Dietrich Böhler WS 2009/2010 Einführung in die Praktische Philosophie/Ethik: »Wo bist du? Was sollen wir tun? Was heißt Zukunftsverantwortung« 0 Viererlei Erstaunen und zwiefaches Erschrecken als Anfänge des Philosophierens. I Moral und Politik vor der Herausforderung der Zukunftsverantwortung. II Was heißt Zukunftsverantwortung? Und sind wir überhaupt einsehbar zu etwas verpflichtet? Die Aktualität von Hans Jonas und der Diskursethik. III Zukunftsverantwortung und Atomenergie. IV Idee des Diskurses und moralische Urteilsstufen. Systematische und historische Grundlagen der Ethik. V Neuzeitliche Stationen der (Praktischen) Philosophie ─ Descartes, Hobbes und Kant. Oder: Das sich selbst vergewissernde und sich selbstbehauptende Subjekt zwischen instrumenteller Rationalität und praktischer Vernunft. VI Gesinnungs- und Verantwortungsethik: Moral zwischen biblischem Brüderlichkeitsethos und säkularer Erfolgsverantwortung. Vorlesung Böhler WS 2009/2010 27.10.2009 Inhaltsverzeichnis Vorbemerkung.........................................................................................................................5 0 Vielerlei Erstaunen und zwiefaches Erschrecken als Anfänge des Philosophierens…………………………………………………….......................6 I Moral und Politik vor der Herausforderung der Zukunftsverantwortung .......... 9 1 Politik in der Komplementarität von Positivismus/Expertokratie und Dezisionismus/Existentialismus ..................................................................................10 2 Ausweitung des menschlichen Handlungsbereichs und neue, prinzipienbezogene Verantwortungsethik in der technologischen Zivilisation............................................13 3 ‚Pragmatische‘ (Atom)Energiepolititik nach Helmut Schmidt ................................... 15 4 Diskursethische, also prinzipienbezogene Vermittlung von Moral und Politik oder liberalistischer Rückgang auf faktische Übereinkünfte?...............................................17 II Was heißt Zukunftsverantwortung? Und sind wir überhaupt einsehbar zu etwas verpflichtet?......................................................................................................23 1 Zum Problem einer globalen Verantwortungsethik nach Max Weber.........................26 2 Hans Jonas, Karl-Otto Apel und die Berliner Diskursethik – prinzipienethische Antworten auf die neuartigen Herausforderungen der praktischen Vernunft durch die technologische Zivilisation................................. 30 3 Metaphysische versus reflexiv dialogische Begründung des Prinzips Mitverantwortung. Läßt sich das Zugleich von Freiheit und Verantwortung (Kants „Faktum der reinen Vernunft“) einholen?....................................................... 39 4 Absolute Pflicht zum Dasein der Menschheit? Hans Jonas’ orientierende Gedankenexperimente................................................................................................. 46 5 Was heißt moralische Verantwortung für die Zukunft? Elemente des Begriffs Zukunftsverantwortung................................................................................. 57 6 Die Grundnorm Achtung der Menschenwürde im Streit um ‚verbrauchende Embryonenforschung’ und PID........................................................69 2 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 27.10.2009 III Zukunftsverantwortung und Atomenergie ...……………………………………... 73 1 Mit Jonas gegen Jonas: Gedankenexperiment der Wette versus „pragmatische“ Einstellung zur Atomenergie…………………………………………………………77 2 Atomkraft als verantwortungsethische Notwendigkeitsstrategie?...................................84 3 Spaemanns metaphysisch wertethisches Verdikt über die Atomenergie diskursiv eingeholt……………………………………………………………………………… 86 4 Dialogpragmatische Kohärenzprüfung als kurzer Verantwortungsdiskurs. Keine Zukunftsverantwortung mit Atomkraft……………………………………………….. 91 IV Idee des Diskurses und moralische Urteilsstufen. Systematische und historische Grundlagen. 1 „Wo bist du?“............................................................................................................... 95 1.1 Sokratische Dialogreflexion. Begründungsweg der Berliner Diskurspragmatik..............................................................................................95 2 Praktische Vernunft oder: Was heißt und warum brauchen wir (argumentativen) Diskurs?........................................................................................................................98 2.1 Diskurs als Befreiung aus dem tragischen Neben- und Gegeneinander von Institutionen. Metakonventionelles Bewußtsein in der „Achsenzeit“ zwischen 800 und 200 v. Chr. .......................................................................................108 2.2 Die unbegrenzte Auswirkungsdimension menschlichen Verhaltens in der hochtechnologischen Zivilisation. Kein Begriff der MenschheitsVerantwortung ohne die Geltungsidee des Diskursuniversums..........................................................................................121 2.3 Diskurs und Vernunft: ideale versus reale Kommunikationsgemeinschaft und Normen der Diskurspartnerrolle...............................................................128 3 Woher wir kommen: Biblisches Dialog- und Moral-Erbe, Erblasten der theoriaTradition......................................................................................................................141 4 Diskurs- und Moralstufen............................................................................................149 4.1 Lawrence Kohlberg und die Entwicklungslogik der ethischen Urteile...........150 4.2 Eine verantwortungsethische Stufe 7 oder: Das Problem der moralischen Strategiebildung angesichts ‚schmutziger’ Handlungsbedingungen und fragwürdiger Zumutbarkeit............................................................................´159 4.3 Erfüllte Autonomie: ‚Meine’ Verantwortung und Glaubwürdigkeit als Diskurspartner................................................................................................171 5 Sokrates und ‚wir’ als Diskurspartner: Diskursglaubwürdigkeit und Moral..............178 5.1 Wie der Logosgrundsatz heißen sollte und was er bedeutet...........................182 5.2 Diskussion über Sokrates oder: Wie beurteilen Sie Sokrates’ praktische Argumente im „Kriton“?.................................................................................190 5.3 Platonischer Sokrates versus Moral aus dem Dialog.....................................207 5.3.1 Pluralität und Verständigungsgegenseitigkeit im Diskurs versus Expertenmetaphysik der Wahrheit.....................................................208 3 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 27.10.2009 5.3.2 Naturalistischer Fehlschluß in der Vertragstheorie und die Gefahr des Rechtspositivismus..............................................................................210 5.3.3 Diskursglaubwürdigkeit versus faktische Anerkennung.....................216 5.3.4 Verantwortung für den Erfolg des Moralischen und Zumutbarkeit für die Beteiligten bzw. Betroffenen verlangen moralische Strategien.....217 V Neuzeitliche Stationen der (Praktischen) Philosophie: Descartes, Hobbes und Kant. Oder: Das sich selbst vergewissernde und sich selbstbehauptende Subjekt zwischen instrumenteller Rationalität und praktischer Vernunft.........................................................................................222 1 Metaphysische Hintergrunderfahrung der Neuzeit oder: Kopernikanischer Choc, selbstbewußtes Subjekt und mathematisierte Technologie............................. 222 2 Zwei Formen der Aufklärung – ein Preis: Verdrängung der Kommunikation durch emanzipatorisch gemeinten Solipsismus der Methode.....................................225 3 Descartes: Selbstvergewisserung durch wissenschaftliche Methode und durch Reflexion des Erkenntnissubjekts...............................................................................228 4 Thomas Hobbes oder die politische Hintergrunderfahrung der Neuzeit. Die konfessionellen Bürgerkriege als Offenbarung einer Wolfsnatur und die Antwort der zweckrationalistischen Vertragstheorie..................................................231 5 Immanuel Kants Suche nach praktischer Vernunft im Subjekt oder: Einsehbare Verbindlichkeit in den Grenzen einer Zwei-Welten-Metaphysik und deren Gesinnungsethik..........................................................................................................238 5.1 Kopernikanische Wende der Ethik: Verallgemeinerbarkeitstest als Weg zur Verbindlichkeit................................................................................................247 5.2 Recht und Grenze einer idealistischen Vernunftethik in dualistischem Rahmen...........................................................................................................252 VI Gesinnungs- und Verantwortungsethik: Moral zwischen biblischem Brüderlichkeitsethos und säkularer Erfolgsverantwortung…………………….260 1 Die biblisch jesuanische Liebes- und Brüderlichkeitsethik…………………..……..260 2 Zwei Stachel im Geist – die nach Max Weber und aufgrund der westlichen Komplementarität offenen Fragen nach praktischer Vernunft………………………283 4 Vorbemerkung Diese Vorlesung fügt sich in den Rahmenlehrplan des Instituts für Philosophie der Freien Universität Berlin von 2008 ein. Sie dient als „Einführung in die Praktische Philosophie“ für den Studiengang des „neuen Bachelor“, als Kolleg „Politische und Sozialphilosophie“ für den Studiengang des „alten Bachelor“, nicht zuletzt als Basiselement des Studiengangs Vergleichende Ethik und schließlich als Vorlesung für das, noch den Geist der universitas atmende, nun aber – skandalöserweise – auslaufende Magisterstudium. Da die inhaltlichen Vorgaben des Rahmenlehrplans im Wintersemester eher auf eine Grundlegung der Praktischen Philosophie zielen, weil zudem der Dozent eine sogenannte Einführung hier eigentlich für sinnlos hält, alldieweil sich Praktische Philosophie, nicht als wären wir in der Schule, „unterrichten“ läßt, sondern darauf hinauswill, daß wir philosophieren und über die Grundlagen der Ethik nachdenken, wird hier eine diskursive Einleitung in die Praktische Philosophie vorgelegt. Sie lädt ein zum Diskurs mit uns selbst; so nämlich, daß insbesondere Grundlagen der Ethik ausgewiesen werden, indem wir uns darauf besinnen, was wir selber unweigerlich in Anspruch nehmen und implizit anerkennen. Wir selbst? – Ja, wir als Denkende, und das heißt als Partner in einem argumentativen Dialog. Eine zweistündige Vorlesung kann in einem Semester nur exemplarische Arbeit leisten. Zumal dann, wenn der Diskurs auch unmittelbar praktiziert wird. Dazu lade ich alle Interessierten freundlich ein. Ob freilich die Vorlesung und mein zugehöriges Grundlagenseminar mitsamt den notwendigen Texten und Veranschaulichungsmitteln (Arbeitsunterlagen, Schemata etc.) zu Ende geführt werden kann, ist ungewiß. Es hängt davon ab, ob der Geschäftsführende Direktor des Philosophischen Instituts und das Dekanat bzw. der Verwaltungsleiter dem Lehrstuhl Praktische Philosophie/Ethik ab November wenigstens Mittel für die Kompensation der fehlenden Sekretariatshilfe (40 Std. im Monat) einräumen. Dietrich Böhler, Vorlesung Böhler WS 2009/2010 27.10.2009 Statt eines Mottos: Über das Erstaunen als viererlei Anfang des Philosophierens und über das Erschrecken als zwiefacher Anfang des Verantwortungsdenkens extemporiert. Was, sagt man, von alters, sei der Anfang der Liebe zur Weisheit oder des Philosophierens? – Das Erstaunen. Diese Antwort, die in der Philosophiegeschichte immer wieder zurückgekommen worden ist, finden wir in Platons Dialog theaitheos, 155 d. Platon läßt dort Sokrates sagen, der Zustand des Erstaunens sei der „eines gar sehr die Weisheit liebenden Mannes […]; ja es gibt keinen andern Anfang der Philosophie als diesen, und wer gesagt hat, Iris sei die Tochter des Thaumas, scheint die Abstammung nicht übel getroffen zu haben.“ Thaumas, eine archaische Urgottheit, deren Name an „wunderbar“ anklingt, hat mit Elektra die regenbogenfarbene Iris gezeugt. Sie bringt auf einem Regenbogen den Menschen göttliche Kunde, so daß man in jeder Hinsicht über sie ins Staunen gerät: Über ihre schimmernde Schönheit ebenso wie über ihre göttliche Botschaft. In der Odyssee wird sie durch den Götterboten Hermes verdrängt. Letztlich ist das Erstaunen bei Platon eingebettet in seine „periagogé“, seine Umdrehung des natürlichen Bewußtseins – weg von der sinnlichen Wahrnehmung und hin zur geistigen Schau der Ideen als Strukturen des Seins und des Seins als ganzem bzw. als göttlich wohlgeordnetem Kosmos. In diesem Rahmen lassen sich, scheint mir, drei Bedeutungsaspekte des Erstaunens unterscheiden, nämlich Erstaunen a) als verwunderte, befremdete Reaktion auf die insistierende Befragung bzw. den kritischen Diskurs (élenchos). Verfährt Sokrates doch schon fast nach dem diskursphilosophischen Motto: ‚Kannst Du Deinen Wissensanspruch, den Anspruch auf Wahrheit Deiner Meinung begrifflich präzisieren und einlösen?’ b) Das Erstaunen als Reaktion auf die Selbstwahrnehmung im Diskurs mit dem Hebammenkünstler Sokrates, dem Maieutiker und Dialektiker mit platonischem Ideenwissen, der einem ein implizites Wissen aus der Seele bzw. dem Geist heraufholt und es in begriffliches Ideenwissen transformiert. c) Erstaunen über das Ideenwissen gipfelt in der Schau der höchsten Idee, der Idee des Guten und Schönen und des Einen als Urgrund des Seins. Das kann schon ausgelöst werden durch Betrachtung des Firmaments als des wohlgeordneten Kosmos, welche Menschen zur Philosophie und durch Nachahmung (mimesis) zur Wohlordnung des eigenen Denkens bringe (Timaios 47 und 28-30). Es folgt eine mündliche Erläuterung des Schemas „Das Erstaunen“ (von II bis IV), sodann des Schemas „Das Erschrecken“. (Forts. S. 6a fehlt noch…) 6 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 27.10.2009 Das Erstaunen oder: Viererlei Anfang des Philosophierens – von der Betrachtung zur Reflexion. I. Platons periagogé Wendung von der sinnlichen Wahrnehmung zur geistigen Schau der Ideen/des Seins (oder der Dinge an sich) II. Kants ‚kopernikanische‘ Wende von der theoria/spekulativen Schau der Dinge an sich zur „transzendentalen“ Rekonstruktion der Erfahrungs- bzw. Erkenntnisbedingungen des Vernunftsubjekts (I.) Sein Arten und Drehungen der Betrachtung III. Sprachpragmatische Drehung der Betrachtung „um unser eigenes Bedürfnis [nach Intersubjektivität] als Angelpunkt“ (Wittgenstein) oder um unsere Sprachpraxis bzw. Dialogpraxis IV. Reflexiv-sprachpragmatisch/ diskursreflexive Wende: Von der Betrachtung/Analyse/ Rekonstruktion der Sprachpraxis zur aktuellen Reflexion auf mich/dich als demjenigen, der gerade etwas als etwas versteht/geltend macht/tut. (II.) Erkenntnissubjekt (III.) Sprache/Praxis/Diskurs Wende von der Betrachtung zur aktuellen Reflexion (IV.) Ich/Du/Es jetzt in sprachlicher Praxis als argumentativem Dialog Folie zu S. 7 7 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 27.10.2009 Das Erschrecken: Zwiefacher Anfang des Verantwortungsdenkens I. Erschrecken vor dem technologischen Prometheismus. Die äußere Herausforderung der Vernunft/des Diskurses ergibt sich aus der Einsicht in die Gefährdung der Existenz der Menschheit auf Erden und damit in die Gefährdung der Existenzbedingungen von „Diskurs und Verantwortung“ (Apel, 1988) durch eine ökologische Dauerkrise und eine technologisch/ökonomische Dauergefährdung menschenwürdigen Lebens auf Erden (Jonas, 1979). II. Erschrecken vor der Entethisierung von Vernunft/Wissenschaft als moralfreier Ratio. In diesem Erschrecken spiegelt sich die innere Herausforderung der Vernunft (Apel 1973 u.ö.) durch einen Vernunftbegriff und die Praktizierung einer Rationalität ohne Prinzipienbegründung – mithin ohne einsehbare Verbindlichkeit als universale Verpflichtung zur Menschenwürde, zur Gerechtigkeit und zur Zukunftsverantwortung. Folie zu S. 8 8 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 27.10.2009 I Moral und Politik vor der Herausforderung der Zukunftsverantwortung „Moral und Politik“ bezeichnet die Themenstellung der politischen Ethik. Sie ergibt sich aus dem bleibenden Konflikt zwischen der Interessendurchsetzung und Selbstbehauptung eines Staatsvolkes oder einer Interessengruppe und der Anerkennung moralischer Grundsätze, die zu Partnerschaftlichkeit und Konsensbemühung oder zumindest zur Kompromißbereitschaft auffordern. Die beiden Elemente dieses Konflikts sind zwar Pole eines unauflösbaren Spannungsverhältnisses, stehen sich aber weder in der Geschichte noch in der Gegenwart (Zivilisationskrise als Menschheitskrise) wie völlig unvereinbare Extreme gegenüber. Denn die Interessendurchsetzung hängt zumindest langfristig von einer gewissen Verständigung zwischen den einander entgegenstehenden Interessengruppen bzw. Nationen ab – und sei es ein bloßer Interessenkompromiß. Bereits strategisch und zweckrational eingegangene Kompromisse setzen aber, wie alle Übereinkünfte und Verhandlungen, ein Mindestmaß an gegenseitigem Vertrauen voraus, das letztlich auf der gemeinsamen Anerkennung moralischer Grundsätze beruht.1 Als Grundeinsicht politischer Ethik kann daher gelten, daß Interessendurchsetzung und (einsehbar verbindliche) Moral ein Spannungsverhältnis mit Vermittlungstendenz darstellen. Als in der frühen Neuzeit, vor allem von Niccolò Machiavelli, und im Absolutismus etwa von Jean Bodin, die moralfreie Selbstbehauptung des Staates durch Machtpolitik zum Inbegriff der politischen Rationalität, nämlich der Raison des Staates und seiner Souveränität, wurde, traten zugleich der christliche Humanismus und das Naturrecht der Aufklärung auf den Plan. Durch Entwicklung eines Völkerrechts (Hugo Grotius) und durch den Versuch, den bürgerlichen Friedenszustand auf einen Staatsvertrag bzw. Sozialvertrag aus wohlverstandenem Eigeninteresse zu gründen (Thomas Hobbes), sollten einerseits Fürstenwillkür oder gar rücksichtslose Herrschergewalt, andererseits egoistische Selbstbehauptung der Bürger und Bewaffneten moralisch eingegrenzt werden. Erläuterung 1 zu Seite 9 Unabhängig davon, nämlich zunächst vor dem Hintergrund von Luthers Lehre von der Rechtfertigung aus Glauben und vom christlichen Handeln in „zwei Reichen“, ist der Ansatz zu einer Ethik des Kompromisses und der Schuldübernahme entwickelt worden: Aufgrund seiner Verantwortung für die reale Welt (z.B. als Politiker) solle der Christ zum Kompromiß zwischen dem absoluten Liebesgebot Jesu (Nächstenliebe, Bergpredigt) und den Möglichkeiten bzw. Bedürfnissen der geschichtlich-gesellschaftlichen Realität im Sinne einer Realpolitik bereit sein. Erläuterung 2 zu Seite 9 1 Insofern sind Kompromisse zu messen (und d.h. kritisch zu prüfen) an der Vernunftidee eines strikt argumentativ begründeten Konsensus. 9 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 1 Politik in der Komplementarität Dezisionismus/Existentialismus 27.10.2009 von Positivismus/Expertokratie und Wenn im 20. Jahrhundert das Verhältnis von Moral und Politik bestimmt wurde, dann meist in einem eigentümlich verkürzten Sinn sowohl des Moral- wie auch des Politikbegriffs. Denn unter dem Einfluß des deutschen Liberalismus und vor allem Max Webers hat sich der Zeitgeist daran gewöhnt, Moral (Ethik) als in doppeltem Sinne subjektive bzw. private Gesinnungs- und Handlungsorientierung anzusehen, Politik hingegen als in doppeltem Sinne intersubjektive Ausübung von Herrschaft über und von Verantwortung für ein Gemeinwesen. Als intersubjektiv gilt die Politik, (1) insofern ihre mit Gewaltsamkeit verbundene Herrschaftsausübung rechtsstaatlich legal ist und vom jeweiligen Staatsvolk als legitim angesehen wird, und (2) insofern ihre Verantwortungsausübung verfahrensgemäß sowie zweckrational ist und auf „wertfreiem Expertenwissen“ beruht, zudem auch die anfallende, empirisch-theoretische Situationsanalyse geschlagen wird. Erläuterung 1 zu Seite 10 Der letzte Punkt ist für das Politikverständnis in der wissenschaftlich-technischen Zivilisation charakteristisch: Es unterstellt, daß sich die Intersubjektivität der Politik insbesondere durch die vermeintliche Objektivität von Situationsanalyse und Expertenwissen ergibt, also aufgrund der monologischen Einstellung des Analytikers und objektivierenden Theoretikers. Diese Einstellung macht die Gesellschaft bzw. einen gesellschaftlichen Problem- und Planungsbereich zum Objekt und geht davon aus, daß hinreichendes Wissen über dieses Objekt und zulängliche Planung dieses Objekts möglich ist, ohne daß Analyse und Planung grundsätzlich auf Kommunikation und Verständigung mit diesem „Objekt“ angewiesen wären. Das ist das expertokratische oder technokratische Selbstverständnis der Politik (Expertokratie). In der westlichen Zivilisation ist es durch den Positivismus zur Herrschaft gekommen, wurde in den letzten Jahrzehnten aber scharfer Kritik unterzogen. Erläuterung 2 zu Seite 10 Die angedeutete Verkürzung des Politikverständnisses betrifft den Sinn der Politik als öffentlicher Sache (res publica) im demokratischen Rechtsstaat, und zwar sowohl hinsichtlich der Situationseinschätzung wie auch der Entscheidungsfindung, die beide nicht bloß Angelegenheit von Experten und Politikern sein können und sein dürfen. Vielmehr müssen beide, wenn sie rational und demokratisch-republikanisch sein sollen, Sache des öffentlichen Dialogs sein. Das vorherrschende Verständnis des politischen Entscheidungsprozesses im Sinne einer einsamen verantwortungsethischen Entscheidung (Max Weber) oder im Sinne der 10 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 27.10.2009 verwandten Situationsethik Jean-Paul Sartres läßt ein solipsistisch bzw. individualistisch verkürztes Moralverständnis in die Politik einfließen. Dadurch wird in der Politik das wirksam, was Karl-Otto Apel als Arbeitsteilung und als Verhältnis wechselseitiger Ergänzung sowie Ausschließung oder „Komplementarität“ von Positivismus einerseits und Existentialismus bzw. Dezisionismus andererseits beschrieben hat: „Der Existentialismus ist die Philosophie der privaten, rein subjektiv verbindlichen und insofern irrationalen Wertentscheidungen. Der Positivismus (Szientismus) ist die Philosophie der wertfreien Rationalität, die im öffentlichen Lebensbereich durch Sachverständige (‚Experten‘) zur Geltung gebracht wird. Die ebenfalls wertneutrale ‚Verfahrens‘-Rationalität der öffentlichen Praxis ergibt sich dann daraus, daß die wissenschaftliche und technologische Ermittlung von Wenn/dann-Regeln, die Ursachen und Wirkungen bzw. Mittel und Zwecke verknüpfen, im politisch-wirtschaftlichen und politisch-juristischen Denken als Kalkulation der Folgen und Nebenfolgen von Handlungen zur Geltung gebracht wird. Die Philosophie dieser im wertneutralen Sinne ‚praktischen‘ Ergänzung der wissenschaftlichen ExpertenRationalität durch das Bedenken von Folgen und Nebenfolgen ist der amerikanische Pragmatismus.“ Erläuterung zu Seite 11 Bei Weber und in dem, von ihm beeinflußten, „Kritischen Rationalismus“ Karl R. Poppers und seiner Schule werden diese Elemente so zusammengebracht, daß man hier gewissermaßen vom offiziellen Selbstverständnis der liberal verfaßten, wissenschaftlichtechnischen Zivilisation sprechen kann. Der Kern dieses Selbstverständnisses ist die Komplementarität von wissenschaftlich-theoretischer Rationalität plus politischer Verfahrensund Zweck-Rationalität einerseits und privater, irrationaler Zwecksetzung und Wertentscheidung andererseits. Den geistesgeschichtlichen Hintergrund der Komplementaritätsauffassung von Moral und Politik und ihrer (Weberschen) Zuspitzung zur Komplementarität zwischen persönlicher Gesinnungsethik und politischer Erfolgsverantwortungsethik bilden vor allem Machiavellis Politikbegriff und Luthers Rechtfertigungslehre bzw. Zwei-Reiche-Lehre. Am Vorabend und in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts sind Machiavelli und Luther, dieser freilich arg mißverstanden, vom deutschen Liberalismus aktualisiert worden – zumal von den Lutheranern Max Weber und Friedrich Naumann. Im Blick auf das Italien der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, zerfallen in rivalisierende Fürstentümer und Stadtstaaten, zu denen auch der rücksichtslos machtpolitische Vatikanstaat gehörte, und im Blick darauf, daß glaubwürdiges Christentum nur noch in individueller 11 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 27.10.2009 Frömmigkeit mit weltabgewandter Liebespraxis existierte, war Machiavelli zu dem Schluß gekommen, daß Politik und (christliche Liebes-) Ethik zweierlei sind. Zwischen der strategisch geschickten Selbstbehauptung oder Machtbehauptung eines Gemeinwesens bzw.seines Machthabers und der Nächstenliebe im Umgang mit dem einzelnen Nächsten bestehe ein grundsätzlicher Konflikt. Daher beschreibt und entwirft Machiavelli Politik als wertneutrale Kunst, als Technik des strategischen Handelns der Menschenführung und Staatslenkung, der diplomatischen und militärischen Machtbehauptung, Politik könne sich gar nicht nach moralischen Normen richten, weil sie es mit politischen Gegnern bzw. egoistischen Menschen zu tun habe und vor allem auf „Notwendigkeiten“, Notlagen und Sachzwänge, reagieren müsse. Unter solchen Bedingungen müsse ein Herrscher alles daransetzen, Erfolg für sein und in seinem Gemeinwesen zu erzielen, zumal für den Machterhalt. Im Blick auf strategisch machtpolitische Handlungsbedingungen wird, seit Machiavelli, als „Staatsraison“, als Rationalität der Staatsführung und später auch als Ratio der Beamtenschaft und generell der Verwaltung das moralfreie erfolgsbezogene Zweck-Mittel-Kalkül angesehen: die „Zweckrationalität“. Das ist der Hintergrund, vor dem Max Weber die Idee einer politischen Verantwortungsethik entwickelt hat, welche er der Liebesethik Jesu und der Wahrhaftigkeitsmoral Kants als personale Gesinnungsethik gegenübergestellte. Denn eine solche müsse in der politischen Realität scheitern; gelebt werden könne sie eigentlich nur von Heiligen, die nicht für die Durchsetzung von Interessen anderer und nicht für die Bewahrung eines Gemeinwesens verantwortlich sind. Für das Politikverständnis und die politische Praxis in der Bundesrepublik, und zwar sowohl in der SPD wie auch in der FDP und CDU/CSU, aber ähnlich für die Politik der anderen westlichen Industriegesellschaften sollte es von entscheidender Bedeutung werden, daß nach dem Vorbild Webers und Naumanns die Moral zur Gesinnungs- und Privatsache subjektiviert und die Politik, unter dem Titel der Verantwortungsethik, zu einem eigengesetzlichen Bereich der Zweckrationalität und Sachzwänge erklärt wurde. Scheinbar legitimiert durch die „lutherische Scheidung“ von Politik und Heilsverkündigung, von „äußerer Macht oder Logik, die in den Dingen selber liegt“ und „unserem persönlichsten Ich“ (F. Naumann), konnte sich ein selbstgenügsames Politikverständnis durchsetzen. Die offizielle Politik verstand sich ohne weiteres, ohne selbstkritischen moralischen Diskurs, als verantwortungsethisch und entzog sich moralisch-politischer Kritik, indem sie diese als „gesinnungsethisch“ abqualifizierte. Eine solche Abqualifizierung bedeutet freilich den Ausschluß der Kritiker aus der seriösen politischen Diskussion und ihre Verbannung in ein Ghetto der Schwärmer und Idealisten. Ja, zur Zeit der deutschen Teilung, in der alten Bundesrepublik, hatte das fast automatisch eine 12 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 27.10.2009 Diffamierung der Kritiker zur Folge: Sie seien trojanische Pferde bzw. geistige Wegbereiter des Kommunismus oder des Terrorismus oder aber Angstneurotiker, deren Warnungen zur Massenpsychose bzw. zur Hysterie verleiten. Nach diesem Muster war schon Konrad Adenauers Verteidigungsminister, Franz Josef Strauß, mit den Gegnern der atomaren Rüstung (1957) und mit den Atomphysikern der Göttinger Achtzehn verfahren, als sie schließlich in die sozialdemokratische und protestantisch theologische Kritik an einer Atombewaffnung der Bundeswehr einstimmten. Nach diesem Muster verfuhren dann die Parteispitzen der CDU, aber alsbald auch Herbert Wehners SPD mit der Ostermarschbewegung der 60er Jahre; analog bekämpfte seit 1967 die CDU – gegen scharfen Widerspruch Gustav Heinemanns und Willy Brandts – die Studentenbewegung. Dementsprechend agierte schließlich die CDU aber auch Kanzler Helmut Schmidt gegen die grün-alternative Bewegung und gegen die Friedensbewegung der 80er Jahre. 2 Ausweitung des menschlichen Handlungsbereichs und neue prinzipienbezogene Verantwortungsethik in der technologischen Zivilisation Heute werden von den Kritikern neuartige moralische Forderungen gegenüber dem Staat erhoben. Sie ergeben sich dann, wenn elementare Staatszielbestimmungen (wie Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, Art. 20a GG, und Wahrung des Friedens) wenn die Legitimationsgrundlage des Verfassungsstaates, nämlich die Achtung der Menschenwürde (Art. 1 GG), und die verfassungsrechtliche Verpflichtung auf Menschen- und Bürgerrechte aktuell ernst genommen werden, indem man sie einer Situationsanalyse der globalen technischen Zivilisation und einer Folgenanalyse der Politik gegenüberstellt; z.B. der Innen-, der Wirtschafts- und Energiepolitik, der Bildungs-, Wissenschafts- und Technologiepolitik und nicht zuletzt der Militärpolitik. Denn in der technischen Zivilisation hat sich das Verhältnis von Politik und Moral grundsätzlich gewandelt: Zahlreiche politische Maßnahmen und politisch zu verantwortende technisch-industrielle Projekte bzw. Praktiken, aber auch viele Konsumgewohnheiten haben schädliche Nebenfolgen, die weit über den Lebensbereich der einzelnen Nation und weit über den Zeitraum der Gegenwart hinaus wirken oder sogar eine planetarische Wirkungsdimension erreichen. Beispielsweise bedeutet die Inbetriebnahme eines einzigen Atomkraftwerks durch die sogenannte Entsorgungsnotwendigkeit das Risiko radioaktiver Verseuchung ca. über eine halbe Million Jahre und macht technische Schutzmaßnahmen sowie politische Sicherheitsvorkehrungen, die die Bürgerfreiheit in Frage stellen, für etwa 7000 Generationen erforderlich. 13 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 27.10.2009 Der Ausweitung des menschlichen Handlungsbereichs, 1973 von Karl-Otto Apel und 1979 von Hans Jonas grundsätzlich bedacht, entspricht eine Ausweitung und qualitative Veränderung des Problemhorizonts der Ethik und insbesondere der Verantwortungsethik. Während Max Webers Postulat einer Verantwortungsethik nur die Solidarität hinsichtlich der Interessen einer Gemeinschaft bzw. eines Staatsvolks unterstellte, so daß sie den Politiker allein für den Erfolg im Sinne dieser Binneninteressen verantwortlich machte, wird heute eine Solidarität der Menschheit und eine Mitverantwortung der Politik für die gesamte Menschheit gefordert. Solidarität hat dabei den im Godesberger Programm der SPD von 1959 entfalteten Doppelsinn (a) einer Verbundenheit der Menschen als Interessensubjekte in einer ökologischökonomisch verflochtenen Welt und (b) einer weltweiten gegenseitigen Verpflichtung, die legitimen Interessen der anderen und zumal der Schwachen beim eigenen politischen Handeln zu beachten. Auf diesen universalen Horizont sind heute signifikante politisch-ethische Argumente und Forderungen der kritischen Öffentlichkeit bezogen; sie verweisen auf eine globale und zukunftsbezogene Verantwortungsethik. Vor diesem Hintergrund ist die kritische praktische Philosophie zu dem Ergebnis gekommen, daß das Verhältnis von Politik und Moral kein unmittelbares sein kann und darf, sondern allein ein mehrstufiges, das über Diskurse, über öffentliche Sinn- bzw. Bedürfnisermittlung, demokratische Mehrheitsentscheidung und deren verfassungsrechtliche Normenkontrolle und schließlich über begleitende moralische Verantwortungsdiskurse vermittelt sein soll. Für die Ethik bedeutet dies, daß sie kommunikative Diskursethik wird. Für die Politik folgt daraus zweierlei: Grundsätzlich gelten politische Überzeugungen und Handlungen nur insoweit als moralisch legitim und wirklich rational, als diese (in praktischen Diskursen) einer Überprüfung im Hinblick auf das Moralprinzip der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit∗ standhalten. Konkret können politische Beschlüsse und Maßnahmen nur dann als moralisch legitim und wirklich rational gelten, wenn sie auf einer bestmöglichen Situationsanalyse (im empirischtheoretischen Diskurs) einschließlich öffentlicher Verständigung mit den Betroffenen über ihre Werte und Interessen (kommunikative Sinnermittlung) beruhen. Daraus ergibt sich der Rahmen einer Vermittlung von Diskursethik und rechtsstaatlich demokratischer Politik: Folie zu Seite 14/15 ∗ Etwa in dieser Formel des Diskursgrundsatzes (D): >Handle so, daß die Maxime und die Wirkungen deines Handelns die Zustimmung aller als Argumentationspartner verdienen.< vgl. auch Folie zu Seite 14. 14 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 (1) 27.10.2009 Reflexiver Verbindlichkeitserweis des Moralprinzipsdurch Besinnung auf den normativen Gehalt des argumentativen Dialogs als desjenigen Anerkennungs- und Verpflichtungsverhältnisses, das logisch unhintergehbar ist, weil jeder, der etwas behauptet bzw. bestreitet oder bezweifelt, schon die Rolle eines Argumentationspartners übernommen hat; (2) Verhältnisbestimmung der Idealität/Kontrafaktizität des Moralprinzips zur Realität (Faktizitiät) der natürlichen und gesellschaftlichen Lebens- bzw. Kommunikationsbedingungen (zur Aufhebung der Alternative „Gesinnungsethik oder Verantwortungsethik“); (3) Analyse der gesellschaftlichen und ökologischen Situation (im politisch zu fördernden empirisch-theoretischen Diskurs); (4) und zwar unter Einschluß einer öffentlichen Verständigung mit gegenwärtigen Betroffenen über ihre Bedürfnisse und mit Anwälten möglichen betroffenen Lebens einschließlich nichtmenschlicher Lebewesen bzw. Ökosysteme (als politisch zu verwirklichende kommunikative Sinnermittlung); (5) konkrete praktische Diskurse zur Prüfung der moralischen Verantwortbarkeit der jeweils vorgeschlagenen politischen Maßnahme, nämlich im Blick auf das Moralprinzip (als öffentlich durchzuführende politische Beratung unter Beteiligung von Philosophen, Theologen und Anwälten von Lebensbedürfnissen wie Ökologen); (6) politische Entscheidung nach dem Verfahren des Mehrheitsbeschlusses, das jedoch, auch in der Sache, revidierbar bleiben, einer verfassungsrechtlichen Normenkontrolle unterworfen sein und von weitergehenden moralischen Diskursen begleitet werden soll. Aus den Verfahrensschritten (5), (2) und (1) dieses Orientierungsrahmens würde beispielsweise eine Kritik von Helmut Schmidts „Maximen politischen Handelns“ und ihrer Anwendung auf die Energiepolitik folgen. Denn sein Plädoyer für eine energiepolitische Risikostreuung (Energiemix) durch Einsatz aller Energiearten, einschließlich der Atomenergie, unterstellt einfach die Verantwortbarkeit und gleiche moralische Legitimität aller Energieformen; zudem geht sie ganz traditionell von der kurzfristigen Perspektive des Erfolgsverantwortungsethikers aus, der in seiner Nation jetzt Erfolg haben will – und jetzt auf genügend Wählerstimmen angewiesen ist … 15 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 3 27.10.2009 ‚Pragmatische‘ (Atom)Energiepolitik nach Helmut Schmidt Weil einer Atomenergiepolitik die langfristige Verantwortungsperspektive fehlt, die sich aus dem Moralprinzip und der (von diesem mitgebotenen) Verantwortung für die natürlichen Lebensbedingungen ergibt, läßt sie sich in keinem praktischen Diskurs rechtfertigen, kann also nicht als „moralisch, d.i. als Grund einer Verbindlichkeit gelten“ (Kant) – ist folglich in einem rein argumentativen Dialog nicht zustimmungsfähig. Helmut Schmidts Bekräftigung des eigenen Standpunkts als vernünftig und seine Ablehnung anderer Standpunkte als unvernünftig bzw. „irrational“ und gar „psychotisch“ entbehrt nicht nur eines Maßstabs für „vernünftig“, sondern erweist sich als hinfällig, wenn sie anhand des diskursethischen Vernunftmaßstabs und dessen Anwendung auf praktische Fragen geprüft wird. Denn jener Maßstab lautet gemäß Diskursgrundsatz >D<, daß nur solche Argumente als vernünftig gelten, die die Zustimmung aller verdienen und daher auch in einer idealen Argumentationsgemeinschaft konsensfähig wären. Und jene Anwendung besteht in der selbstkritischen Frage eines ernsthaften Diskursteilnehmers: „Würden die gegenwärtigen oder künftig lebenden Betroffenen, wenn ihnen die beschlossene Handlung H und deren Folgen bekannt würden, mit konsensfähigen Gründen dagegen argumentieren können?“ An den Verfahrenschritten (3) und (4) des diskursethischen Orientierungs- und Urteilsrahmens müßte Helmut Schmidts politische Ethik scheitern, insofern ihrer Situationsanalyse die methodisch-solipsistische und theoretisch objektivierende Einstellung des Experten zugrunde liegt, der eine Situation ohne Verständigung mit den zur Situation gehörenden Menschen richtig zu erkennen glaubt, indem er diese einfach als Objekte seiner Analyse traktiert. Die Experteneinstellung verzichtet nicht nur auf Kommunikation, sondern hat eine dialogzerstörerische Tendenz. Macht sie doch diejenigen, mit denen sie kommunizieren sollte, bloß zum Objekt ihrer Kausalerklärungen und unterstellt daher vorweg, über die Motive und Interessen der verobjektivierten Menschen besser Bescheid zu wissen als diese selbst. So nahm Schmidt etwa die Gegner der Kernenergie nicht als gleichberechtigte Dialogpartner ernst, sondern analysierte sie als Träger von „Urängsten“ bzw. von Aggressionen gegen den Staat. * Ob sich die expertokratische Einstellung und die Energiepolitik des beliebten Altbundeskanzlers – nach zwanzig Jahren fortgesetzten Diskurses – verändert haben, mögen die Leser seiner Bilanz „Ausser Dienst“, München 2008, prüfen. 16 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 27.10.2009 In diesem Buch heißt es auf S. 88 f.: „Noch in den fünfziger Jahren war den meisten Deutschen die Kernkraft als wünschenswert erschienen; einige Jahrzehnte später hat Deutschland als eines von wenigen Ländern aus Angst vor der Kernkraft den >Einstieg in den Ausstieg< beschlossen und hält bis heute daran fest, obgleich die Kernkraftwerke inzwischen aus Gründen der Vernunft, nämlich aus ökologischen und ökonomischen Gründen, in aller Welt gebaut werden. Als in den späten sechziger Jahren in den USA viele Studenten wegen des Vietnam-Kriegs protestierten, setzten deutsche Jugendliche die Protestbewegung fort, weil sie eine >Rückkehr des Faschismus< befürchteten. Als in den siebziger Jahren der >Club of Rome< mit zwei Berichten ziemlich irrational das >Ende des Wachstums< verkündete, fand er nirgendwo mehr geängstigte Anhänger als bei uns Deutschen. In den achtziger Jahren protestierten Hunderttausende Deutsche zweimal gegen den NATO-Doppelbeschluß. Für die Zukunft ist nicht auszuschließen, daß eine andauernde hohe Massenarbeitslosigkeit, welcher der Gesetzgeber mit vernünftigen, jedoch unpopulären Arbeitsmarkt- oder sozialpolitischen Schritten zu begegnen sucht, abermals einen Nährboden für psychotische Reaktionen bieten kann, wie bereits 2003 die Ablehnung von Kanzler Schröders durchaus vernünftiger und notwendiger >Agenda 2010< gezeigt hat.“ 4 Diskursethische, also prinzipienbezogene Vermittlung von Moral und Politik oder liberalistischer Rückgang auf faktische Übereinkünfte? Der diskurs- bzw. dialogethische Rahmen der Vermittlung von Politik und Moral verwirft die methodisch-solipsistische Tendenz und das theoretisch objektivierende Selbstverständnis des Expertenpolitikers und hebt sie in ein kommunikatives, öffentlichkeitsbezogenes Verständnis der Situationsanalyse und Politik auf. Zudem ersetzt es das monologisch verantwortungsethische Selbstverständnisses des Staatsmannes, der seine Entscheidungen letztlich als die eines ‚Einsamen vor Gott’ versteht und seine Grundwerte wählt, als träfe er eine Glaubensentscheidung durch ein dialogisches Verständnis der politischen Urteilsbildung und Entscheidungsfindung. In welchem Sinne? In jenem dialogbezogenen Rahmen wird die konkrete politische Verantwortung als kommunikativ diskursiver Prozeß verstanden und praktiziert, nämlich anhand des intersubjektiv gültigen Diskursgrundsatzes (D), der zugleich Moralprinzip ist. Bezogen auf politische Realität ist dieses Moralprinzip freilich kontrafaktisch. Daher behält es den Status eines regulativen idealen Prinzips: Es gibt eine permanente Aufgabenstellung an – eine stets 17 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 27.10.2009 in Geltung bleibende Aufgabe, die seitens der Angesprochenen, der Wahlbürger und der gewählten Bürger zumal, eine ebenso permanente Bemühung verlangt. In diesem Sinne läßt es sich als politisch-ethischer Imperativ formulieren: >Bemüht euch um Argumente und solche Entscheidungen, deren Wirkungen zumal in einer idealen Kommunikations- und Argumentationsgemeinschaft konsensfähig wären; und bemüht euch darum, zur Realisierung solcher Verhältnisse beizutragen, die den Anerkennungs- und Dialogstrukturen einer reinen Kommunikationsgemeinschaft, in der unter Gleichberechtigten nichts als das beste Argument gesucht würde, so nahe wie möglich kommen!< In der politischen Praxis muß aber immer mit einer erheblichen Spannung zwischen der kontrafaktischen Vorwegnahme einer rein argumentativen und unbegrenzten, insofern idealen Kommunikationsgemeinschaft und den realen gesellschaftlichen Verhältnissen samt allfälligen amoralischen Verhaltensweisen, nondialogischen Durchsetzungsstrategien und Systemmechanismen gerechnet werden. Alles andere wäre nicht nur „Blauäugigkeit“ sondern Verantwortungslosigkeit. Der zweite Verfahrensschritt des diskursethischen Schemas ist deshalb eine Konkretion des Moralprinzips durch eine moralische Strategie, die den Gesichtspunkt der Verantwortung für den Erfolg unter realen Handlungsbedingungen (freilich nicht im eingeschränkten Sinne Webers) zur Geltung bringt. In nüchterner Einschätzung einerseits der teilweise undialogischen, ja dialoggefährdenden Handlungsbedingungen der anthropologischen und soziologischen Gegebenheiten, andererseits der lebensweltlichen und kulturgeschichtlichen Entwicklung eines dialogmoralischen „objektiven Geistes“ (Hegel), wird das regulative Idealprinzip der Diskurs- bzw. Dialogethik hier ergänzt durch das regulative Realprinzip einer diskursbezogenen Moralstrategie: >Tragt Sorge dafür, daß die schon existierenden Bedingungen der Annäherung an Verhältnisse einer idealen Kommunikationsgemeinschaft (so die biologische Existenz der realen menschlichen Kommunikationsgesellschaften und die rechtstaatlichen Instiutionen, Grund- bzw. rechtlichen Normen und ethisch universalistischen Traditionen) bewahrt werden!< Die Aufgabe einer Vermittlung der (nunmehr unverkürzt, nämlich dialogisch und strikt universalistisch begriffenen) Moral mit der (nunmehr unverkürzt als „öffentliche Sache“ verstandenen) Politik läßt sich dann mit Apel als Erarbeitung politisch ethischer Strategien verstehen: Es geht darum, das regulative Idealprinzip mit dem regulativen Realprinzip jeweils so zum Kompromiß zu bringen, daß die Bewahrung von (politisch-moralisch 18 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 27.10.2009 unverzichtbaren) realen Lebensbedingungen eine realistisch einschränkende Funktion bei der Befolgung des gewissermaßen idealistischen Moralprinzips übernehmen muß. Das bedeutet freilich eine Ernüchterung allen utopisch idealistischen Überschwangs. Demzufolge sind nämlich alle Handlungsorientierungen zu revidieren, die sich ihren angestrebten – mehr oder weniger als ideal angesehenen – Gesellschaftszuständen durch Mittel annähern, die unverzichtbare biologische Lebensgrundlagen, soziale und politische Gleichberechtigungsbedingungen oder last but not least dialogförderliche geistige und religiöse Traditionen gefährden. Wenn durch Situationsanalysen in öffentlichen empirischtheoretischen Diskursen sorgfältig gezeigt worden ist, daß eine derartige Gefährdung der Fall oder sie nicht auszuschließen ist, müssen solche Mittel als politisch unmoralisch, weil unverantwortlich, verworfen werden. Dies dürfte heute z.B. zutreffen für politische Handlungsorientierungen wie: - Energiepolitik mit der Option auf Kernkraft, - wirtschaftliches Wachstum mit Energieverbrauchssteigerung, welche auf Kosten des Klimas, der Umwelt und zumindest der künftigen Generationen geht; - Sicherheitspolitik mit konventioneller und atomarer Hochrüstung, die auch und gerade zu Lasten der Dritten Welt (Rüstung tötet täglich) sowie auf Kosten aller Volkswirtschaften geht (Rüstung ist kontraproduktiv) und überdies die Lebensgefahr für die Menschheit permanent steigert. Wenn Gesellschaften bzw. Regierungen von solchen Handlungsorientierungen oder von solchen Mitteln nicht ablassen, stellt sich z.B. die Frage des zivilen Ungehorsams und politischen Streiks als eines möglichen legitimen oder sogar politisch-moralisch gebotenen Schutzes von moralisch hochrelevanten Lebensbedingungen der Menschheit oder Verfassungsgütern eines demokratischen Rechtsstaats. Treten wir nun von unserer Argumentation zurück und konfrontieren sie mit einer Grundüberzeugung des westlichen Komplementaritätssystems. Denn bislang haben wir, zumal in diesem Abschnitt und in Kapitel I.2 eine Voraussetzung gemacht, die sich mit dem liberalen Hauptstrom des westlichen Politikverständnisses nicht vereinbaren läßt. Haben wir doch vorausgesetzt, Politik müsse so auf Moral bezogen werden, daß sie – erstens – mit dem Moralprinzip vereinbar ist und daß sie – zweitens – auf eine solche Vereinbarkeit geradezu angewiesen sei, weil Moral keine bloße Privatsache, sondern eine intersubjektiv einsehbare und politisch tragende Angelegenheit sei. Just diese Voraussetzungen stehen quer zur Mehrheitsmeinung, ja zur tiefen Überzeugung der modernen politischen Denker, die mehr oder weniger zum philosophischen Liberalismus nach Kant zu rechnen sind – von John Stuart 19 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 27.10.2009 Mill über Max Weber und Friedrich Naumann bis zu Karl R. Popper und in gewisser Weise auch John Rawls, um nur einige Klassiker zu nennen. Der philosophische Liberalismus hält nämlich eine allgemeingültige Begründung des Moralprinzips nicht nur für unmöglich, sondern auch für gänzlich unnötig und dogmatismusträchtig. Unnötig, weil sich die Bürger in einem demokratischen Rechtsstaat frei einigen, also Übereinkünfte schließen können, an welche sich die Politik dann als ihren Orientierungsrahmen zu halten habe. Einerseits setzt sich der philosophische Liberalismus für (Meinungs-) Freiheit, Pluralismus und Toleranz als Grundwerte mit einem normativen Gehalt ein, dessen Verbindlichkeit zu unterstellen sei und die von ihm faktisch auch unterstellt wird. Andererseits ist er im Einklang mit dem Historismus bzw. Relativismus und mit dem kritischen Rationalismus der Popper’schen Schule davon überzeugt, daß ein Verbindlichkeitserweis von Grundnormen ebensowohl unmöglich wie unnötig sei. Vielmehr stelle das anfangs skizzierte westliche Komplementaritätssystem bei subjektiver Moral und intersubjektiver, aber moralfreier Rationalität die Basis einer freiheitlich demokratischen Gesellschaftsordnung dar. Diese Komplementarität sei notwendige und hinreichende Bedingung einer freiheitlichen Politik und eines demokratischen Rechtstaats. Zumindest glauben die liberalen Klassikern, wie Apel zusammenfaßt, daß „kein anderes Orientierungssystem ohne Dogmenzwang begründet und öffentlich vertreten werden könne. Oft behaupten sie auch“, fügt Apel hinzu, „daß die selbst moralisch wertneutralen Methoden der wissenschaftlichen Rationalität – mit deren Hilfe man ja Normensysteme auf ihre Widerspruchsfreiheit und ihre gesellschaftlichen Konsequenzen hin vergleichen kann – hinreichen, um die Gesellschaft wie den Einzelnen zu verantwortlichem Handeln anzuleiten. Diese weit verbreiteten Ansichten lassen sich jedoch m.E. alle als unbegründet und im Gesamteffekt als illusionär erweisen.“ Folie zu Seite 20 Als schlagendes Gegenargument – schlagend im Sinne einer immanenten Kritik – führt Apel seinen Einwand gegen die weit verbreitete ‚konventionalistische‘ Annahme ins Feld, „daß alle Normen, die in einem öffentlich gültigen System positiven Rechts vorausgesetzt werden, auf Übereinkünfte zurückgeführt werden können.“ Denn zumindest für die tragende Norm, daß Übereinkünfte einzuhalten seien – „pacta sunt servanda“ lautet dieses althergebrachte Rechtsprinzip – treffe das von vornherein nicht zu. Denn diese tragende Norm ist, fährt Apel fort, „eine ethische Norm, die – als normative Bedingung von Übereinkünften – zugleich Rechtsnorm sein muß und gleichwohl in ihrer Gültigkeit nicht auf dem ‚Verfahren‘ der Inkraftsetzung durch Übereinkunft beruht. Dadurch allein ist schon bewiesen, daß auch in einer liberal-demokratischen Gesellschaftsordnung Moral nicht privat sein kann.“ 20 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 27.10.2009 Dem fügt Apel ein zweites Gegenargument hinzu, welches die Binnenmoral von Vertragspartnern bzw. von Beteiligten einer Übereinkunft von der eigentlichen, und zwar universalen Moral unterscheidet, welche alle möglichen Betroffenen in gleicher Weise als Anspruchssubjekte ernstnehmen und berücksichtigen muß. Der liberalistische Rückgang auf faktische Übereinkünfte sei schon deshalb unzureichend, weil er das Legitimationsproblem gegenüber den möglichen Betroffenen, welche nicht am Zustandekommen einer jeweiligen Übereinkunft beteiligt sind, von vornherein außer Acht lasse. So verwies Apel 1981 im „Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik“ auf das eigentliche ethische Legitimationsproblem „im Hinblick auf die Interessen Außenstehender, die (wie beispielsweise Gastarbeiter oder Menschen außerhalb des eigenen Staats- und Rechtssystems überhaupt) zwar nicht zu denen – direkt oder indirekt – Beteiligten der institutionelle geregelten Übereinkünfte, wohl aber zu den Betroffenen gehören. Mit anderen Worten: der Mechanismus der Normenbegründung durch verfahrensmäßige Übereinkunft (z.B. durch Mehrheitsbeschlüsse) ist in einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Bedingung der Gültigkeit rechtlicher Normen. Er setzt keineswegs nur den tatsächlichen Interessenskompromiß der subjektiven Wertentscheidungen der einzelnen Bürger voraus, der verfahrensmäßig geregelt ist, sondern auch eine intersubjektiv gültige Ethik der Konsensbildung aller denkbaren betroffenen Kommunikationspartner.2 Diese Argumentation bündeln und ergänzen wir (um einen 3. Punkt) durch folgende skizzenhafte Erläuterung: Folie zu Seite 21 2 Karl-Otto Apel: „Das westliche Komplementaritätssystem als Herausforderung für die ethische Vernunft“, in: Apel/Böhler/Rebel, Funkkolleg Praktische Philosphie/Ethik: Studientexte, Bd.1, Weinheim/Basel 1984, S. 153f. 21 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 27.10.2009 Position und Kritik des philosophischen Liberalismus (nach Kant) Grundwerte: (Meinungs-) Freiheit, Pluralismus, Toleranz a) als Prinzipien/Grundnormen postuliert, b) Prinzipien-Begründung (P-B) bzw. Verbindlichkeitserweis als logisch unmöglich disqualifiziert und c) pragmatisch durch Übereinkünfte – Verträge/Konventionen (V/K) substituiert → Kontraktualismus. Prämissen: 1. PB unmöglich und unnötig, 2. alle Normen ableitbar aus V/K. Kritik: 3. Rückgang auf V/K ist moralisch defizitär: schließt Dritte (an den jeweiligen V/K nicht Beteiligte, aber davon Betroffene) aus → Menschenwürde und Menschenrechte, Völker- und Umweltrecht nicht begründbar → moralische Ohnmacht gegen das Böse als fanatisch Partikulares („unsere K. läßt Menschenrechte nicht zu“). 2. Normen wie: „pacta sunt servanda!“ und „Menschenwürde unantastbar!“ nicht ableitbar aus V/K. 3. P-B logisch möglich durch Reflexion auf mich/dich im argumentativen Diskurs. 22