Soziale Proteste in Bosnien und Herzegowina: ein mögliches Signal

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PERSPEKTIVE
Soziale Proteste in
Bosnien und Herzegowina
Ein mögliches Signal zum Aufbruch
JUDITH ILLERHUES
Juli 2013
n Seit Juni hat Bosnien und Herzegowina eine bisher nicht gekannte Protestwelle erfasst. Entzündet hatten sich die Demonstrationen an der Unfähigkeit der politischen
Parteien, ein Gesetz zur Erteilung von einheitlichen Identifikationsnummern zu verabschieden. Diese Registrierungsnummer ist unverzichtbar für die Ausstellung einer
Geburtsurkunde und wichtiger Ausweispapiere.
n Da sich Abgeordnete im Parlament nicht auf einen Gesetzesentwurf einigen konnten, erhielten Neugeborene seit Februar dieses Jahres nach Ablauf des ursprünglichen Gesetzes keine Personaldokumente mehr. Das Schicksaal eines schwerkranken
Mädchens, das aufgrund ihres fehlenden Reisepasses nicht ausreisen konnte, mobilisierte Tausende.
n Die landesweiten Proteste offenbaren die Unzufriedenheit weiter Teile der bosnischherzegowinischen Bevölkerung mit der Effizienz der politischen Institutionen. Der
parlamentarische Entscheidungsprozess wird von ethnischen Partikularinteressen
dominiert und blockiert. Das Land ist gefangen in einer Triade des Stillstands, die in
einer Regierungs-, Wirtschafts- und Verfassungskrise zum Ausdruck kommt.
n Mit diesem bisher unbekannten Maß an zivilgesellschaftlicher Mobilisierung verbindet sich im Land die Hoffnung auf einen gesellschaftspolitischen Wandel. Es bleibt
abzuwarten, ob die Demonstranten in der Lage sein werden, die Stagnation zu
durchbrechen. Bis jetzt haben sie zumindest ein wichtiges Zeichen gesetzt und einen
ersten Etappensieg für die betroffenen Kinder erzielt.
JUDITH ILLERHUES | SOZIALE PROTESTE IN BOSNIEN UND HERZEGOWINA
Massenproteste bringen in den meisten Staaten die Politik unter Zugzwang. Krisensitzungen werden einberufen,
Regierungserklärungen abgegeben, Beschwichtigungsversuche unternommen. In Bosnien und Herzegowina
scheint diese so trivial erscheinende These nicht zuzutreffen. Auf die beispiellosen Proteste reagierten die meisten
im Parlament vertretenen Parteien ebenfalls beispiellos –
mit einem vorläufigen Boykott der Parlamentssitzungen.
Mit Verweis auf die vermeintlich problematische Sicherheitslage in Sarajevo entschloss sich ein Großteil der Abgeordneten, bis zum Ende der Demonstrationen nicht
mehr ins Parlament zu kommen. Dabei offenbaren die
Kundgebungen, die sich in den vergangenen Wochen
über verschiedene Landesteile ausgebreitet haben, ein
in jüngster Zeit unbekanntestes Maß politischer Mobilisierung. Tausende von BürgerInnen gingen in Sarajevo
und anderen Städten des Landes auf die Straße. Die
Demonstranten nennen ihre Bewegung Bebolucija. Die
Wortschöpfung aus der Kombination der Wörter Baby
und Revolution steht für das zentrale Motiv der Proteste.
Das Anliegen der Demonstranten, darunter vieler Eltern
mit Kleinkindern, bestand darin, eine umgehende gesetzliche Lösung für die betroffenen Neugeborenen zu
erzielen, da diese ohne Identifikationsnummern formell
nicht existieren.
Aus dem spontan organisierten Protest einiger Weniger
erwuchs innerhalb kürzester Zeit eine Massenbewegung. In den Worten eines Beteiligten klingen die Zahlen so: »Am 5. Juni waren wir noch 100, am 6. Juni bereits 4.000, am 11. Juni 10.000 und am 18. Juni bereits
15.000 Menschen.«1
Die Gesetzesproblematik steht symptomatisch für die politische Situation in dem Transitionsland, in dem ethnische
Partikularinteressen den politischen Prozess dominieren –
genauer gesagt – blockieren. Bei dem aktuellen Fall erhalten Neugeborene seit Februar 2013 keine Identifikationsnummern mehr, da sich das gesamtstaatliche Parlament
nicht auf einen Gesetzesvorschlag zur einheitlichen Registrierung einigen kann.2 Die sogenannte »Jedinstveni Matični
Broj Građana« (wörtlich übersetzt »Einheitliche Identifikationsnummer der Bürger«, JMBG) ist aber unverzichtbar für
jedweden behördlichen Vorgang. Der Disput konzentriert
sich auf die Frage, ob die Registrierungsbezirke entlang den
Grenzen der beiden Entitäten des Landes, der Föderation
Bosnien und Herzegowina sowie der Republika Srpska,
verlaufen sollen. Im Mittelpunkt steht dabei wiederrum die
Frage nach der Bedeutung des Gesamtstaats und seiner
Entitäten. Kurzum: die Konsequenz dieser Debatte ist, dass
Tausende Kinder seit Monaten ohne Personaldokumente
leben. Formell existieren sie damit nicht.
Die Entstehung der Proteste:
Eine Revolte gegen die politische Untätigkeit
Die Blockade des Parlaments:
Schlüsselmoment für die weitere Mobilisierung
Die größten Bürgerproteste seit Beginn der 1990er Jahre
nahmen ihren Auftakt vor dem staatlichen Parlament in
der Hauptstadt Sarajevo, wo sich am 5. Juni eine noch
übersichtliche Gruppe von Aktivisten versammelte. Anlass dieser spontanen Kundgebung war das Schicksal
eines drei Monate alten Mädchens. Wegen fehlender
Personaldokumente konnte das Kind nicht zu einer lebensrettenden Operation ins Ausland gebracht werden.
Grund hierfür ist das ausstehende Gesetz zu einheitlichen Identifikationsnummern. Empörte Demonstranten
forderten die Politiker zum Handeln auf und prangerten
das Versagen des Staatsapparats an. Da das Mädchen
nach ihrer Geburt keine Identifikationsnummer erhalten
hatte, die allerdings für das Ausstellen von Dokumenten
unverzichtbar ist, hatten ihre Eltern für sie auch keinen
Pass beantragen können. Zu der für sie lebenswichtigen
Behandlung in Deutschland konnte sie nur mit deutlicher
Verspätung gebracht werden – nach den ersten Protesten und nach Einführung einer Übergangsregelung.
Vor dem Hintergrund dieser absurden Situation gewann
die Protestbewegung an Zuspruch. Das Schlüsselereignis
für den Protestverlauf spielte sich am 6. Juni ab. Einige
Tausend Menschen, viele von ihnen mit Kindern und Babys, strömten zum Parlament. Ein- und Ausgänge des
Gebäudes wurden versperrt, die dort tagenden Abgeordneten des Repräsentantenhauses, der ersten Kammer
des Parlaments, sollten so zu einer Abstimmung über
das Gesetz gezwungen werden. Das Symbol des Abends
war ein Kleinkind mit dem Transparent: »Ihr kommt dort
nicht heraus, bevor ich meine Identifikationsnummer
1. L. R.: »Izađite i dajte im otkaz«, in: Oslobođenje, 28. Juni 2013. Aus Mangel an offiziell bestätigten Zahlen wird hier auf die Tageszeitung Oslobođenje
verwiesen. Diese Schätzungen geben dabei nur einen groben Trend wieder.
2. Das Verfassungsgericht Bosnien und Herzegowinas hatte das bisher
bestehende Gesetz bereits 2011 als verfassungswidrig beurteilt, da die
dort benannten Registrierungsbezirke nicht die im Zuge des Kriegs geänderten Städte- und Gemeindenamen aufführten. Im Januar 2013 wurde
das bisherige Gesetz schließlich als ungültig erklärt.
1
JUDITH ILLERHUES | SOZIALE PROTESTE IN BOSNIEN UND HERZEGOWINA
bekomme.« Die Demonstrationen zogen sich bis tief in
die Nacht. Das Parlamentsgebäude blieb blockiert. Zahlreiche Abgeordnete und hunderte internationale Gäste
wurden erst in den frühen Morgenstunden des nächsten
Tages von der Polizei evakuiert. Der Hohe Repräsentant
für Bosnien und Herzegowina, Valentin Inzko, hatte sich
eingeschaltet und zwischen Parlament und Demonstranten vermittelt. Von seinen umfassenden Exekutivbefugnissen, den sogenannten Bonner Vollmachten, die ihm
auch die Oktroyierung von Gesetzen erlauben, machte er
aber keinen Gebrauch. Der Friedensimplementierungsrat, der als internationales Gremium die Umsetzung des
Friedensabkommens von Dayton überwacht, hatte dies
in einer später folgenden Sondersitzung abgelehnt und
verwies auf die Verantwortung der lokalen Eliten, diese
Angelegenheit ohne externe Einmischung zu klären.
dahin – beinahe vier Wochen nach den ersten Protesten –
hatte das Parlament es nicht geschafft, zum ausstehenden Gesetz zu tagen. Die Protestler forderten daraufhin
die Bürger zum zivilen Ungehorsam auf.
Internet, Empathie, Ignoranz –
Die Mechanismen der Mobilisierung
Ihre Mobilisierungskraft verdanken die Proteste vor allem drei Faktoren: dem hohen Grad an Empathie, der
Verbreitung durch die sozialen Netzwerke und der Reaktionslosigkeit eines Großteils der politischen Eliten.
Die Geschichte der kranken Kinder einerseits und die
Vielzahl der demonstrierenden Kinder mit Eltern andererseits bewegten generationsübergreifend weite Bevölkerungsteile. Über das Internet konnte die Problematik
der fehlenden Identifikationsnummer innerhalb kürzester Zeit transportiert werden. Doch vor allem das Unverständnis über die ausstehende Gesetzesregelung, die
politische Untätigkeit der parlamentarischen Vertreter
und ihre Weigerung, angemessen und zeitnah auf die
Bürgerproteste zu reagieren, sicherte den weiteren Zulauf zu den Demonstrationen.
Die medienwirksame Blockade des Parlaments führte zu
einer rasant steigenden Popularität der Bewegung, die
daraufhin auch über Sarajevo hinaus an Unterstützung
gewann. Demonstrationen fanden in den Universitätsstädten Tuzla und Zenica sowie Mostar im herzegowinischen Teil des Landes statt. Die Demonstranten setzten
ihren Volksvertretern ein Ultimatum und verlangten die
Gesetzesverabschiedung bis zum 30. Juni.3 Zwischenzeitlich hatten sie bereits einen Etappensieg verbucht: Der
Ministerrat, die Regierung Bosnien und Herzegowinas,
hatte immerhin eine Übergangsregelung verabschiedet, die den betroffenen Kindern zumindest temporär
Identifikationsnummern zusicherte. Im Gegensatz zum
oben erwähnten Mädchen, das zur Behandlung nach
Deutschland ausreisen konnte, half einem anderen Kind
diese Regelung nicht mehr. Ein weiteres kleines Mädchen konnte nicht rechtzeitig zu einer Operation nach
Belgrad gebracht werden und verstarb an einer Infektion. Abermals kamen Tausende vor das Parlament. Rosen und Kerzen wurden abgelegt. Die Proteste hielten an,
die Popularität der Bewegung wuchs weiter. In Sarajevo
und Tuzla fanden Großkonzerte statt, die bekanntesten
Musiker des Landes unterstützten die Solidaritätsaktionen, an denen mehrere tausend Menschen teilnahmen.
Die Protestbewegung ist äußerst heterogen. Der Name
Bebolucija ist Programm. Er spiegelt sich nicht nur in
den inhaltlichen Forderungen, sondern auch in der
Struktur der Demonstranten wider. Unter ihnen sind
viele Eltern mit Kleinkindern, Kulturschaffende, Studenten und Vertreter zivilgesellschaftlicher Organisationen.
Aber auch Rentner unterstützen die Protestierenden.
Die Taxizentrale Sarajevo Taxi richtete eine Hotline ein
und bot Eltern mit Kleinkindern an, sie kostenfrei zu
den Demonstrationen zu befördern. Prominente meldeten sich zu Wort, bekannte Fußballer und Schauspieler
sicherten den Demonstranten ihre Unterstützung zu.
Aus dem Ausland, vor allem aus den Nachbarländern
Kroatien und Serbien, erreichten die Demonstranten
Solidaritätsbekundungen.
Nach dem verstrichenen Ultimatum überreichte eine
Menschenmenge den parlamentarischen Vertretern in
Abwesenheit am 1. Juli die symbolische Kündigung. Bis
Die Enttäuschung über die politischen Institutionen, die
sich als unfähig erwiesen, den Schutz von Neugeborenen zu garantieren, einte verschiedene gesellschaftliche
Gruppen.
3. Der Forderungskatalog umfasste neben der Gesetzverabschiedung auch
noch weitere Punkte wie u. a. die Einrichtung eines Solidaritätsfonds zur
Unterstützung von schwerkranken Personen. Zudem rief man Abgeordnete
und Minister dazu auf, einen Teil ihres Gehalts diesem Fonds zu spenden.
Die bewusste Abgrenzung von allen politischen Parteien verschafft den Demonstranten in der politikverdrossenen Gesellschaft hohe Sympathiewerte. Mit
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ihrer Distanzierung von einer Parteienlandschaft, die
im Wesentlichen von ethnonationalistischen Parteien
dominiert ist und sich vor allem den jeweiligen Partikularinteressen anstelle eines gesellschaftlichen und sozialen Fortschritts verpflichtet sieht, treffen sie auf einen
gesellschaftlichen Konsens.4 Die Protestierenden stehen
damit sinnbildlich für weite Teile der bosnisch-herzegowinischen Gesellschaft, die von ihren politischen Eliten
tief enttäuscht sind.
Abgeordneten erklärten im Zuge der sich ausweitenden
Proteste und vor dem Hintergrund einer scheinbar problematischen Sicherheitslage, nicht mehr ins Parlament zu
kommen. Unterstützung erhielten sich von den wichtigsten bosnisch-kroatischen Parteien, der »Kroatisch Demokratischen Gemeinschaft« HDZ 1990 sowie der HDZ Bosnien und Herzegowina. Bis zur weiteren Gewährleistung der
eigenen persönlichen Sicherheit, so die offizielle Verlautbarung, lege man die parlamentarische Arbeit nieder. Die
Blockade des Parlaments wollte man als dezidierten Angriff auf die eigene ethnische Gruppe verstanden wissen.
Bewegung im Gegenwind –
Parteipolitische Instrumentalisierung der Proteste
Ethnische Nebelkerzen –
Ablenkung durch Diskreditierung
Trotz der enormen Mobilisierung verliefen die Proteste
bisher friedlich. Die Organisatoren in Sarajevo geben sich
betont multiethnisch und unterstreichen, dass es ihnen
nicht um Partikularinteressen, sondern um eine schnelle
Lösung für die betroffenen Kinder geht. Doch trotz ihres breiten zivilen Rückhalts laufen die Demonstrationen
Gefahr, instrumentalisiert zu werden. Darunter fällt die
Vereinnahmung durch politische Parteien allgemein und
insbesondere durch Strömungen, die von einer weiteren
Spaltung der Gesellschaft profitieren würden.
Vor allem von Seiten des politischen Establishments der
Republika Srpska wurden die Proteste umgehend kritisiert. Bereits am 6. Juni twitterten Abgeordnete der SDS
und der regierenden SNSD, dass die Blockade vor dem
Parlament eine anti-serbische Aktion sei. Der politisch
kontrollierte Fernsehsender RTRS (Radiotelevizija Republike Srpske) legte nach und berichtete über das vermeintliche »Geiseldrama im bosnisch-herzegowinischen
Parlament«. Verschwörungstheorien wurden lanciert,
wonach die Protestbewegung wechselweise als »bosniakisch« oder als »Initiative der SDP« beschrieben wurde.
Die Proteste wurden damit dem politischen Gegner oder
der anderen ethnischen Gruppe zugeschrieben.
Von Seiten der bürgerlich orientierten Parteien versuchte
die Sozialdemokratische Partei Bosnien und Herzegowinas (SDP BiH) den Schulterschluss mit den Demonstranten. Doch der Versuch einer formellen Solidarisierung
mit der Protestbewegung misslang. Die Protestler, darunter zahlreiche enttäuschte SDP-Wähler, zogen es vor,
sich auf keine parteipolitische Seite zu stellen.
Die Absicht einer solchen Nachrichtenpolitik, unterstützt
durch die SNSD-Führung, lag auf der Hand. Mit der Diskreditierung der Bewegung in Sarajevo sollte eine Solidarisierung in der Republika Srpska verhindert werden.
Das Entstehen einer landesweiten Protestbewegung mit
ähnlichen Forderungen hätte weitreichende Effekte, die
den politischen Führungsanspruch der SNSD bedrohen
könnten. Die alltägliche ethnonationalistische Rhetorik
von Präsident Milorad Dodik, der den Gesamtstaat als
unfähig darstellt und die vermeintlich besseren Zustände
in der eigenen Entität lobt, würde ad absurdum geführt.
Denn eine gesamtstaatliche Bewegung würde ähnliche
politische und wirtschaftliche Missstände in beiden Entitäten benennen. Das Argument der ethnischen Abgrenzung wäre obsolet.
Innerhalb des ethnonationalistisch orientierten Parteienblocks bestanden die Instrumentalisierungsversuche darin,
Sarajevo als Hauptstadt zu diskreditieren und die Demonstrationen als gezielten Angriff auf die Vertreter der jeweiligen ethnischen Gruppe darzustellen. Auf bosnisch-serbischer Seite kam Kritik von Vertretern der einst moderaten
und zunehmend ethnisch ausgerichteten Allianz unabhängiger Sozialdemokraten (SNSD) sowie von der ehemals
vom mutmaßlichen Kriegsverbrecher Radovan Karadžić
gegründeten Serbisch Demokratischen Partei (SDS). Ihre
4. Das bosnisch-herzegowinische Parteiensystem lässt sich grob vereinfacht in ethnische und bürgerlich orientierte Parteien unterteilen. Während erstere sich in ihren politischen Forderungen vor allem auf die Partikularinteressen einer ethnischen Gruppe bzw. eines der drei konstitutiven
Völker des Staates (Kroaten, Serben oder Bosniaken) stützen, bezeichnen
sich die bürgerlich orientierten Parteien als multiethnisch. Zahlenmäßig
sind die ethnischen Parteien deutlich überlegen.
Das Kalkül einer Diskreditierung der Proteste in Sarajevo
ging jedoch nur zum Teil auf. Zwar fand keine direkte
Solidarisierung mit den Protesten in Sarajevo statt, aber
3
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auch in Banja Luka rief der Studentenverband Mitte Juni
zu Demonstrationen auf. Der Anlass war nicht die fehlende Identifikationsnummer.5 Hier ging es vor allem um
Verbesserungen an den Hochschulen. Die systemische
Ursache war aber die gleiche. In ihrer Kritik an den herrschenden Zuständen, einer ineffizienten öffentlichen
Verwaltung und desaströsen wirtschaftlichen Situation
sind sich die Demonstranten in beiden Entitäten einig.
Tatsächlich wächst der Druck auf Dodik seit Monaten.
Der Unmut über die SNSD geführte Regierung nimmt zu,
die wirtschaftliche Situation in der Republika Srpska mit
einem Durchschnittslohn von 798 Konvertible Mark (KM)
(etwa 400 Euro) und einer monatlichen Mindestrente von
160 KM (etwa 80 Euro) ist eklatant.6 Dem Apell zu einem
politischen Spaziergang vor die Regierungsinstitutionen
in Banja Luka folgten dementsprechend einige Tausend.
Auch diese Proteste umfassten ein heterogenes Spektrum.
Unter den Demonstranten waren neben Studierenden
und Pensionären auch ArbeitnehmerInnen und Hausfrauen. Sie einte die Forderung nach einer Besserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage in der Republika Srpska.
der sozialen Proteste im Land. Die Zahlen sprechen für
sich. Die Wirtschaft geriet 2012 in die Rezession, die
Arbeitslosenquote ist mit derzeit 44,5 Prozent eine der
höchsten in Europa, die Jugendarbeitslosigkeit beträgt
beinahe 60 Prozent.7 Der monatliche Durchschnittslohn,
der bei 824 KM oder etwa 420 Euro liegt, reicht nicht
aus, die Ausgaben für eine vierköpfige Familie zu decken
(1700 KM oder 870 Euro).
Eine wesentliche Besserung der wirtschaftlichen Situation erhoffen sich die meisten Bürger von einem EUBeitritt des Landes. Die Zustimmung zu einer EU-Mitgliedschaft ist daher hoch. Laut den letzten Umfragen
sprechen sich 80 Prozent dafür aus.8 Doch der Reformstillstand verhindert jeglichen Fortschritt in Richtung
Europäische Union. Für das Inkrafttreten des Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommens, das bereits 2008
unterzeichnet wurde, muss die Verfassung geändert
und das passive Wahlrecht an einen Urteilsspruch des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte angepasst werden. Im April dieses Jahres scheiterten die bisher letzten Versuche einer Einigung. Damit stagniert der
Beitrittsprozess. Die Verfassungskrise dauert an.
Vordergründig unterscheiden sich die Anlässe beider Bewegungen deutlich. Die Ursachen der Proteste in Banja
Luka und Sarajevo lassen sich jedoch kaum voneinander
trennen. In beiden Fällen geht es um die Kritik eines allgegenwärtigen politischen Stillstands. Schon allein die
zeitliche Nähe legt nahe, dass die Proteste in der Hauptstadt und die Mobilisierung in Banja Luka Produkte der
gleichen gesellschaftspolitischen Schieflage sind.
Die Verfassungs- und Wirtschaftskrisen werden von einer anhaltenden Regierungskrise überlagert. Über weite
Teile der derzeitigen Legislaturperiode existierte Bosnien
und Herzegowina ohne funktionierende Regierung.
Zwar hatten die allgemeinen Wahlen 2010 mit dem Erfolg der SDP die Hoffnung auf einen Wandel befördert.
Die Sozialdemokraten waren mit dem Versprechen angetreten, den Status quo zu durchbrechen. Allein die
Regierungsbildung auf Staatsebene zog sich aber über
15 Monate hin. Die Zersplitterung des Parteiensystems
machte es beinahe unmöglich, natürliche oder klar abgrenzbare ideologische Bündnisse zu bilden. Auf Föderationsebene führte die SDP fortan eine Regierung mit
der bosniakischen »Partei der Demokratischen Aktion«
(SDA) und der nationalistischen »Kroatischen Partei des
Rechts« (HSP) an. Auf Staatsebene war sie ebenfalls an
der Regierung beteiligt – in einer Regierungskoalition
mit bosnisch-serbischen, bosnisch-kroatischen sowie
bosniakischen Parteien. Die heterogenen Bündnisse
hielten nicht lange, nur wenige Monate auf Staatsebene
und knapp ein Jahr auf Föderationsebene.
Triade des Stillstands – Wirtschaftskrise,
Verfassungskrise, Regierungskrise
Die Proteste thematisieren längst nicht mehr nur das
Gesetz zur fehlenden Identifikationsnummer oder die
prekären Verhältnisse in den Studentenwohnheimen in
Banja Luka, sondern die Leistungs- und Funktionsfähigkeit der politischen Institutionen insgesamt. Tatsächlich
befindet sich Bosnien und Herzegowina bereits seit 2010
in einer dreifachen Krise, die sich in einer Wirtschafts-,
Verfassung- und Regierungskrise äußert. Diese mächtige Triade des Stillstands ist der eigentliche Nährstoff
5. In der Republika Srpksa beschloss die dortige Regierung im Mai dieses
Jahres, den Bürgern eigene Identifikationsnummer auszustellen. Diese
Regelung auf Entitätsebene ist allerdings verfassungswidrig, das Problem
ist damit nur scheinbar gelöst.
7. Daten zur Arbeitslosenrate siehe Arbeitsamt Bosnien und Herzegowina.
Daten zur Jugendarbeitslosigkeit siehe Arbeitsagentur Posoa.ba, 3.7.2013.
8. Angaben laut Direktorat für Europäische Integration des Ministerrats
von Bosnien und Herzegowina.
6. Siehe RS Association of Economist, 2.7.2013.
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Im Frühjahr 2012 zerbrachen die aufwendig geschlossenen Koalitionen. Der politische Stillstand setzt sich
bis heute fort. Auf der Staatsebene kam es formal zu
einer Regierungsumbildung, die bis heute aber nicht in
wesentlichen Reformschritten resultierte. Versuche, die
Föderationsregierung gemäß der aktuellen parlamentarischen Mehrheit umzubilden, misslangen. Praktisch
gilt seit 2010 ein Ausnahmezustand, bei dem die parlamentarische Arbeit weitestgehend brach liegt. Symptomatisch steht dafür der aktuelle Fall der ausstehenden
Gesetzesreform zur Identifikationsnummer.
Blockadepolitik eine Taktik, die viele politischen Parteien
bereit wären, bis zum nächsten Wahltermin im Oktober
2014 zu verfolgen. Der Wahlkampf wäre damit bereits
eingeleitet. Was aus Sicht jener Parteien, die von der gegenwärtigen politischen Blockade und von ihrer Zementierung profitieren, Wahlkampfkalkül sein könnte, wäre
aus demokratietheoretischer Perspektive ein besorgniserregendes Szenario.
Klarer Verlierer der gegenwärtigen Situation ist im politischen Spektrum die SDP, die von ihren Wählern für
den Reformstillstand bereits bei den Kommunalwahlen
im Oktober 2012 deutlich abgestraft wurde. Bei den
aktuellen Demonstrationen ist ihr Wählerspektrum
überproportional vertreten. An den Protesten nehmen
viele ehemalige SDP-WählerInnen teil. Sie sind von den
Sozialdemokraten tief enttäuscht und wenden ihnen
mehr und mehr den Rücken zu.
Die strukturellen Gründe des reformpolitischen Stillstands finden sich in einem komplexen politischen
System, das den Akteuren weitreichende Vetomechanismen zugesteht. Die Verfassung, die im Zuge des
Friedensabkommens von Dayton 1995 entstand, sichert
den drei konstitutiven Völkern Proporzmechanismen
und ein Quotensystem für öffentliche Ämter zu. Damit
garantiert sie einerseits die ausgewogene Besetzung
von Posten, fördert aber auch ein Parteiensystem, dessen Akteure von der ethnischen Separation profitieren.
Die internationale Gemeinschaft, die durch das Amt des
Hohen Repräsentanten formell eine staatstragende Rolle
in Bosnien und Herzegowina spielt, und die Funktionsweise der politischen Institutionen überwacht, hält sich
im aktuellen Krisenszenario bedeckt.
Die Demonstranten verbindet ihre generelle Unzufriedenheit gegenüber dem gesamten parteipolitischen
Establishment. Viele von ihnen erhoffen sich eine neue
politische Kraft. Dies könnte am ehesten die im April vom
kroatischen Mitglied der bosnisch-herzegowinischen Präsidentschaftstroika und ehemaligen SDP-Mitglied, Zeljko
Komsic, gegründete »Demokratische Front« sein. Sie gilt
vielen als glaubwürdigere Variante einer modernen bürgerlichen Partei. Ob die Protestbewegung tatsächlich eine
gesellschaftspolitische Transformation bewirken kann,
wird sich erst in den nächsten Monaten zeigen. Spontan,
unorganisiert und außerparlamentarisch – diese Attribute
kennzeichnen sie derzeit noch am deutlichsten. Sollte sie
das politische System aber nachhaltig verändern wollen,
muss sie klare Konturen annehmen. Dann wird sie auch
den Dialog mit den etablierten Parteien suchen müssen.
Dazu bräuchte die Bewegung klare Botschaften und erkennbare Köpfe. Sie müsste mehr sein als nur Empörung.
Fortsetzung der Proteste –
Ende des Status quo?
Werden die Demonstranten in der Lage sein, die politische Konstellation nachhaltig zu beeinflussen? Beobachter sehen in den anhaltenden Protesten bereits jetzt verlässliche Anzeichen für eine Änderung in der politischen
Kultur des Landes. Im In- und Ausland verbindet sich mit
den Protesten die Euphorie einer endlich aus ihrer Apathie erwachten Zivilgesellschaft.
Es bleibt abzuwarten, ob die Bewegung nur ein Produkt
des Stillstands ist oder darüber hinaus zu einem Produzenten des gesellschaftspolitischen Wandels avancieren
kann. Zu diesem Zeitpunkt steht allerdings fest, dass die
Zivilgesellschaft dabei ist, aus ihrer Lethargie zu erwachen. Welche Auswirkungen dies haben wird, ist offen,
aber zumindest aus Sicht der Demonstranten ist ein
bedeutender Schritt vollzogen: Sie haben gezeigt, dass
politische Mobilisierung in Bosnien und Herzegowina
möglich ist und die Bürger dazu bereits sind, ihre Rechte
auf der Straße einzufordern.
Innenpolitisch bergen die Demonstrationen aber auch
die Gefahr, die gegenwärtige politische Stagnation im
Land weiter zu festigen. Falls die friedlichen Bürgerproteste weiterhin von der Mehrzahl der politischen Akteure
zum Anlass genommen werden, das staatliche Parlament
von innen heraus zu schwächen, leidet nicht nur das Vertrauen in die politischen Institutionen. Es steht auch die
ohnehin fragliche politische und gesellschaftliche Stabilität des Landes auf dem Spiel. Skeptiker vermuten in der
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Über die Autorin
Impressum
Judith Illerhues ist Leiterin des FES-Büros in Bosnien und Herzegowina.
Friedrich-Ebert-Stiftung | Referat Mittel- und Osteuropa
Hiroshimastr. 28 | 10785 Berlin | Deutschland
Verantwortlich:
Dr. Reinhard Krumm, Leiter, Referat Mittel- und Osteuropa
Tel.: ++49-30-269-35-7726 | Fax: ++49-30-269-35-9250
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Die in dieser Publikation zum Ausdruck gebrachten Ansichten
sind nicht notwendigerweise die der Friedrich-Ebert-Stiftung.
ISBN 978-3-86498-603-1
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