschichte noch in der Gegenwart
(Zivilisationskrise als Menschheitskrise) wie völlig unvereinbare Extreme gegenüber. Denn
die Interessendurchsetzung hängt zumindest langfristig von einer gewissen Verständigung
zwischen den einander entgegenstehenden Interessengruppen bzw. Nationen ab – und sei es
ein bloßer Interessenkompromiß. Bereits strategisch und zweckrational eingegangene
Kompromisse setzen aber, wie alle Übereinkünfte und Verhandlungen, ein Mindestmaß an
gegenseitigem Vertrauen voraus, das letztlich auf der gemeinsamen Anerkennung moralischer
Grundsätze beruht.1 Als Grundeinsicht politischer Ethik kann daher gelten, daß
Interessendurchsetzung und (einsehbar verbindliche) Moral ein Spannungsverhältnis mit
Vermittlungstendenz darstellen.
Als in der frühen Neuzeit, vor allem von Niccolò Machiavelli, und im Absolutismus etwa von
Jean Bodin, die moralfreie Selbstbehauptung des Staates durch Machtpolitik zum Inbegriff
der politischen Rationalität, nämlich der Raison des Staates und seiner Souveränität, wurde,
traten zugleich der christliche Humanismus und das Naturrecht der Aufklärung auf den Plan.
Durch Entwicklung eines Völkerrechts (Hugo Grotius) und durch den Versuch, den bürgerlichen Friedenszustand auf einen Staatsvertrag bzw. Sozialvertrag aus wohlverstandenem
Eigeninteresse zu gründen (Thomas Hobbes), sollten einerseits Fürstenwillkür oder gar rücksichtslose Herrschergewalt, andererseits egoistische Selbstbehauptung der Bürger und
Bewaffneten moralisch eingegrenzt werden.
Erläuterung 1 zu Seite 9
Unabhängig davon, nämlich zunächst vor dem Hintergrund von Luthers Lehre von der
Rechtfertigung aus Glauben und vom christlichen Handeln in „zwei Reichen“, ist der Ansatz
zu einer Ethik des Kompromisses und der Schuldübernahme entwickelt worden: Aufgrund
seiner Verantwortung für die reale Welt (z.B. als Politiker) solle der Christ zum Kompromiß
zwischen dem absoluten Liebesgebot Jesu (Nächstenliebe, Bergpredigt) und den
Möglichkeiten bzw. Bedürfnissen der geschichtlich-gesellschaftlichen Realität im Sinne einer
Realpolitik bereit sein.
Erläuterung 2 zu Seite 9
1
Insofern sind Kompromisse zu messen (und d.h. kritisch zu prüfen) an der Vernunftidee eines strikt
argumentativ begründeten Konsensus.
9
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1
Politik in der Komplementarität
Dezisionismus/Existentialismus
27.10.2009
von
Positivismus/Expertokratie
und
Wenn im 20. Jahrhundert das Verhältnis von Moral und Politik bestimmt wurde, dann meist
in einem eigentümlich verkürzten Sinn sowohl des Moral- wie auch des Politikbegriffs. Denn
unter dem Einfluß des deutschen Liberalismus und vor allem Max Webers hat sich der
Zeitgeist daran gewöhnt, Moral (Ethik) als in doppeltem Sinne subjektive bzw. private
Gesinnungs- und Handlungsorientierung anzusehen, Politik hingegen als in doppeltem Sinne
intersubjektive Ausübung von Herrschaft über und von Verantwortung für ein Gemeinwesen.
Als intersubjektiv gilt die Politik, (1) insofern ihre mit Gewaltsamkeit verbundene
Herrschaftsausübung rechtsstaatlich legal ist und vom jeweiligen Staatsvolk als legitim
angesehen wird, und (2) insofern ihre Verantwortungsausübung verfahrensgemäß sowie
zweckrational ist und auf „wertfreiem Expertenwissen“ beruht, zudem auch die anfallende,
empirisch-theoretische Situationsanalyse geschlagen wird.
Erläuterung 1 zu Seite 10
Der letzte Punkt ist für das Politikverständnis in der wissenschaftlich-technischen Zivilisation
charakteristisch: Es unterstellt, daß sich die Intersubjektivität der Politik insbesondere durch
die vermeintliche Objektivität von Situationsanalyse und Expertenwissen ergibt, also
aufgrund der monologischen Einstellung des Analytikers und objektivierenden Theoretikers.
Diese Einstellung macht die Gesellschaft bzw. einen gesellschaftlichen Problem- und
Planungsbereich zum Objekt und geht davon aus, daß hinreichendes Wissen über dieses
Objekt und zulängliche Planung dieses Objekts möglich ist, ohne daß Analyse und Planung
grundsätzlich auf Kommunikation und Verständigung mit diesem „Objekt“ angewiesen
wären. Das ist das expertokratische oder technokratische Selbstverständnis der Politik
(Expertokratie). In der westlichen Zivilisation ist es durch den Positivismus zur Herrschaft
gekommen, wurde in den letzten Jahrzehnten aber scharfer Kritik unterzogen.
Erläuterung 2 zu Seite 10
Die angedeutete Verkürzung des Politikverständnisses betrifft den Sinn der Politik als
öffentlicher Sache (res publica) im demokratischen Rechtsstaat, und zwar sowohl hinsichtlich
der Situationseinschätzung wie auch der Entscheidungsfindung, die beide nicht bloß
Angelegenheit von Experten und Politikern sein können und sein dürfen. Vielmehr müssen
beide, wenn sie rational und demokratisch-republikanisch sein sollen, Sache des öffentlichen
Dialogs sein. Das vorherrschende Verständnis des politischen Entscheidungsprozesses im
Sinne einer einsamen verantwortungsethischen Entscheidung (Max Weber) oder im Sinne der
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verwandten Situationsethik Jean-Paul Sartres läßt ein solipsistisch bzw. individualistisch
verkürztes Moralverständnis in die Politik einfließen. Dadurch wird in der Politik das
wirksam, was Karl-Otto Apel als Arbeitsteilung und als Verhältnis wechselseitiger Ergänzung
sowie
Ausschließung
oder
„Komplementarität“
von
Positivismus
einerseits
und
Existentialismus bzw. Dezisionismus andererseits beschrieben hat:
„Der Existentialismus ist die Philosophie der privaten, rein subjektiv verbindlichen und
insofern irrationalen Wertentscheidungen. Der Positivismus (Szientismus) ist die Philosophie
der wertfreien Rationalität, die im öffentlichen Lebensbereich durch Sachverständige
(‚Experten‘) zur Geltung gebracht wird. Die ebenfalls wertneutrale ‚Verfahrens‘-Rationalität
der öffentlichen Praxis ergibt sich dann daraus, daß die wissenschaftliche und technologische
Ermittlung von Wenn/dann-Regeln, die Ursachen und Wirkungen bzw. Mittel und Zwecke
verknüpfen, im politisch-wirtschaftlichen und politisch-juristischen Denken als Kalkulation
der Folgen und Nebenfolgen von Handlungen zur Geltung gebracht wird. Die Philosophie
dieser im wertneutralen Sinne ‚praktischen‘ Ergänzung der wissenschaftlichen ExpertenRationalität durch das Bedenken von Folgen und Nebenfolgen ist der amerikanische
Pragmatismus.“
Erläuterung zu Seite 11
Bei Weber und in dem, von ihm beeinflußten, „Kritischen Rationalismus“ Karl R. Poppers
und seiner Schule werden diese Elemente so zusammengebracht, daß man hier
gewissermaßen vom offiziellen Selbstverständnis der liberal verfaßten, wissenschaftlichtechnischen Zivilisation sprechen kann. Der Kern dieses Selbstverständnisses ist die
Komplementarität von wissenschaftlich-theoretischer Rationalität plus politischer Verfahrensund
Zweck-Rationalität
einerseits
und
privater,
irrationaler
Zwecksetzung
und
Wertentscheidung andererseits.
Den geistesgeschichtlichen Hintergrund der Komplementaritätsauffassung von Moral und
Politik und ihrer (Weberschen) Zuspitzung zur Komplementarität zwischen persönlicher
Gesinnungsethik und politischer Erfolgsverantwortungsethik bilden vor allem Machiavellis
Politikbegriff und Luthers Rechtfertigungslehre bzw. Zwei-Reiche-Lehre. Am Vorabend und
in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts sind Machiavelli und Luther, dieser
freilich arg mißverstanden, vom deutschen Liberalismus aktualisiert worden – zumal von den
Lutheranern Max Weber und Friedrich Naumann.
Im Blick auf das Italien der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, zerfallen in rivalisierende
Fürstentümer und Stadtstaaten, zu denen auch der rücksichtslos machtpolitische Vatikanstaat
gehörte, und im Blick darauf, daß glaubwürdiges Christentum nur noch in individueller
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Frömmigkeit mit weltabgewandter Liebespraxis existierte, war Machiavelli zu dem Schluß
gekommen, daß Politik und (christliche Liebes-) Ethik zweierlei sind. Zwischen der
strategisch geschickten Selbstbehauptung oder Machtbehauptung eines Gemeinwesens
bzw.seines Machthabers und der Nächstenliebe im Umgang mit dem einzelnen Nächsten
bestehe ein grundsätzlicher Konflikt. Daher beschreibt und entwirft Machiavelli Politik als
wertneutrale Kunst, als Technik des strategischen Handelns der Menschenführung und
Staatslenkung, der diplomatischen und militärischen Machtbehauptung, Politik könne sich gar
nicht nach moralischen Normen richten, weil sie es mit politischen Gegnern bzw. egoistischen
Menschen zu tun habe und vor allem auf „Notwendigkeiten“, Notlagen und Sachzwänge,
reagieren müsse. Unter solchen Bedingungen müsse ein Herrscher alles daransetzen, Erfolg
für sein und in seinem Gemeinwesen zu erzielen, zumal für den Machterhalt.
Im Blick auf strategisch machtpolitische Handlungsbedingungen wird, seit Machiavelli, als
„Staatsraison“, als Rationalität der Staatsführung und später auch als Ratio der Beamtenschaft
und generell der Verwaltung das moralfreie erfolgsbezogene Zweck-Mittel-Kalkül angesehen:
die „Zweckrationalität“. Das ist der Hintergrund, vor dem Max Weber die Idee einer
politischen Verantwortungsethik entwickelt hat, welche er der Liebesethik Jesu und der
Wahrhaftigkeitsmoral Kants als personale Gesinnungsethik gegenübergestellte. Denn eine
solche müsse in der politischen Realität scheitern; gelebt werden könne sie eigentlich nur von
Heiligen, die nicht für die Durchsetzung von Interessen anderer und nicht für die Bewahrung
eines Gemeinwesens verantwortlich sind.
Für das Politikverständnis und die politische Praxis in der Bundesrepublik, und zwar sowohl
in der SPD wie auch in der FDP und CDU/CSU, aber ähnlich für die Politik der anderen
westlichen Industriegesellschaften sollte es von entscheidender Bedeutung werden, daß nach
dem Vorbild Webers und Naumanns die Moral zur Gesinnungs- und Privatsache subjektiviert
und die Politik, unter dem Titel der Verantwortungsethik, zu einem eigengesetzlichen Bereich
der Zweckrationalität und Sachzwänge erklärt wurde. Scheinbar legitimiert durch die
„lutherische Scheidung“ von Politik und Heilsverkündigung, von „äußerer Macht oder Logik,
die in den Dingen selber liegt“ und „unserem persönlichsten Ich“ (F. Naumann), konnte sich
ein selbstgenügsames Politikverständnis durchsetzen. Die offizielle Politik verstand sich ohne
weiteres, ohne selbstkritischen moralischen Diskurs, als verantwortungsethisch und entzog
sich moralisch-politischer Kritik, indem sie diese als „gesinnungsethisch“ abqualifizierte.
Eine solche Abqualifizierung bedeutet freilich den Ausschluß der Kritiker aus der seriösen
politischen Diskussion und ihre Verbannung in ein Ghetto der Schwärmer und Idealisten. Ja,
zur Zeit der deutschen Teilung, in der alten Bundesrepublik, hatte das fast automatisch eine
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Diffamierung der Kritiker zur Folge: Sie seien trojanische Pferde bzw. geistige Wegbereiter
des Kommunismus oder des Terrorismus oder aber Angstneurotiker, deren Warnungen zur
Massenpsychose bzw. zur Hysterie verleiten. Nach diesem Muster war schon Konrad
Adenauers Verteidigungsminister, Franz Josef Strauß, mit den Gegnern der atomaren Rüstung
(1957) und mit den Atomphysikern der Göttinger Achtzehn verfahren, als sie schließlich in
die sozialdemokratische und protestantisch theologische Kritik an einer Atombewaffnung der
Bundeswehr einstimmten. Nach diesem Muster verfuhren dann die Parteispitzen der CDU,
aber alsbald auch Herbert Wehners SPD mit der Ostermarschbewegung der 60er Jahre; analog
bekämpfte seit 1967 die CDU – gegen scharfen Widerspruch Gustav Heinemanns und Willy
Brandts – die Studentenbewegung. Dementsprechend agierte schließlich die CDU aber auch
Kanzler Helmut Schmidt gegen die grün-alternative Bewegung und gegen die
Friedensbewegung der 80er Jahre.
2
Ausweitung des menschlichen Handlungsbereichs und neue prinzipienbezogene
Verantwortungsethik in der technologischen Zivilisation
Heute werden von den Kritikern neuartige moralische Forderungen gegenüber dem Staat
erhoben. Sie ergeben sich dann, wenn elementare Staatszielbestimmungen (wie Schutz der
natürlichen Lebensgrundlagen, Art. 20a GG, und Wahrung des Friedens) wenn die
Legitimationsgrundlage des Verfassungsstaates, nämlich die Achtung der Menschenwürde
(Art. 1 GG), und die verfassungsrechtliche Verpflichtung auf Menschen- und Bürgerrechte
aktuell ernst genommen werden, indem man sie einer Situationsanalyse der globalen
technischen Zivilisation und einer Folgenanalyse der Politik gegenüberstellt; z.B. der Innen-,
der Wirtschafts- und Energiepolitik, der Bildungs-, Wissenschafts- und Technologiepolitik
und nicht zuletzt der Militärpolitik. Denn in der technischen Zivilisation hat sich das
Verhältnis von Politik und Moral grundsätzlich gewandelt: Zahlreiche politische Maßnahmen
und politisch zu verantwortende technisch-industrielle Projekte bzw. Praktiken, aber auch
viele Konsumgewohnheiten haben schädliche Nebenfolgen, die weit über den Lebensbereich
der einzelnen Nation und weit über den Zeitraum der Gegenwart hinaus wirken oder sogar
eine planetarische Wirkungsdimension erreichen. Beispielsweise bedeutet die Inbetriebnahme
eines einzigen Atomkraftwerks durch die sogenannte Entsorgungsnotwendigkeit das Risiko
radioaktiver Verseuchung ca. über eine halbe Million Jahre und macht technische
Schutzmaßnahmen sowie politische Sicherheitsvorkehrungen, die die Bürgerfreiheit in Frage
stellen, für etwa 7000 Generationen erforderlich.
13
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27.10.2009
Der Ausweitung des menschlichen Handlungsbereichs, 1973 von Karl-Otto Apel und 1979
von Hans Jonas grundsätzlich bedacht, entspricht eine Ausweitung und qualitative
Veränderung des Problemhorizonts der Ethik und insbesondere der Verantwortungsethik.
Während Max Webers Postulat einer Verantwortungsethik nur die Solidarität hinsichtlich der
Interessen einer Gemeinschaft bzw. eines Staatsvolks unterstellte, so daß sie den Politiker
allein für den Erfolg im Sinne dieser Binneninteressen verantwortlich machte, wird heute eine
Solidarität der Menschheit und eine Mitverantwortung der Politik für die gesamte Menschheit
gefordert. Solidarität hat dabei den im Godesberger Programm der SPD von 1959 entfalteten
Doppelsinn (a) einer Verbundenheit der Menschen als Interessensubjekte in einer ökologischökonomisch verflochtenen Welt und (b) einer weltweiten gegenseitigen Verpflichtung, die
legitimen Interessen der anderen und zumal der Schwachen beim eigenen politischen Handeln
zu beachten. Auf diesen universalen Horizont sind heute signifikante politisch-ethische
Argumente und Forderungen der kritischen Öffentlichkeit bezogen; sie verweisen auf eine
globale und zukunftsbezogene Verantwortungsethik.
Vor diesem Hintergrund ist die kritische praktische Philosophie zu dem Ergebnis gekommen,
daß das Verhältnis von Politik und Moral kein unmittelbares sein kann und darf, sondern
allein ein mehrstufiges, das über Diskurse, über öffentliche Sinn- bzw. Bedürfnisermittlung,
demokratische Mehrheitsentscheidung und deren verfassungsrechtliche Normenkontrolle und
schließlich über begleitende moralische Verantwortungsdiskurse vermittelt sein soll. Für die
Ethik bedeutet dies, daß sie kommunikative Diskursethik wird. Für die Politik folgt daraus
zweierlei:
Grundsätzlich gelten politische Überzeugungen und Handlungen nur insoweit als moralisch
legitim und wirklich rational, als diese (in praktischen Diskursen) einer Überprüfung im
Hinblick auf das Moralprinzip der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit∗ standhalten. Konkret
können politische Beschlüsse und Maßnahmen nur dann als moralisch legitim und wirklich
rational gelten, wenn sie auf einer bestmöglichen Situationsanalyse (im empirischtheoretischen Diskurs) einschließlich öffentlicher Verständigung mit den Betroffenen über
ihre Werte und Interessen (kommunikative Sinnermittlung) beruhen. Daraus ergibt sich der
Rahmen einer Vermittlung von Diskursethik und rechtsstaatlich demokratischer Politik:
Folie zu Seite 14/15
∗ Etwa in dieser Formel des Diskursgrundsatzes (D): >Handle so, daß die Maxime und die Wirkungen deines
Handelns die Zustimmung aller als Argumentationspartner verdienen.<
vgl. auch Folie zu Seite 14.
14
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(1)
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Reflexiver Verbindlichkeitserweis des Moralprinzipsdurch Besinnung auf den
normativen Gehalt des argumentativen Dialogs als desjenigen Anerkennungs- und
Verpflichtungsverhältnisses, das logisch unhintergehbar ist, weil jeder, der etwas
behauptet bzw. bestreitet oder bezweifelt, schon die Rolle eines Argumentationspartners
übernommen hat;
(2)
Verhältnisbestimmung der Idealität/Kontrafaktizität des Moralprinzips zur Realität
(Faktizitiät)
der
natürlichen
und
gesellschaftlichen
Lebens-
bzw.
Kommunikationsbedingungen (zur Aufhebung der Alternative „Gesinnungsethik oder
Verantwortungsethik“);
(3)
Analyse der gesellschaftlichen und ökologischen Situation (im politisch zu fördernden
empirisch-theoretischen Diskurs);
(4)
und zwar unter Einschluß einer öffentlichen Verständigung mit gegenwärtigen
Betroffenen über ihre Bedürfnisse und mit Anwälten möglichen betroffenen Lebens
einschließlich nichtmenschlicher Lebewesen bzw. Ökosysteme (als politisch zu
verwirklichende kommunikative Sinnermittlung);
(5)
konkrete praktische Diskurse zur Prüfung der moralischen Verantwortbarkeit der
jeweils vorgeschlagenen
politischen Maßnahme, nämlich im Blick auf das
Moralprinzip (als öffentlich durchzuführende politische Beratung unter Beteiligung von
Philosophen, Theologen und Anwälten von Lebensbedürfnissen wie Ökologen);
(6)
politische Entscheidung nach dem Verfahren des Mehrheitsbeschlusses, das jedoch,
auch in der Sache, revidierbar bleiben, einer verfassungsrechtlichen Normenkontrolle
unterworfen sein und von weitergehenden moralischen Diskursen begleitet werden soll.
Aus den Verfahrensschritten (5), (2) und (1) dieses Orientierungsrahmens würde
beispielsweise eine Kritik von Helmut Schmidts „Maximen politischen Handelns“ und ihrer
Anwendung auf die Energiepolitik folgen. Denn sein Plädoyer für eine energiepolitische
Risikostreuung
(Energiemix)
durch
Einsatz
aller
Energiearten,
einschließlich
der
Atomenergie, unterstellt einfach die Verantwortbarkeit und gleiche moralische Legitimität
aller Energieformen; zudem geht sie ganz traditionell von der kurzfristigen Perspektive des
Erfolgsverantwortungsethikers aus, der in seiner Nation jetzt Erfolg haben will – und jetzt auf
genügend Wählerstimmen angewiesen ist …
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‚Pragmatische‘ (Atom)Energiepolitik nach Helmut Schmidt
Weil einer Atomenergiepolitik die langfristige Verantwortungsperspektive fehlt, die sich aus
dem Moralprinzip und der (von diesem mitgebotenen) Verantwortung für die natürlichen
Lebensbedingungen ergibt, läßt sie sich in keinem praktischen Diskurs rechtfertigen, kann
also nicht als „moralisch, d.i. als Grund einer Verbindlichkeit gelten“ (Kant) – ist folglich in
einem rein argumentativen Dialog nicht zustimmungsfähig. Helmut Schmidts Bekräftigung
des eigenen Standpunkts als vernünftig und seine Ablehnung anderer Standpunkte als
unvernünftig bzw. „irrational“ und gar „psychotisch“ entbehrt nicht nur eines Maßstabs für
„vernünftig“, sondern erweist sich als hinfällig, wenn sie anhand des diskursethischen
Vernunftmaßstabs und dessen Anwendung auf praktische Fragen geprüft wird.
Denn jener Maßstab lautet gemäß Diskursgrundsatz >D<, daß nur solche Argumente als
vernünftig gelten, die die Zustimmung aller verdienen und daher auch in einer idealen
Argumentationsgemeinschaft konsensfähig wären. Und jene Anwendung besteht in der
selbstkritischen Frage eines ernsthaften Diskursteilnehmers: „Würden die gegenwärtigen oder
künftig lebenden Betroffenen, wenn ihnen die beschlossene Handlung H und deren Folgen
bekannt würden, mit konsensfähigen Gründen dagegen argumentieren können?“
An den Verfahrenschritten (3) und (4) des diskursethischen Orientierungs- und
Urteilsrahmens müßte Helmut Schmidts politische Ethik scheitern, insofern ihrer
Situationsanalyse die methodisch-solipsistische und theoretisch objektivierende Einstellung
des Experten zugrunde liegt, der eine Situation ohne Verständigung mit den zur Situation
gehörenden Menschen richtig zu erkennen glaubt, indem er diese einfach als Objekte seiner
Analyse traktiert. Die Experteneinstellung verzichtet nicht nur auf Kommunikation, sondern
hat eine dialogzerstörerische Tendenz. Macht sie doch diejenigen, mit denen sie
kommunizieren sollte, bloß zum Objekt ihrer Kausalerklärungen und unterstellt daher
vorweg, über die Motive und Interessen der verobjektivierten Menschen besser Bescheid zu
wissen als diese selbst. So nahm Schmidt etwa die Gegner der Kernenergie nicht als
gleichberechtigte Dialogpartner ernst, sondern analysierte sie als Träger von „Urängsten“
bzw. von Aggressionen gegen den Staat.
*
Ob
sich
die
expertokratische
Einstellung
und
die
Energiepolitik
des
beliebten
Altbundeskanzlers – nach zwanzig Jahren fortgesetzten Diskurses – verändert haben, mögen
die Leser seiner Bilanz „Ausser Dienst“, München 2008, prüfen.
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In diesem Buch heißt es auf S. 88 f.: „Noch in den fünfziger Jahren war den meisten
Deutschen die Kernkraft als wünschenswert erschienen; einige Jahrzehnte später hat
Deutschland als eines von wenigen Ländern aus Angst vor der Kernkraft den >Einstieg in den
Ausstieg< beschlossen und hält bis heute daran fest, obgleich die Kernkraftwerke inzwischen
aus Gründen der Vernunft, nämlich aus ökologischen und ökonomischen Gründen, in aller
Welt gebaut werden. Als in den späten sechziger Jahren in den USA viele Studenten wegen
des Vietnam-Kriegs protestierten, setzten deutsche Jugendliche die Protestbewegung fort,
weil sie eine >Rückkehr des Faschismus< befürchteten. Als in den siebziger Jahren der >Club
of Rome< mit zwei Berichten ziemlich irrational das >Ende des Wachstums< verkündete,
fand er nirgendwo mehr geängstigte Anhänger als bei uns Deutschen. In den achtziger Jahren
protestierten Hunderttausende Deutsche zweimal gegen den NATO-Doppelbeschluß. Für die
Zukunft ist nicht auszuschließen, daß eine andauernde hohe Massenarbeitslosigkeit, welcher
der Gesetzgeber mit vernünftigen, jedoch unpopulären Arbeitsmarkt- oder sozialpolitischen
Schritten zu begegnen sucht, abermals einen Nährboden für psychotische Reaktionen bieten
kann, wie bereits 2003 die Ablehnung von Kanzler Schröders durchaus vernünftiger und
notwendiger >Agenda 2010< gezeigt hat.“
4
Diskursethische, also prinzipienbezogene Vermittlung von Moral und Politik
oder liberalistischer Rückgang auf faktische Übereinkünfte?
Der diskurs- bzw. dialogethische Rahmen der Vermittlung von Politik und Moral verwirft die
methodisch-solipsistische Tendenz und das theoretisch objektivierende Selbstverständnis des
Expertenpolitikers und hebt sie in ein kommunikatives, öffentlichkeitsbezogenes Verständnis
der
Situationsanalyse
und
Politik
auf.
Zudem
ersetzt
es
das
monologisch
verantwortungsethische Selbstverständnisses des Staatsmannes, der seine Entscheidungen
letztlich als die eines ‚Einsamen vor Gott’ versteht und seine Grundwerte wählt, als träfe er
eine Glaubensentscheidung durch ein dialogisches Verständnis der politischen Urteilsbildung
und Entscheidungsfindung. In welchem Sinne?
In jenem dialogbezogenen Rahmen wird die konkrete politische Verantwortung als
kommunikativ diskursiver Prozeß verstanden und praktiziert, nämlich
anhand des
intersubjektiv gültigen Diskursgrundsatzes (D), der zugleich Moralprinzip ist. Bezogen auf
politische Realität ist dieses Moralprinzip freilich kontrafaktisch. Daher behält es den Status
eines regulativen idealen Prinzips: Es gibt eine permanente Aufgabenstellung an – eine stets
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in Geltung bleibende Aufgabe, die seitens der Angesprochenen, der Wahlbürger und der
gewählten Bürger zumal, eine ebenso permanente Bemühung verlangt. In diesem Sinne läßt
es sich als politisch-ethischer Imperativ formulieren:
>Bemüht euch um Argumente und solche Entscheidungen, deren Wirkungen zumal in einer
idealen Kommunikations- und Argumentationsgemeinschaft konsensfähig wären; und bemüht
euch darum, zur Realisierung solcher Verhältnisse beizutragen, die den Anerkennungs- und
Dialogstrukturen einer reinen Kommunikationsgemeinschaft, in der unter Gleichberechtigten
nichts als das beste Argument gesucht würde, so nahe wie möglich kommen!<
In der politischen Praxis muß aber immer mit einer erheblichen Spannung zwischen der
kontrafaktischen Vorwegnahme einer rein argumentativen und unbegrenzten, insofern idealen
Kommunikationsgemeinschaft und den realen gesellschaftlichen Verhältnissen samt
allfälligen amoralischen Verhaltensweisen, nondialogischen Durchsetzungsstrategien und
Systemmechanismen gerechnet werden. Alles andere wäre nicht nur „Blauäugigkeit“ sondern
Verantwortungslosigkeit. Der zweite Verfahrensschritt des diskursethischen Schemas ist
deshalb eine Konkretion des Moralprinzips durch eine moralische Strategie, die den
Gesichtspunkt der Verantwortung für den Erfolg unter realen Handlungsbedingungen (freilich
nicht im eingeschränkten Sinne Webers) zur Geltung bringt. In nüchterner Einschätzung
einerseits der teilweise undialogischen, ja dialoggefährdenden Handlungsbedingungen der
anthropologischen und soziologischen Gegebenheiten, andererseits der lebensweltlichen und
kulturgeschichtlichen Entwicklung eines dialogmoralischen „objektiven Geistes“ (Hegel),
wird das regulative Idealprinzip der Diskurs- bzw. Dialogethik hier ergänzt durch das
regulative Realprinzip einer diskursbezogenen Moralstrategie:
>Tragt Sorge dafür, daß die schon existierenden Bedingungen der
Annäherung an
Verhältnisse einer idealen Kommunikationsgemeinschaft (so die biologische Existenz der
realen menschlichen Kommunikationsgesellschaften und die rechtstaatlichen Instiutionen,
Grund- bzw. rechtlichen Normen und ethisch universalistischen Traditionen) bewahrt
werden!<
Die Aufgabe einer Vermittlung der (nunmehr unverkürzt, nämlich dialogisch und strikt
universalistisch begriffenen) Moral mit der (nunmehr unverkürzt als „öffentliche Sache“
verstandenen) Politik läßt sich dann mit Apel als Erarbeitung politisch ethischer Strategien
verstehen: Es geht darum, das regulative Idealprinzip mit dem regulativen Realprinzip jeweils
so
zum
Kompromiß
zu
bringen,
daß
die
Bewahrung
von
(politisch-moralisch
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unverzichtbaren) realen Lebensbedingungen eine realistisch einschränkende Funktion bei der
Befolgung des gewissermaßen idealistischen Moralprinzips übernehmen muß.
Das bedeutet freilich eine Ernüchterung allen utopisch idealistischen Überschwangs.
Demzufolge sind nämlich alle Handlungsorientierungen zu revidieren, die sich ihren
angestrebten – mehr oder weniger als ideal angesehenen – Gesellschaftszuständen durch
Mittel annähern, die unverzichtbare biologische Lebensgrundlagen, soziale und politische
Gleichberechtigungsbedingungen oder last but not least dialogförderliche geistige und
religiöse Traditionen gefährden. Wenn durch Situationsanalysen in öffentlichen empirischtheoretischen Diskursen sorgfältig gezeigt worden ist, daß eine derartige Gefährdung der Fall
oder sie nicht auszuschließen ist, müssen solche Mittel als politisch unmoralisch, weil
unverantwortlich, verworfen werden. Dies dürfte heute z.B. zutreffen für politische
Handlungsorientierungen wie:
-
Energiepolitik mit der Option auf Kernkraft,
-
wirtschaftliches Wachstum mit Energieverbrauchssteigerung, welche auf Kosten des
Klimas, der Umwelt und zumindest der künftigen Generationen geht;
-
Sicherheitspolitik mit konventioneller und atomarer Hochrüstung, die auch und gerade
zu Lasten der Dritten Welt (Rüstung tötet täglich) sowie auf Kosten aller
Volkswirtschaften geht (Rüstung ist kontraproduktiv) und überdies die Lebensgefahr
für die Menschheit permanent steigert.
Wenn Gesellschaften bzw. Regierungen von solchen Handlungsorientierungen oder von
solchen Mitteln nicht ablassen, stellt sich z.B. die Frage des zivilen Ungehorsams und
politischen Streiks als eines möglichen legitimen oder sogar politisch-moralisch gebotenen
Schutzes von moralisch hochrelevanten Lebensbedingungen der Menschheit oder
Verfassungsgütern eines demokratischen Rechtsstaats.
Treten wir nun von unserer Argumentation zurück und konfrontieren sie mit einer
Grundüberzeugung des westlichen Komplementaritätssystems. Denn bislang haben wir,
zumal in diesem Abschnitt und in Kapitel I.2 eine Voraussetzung gemacht, die sich mit dem
liberalen Hauptstrom des westlichen Politikverständnisses nicht vereinbaren läßt. Haben wir
doch vorausgesetzt, Politik müsse so auf Moral bezogen werden, daß sie – erstens – mit dem
Moralprinzip vereinbar ist und daß sie – zweitens – auf eine solche Vereinbarkeit geradezu
angewiesen sei, weil Moral keine bloße Privatsache, sondern eine intersubjektiv einsehbare
und politisch tragende Angelegenheit sei. Just diese Voraussetzungen stehen quer zur
Mehrheitsmeinung, ja zur tiefen Überzeugung der modernen politischen Denker, die mehr
oder weniger zum philosophischen Liberalismus nach Kant zu rechnen sind – von John Stuart
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Mill über Max Weber und Friedrich Naumann bis zu Karl R. Popper und in gewisser Weise
auch John Rawls, um nur einige Klassiker zu nennen. Der philosophische Liberalismus hält
nämlich eine allgemeingültige Begründung des Moralprinzips nicht nur für unmöglich,
sondern auch für gänzlich unnötig und dogmatismusträchtig. Unnötig, weil sich die Bürger in
einem demokratischen Rechtsstaat frei einigen, also Übereinkünfte schließen können, an
welche sich die Politik dann als ihren Orientierungsrahmen zu halten habe.
Einerseits setzt sich der philosophische Liberalismus für (Meinungs-) Freiheit, Pluralismus
und Toleranz als Grundwerte mit einem normativen Gehalt ein, dessen Verbindlichkeit zu
unterstellen sei und die von ihm faktisch auch unterstellt wird. Andererseits ist er im Einklang
mit dem Historismus bzw. Relativismus und mit dem kritischen Rationalismus der
Popper’schen Schule davon überzeugt, daß ein Verbindlichkeitserweis von Grundnormen
ebensowohl unmöglich wie unnötig sei. Vielmehr stelle das anfangs skizzierte westliche
Komplementaritätssystem bei subjektiver Moral und intersubjektiver, aber moralfreier
Rationalität die Basis einer freiheitlich demokratischen Gesellschaftsordnung dar. Diese
Komplementarität sei notwendige und hinreichende Bedingung einer freiheitlichen Politik
und eines demokratischen Rechtstaats. Zumindest glauben die liberalen Klassikern, wie Apel
zusammenfaßt, daß „kein anderes Orientierungssystem ohne Dogmenzwang begründet und
öffentlich vertreten werden könne. Oft behaupten sie auch“, fügt Apel hinzu, „daß die selbst
moralisch wertneutralen Methoden der wissenschaftlichen Rationalität – mit deren Hilfe man
ja Normensysteme auf ihre Widerspruchsfreiheit und ihre gesellschaftlichen Konsequenzen
hin vergleichen kann – hinreichen, um die Gesellschaft wie den Einzelnen zu
verantwortlichem Handeln anzuleiten. Diese weit verbreiteten Ansichten lassen sich jedoch
m.E. alle als unbegründet und im Gesamteffekt als illusionär erweisen.“
Folie zu Seite 20
Als schlagendes Gegenargument – schlagend im Sinne einer immanenten Kritik – führt Apel
seinen Einwand gegen die weit verbreitete ‚konventionalistische‘ Annahme ins Feld, „daß alle
Normen, die in einem öffentlich gültigen System positiven Rechts vorausgesetzt werden, auf
Übereinkünfte zurückgeführt werden können.“ Denn zumindest für die tragende Norm, daß
Übereinkünfte einzuhalten seien – „pacta sunt servanda“ lautet dieses althergebrachte
Rechtsprinzip – treffe das von vornherein nicht zu. Denn diese tragende Norm ist, fährt Apel
fort, „eine ethische Norm, die – als normative Bedingung von Übereinkünften – zugleich
Rechtsnorm sein muß und gleichwohl in ihrer Gültigkeit nicht auf dem ‚Verfahren‘ der
Inkraftsetzung durch Übereinkunft beruht. Dadurch allein ist schon bewiesen, daß auch in
einer liberal-demokratischen Gesellschaftsordnung Moral nicht privat sein kann.“
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Dem fügt Apel ein zweites Gegenargument hinzu, welches die Binnenmoral von
Vertragspartnern bzw. von Beteiligten einer Übereinkunft von der eigentlichen, und zwar
universalen Moral unterscheidet, welche alle möglichen Betroffenen in gleicher Weise als
Anspruchssubjekte ernstnehmen und berücksichtigen muß. Der liberalistische Rückgang auf
faktische Übereinkünfte sei schon deshalb unzureichend, weil er das Legitimationsproblem
gegenüber den möglichen Betroffenen, welche nicht am Zustandekommen einer jeweiligen
Übereinkunft beteiligt sind, von vornherein außer Acht lasse. So verwies Apel 1981 im
„Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik“ auf das eigentliche ethische Legitimationsproblem
„im Hinblick auf die Interessen Außenstehender, die (wie beispielsweise Gastarbeiter oder
Menschen außerhalb des eigenen Staats- und Rechtssystems überhaupt) zwar nicht zu denen –
direkt oder indirekt – Beteiligten der institutionelle geregelten Übereinkünfte, wohl aber zu
den Betroffenen gehören.
Mit anderen Worten: der Mechanismus der Normenbegründung durch verfahrensmäßige
Übereinkunft
(z.B.
durch
Mehrheitsbeschlüsse)
ist
in
einer
freiheitlichen
Gesellschaftsordnung eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Bedingung der Gültigkeit
rechtlicher Normen. Er setzt keineswegs nur den tatsächlichen Interessenskompromiß der
subjektiven Wertentscheidungen der einzelnen Bürger voraus, der verfahrensmäßig geregelt
ist, sondern auch eine intersubjektiv gültige Ethik der Konsensbildung aller denkbaren
betroffenen Kommunikationspartner.2
Diese Argumentation bündeln und ergänzen wir (um einen 3. Punkt) durch folgende
skizzenhafte Erläuterung:
Folie zu Seite 21
2
Karl-Otto Apel: „Das westliche Komplementaritätssystem als Herausforderung für die ethische Vernunft“, in:
Apel/Böhler/Rebel, Funkkolleg Praktische Philosphie/Ethik: Studientexte, Bd.1, Weinheim/Basel 1984, S. 153f.
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Position und Kritik des philosophischen Liberalismus (nach Kant)
Grundwerte: (Meinungs-) Freiheit, Pluralismus, Toleranz
a) als Prinzipien/Grundnormen postuliert,
b) Prinzipien-Begründung (P-B) bzw. Verbindlichkeitserweis als logisch unmöglich
disqualifiziert und
c) pragmatisch durch Übereinkünfte – Verträge/Konventionen (V/K) substituiert →
Kontraktualismus.
Prämissen:
1. PB unmöglich und unnötig,
2. alle Normen ableitbar aus V/K.
Kritik:
3. Rückgang auf V/K ist moralisch defizitär: schließt Dritte (an den jeweiligen
V/K nicht Beteiligte, aber davon Betroffene) aus
→ Menschenwürde und Menschenrechte, Völker- und Umweltrecht nicht
begründbar
→ moralische Ohnmacht gegen das Böse als fanatisch Partikulares
(„unsere K. läßt Menschenrechte nicht zu“).
2. Normen wie: „pacta sunt servanda!“
und
„Menschenwürde unantastbar!“
nicht ableitbar aus
V/K.
3. P-B logisch möglich durch Reflexion auf mich/dich im argumentativen
Diskurs.
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