RISIKEN MANAGEN MQ-Serie Risikomanagement (Teil 2 Prozess) Neue MQ-Serie Die neue Risikomanagement-Serie im MQ umfasst bis Juli 2009 folgende Beiträge: Teil 1 Grundlagen: Risikomanagement nach ISO 31000 Teil 2 Prozess: Prozess und Methoden der Risikobeurteilung Teil 3 Fallbeispiel: Risikopolitik, Risikomanagement-System Teil 4 Fallbeispiel: Gestaltung des Risikomanagements bei KMU Teil 5 Fallbeispiel: Wirksamkeitsnachweis im Risikomanagement Teil 6 Fallbeispiel: Der Beruf des Risikomanagers Prozess und Methoden Von Bruno Brühwiler Beispiel der Patientensicherheit Wissenschaftliche Untersuchungen in den USA zeigen, dass es um die Patientensicherheit in Krankenhäusern oft nicht zum Besten steht. Auch in Europa ist der Handlungsbedarf unbestritten. Gemäss der schweizerischen Taskforce «Patientensicherheit» Dr. Bruno Brühwiler, Geschäftsführer Euro Risk Limited, Experte in der ISO TMB Working Group Risk Management, Projektleiter ONR 49000 Serie, Talstrasse 82, CH-8022 Zürich, Tel. +41 (0)44 210 44 84, [email protected], www.eurorisk.ch MQ Management und Qualität 3/2009 treten schwerwiegende Schäden bei schätzungsweise 1 Prozent der ins Spital eingewiesenen Patienten auf. Fehler in der medizinischen Behandlung sollen jährlich zu etwa 1500 grundsätzlich vermeidbaren Todesfällen führen. Im Strassenverkehr liegt die Todesfallrate gerade noch bei ca. 400 Fällen pro Jahr, also um ein Vielfaches tiefer. Um die Risiken der Patientensicherheit in einem Spital zu kennen und sie in den Griff zu bekommen, muss man eine Risikobeurteilung durchführen. Alles klar – aber wie? Mehrere Methoden kommen für die Risikobeurteilung in Frage. Jede Methode hat Vor- und Nachteile (Grafik 2). Der Prozess Risikomanagement kann mit verschiedenen Methoden der Risikobeurteilung initialisiert werden. Weit verbreitet ist die SzenarioAnalyse. Die Worst-Case-SzenarioAnalyse Die Worst-Case-Szenario-Analyse hat zum Ziel, die grössten Risiken einer Organisation, im vorliegenden Beispiel der Patientensicher- ■ ■ Häufigkeit ■ unwahrscheinlich – einmal in zehn Jahren ■ sehr selten – einmal in drei Jahren ■ selten – einmal pro Jahr ■ möglich – einmal pro Quartal ■ häufig – einmal pro Monat Auswirkungen ■ unbedeutend – Patient unzufrieden, Sachschäden, Umtriebe ■ gering – leichte Verletzung, verlängerte Hospitalisation ■ spürbar – vorübergehender Gesundheitsschaden kritisch – bleibender Gesundheitsschaden katastrophal – Invalidität mit Pflegefolgen, Todesfall Wenn die grössten Risiken in die Risikomatrix eingetragen werden, ergibt sich beispielsweise ein Risikoprofil wie in Grafik 3. Zu den Risiken gehören etwa Verwechslungen von Patienten, Medikamenten, Befunden, Seiten und Blutgruppen. Jede Verwechslung kann tödlich ausgehen. Somit handelt es sich um ein klinisches Risiko mit katastrophalen Auswirkungen auf den Patienten. Das WorstCase-Szenario «Falsche Verabreichung von Arzneimitteln» wird in Prozess Risikomanagement Grafik 1 Start Zusammenhang erstellen Risiken identifizieren Risiken analysieren Risiken bewerten Ja Tragbar? Nein Risiken überwachen/überprüfen R isiken identifizieren, Risiken analysieren und Risiken bewerten, das alles fällt unter den Sammelbegriff «Risikobeurteilung». Dafür gibt es viele verschiedene Methoden, die der Risikomanager kennen und anwenden muss. Die hohe Schule des Risikomanagements besteht darin, die richtigen Methoden für einen bestimmten Sachverhalt auszuwählen und gegebenenfalls verschiedene Methoden der Risikobeurteilung miteinander zu kombinieren (Grafik 1). heit in einem bestimmten Spital, zu ermitteln. Diese sollen in einer Risikomatrix dargestellt werden. Die Risikomatrix ist wie folgt parametrisiert: Risiken kommunizieren Informationen austauschen Um Risiken zu analysieren und gezielt vorzugehen, muss man die Risikosituation kennen. Dabei helfen der Prozess Risikomanagement und passende Methoden. Am Beispiel der Patientensicherheit und -zufriedenheit wird die Abfolge von Tätigkeiten und Verknüpfungen deutlich. Risiken bewältigen Ende 17 RISIKEN MANAGEN Übersicht Methoden Grafik 2 Methode Rahmenbedingungen Vor- beziehungsweise Nachteile Root-Cause-Analyse Schaden ist schon eingetreten, lohnt sich nur bei grossen Schäden Auf Einzelfall konzentriert, keine allgemeine Gültigkeit, aufwendig Worst-CaseSzenario-Analyse Top-down-Ansatz mit Gefahrenliste, Risikoeigner sind die Führungskräfte Gesamtsicht der Risiken und Prioritäten (+), Risikoeinschätzung entspricht subjektiver Beurteilung (–) Critical Incidents Reporting System Anonymität, Freiwilligkeit, Sanktionsfreiheit, erfordert ein durch Vertrauen geprägtes Betriebsklima, Vorbild der Vorgesetzten, Einbezug aller Berufsgruppen Beim Vorliegen von vielen Meldungen über Fehler werden wertvolle Risikoinformationen gewonnen (+). Kann Fehlerkultur breit verankern Gefährdungsanalyse Bottom-up-Ansatz mit Prozessanalyse (ähnlich Prozess-FMEA) Hoher Detaillierungsgrad, in Verbindung mit dem Qualitätsmanagement kann grosse Wirkung erzielt werden Statistische Analysen Statistische Daten aus wissenschaftlichen Untersuchungen, meist externe Quelle, kann auch für interne Analyse eingesetzt werden Meist kaum Daten auf Spitalebene verfügbar (–), externe Daten sind nur ein Indikator der Risikoanalyse wie folgt beschrieben: «Medikamentenverwechslungen stellen einen folgenreichen Fehler dar. Oft werden die Verwechslungen zwar durch gezielte Kontrollen oder durch Zufall rechtzeitig entdeckt und Schaden wird verhindert. Viele Verwechslungen führen nur zu kleinen Beeinträchtigungen, ohne dass spürbare Gesundheitsschäden entstehen. Das Worst-Case-Risikoszenario besteht darin, dass ein Patient infolge einer Medikamentenverwechslung verstirbt oder dauernd pflegebedürftig wird. Die weiteren Konsequenzen sind zu- sätzlich zur menschlichen Tragik für Opfer und Verursacher Misstrauen, Haftungsansprüche, hohe Zusatzkosten und Reputationsschäden.» Medikamentenverwechslungen kommen – mit unterschiedlichen Folgen – häufig, also wöchentlich, monatlich, quartalsweise usw. vor. Wie soll nun dieses Risiko in der Risikomatrix behandelt werden? Lösungsansätze Wie ist das Risiko in der Risikomatrix einzutragen? Dazu gibt es mehrere Lösungsansätze: ■ Weil das Schadenpotenzial des Risikos, als Credible Worst Case betrachtet, in seiner Auswirkung katastrophal ist, müsste das Risiko mit der extremsten Auswirkung versehen werden. ■ Weil die Häufigkeit dieses Risikos durchaus hoch eingestuft werden kann, müsste auch die Eintrittswahrscheinlichkeit des Risikos in der Kategorie «häufig» liegen. ■ Wenn das Risiko eine Kombination von Wahrscheinlichkeit und Auswirkung ist, müsste das Risiko «Medikamentenverwechslung» in der Risikomatrix die extremste Position einnehmen. Ist das richtig und zweckmässig? Wohl kaum, denn die Einschätzung aller Risiken aufgrund dieser Risikoprofil (Patientensicherheit) Grafik 3 2 1 häufig 8 10 5 3 7 möglich 1 Sturz und Verletzung von Patienten 2 Informationsverlust bei Übergabe des Patienten 3 Verwechslung von Patienten 4 Falsche Verabreichung von Arzneimitteln 5 Überlastung der Anästhesisten 6 Fehldiagnose und Fehlbehandlung 7 Nosokomiale Infektion 8 Verlust von Patientendaten (Datenintegrität) 9 Nicht-Verfügbarkeit der IT 9 4 6 selten sehr selten unwahrscheinlich 10 Informations- und Betriebssicherheit der IT unbedeutend 18 gering spürbar kritisch katastrophal Logik würde zu einem pessimistischen, unrealistischen und unbrauchbaren Bild der Gesamtrisikosituation eines Krankenhauses führen. Es gibt dafür eine passende Lösung: Ein Risiko wird nicht nur als Worst-Case-Szenario mit einem Extrempunkt dargestellt, sondern ist von seiner Natur her eine Linie in der Risikomatrix. Das Risiko stellt sich in der Wirklichkeit so dar, dass es häufig ohne Folgen, oft mit begrenztem Schaden und eher selten mit der katastrophalen Auswirkung eintritt (Grafik 4). Das Verständnis des Risikos als eine Linie in der Risikomatrix ist hilfreich, weil realistisch. In der grafischen Darstellung wird jedoch oft darauf verzichtet, weil sonst die Risikolandschaft unübersichtlich würde. Risikobeurteilung heisst das Risiko verstehen Die Einschätzung von Risiken sollte auf der Grundlage von Daten (und nicht nur von Vermutungen) vorgenommen werden. Oft sind Daten kaum verfügbar, sondern nur Indikatoren, die die obige Darstellung des Risikos rechtfertigen. In der ONR 49002-2 «Leitfaden für die Methoden der Risikobeurteilung» wird bei den «Indikatoren-Analysen» das Critical Incident Reporting System (CIRS) beschrieben. Es findet vor allem im Gesundheitswesen breite Anwendung. Im Beispiel-Spital sind folgende CIRS-Daten vorhanden: ■ Insulin-Infusionsgerät ab 18 Uhr angeblich auf Stufe 1 gelaufen, bei Kontrolle um 21 Uhr aber auf Stufe 3. ■ Nach Blutzuckerkontrolle Insulin-Infusionsgerät irrtümlich von 2,5 auf 25 eingestellt. Nach einer Stunde den Irrtum bemerkt. ■ Insulin-Infusionsgerät wurde um 5 Stunden zu spät angeschlossen. ■ Infusionsgerät war bei der Morgenvisite auf 3 statt auf Stufe 8, MQ Management und Qualität 3/2009 RISIKEN MANAGEN Darstellung des Risikos als Linie Grafik 4 häufig = 1x/Monat möglich = 1x/Quartal selten = 1x/Jahr 4 sehr selten = 1x/3 Jahre unwahrscheinlich = 1x/10 Jahre unbedeutend gering wie auf der Intensivkurve dokumentiert. Standard nicht eingehalten. ■ Patient erhält Infusion mit etwa der doppelten als der eingestellten Förderrate (technischer Defekt am Gerät). Die Fehlfunktion wurde von der diensthabenden Krankenschwester erkannt und das entstandene Risiko für den Patienten minimiert. ■ Vom pflegerischen Nachtdienst wurde eine falsche Oralmedikation (die eines anderen Patienten) in den Dispenser eingeschachtelt. Von der ausgebenden Tagdienstschwester wurde bei der Medikamentenausgabe der Fehler be- spürbar kritisch katastrophal merkt (allerdings auch vom Patienten). ■ Die Intensivschwester dosierte das Infusionsgerät falsch, somit wurde eine vielfache Dosierung eines Katecholamins verabreicht. Trotz instabiler Kreislaufsituation musste die Behandlung abgebrochen werden, da die Patientin schmerzhafteste Ischämien an allen Extremitäten entwickelte. ■ Arzt teilt der Schwester am Gang mit, dem Patienten X ein Medikament zu verabreichen. Die Schwester hat den Arzt akustisch nicht ganz verstanden und kann nicht nachfragen, da der Arzt zu einem Notfall gerufen wird. Sie nimmt das Medikament, welches sie verstanden hat und das auch passen würde. Der Patient darf das aber aufgrund einer Unverträglichkeit nicht erhalten. Die im Zimmer anwesende Gattin macht die Schwester auf diesen Umstand aufmerksam. ■ Durch eine Fehlinformation im Zuge der Dienstübergabe wurde einem Patienten ein falsches Antibiotikum (Allergie!) intravenös verabreicht. Nach kurzer Zeit traten beim Patienten Hautrötungen auf. Die zuständige Krankenschwester stoppte die Infusion und kontrollierte die Anordnung in der Fieberkurve. Dabei bemerkte sie den Fehler. Der Patient erlitt keine weiteren Folgeschäden. Bei den Schadensmeldungen im Krankenhaus ist auch folgender Fall registriert, der den Credible Worst Case nun wirklich darstellt: Bei der morgendlichen Versorgung eines Patienten kam es zur irrtümlichen Verabreichung einer intravenösen Medikation durch einen Arzt in Ausbildung. Zwei Patienten, die aufgrund einer akuten Atemwegserkrankung behandelt wurden, waren betroffen. Während der erste Patient lediglich ein starkes Herzklopfen verspürte, verstarb der zweite Patient, der bereits einen schlechten Gesundheitszustand hatte, an der Folge der falschen Medikamentengabe. Dieses Beispiel zeigt, dass das Risiko «Medikamentenverwechslung» nicht allein als Credible Worst Case, sondern als Linie in der Risikomatrix dargestellt und verstanden werden kann. So werden Risikobeurteilungen realistisch und damit für die Risikoeigner besser verständlich. Schlussfolgerung Die Risikoidentifikation, Risikoanalyse und Risikobewertung erfolgen, um die Risiken zu behandeln und eine höhere Patientensicherheit und Patientenzufriedenheit zu erreichen. Um dabei gezielt vorzugehen, muss man die Risikosituation kennen. Dabei helfen der Prozess Risikomanagement und passende Methoden. Die Risikoeigner müssen die Risikoeinschätzungen bestätigen und die Ergebnisse umsetzen. Das Vorliegen eines Credible Worst Case ist für das Verständnis des Risikos oft unzureichend. Es müssen weitere Risikoinformationen aufbereitet werden, um das Risiko gezielt zu bewältigen. Die Kombination von mehreren Methoden der Risikobeurteilung, im obigen Fall CIRS und Risikoszenario, stellt eine wichtige Voraussetzung dar, um (wie im vorliegenden Fall) die Patientensicherheit zu verbessern. ■ Anzeige MQ Management und Qualität 3/2009 19