PDF-Dokument (deutsch) - Evangelische Kirche von Kurhessen

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Bischof Prof. Dr. Martin Hein, Kassel
Freedom of religions and belief at the national level
I.
Religionsfreiheit und ihre schrittweise Umsetzung
Kaum ein anderes Menschenrecht steht national wie international derart in der politischen Kontroverse wie die Religions- und Weltanschauungsfreiheit. Manche reagieren eher mit Abwehr oder Unbehagen auf dieses fundamentale Recht – vielleicht weil
sie nicht wissen, wie weit es reicht, wo seine Grenzen liegen und wie das Verhältnis
zu anderen Menschenrechten – etwa der Gleichberechtigung der Geschlechter – zu
verstehen ist.
Auch ein säkularer Rechtsstaat wie etwa Deutschland, der sich um die gleichberechtigte Verwirklichung der Religions- und Weltanschauungsfreiheit für alle bemüht ist,
wird immer wieder an Grenzen stoßen. Wie sollen etwa Feiertagsregelungen gestaltet werden? Von einer strikten Gleichheitsidee könnte man theoretisch zur Forderung
gelangen, entweder alle religiösen Feiertage aus dem öffentlichen Kalender zu streichen oder den Kalender um die Feiertage aller in der Gesellschaft präsenten Religionen zu erweitern. Beides ist weder möglich noch sinnvoll. Folgt daraus, dass man
sich letztlich eben doch damit abfinden muss, dass Angehörige von Minderheiten nie
die volle Gleichberechtigung erreichen werden? Die Antwort auf diese Frage lautet
„reasonableaccommodation“. Darunter sind Anpassungsmaßnahmen zugunsten der
Angehörigen von Minderheiten zu verstehen. Das Adjektiv „reasonable“ verweist
darauf, dass diese Maßnahmen innerhalb eines Rahmens bleiben müssen. Was das
genau bedeutet, lässt sich nicht abstrakt vorweg definieren, sondern muss „casebycase“ ermittelt und ausgehandelt werden.
So hat beispielsweise Hamburg als erstes deutsches Bundesland einen Staatsvertrag mit muslimischen Verbänden geschlossen, in dem verfassungsrechtlich und gesetzlich garantierte Rechte und Pflichten bestätigt werden. Eine konkrete Änderung
gibt es bezüglich der Feiertage. Danach erhalten die höchsten islamischen und alevitischen Feiertage den Status kirchlicher Feiertage – vergleichbar mit dem so genannten (evangelischen) „Buß- und Bettag“. Gläubige haben an solchen Tagen ein Recht
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auf berufliche Freistellung, wie es auch für christliche Arbeitnehmer gilt. Europäische
Staaten werden neu ausloten müssen, wie Religionsfreiheit gleichberechtigt mit anderen Religionen und Weltanschauungen erwirkt werden kann. Religionsführer sollten ihren Beitrag für diesen Prozess einer „reasonableaccommodation“ leisten.
II.
Positive und negative Religionsfreiheit
Es handelt sich bei der Religionsfreiheit um ein umfassendes Freiheitsrecht der Menschen, in Fragen der Religion oder Weltanschauung ihren eigenen Weg zu finden,
religiöse Rituale allein oder in Gemeinschaft mit anderen auszuüben, die eigenen
Kinder den familiären Überzeugungen entsprechend zu erziehen, sich einer Religionsgemeinschaft anzuschließen oder eine solche zu verlassen.
Freiheitsrechte sind dadurch definiert, dass sie die Entscheidung, ob und wie jemand
von seiner Freiheit Gebrauch macht, den betroffenen Menschen überantworten. Wer
aber den Akzent ausschließlich auf die positive Religionsfreiheit setzt und ihr „negatives“ Gegenstück ausblendet oder abwertet, verformt das Freiheitsrecht zu einem
Vorrecht primär der religiös oder weltanschaulich engagierten Menschen. Deshalb
gilt es neben der positiven Religionsfreiheit, notwendig auch die „negative“ Religionsfreiheit zu beachten, nämlich das Recht, sich religiös oder weltanschaulich nicht zu
betätigen, nicht zu interessieren, nicht zu bekennen und sich keiner Glaubensgemeinschaft anzuschließen (Freiheit von Religion).
Umgekehrt wäre eine einseitige Betonung der negativen Religionsfreiheit, in deren
Namen beispielweise die Beseitigung religiöser Symbole im öffentlichen Raum vorangetrieben wird, ebenfalls eine Reduzierung der Religionsfreiheit. Gegen ein immer
wieder anzutreffendes Missverständnis bleibt festzuhalten, dass die negative Religionsfreiheit nicht den Anspruch schafft, generell von der Konfrontation mit Religion in
der gesellschaftlichen Öffentlichkeit verschont zu bleiben. Es ist zu betonen, dass die
Religions- und Weltanschauungsfreiheit die positive und die negative Option des
Freiheitsgebrauches gleichermaßen umfasst, weil nur so ihr freiheitlicher Gehalt
wirklich zum Tragen kommt.
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Positive und negative Religionsfreiheit gehören wie zwei Seiten einer Medaille zusammen. Sie sind beide gleich wichtig, und jeder Versuch, sie in eine Rangordnung
zu bringen oder sie gegeneinander auszuspielen, würde den freiheitlichen Charakter
dieses Menschenrechts insgesamt verdunkeln.
Die verschiedenen Religionsführer sind gefragt, aus ihrer eigenen Tradition Begründungen für die Religionsfreiheit zu entfalten – und zugleich auf ihre Weise dazu beizutragen, auch jene Menschen zu tolerieren, die keiner Religion angehören wollen.
Freiheit ist stets auch die Freiheit Andersdenkender! Das betrifft auch die Religionsfreiheit im positiven wie im negativen Sinn. Pluralität ist in der Gesellschaft kein
Nachteil, sondern eine große Chance.
III.
Religionsfreiheit und Dialog
Die Religionsfreiheit bezieht sich nicht nur auf die Rechte der jeweiligen Religionsgemeinschaft, sondern muss sich in der Praxis des gesellschaftlichen Zusammenlebens auswirken. Es wäre ein Missverständnis, wenn die Religionsfreiheit zugunsten
einer „interreligiösen Harmonie“ funktionalisiert würde.
In vielen Debatten in Deutschland kann man erleben, dass das Thema Religionsfreiheit sehr schnell mit dem friedlichen Zusammenleben unterschiedlicher Religionen
assoziiert wird. Dieser Zusammenhang ist natürlich nicht abwegig, denn die Religionsfreiheit steht als Menschenrecht durchaus für ein Friedenskonzept. Schon die
Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 betont, dass die
Anerkennung von Menschenwürde und Menschenrechte die „Grundlage der Freiheit,
der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“ bildet. Die Religionsfreiheit schützt
deshalb auch stets die Rechte von Minderheiten, von Minderheiten innerhalb von
Minderheiten, von Dissidenten, Kritikerinnen und Konvertiten.
Eine Gesellschaft, die Religionsfreiheit ernst nimmt, wird in ihrer Konsequenz eine
komplexe und nicht überschaubare Landschaft vielfältiger und weltanschaulicher Positionen hervorbringen, die aber ihrerseits nicht nur schiedlich friedlich nebeneinander bestehen, sondern sich gelegentlich aneinander reiben dürfen. Es handelt sich
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bei dem durch die Religionsfreiheit ermöglichten Frieden um einen eher „unbequemen“ Frieden, der gegründet ist auf dem Respekt vor den religiösen und weltanschaulichen Positionierungen der Menschen in ihrer Vielfalt.
Zur Religionsfreiheit ist deshalb auch das Recht zu zählen, religiöse Positionen anderer Menschen und Gruppen herauszufordern und kritische Fragen zu stellen. Diese
Möglichkeit der kommunikativen, aber gewaltlosen Auseinandersetzung im Für und
Wider unterschiedlicher religiöser Positionen bildet einen unverzichtbaren Bestandteil
der Religionsfreiheit.
Die Religionsfreiheit geht also über die Respektierung gegebener Religionen weit
hinaus. Sie setzt die friedliche Konkurrenz unterschiedlicher Überzeugungen frei und
eröffnet Raum für Kritik und Gegenkritik. Es wäre wünschenswert, dass aus diesem
Diskurs auch Impulse auf die gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen ausgehen und
zu gemeinsamen Initiativen führen, die nicht an den vermeintlichen Religionsgrenzen
halt machen.
Der Schritt von der Religionsfreiheit zur Kooperation beginnt nicht auf der Weltebene,
sondern im lokalen Kontext, wo Personen und Gemeinschaften mit unterschiedlichen
Glaubensüberzeugungen zusammen kommen, um Wege zu finden, ihr Leben in der
Gesellschaft zu gestalten – zum Wohl ihrer Gemeinschaft und zum Wohl der Gesellschaft als ganzer. Das Potenzial hierfür ist vorhanden. Es ist noch steigerungsfähig.
Worin liegt also die Rolle religiöser Leiter? Ihre Aufgabe ist es, die Religionsfreiheit in
ihren verschiedenen Implikationen verantwortungsvoll einzuüben und glaubwürdig
vorzuleben. Nichts wirkt besser als das gute Beispiel!
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