Alter Die Notwendigkeit, sich mit psy

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Dr. Götz Fabry
Vorlesung Medizinische Psychologie
28.01.2003 Entwicklungspsychologie III: Alter
Die Notwendigkeit, sich mit psychologischen Entwicklungsprozessen im Alter auseinandersetzen zu müssen, ergibt sich zum einen aus der derzeitige Bevölkerungsdynamik hierzulande, wo eine niedrige Geburtenrate einerseits und eine hohe Lebenserwartung andererseits zu einer Zunahme des Anteils alter
Menschen an der Gesamtbevölkerung führen. Zum anderen ist aber auch das Wissen über den Lebensabschnitt des hohen Erwachsenenalters im Vergleich zu anderen Lebensphasen (z.B. der frühen Kindheit) noch sehr lückenhaft, so daß ein erheblicher Forschungsbedarf besteht. Für den praktisch tätigen
Arzt sind die Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie von großer Bedeutung, z.B. bei der Gestaltung
therapeutischer Maßnahmen, wenn etwa die Frage im Raum steht, in wieweit Verhaltensänderungen
auch noch von betagten Patienten erwartet werden können. Aber auch in der Konzeption und Durchführung von Altenarbeit müssen entwicklungspsychologische Erkenntnisse berücksichtigt werden, will
man die Klienten weder unter- noch überfordern.
Folie 1
Vorlesung Medizinische Psychologie WS 2002/2003
Entwicklungspsychologie III
Alter
Vorlesungsskripte unter:
http://www.medizinische-psychologie.de/vorlesung
Ein weit verbreitetes Vorurteil lautet, daß Altern in erster Linie ein Abbauprozeß sei, bei dem die körperlichen und geistigen Kräfte gleichermaßen nachlassen und der demnach nicht besonders erstrebenswert
sei. Folie 2 listet einige Aussagen zum Thema Alter auf, die einem in den siebziger Jahren in den USA
enstandenen wissenschaftlichen „Quiz“ zum Thema entnommen sind.
Folie 2
Tatsachen (?) zum Thema Alter
•
••
Die Mehrzahl der alten Menschen >65 sind senil (d.h. haben ein mangelhaftes
Gedächtnis sind geistig verwirrt).
Alle fünf Sinne lassen mit dem Alter nach.
Die meisten alten Menschen wollen oder können keine sexuellen Beziehungen
haben.
•
•
Die Mehrzahl der alten Menschen fühlt sich die meiste Zeit unglücklich.
•
Die meisten älteren Arbeiter können nicht so effizient arbeiten wie jüngere.
•
Ältere Autofahrer haben pro Person weniger Unfälle als Fahrer <65
Etwa 80% der Älteren sind gesund genug, um ihre normalen Aktivitäten
auszuführen.
•
Alte Menschen brauchen für gewöhnlich länger, um etwas Neues zu lernen.
•
Für die meisten älteren Menschen ist es fast unmöglich, neue Dinge zu lernen.
•
•
•
•
Die Mehrzahl der älteren Menschen ist selten gelangweilt.
Die meisten Ärzte behandeln Ältere nicht vordringlich.
Mit dem Alter neigen die Menschen dazu, religiöser zu werden.
Die Mehrheit der Älteren ist selten gereizt oder wütend.
n. Palmore 1977
Einige dieser Aussagen mögen überraschend richtig oder falsch sein. Wichtig ist sich klar zu machen,
daß mit zunehmendem Alter ein gewisser Abbau bzw. ein Nachlassen von Leistungen v.a. von „biologienahen“ zu verzeichnen ist. So ist z.B. die höhere Unfallrate unter betagten Autofahrern zu erklären
(Sehschärfe und Reaktionsvermögen eingeschränkt). Andererseits können ältere Menschen aber z.B. um
etwas Neues zu lernen frühere Lernstrategien aus ähnlichen Zusammenhängen reaktivieren und
bei entsprechendem Training dadurch einen deutlichen Leistungszuwachs zeigen. Altersbedingte Einschränkungen machen sich erst dann bemerkbar, wenn die Leistungsanforderungen bis zur Obergrenze
erhöht werden (sog. testing-the-limits) oder wenn mehrere Aufgaben gleichzeitig bewältigt werden müssen. Daher ist die pauschale Aussage, daß ältere Menschen gewöhnlich länger brauchen, um etwas
Neues zu lernen, in dieser Form nicht zutreffend. Auch der vielleicht subjektiv richtige Eindruck, daß ältere Menschen religiöser seien als jüngere, kann sich bei genauerer Betrachtung als Täuschung erweisen. Hier ist vor allem an sog. Kohorteneffekte zu denken. Vergleicht man etwa eine Gruppe von
heute 50jährigen mit einer Gruppe von heute 90jährigen und stellt eine Zunahme der Religiosität fest, so
kann daß zum einen an einer tatsächlichen Zunahme mit dem Alter liegen, wahrscheinlicher ist aber, daß
sich hier gesellschaftliche Veränderungen bemerkbar machen, die für beide Gruppen z.B. während der
familiären Erziehung sehr unterschiedlich waren.
Folie 3 und 4 zeigen die Ergebnisse einer empirischen Studie, in der verschiedene sensorische und intellektuelle Leistungen von Erwachsenen in verschiedenen Altersgruppen untersucht wurde.
Folie 3
Altersgradienten
(sensorische Fähigkeiten)
Sehschärfe
75
75
65
65
55
55
45
45
35
35
Hörvermögen
25
25
25
45
65
85
105
25
45
Alter
65
85
105
Alter
Folie 4
Altersgradienten
(intellektuelle Fähigkeiten)
Wahrnehmungsgeschwindigkeit
75
75
75
65
65
65
55
55
55
45
45
45
35
35
35
25
25
25
45
65
85
Denkfähigkeit
25
25
105
45
65
85
25
105
Wissen
75
Wortflüssigkeit
75
75
65
65
65
55
55
55
45
45
45
35
35
35
25
25
25
45
65
85
105
Merkfähigkeit
45
65
85
105
Gesamtleistung
25
25
45
65
85
105
25
45
65
85
105
X-Achse: Alter, Y-Achse: T-Scores Mittel=50, SD=10, N=144, Alter= 25 - 101 (Lindenberger 2002)
An diesen Schaubildern läßt sich deutlich erkennen, daß insbesondere bei der Sensorik und den sogenannten „fluiden“ intellektuellen Leistungen (Wahrnehmungsgeschwindigkeit, Denkfähigkeit und
Merkfähigkeit) ein Nachlassen bereits im mittleren Erwachsenenalter zu beobachten ist. Die „kristallinen“ Leistungen (Wissen und Wortflüssigkeit) dagegen lassen erst im höheren Alter nach.
Um den Umgang alter Menschen mit den Anforderungen des Alters zu beschreiben sind in der Psychologie zwei Theorien gebräuchlich, die in Folie 5 dargestellt sind und deren Hypothesen sich fast konträr
zueinander verhalten. Empirische Befunde stützen eher die Annahmen der Aktivitäts-Theorie, doch sind
letztendlich immer individuelle Faktoren zu berücksichtigen, wenn es darum geht, die Bewältigung alterspezifischer Veränderungen bei einem alten Menschen mithilfe psychologischer Modelle zu bewerten, um
daraus etwa spezifische Hilfestellungen für Beratung oder Psychotherapie ableiten zu können.
Folie 5
Umgang mit dem Alter
Disengagement-Theorie
Aktivitäts-Theorie
(Cummings & Henry 1961)
(Tartler 1961, Lemon et al. 1972)
•
Abnahme sozialer Aktivitäten durch
allgemeinen Rückzug von der
Umwelt
•
Wendung von außen nach innen
•
hilfreich bei Vorbereitung auf den
nahen Tod (Abschiednehmen)
•
gewollte Abkehr von früheren
Rollen, Beziehungen, Aktivitäten
führt zur Zufriedenheit
➨ empirische Studien belegen eher
einen Zusammenhang zwischen
Aktivität und Zufriedenheit!
•
positive Auswirkungen fortgesetzter
Aktivität im Alter
•
neue Rollen und Verpflichtungen
vermitteln das Gefühl, gebraucht zu
werden
•
Abnahme sozialer Aktivitäten eher
unvermeidlich als gewollt
•
Problem: Gesundheit als Folge oder
Voraussetzung von Aktivität im
Alter?
➨ Die Bewertung der beiden Prozesse
ist nur unter Berücksichtigung der
Vorstellungen und Bedürfnisse des
alten Menschen möglich!
Eine interessante Gegenüberstellung von physiologischen Indikatoren der körperlichen Leistungsfähigkeit
und dem subjektiven Wohlbefinden zeigt Folie 6.
Folie 6
Leistungsfähigkeit und Wohlbefinden
Restfunktion %
Wohlbefinden
100
3
90
2
80
1
Vitalkapazität
50
max.
Ventilationsrate
40
0
-1
-5
40
60
80
••
•
20
Alter (Jahre)
•
•
-3
-4
20
•
••
-2
30
r=.00
• •
•• • • ••• • •
•
•
• • • ••
••
• • •• ••
•
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• •
•• • • •••• •••
max. Herzfrequenz
60
••• •••••••• ••••••••••• ••••••••••••••••••
•
•
max.
Blutlaktatspiegel
70
••• •• • • ••
• •
•
• •• •• •
• • •••••• • • • •• • ••
•
• •• •
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• • • • •• • • ••• • ••
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• ••• •••• •
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•••• ••
• •• •• ••
• •• •••••••• • • ••• ••
•
• •
•
•• • •• • •
•
•
•
•
•
20
40
•
60
80
Alter (Jahre)
n. Staudinger & Schindler 2002
Entgegen vielleicht naheliegenden Vermutungen läßt sich ein allgemeiner negativer Zusammenhang
nicht nachweisen, d.h. alte Menschen lassen sich zumindest statistisch nicht hinsichtlich ihres Wohlbefindens von jungen Menschen unterscheiden. Vermutlich spielen dabei subjektive Bewertungsprozesse eine große Rolle; demnach ließe sich auf der Grundlage solcher Erkenntnisse vermuten, daß älteren Menschen die körperliche Leistungsfähigkeit als solche nicht mehr so viel bedeutet, wie das viel-
leicht bei jungen Menschen der Fall ist, bei denen die körperliche Leistungsfähigkeit auch im Kontext von
Attraktivität und als Ausweis von Jugendlichkeit größere Relevanz haben dürfte.
Angesichts der rasanten Zunahme und der Halbwertszeit von Wissen (für die Medizin z.B. werden
häufig fünf Jahre genannt, d.h. die Hälfte dessen, was man während der ersten Semester gelernt hat,
wäre beim 3. Staatsexamen bereits wieder Makulatur) könnte man annehmen, daß es älteren Menschen
zunehmend schwerer fällt, Schritt zu halten. Eine solche Vermutung, die in manchen Bereichen auch
zutreffend sein mag, übersieht aber, daß es einige grundlegende Probleme des Menschseins (der „conditio humana“) gibt, die sich trotz des rasanten Fortschritts in vielen Bereichen nicht verändern z.B. der
Umgang mit Sterben und Tod oder Trennung. Mögen sich die Rahmenbedingungen auch noch so sehr
verändern, die Auseinandersetzung mit diesen Themen bleibt keinem erspart.
Um zu untersuchen, wie Personen mit solchen grundlegenden Lebensfragen umgehen, wurde in den
letzten Jahren in der Psychologie vermehrt auf das Konzept der Weisheit Bezug genommen. Welche
Kriterien aus psychologischer Sicht dafür bedeutsam sind, geht aus Folie 7 hervor.
Folie 7
Kriterien für Weisheit
•
Reiches Faktenwissen in grundlegenden Fragen des Lebens
– generell („conditio humana“)
– spezifisch (z.B. Lebensereignisse, Institutionen)
•
reiches Strategiewissen in grundlegenden Fragen des Lebens
– Entscheidungsfindung (z.B. Kosten-Nutzen-Analyse)
– Lebensplanung (z.B. Ziel-Mittel-Relationen)
•
Lifespan-Kontextualismus
– zeitliche Einbettung von Lebensproblemen
– Umstände, Bereiche, in die ein Leben eingebunden ist
•
Wert-Relativismus
– Vielfalt von Werten
– universelle Werte vs. individuelle Werte
•
Erkennen und Umgehen mit Unsicherheiten
n. Staudinger & Schindler 2002
In empirischen Untersuchungen zur Weisheit konnte gezeigt werden, daß alte Menschen hier im Gegensatz zu klassischen Intelligenztestaufgaben (Folie 3 und 4) keine schlechtere Leistung zeigen als junge
Erwachsene, im Gegenteil sind sie diesen in manchen Fällen sogar überlegen. Allerdings machen sich
hier individuelle Unterschiede (z.B. Berufsausbildung und-tätigkeit, Erfahrungen mit schwierigen Lebenssituationen) deutlich bemerkbar.
Ein Beispiel für eine vor diesem Hintergrund „abgeklärtere“ bzw. realistischere Sicht der Dinge mit
zunehmender Lebenserfahrung zeigt Folie 8. Hier wurden Personen aus verschiedenen Altersgruppen
zunächst danach gefragt, wie sie sich gegenwärtig sehen. Dabei fanden sich keine Unterschiede zwischen den Altersgruppen, d.h. positive wie negative Wertungen waren bei allen Befragten etwa gleich
verteilt. Unterschiede fanden sich aber, wenn zusätzlich nach der Bewertung der eigenen Vergangenheit,
der erwarteten Zukunft und dem Ideal gefragt wurde. Wie der Abbildung zu entnehmen ist, ist für junge Erwachsene die Zukunftsorientierung wichtiger, während für alte Menschen eher eine positive
Bewertung der Vergangenheit (z.B. im Sinne einer positiven Lebensbilanz) von Bedeutung ist. Das
Ideal scheint alten Menschen gleichfalls weniger bedeutsam zu sein, auch das vermutlich ein Zeichen
von erfahrungsgeprägtem Realismus.
Solche Unterschiede sind von unmittelbarer praktischer Relevanz z.B. in der Psychotherapie. Während es
in der Arbeit mit jungen Menschen häufig um eine Klärung der eigene Ziele und Werte geht, kann bei
der Arbeit mit alten Menschen z.B. eine Neubewertung vergangener Ereignisse oder die Aufarbeitung
von negativen Erfahrungen im Vordergrund stehen, damit diese in ein positives Gesamtbild integriert
werden können („seinen Frieden machen“).
Folie 8
Selbsteinschätzung
Akzeptanz des Selbst
Autonomie
Sozialbeziehungen
Ideal
Ideal
Zukunft
Vergangenheit
Gegenwart
Gegenwart
Zukunft
Vergangenheit
junges
mittleres
hohes
Erwachsenenalter
Ryff 1991
Wie alte Menschen mit eingeschränkten Fähigkeiten zurechtkommen, ist aber nicht nur eine Frage der
individuellen Leistungsfähigkeit sondern auch der sozialen Interaktion. Nachdenklich machen die in
Folie 9 dargestellten Ergebnisse einer Studie, deren Ziel es war, zu ermitteln, wie Sozialpartner auf
selbständiges bzw. unselbständiges Verhalten von Bewohnern eines Altersheims reagieren (z.B. beim
Essen, Waschen, Anziehen). Die Sozialpartner reagierten überwiegend mit Verhaltensweisen, welche die
Unselbständigkeit der alten Menschen unterstützte, egal ob diese sich zuvor selbständig oder unselbständig verhalten hatten. Mit solchen, sicher manchmal gut gemeinten, häufig aber auch der Ungeduld
entspringenden Verhaltensweisen, wird den alten Menschen die Möglichkeit genommen, ihr Leben so
weit wie möglich selbständig zu gestalten, was, wie anfangs gezeigt wurden, den meisten sicherlich ohne weiteres möglich wäre.
Folie 9
Unselbständigkeit im Alter?
Ältere Menschen
zeigen:
unselbständiges
Verhalten
Sozialpartner/Pflegepersonal
reagieren mit:
76%
Verhalten, das die
Unselbständigkeit
unterstützt
6%
Verhalten, das die
Selbständigkeit
unterstützt
13%
Verhalten, das die
Selbständigkeit
unterstützt
22%
Verhalten, das die
Unselbständigkeit
unterstützt
selbständiges
Verhalten
Baltes et al. 1991
Folie 12
take-home-message
•
der vielfach angenommene „Altersabbau“ findet vor
allem in Bereichen statt, die stark biologisch
determiniert sind
•
das Wohlbefinden alter Menschen scheint von diesen
Faktoren nur wenig beeinträchtigt zu werden
•
die Produktivität verlagert sich in andere Bereiche,
von einem generellen Abbau kann nicht die Rede
sein
•
die Weisheit nimmt eher zu
•
viele Negativurteile über alte Menschen sind Folge
einer komplementären Interaktion, die
Unselbständigkeit fördert
Literatur:
-
Baltes MM, Montada L: Produktives Leben im Alter. Frankfurt/Main (Campus) 1996.
-
Staudinger U, Schindler I: Produktives Leben im Alter I: Aufgaben, Funktionen und Kompetenzen.
In: Oerter R, Montada L: Entwicklungspsychologie. Weinheim (Beltz PVU) 52002: S. 955 – 982.
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