Die Bodhisattva-Passage

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Die Bodhisattva-Passage
Letztes Mal haben wir uns mit der Transzendenz des Bodhisattva- bzw. Buddha-Begriffs
auseinandergesetzt, und in der anschließenden Diskussion wurde kritisiert, dass ich einen so
modernen Begriff wie Transzendenz überhaupt ins Spiel gebracht habe. Ich stimme der Kritik
eigentlich ganz zu. Diesen Begriff sollte man eher einen Abgriff nennen, denn er ist durch
jahrhundertelangen Übergebrauch so breitgeredet worden, dass niemand ihn ohne ein
Philosophiestudium mehr versteht, und ich lege meine Hand ins Feuer: würde man eine
philosophische Konferenz zur Definition des Transzendenzbegriffs veranstalten, wäre schon
nach fünf Minuten die unversöhnlichste Diskussion im Gange. Warum sollte man einem alten
Text, zu dessen Sprache der Transzendenzbegriff nicht gehört, diesen Ballast aufladen?
Ich hatte zwei Gründe: zum einen wollte ich Hans Wolfgang Schumanns Redeweise vom
Transzendenzbuddhismus aufnehmen, um auf diese Weise eine bestimmte Tendenz im
westlichen Buddhismus zu kritisieren. Zum anderen scheint es mir, dass der Ursprung dieses
Begriffs, das lateinische Wort transcendere "hinüberschreiten" durchaus sehr nahe an das
herankommt, was die buddhistischen Quellen sagen.
[Bild 1]
Der Steinpfeiler von Bharhut, immerhin eines der ältesten Zeugnisse des Buddhismus, zeigt
einen über einer Schlafenden schwebenden Elefanten. Ein Brahmane oder der Gott Brahma
selbst zeigt im Hintergrund eine Geste der Verehrung. Es gibt wohl keine unschuldigere
Weise, wie man das Hinüberschreiten eines "großen Wesens" vom Himmel auf die Erde
darstellen könnte. Trotzdem verspreche ich in Zukunft das Wort "Transzendenz" zu meiden
und will lieber vom "Heraustreten in die Welt" oder einem "Erscheinen und Sich-Zeigen"
reden.
Ein Wesen, das in die Welt heraustritt, spricht anders als die Wesen der Welt. Seine Rede ist
"letzte Wahrheit", während unsere Rede - so wissenschaftlich sie sein mag - "vorläufig und
falsch" ist. Dieses Verständnis liegt vielen Religionen zugrunde, und wir spüren, dass es
problematisch ist. Wie kann ein Text so apodiktisch zu uns sprechen? Ist das nicht
Dogmatismus? Gerade auf diesen Einwand reagiert Hans Wolfgang Schumann: er glaubt im
Buddha endlich einen Religionsstifter gefunden zu haben, der mit uns auf gleicher Ebene
spricht. Alles Spekulative, das zu der Fülle religiöser Dogmen führt, ist abgetan. Seine Lehre
bleibt "immanent", wir müssen uns nur unseres Verstandes bedienen, um ihr zu folgen: dann
können wir sie "praktizieren". - Der Steinpfeiler aus Bharhut zeigt, dass es so einfach nicht ist.
- Bevor ich die Bodhisattva-Passage weiterbehandele, möchte ich noch ein wenig über die
Form des Sūtras sprechen.
Das Sūtra als Gewebe
Schon die deutsche Sprache verrät ein Bewusstsein für diesen Sachverhalt: Wörter und
Zeichen, die unter gewissen Regeln verknüpft werden, verbinden sich zu einem Satz, aus
vielen Sätzen wird aber ein Text. Der Text ist gleichsam eine Textilie, ein Gewebe, in dem
kleinere Einheiten wie Wörter in einem Zusammenhang gebracht sind und erst durch diesen
Zusammenhang wird der Text zum Text, vermittelt er den ihm eigenen Sinn.
[Bild 2]
Das Wort Sūtra wird in Indien für eine ganze Reihe von abhandlungsartigen Lehrtexten
verwendet, in seiner Grundbedeutung bedeutet es aber „Faden“. Als die ersten Übersetzer ins
Chinesische im zweiten Jahrhundert n.Chr. nach einer Übersetzung dieses Begriffs für die
ganze Literaturkategorie suchten, entschieden sie sich sofort und endgültig für das Zeichen
jing (j. kyō 經), dessen linke Hälfte einen Faden und rechte Hälfte einen Webrahmen zeigt.
Im Gegensatz zu Indien hatte China damals schon eine lange Schriftkultur, und das Zeichen
1
wurde auch für eine ganze Reihe von klassischen Texten verwendet, z.B. trägt Laozis
berühmtes Daodejing dieses Zeichen im Titel. In China, wo man schon früh auf Leinentücher
schrieb, steht dieses Zeichen anfangs wohl für die schriftliche Textform im Besonderen.
Andererseits gab es schon im zweiten Jh. vor Christus Bibliotheken, die mit der Edition von
Werken beschäftigt. Der Vorgang des Editierens, Kommentierens und Bibliographierens
gleicht ebenfalls einem Verweben. Das Zeichen jing stellt ja eigentlich nur den senkrechten
Faden. Damit ein Gewebe entsteht muss man noch die waagrechten Fäden hineinflechten. Das
deutet auf den hohen Stellenwert hin, den die verschiedenen Formen von Kontextualität in
China haben. 1 Es gibt Kommentare und Subkommentare zu jedem bedeutenden klassischen
Werk, die sogenannte Metatextualität. Es gibt ein Bewusstsein für Textzitate, die sogenannte
Intertextualität. Ferner verfasste man gerne Begleittexte wie Vorworte, Überschriften,
Kolophone usw. - die sogenannte Paratextualität. 2 Angenommen die Bodhisattva-Passage
wäre erst in China an der vorliegenden Stelle eingefügt worden, dann wäre sie ein solcher
Paratext, ein nicht besonders markierter Begleittext (dessen indische Herkunft gar nicht in
Frage gestellt werden soll). Es gibt viele Hinweise dafür, dass die Chinesen, wenn sie
Übersetzungen anfertigten solche Textarbeit, die sie in ihrer Kultur gewohnt waren, gleich
mitvollzogen. Das ging soweit, dass sie ganze Kommentare in den Sūtrentext hineinschrieben.
Das Recht, editorisch zu arbeiten, nahmen sie sicherlich von den Indern, die, wie wir gesehen,
haben Sūtren nach der Modulbauweise zusammenstellten. Dennoch wird die
Herangehensweise der Inder eine ganz andere gewesen sein. Denn die Inder hatten lange
Vorbehalte gegen die Verschriftlichung. Die frühesten Mahāyāna-Sūtren gehören zugleich zu
den frühesten buddhistischen Schriften, und die Kommentarliteratur setzt erst viel später ein.
Damit fehlte den Indern ein gutes Stück Erfahrung mit der Schriftkultur und alles, was wir
heute machen, wenn wir die Texte zerlegen und auseinander deuten, war den Indern ziemlich
fern.
Sūtren werden rezitiert. Der gesprochene Text ist immer eine Performance: man kann ihn
durch Glockenschläge gliedern, verschieden rytmisieren, Melodien einführen, ja sogar
szenisch aufführen. Trotzdem bleibt alles auf der Ebene des Textes: die Metaebene ist schwer
darzustellen und wird in den buddhistsischen Sūtren nur selten versucht. Wo es doch einmal
geschieht und der Buddha einen Satz sagt wie: "Dies alles habe ich im Lotossūtra schon
erklärt" liegt es nahe an chinesische Redaltionsarbeit zu denken. - Dies unterscheidet sich
übrigens sehr stark von der jüdisch-christlichen Textkultur, aus deren Überleiferung wir viele
Formulierungen kennen wie "Darum steht geschrieben, dass ...".
Im Sūtra wird alles auf die gleiche Ebene gerückt, alles wird zum Buddhawort, und doch gibt
es Strategien, durch die Beziehungen hergestellt werden und andere Texte anwesend sind.
Aus meiner persönlichen Leseerfahrung möchte ich behaupten, dass man den Begriff des
Sūtras am besten versteht, wenn man die Metapher so wortnah wie möglich deuten. Ein Sūtra
ist eine Textilie aus Worten.
Der Norden Indiens, der für die Entstehung der Reines-Land-Sūtren vornehmlich in Frage
kommt, und die Region Kaschmir im Besonderen, aus der nachweislich zahlreiche Übersetzer
von Mahāyāna-Sūtren stammten, ist bis heute berühmt für seine Teppichweberei. Die
Skulpturen und Reliefs der Gandhara-Kunst zeigen in vielen Fällen wertvolle Textilien.
[
Der älteste Teppich der Welt, den man heute in der St. Petersburger Eremitage bewundern
kann, stammt aus dem Grab eines Skythenfürsten in Pazyryk (Südsibirien), das sich auf das 3.
oder 4. Jahrhundert v.Chr. lässt. Leider ist er ein Zufallsfund, der sich durch Eiskonservierung
erhalten hat. Danach gibt es einen Hiatus von tausend Jahren, aus denen keine Funde bekannt
1
2
Hier verdanke ich viel dem persönlichen Gespräch mit Dr. habil. Röllicke.
Lehnert, Martin: Die Strategie eines Kommentars zum Diamant-Sūtra. (Wiesbaden: Harrassowitz).
2
sind. Darum muss die Frage, ob in der Lebenswelt, aus der die Mahāyāna-Sūtren
hervorgegangen sind, schon eine Kultur des Teppichwebens existierte, offen bleiben.
Vielleicht zeigen die Gandhara-Kunstwerke nur wertvolle Tücher. Aber der Unterschied
zwischen Tuch und Teppich, ist für unseren Zusammenhang nicht entscheidend. Ich will mich
trotzdem aud die Teppiche beziehen, da sie die eindrucksvolleren Beispiele für die
Formprinzipien liefern, auf die es mir hier eigentlich ankommt.
[Bild 7 und Bild 8]
Auf dem Teppich von Pazyryk befindet sich in der Mitte ein Rechteck, das in 4x6=24
Quadrate unterteilt ist, in die eine Art Kreuzmuster eingewoben ist. Fünf breite Bordüren
laufen um diese Mitte herum, wobei sie jeweils durch mit Punkten verzierte Bänder
gegeneinander angesetzt sind. Die äußeren Bänder enthalten Kassetten, in denen ein Tier oder
ein Reiter dargestelllt ist. Auf der zweiten Bordüre von innen ziehen (soweit ich es zählen
konnte) 24 Hirsche im Uhrzeigersinn entlang. Die dritte Bordüre greift das Kreuzmuster der
Mitte in verkleinerter Form wieder auf. Die vierte Bordüre ist die breiteste und
auffallendendste: 28 Reiter reiten oder führen ihr Pferd im Gegenuhrzeigersinn. 3
Schon dieser Teppich zeigt einige Gestaltungsprinzipien, die sich auf späteren Teppichen
wiederfinden (obwohl eine Kontinuität bisher nicht nachgewiesen wurde) und zum Vergleich
mit dem Aufbau eines Sūtras einladen:
1. Erstens ist der Teppich rythmisiert, d.h. Zahlen bestimmen seine Ordnung. Auch Sūtren
werden erzählt, sie enthalten viele abzählbare Routinen. Diese dürften ursprünglich aus
mnemotechnischen Gründen verwendet worden sein, so wie beim Teppichweben der einzelne
Knoten gleichsam den Takt vorgibt. Auch die Teppichweber singen gelegentlich ihre
Knüpfkomposition vor sich hin. Dennoch sind sowohl der Teppich, als auch das Sūtra so
komplex, als dass ihre Rhytmisierung ganz eigenen Prinzipien folgt. Die Zahlenordnungen
auf dem Teppich von Pazyryk folgen einer Symmetrie, die sicherlich nichts mit dem
Knüpfrhytmus zu tun hat. Ebenso folgen die meisten Mahāyāna-Sūtren zwar einer strengen
Ordnung, sie sind aber nicht so mechanisch, dass sie darum leichter zu merken wären.
[Bild 9]
2. Die zweite Ähnlichkeit betrifft den Raumaufbau: Teppiche sind pointillistisch: sie sind wie
ein Gemälde von Seurat oder das Pixelbild eines Bildschirms. Jeder einzelne Punkt ist von
acht Nebenpunkten umgeben, weshalb für Knüpfkompositionen insbesondere vertikale,
horizontale und diagonale Linien von Bedeutung sind. Vierecke, Sechsecke, Achtecke, die
sich leicht mit diesen Grundlinien darstellen lassen findet man auf Teppichen sehr oft.
Fünfecke, die Platon so liebte, aber sehr selten. Dasselbe gilt auch für die buddhistische
Architektur Indiens, z.B. die Stupas, die oft achteckige Grundformen haben, aber nie
dreieckige oder fünfeckige. In den Sūtren spricht man von den acht Himmelsrichtungen, die
noch durch oben und unten ergänzt werden.
[Bild 10]
3. Drittens gibt es auf Teppichen das Prinzip der variierten Wiederholung. Ein und dasselbe
Motiv wird in den verschiedensten Bereichen des Teppichs dargestellt: Die Größe des Motivs
variiert, die Farbkomposition, die auf wenige Grundfarben eingeschränkt sind, permutiert,
aber immer ist die Wiedererkennbarkeit gegeben.
4. Viertens ist ein Teppich abstrakt. Da die Zahl der Farben und die Möglichkeiten der
Liniendarstellung begrenzt sind, kann ein Gegenstand zwar dargestellt werden, aber alles
muss auf das Wesentliche verkürzt sein. Je kleiner das Motiv im Vergleich zur Größe des
Knotens wird, umso abstrakter muss die Gestaltung sein.
5. Fünftens kann ein Teppich durchaus eine Geschichte erzählen. Aber er muss sie in Bilder
auflösen und innerhalb jedes Bilds herrscht streng die Einheit der Zeit. Auch die Sūtren sind
durch Zeitwörter gegliedert, die ihren Ablauf merkwürdig statisch erscheinen lassen. In einer
3
Anquell, Jacques 2003[1994]: Carpets. Techniques, Tradition and History (London: Octopus)
3
guten deutschen Erzählung müssen die Konjunktionen sprudeln, sie dürfen niemals
vorhersehbar sein. In einem Sūtra ist die Vorhersehbarkeit des einer Zeitansage wie "Zu
dieser Zeit" das Gestaltungsprinzip. Sie sind wie die Pünktchenstreifen auf dem Teppich von
Pazyryk.
Ein Beispiel: die Darstellung des Reinen Landes
Um das gesagte zu erläutern, sei mir ein Vorgriff auf ein späteres Kapitel erlaubt. Im Zweiten
Band unseres Sūtras gibt es eine Schilderung der Bäume des Reinen Landes. Zuvor muss ich
erwähnen, dass eine Landschaftsschilderung in der indischen Literatur durchaus lebendig sein
kann. Im Ramayana werden an verschiedenen Orten wunderschöne Plätze der Einsiedler
beschrieben, wobei eine Fülle von Tieren und Pflanzen genannt werden.
Im Großen Sūtra aber lesen wir:
"Ferner ist (6)dieses Gebiet eine Welt, die ganz von Bäumen aus den sieben Kostbarkeiten
erfüllt ist: es gibt Bäume aus Gold, Bäume aus Silber, Bäume aus Lapislazuli,
(7)Bäume aus Bergkristall, Bäume aus Koralle, Bäume aus Achat, Bäume aus Venusmuschel.
(8)Jeweils zwei, drei, bis hin zu sieben Kostbarkeiten setzen sich nach und nach zu einem
(9)Baum zusammen. Es gibt goldene Bäume mit silbernen Blättern, Blüten und Früchten und
silberne Bäume mit goldenen Blättern, Blüten und Früchten. Ebenso gibt es LapislazuliBäume (10)mit Blättern, Blüten und Früchten aus Bergkristall und Bäume aus Kristall
(11)mit Blättern, Blüten und Früchten aus Lapislazuli. Es gibt Korallen-Bäume mit Blättern,
Blüten und Früchten aus Achat (12)und Achat-Bäume mit Blättern, Blüten und Früchten aus
Lapislazuli. Auch gibt es Venusmuschel-Bäume, usw.usf"
Die Bäume werden also in bestimmte Segmente - Blätter Blüten Früchte - unterteilt, und
diesen Segmenten werden bestimmte Schätze zugeordnet. Daraus entwickelt sich eine
litaneiartige Aufzählung.
In der ältesten Version des Sūtras dem Sūtra des Großen Amida, ist dieser Abschnitt im
Ganzen gesehen kürzer, aber die Vorgehensweise ist noch klarer und erinnert noch stärker an
das Weberhandwerk. Das Sūtra unterteilt die Bäume in sechs Segmente - Wurzel, Stamm,
Äste, Blätter, Blüte und Früchte, denen jeweils genau ein Schatz zugeordnet wird. Aus der
enormen Zahl der so entstehenden Permutationsmöglichkeiten (es sind immerhin 76=117649!)
wählt das Sūtra 26 als Baumtypen aus. Z.B. gibt es im Reinen Land nach Überlieferung dieses
Sūtras (und im Widerspruch zum eben zitierten Text!) nur zwei Baumtypen, die aus zwei
Schätzen zusammengesetzt sind:
"Unter die Bäumen gibt es solche, bei denen zwei Schätze zusammen einen Baum ergeben:
[Es gibt] silberne Bäume mit silbernen Wurzeln, goldenen Stämmen, silbernen Ästen,
goldenen Blättern, silbernen Blüten und goldenen Früchte. [Es gibt] goldene Bäume mit
goldenen Wurzeln, silbernen Stämmen, goldenen Ästen, silbernen Blättern, goldenen Blüten
und silbernen Früchten." (305a8-a10)
Das ganze Schatzschema (um das Wort "Farbschema zu vermeiden) des Sūtras ist wie folgt:
Wurzel
Stamm
Äste
Blätter
Früchte
Blüte
Gold
Silber
Gold
Gold
Gold
Gold
Gold
1SchatzBäume
4
Kristall
Lapislazuli
Weißjuwel
Bernstein
Venusmuschel
2SchatzBäume
Silber
Gold
Kristall
Gold
Silber
Lapislazuli
Lapislazuli
Silber
Gold
Kristall
Silber
Gold
Kristall
Gold
Silber
Lapislazuli
Kristall
Gold
Silber
Lapislazuli
Lapislazuli Kristall
Lapislazuli
Kristall
Kristall
Lapislazuli
Lapislazuli
Kristall
Gold
Gold
Silber
Silber
Kristall
Kristall
Lapislazuli
Lapislazuli
Silber
Gold
Kristall
Silber
Kristall
Silber
(Koralle)
Koralle
Gold
Gold
Kristall
Lapislazuli
Koralle
Lapislazuli
Koralle
Lapislazuli
Koralle
Kristall
Kristall
Lapislazuli
Lapislazuli
Silber
Gold
Gold
Gold
Silber
Silber
Lapislazuli
Koralle
Lapislazuli
Silber
Gold
Kristall
Koralle
Bernstein
Gold
Silber
Kristall
Bernstein
Koralle
Kristall
Lapislazuli
Lapislazuli
Koralle
Koralle
Bernstein
Lapislazuli
Lapislazuli
Bernstein
Kristall
Silber
Gold
Gold
Silber
Silber
Gold
Kristall
Koralle
Bernstein
Gold
Kristall
Bernstein
Silber
Kristall
Lapislazuli
Lapislazuli
Koralle
Lapislazuli
Koralle
Koralle
Bernstein
4SchatzBäume
5SchatzBäume
Silber
6SchatzBäume
7SchatzBäume
?
Weißjuwel
Bernstein Venusmuschel Weißjuwel
Lapisla- Venusmuschel Hellerzuli
Mond5
Bernstein
Weißjuwel
Koralle
Weißjuwel
Venusmusche Koralle
Lapislazuli
Bernstein
Kristall
Juwel
(Mani?)
Gold
Gold
Mani
[Bild 12]
Die Ähnlichkeit zur Teppichweberei ist offensichtlich: es gibt eine begrenzte Zahl von
"Schätzen" -nämlich 7, im Gegensatz zu den 8 Farben die auf vielen Teppichen verwendet
werden - und die Auswahl der Schätze folgt sogar oft dem Prinzip der "Inversionsfarbe", die
einen schönen Kontrast ergibt.
[Bild 13 und Bild 14]
Ich möchte die Bäume im Sūtra nicht als Ornamentbäume auf einem Teppich deuten. Es ist ja
vollkommen unklar, welche Farben den sieben Schätzen entsprechen. Wenn man der Frage
nachgeht, ist die Überlieferung so verwirrend, dass Zweifel daran aufkommen, ob überhaupt
Farben gemeint sind. Ich weiß bis heute nicht, ob mit Koralle eine rote oder weiße gemeint ist
(vermutlich eine rote!) Oder welcher Farbe entspricht der Kristall? Ist Vaidūrya wirklich
Lapislazuli? Lapislazuli aus Afghanistan? Was ist Maṇi? Jeder Edelstein? Der Edelstein
schlechthin? Findet man diesen Stein überhaupt in unser schnöden Welt? Die Chinesen, die in
ihren kaiserlichen Schatzhaus sicherlich höchste Ordnung wahrten, haben sich jedenfalls nicht
sehr gekümmert, uns zu überliefern, wie das alles "vorzustellen" ist - was im Übrigen sehr
gegen eine Deutung dieser Texte als "Visualisationstexte" spricht. - Ich wollte nur darauf
hinweisen, dass das Erzählprinzip eines Sūtras, auf eine ähnliche Weise wie die
Teppichweberei geschieht.
Im Sūtra des Großen Amida bleibt es bei den einfachen Schatzpermutationen der Bäume. Im
Sūtra es Unermesslichen Lebens aber folgt eine Darstellung des Bodhibaums des Buddha
Amida:
"(2)Außerdem ist der Baum vom Ort der Weg[findung] des Buddha der Unermesslichen
Lebens vier Millionen li hoch und der Umfang seiner (3)Wurzeln fünftausend Yoyanas [weit].
Seine Beugen, [Äste] und Blätter breiten sich zweihunderttausend li in die vier
Himmelsrichtungen aus. Alle (4)Kostbarkeiten setzen sich von selbst zusammen. Mit dem
Mondlicht-Mani und der Ozean-haltenden-Radkostbarkeit, die die (5)Könige der
Kostbarkeiten sind, bilden sie den Schmuck. Um seine Zweige herum hängen kostbare
Girlanden , ihre hundert, tausend, (6)zehntausend Farben sind von Fall zu Fall verschieden
und ändern sich. Unermessliche Lichtfunken strahlen hell und ohne Grenze."
Die zuvor erwähnten Schatzbäume sind Miniaturen, dieser Baum aber ist wahrhaft
großformatig.
Zwei Dinge möchte ich an dieser Stelle allein des Interesses halber hinzufügen, obwohl sie
ein wenig von unserem Thema wegführen.
1. Aus der fundelosen Zeit in den der tausend Jahre nach dem Teppich von Pazyryk gibt es
schriftliche Quellen, die von Teppichen sprechen (sofern sich die Bedeutung des Wortes nicht
verändert hat). Eine Quelle berichtet von einem besonders prachtvollen Teppich des
Sasaniden-Herrschers Khosrau I, der von 531 bis 579 n.Chr. regierte. Dieser sogenannte
"Frühlingsteppich von Khosrau", der oft im Winter die Audienzhalle des Palastes von
Ctesiphon schmückte, stellte das Paradies auf Erden dar: "Es hatte die Gestalt von
6
ausgedehnten Gärten mit Obstbäumen, Blumenbeeten und Weizenfeldern und war
durchzogen von Bewässerungskanälen. Der Gesamteindruck wurde verstärkt durch unzählige
Perlen, Emeralde und Rubine, die an die Stelle von Früchten und Blumen traten. Steinkristalle
trugen zur Authenzität des Wassers in den Kanälen bei und große Emeralde verstärkten das
Grün der Wiesen." 4
[Bild 15]
In Jacques Anqetils lesenswertem Buch findet sich auch auch die Abbildung eines
Perserteppichs aus dem 17. oder 18. Jahrhundert, der an eine solche Paradieswelt erinnert.
Okogonalen Zentren entsprießen jeweils vier "Lebensbäume" mit bunten Blättern und Vögeln.
Jacques Anqetil schreibt: " In der muslimischen Welt wird die Ewigkeit nicht nur durch die
Architektur der Miniatur ausgedrückt, sondern auch wie im Falle des Teppichs "Frühling von
Khosrau" durch die Verzierung eines Teppichs, der an das Paradies (den Garten Eden)
erinnern soll. Im Koran besteht das Paradies aus vier Gärten die von der Sufi-Mystik der
Garten der Seele, der Garten des Herzens, der Garten des Geistes und der Garten des Seins
genannt werden. Diese vier Gärten entsprechen den vier Stationen der Sufi-Initiation; sie sind
also die vier Qualitäten, die in einem 'perfekten' Teppich anwesend sein müssen."
Welche Beziehungen es zwischen unserem Text und dem Paradiesdarstellungen im
Zoroastrismus und Islam gibt, darauf zu antworten bin ich vollkommen außerstande. Es ist
meines Wissens auch noch nicht allzu viel Wissenschaftliches darüber geschrieben worden,
wie der Buddhismus in Pakistan und den Ländern Zentralasiens vom Islam abgelöst wurde. In
der "Neuen Reihe über die Geschichte des Buddhismus in Asien" des Kosei Verlags
behandelt ein einziges Kapitel die Koexistenz des späten indischen Buddhismus mit dem
Islam. Hosaka Shunji weist darin darauf hin, dass sich der Buddhismus nicht nur immer mehr
dem Hinduismus anpasste, sondern auch dass Konversionen zum Islam sehr häufig waren. Im
Buddhismus dieser Tage gab es also zweifellos irgendeine Offenheit dem Islam gegenüber,
irgendetwas auch Intellektuell Verwandtes, was dann auch Spuren hinterlassen haben mag.
Wer außer Chinesisch und Sanskrit, auch noch Arabisch und Persisch beherrscht, dem steht
hier ohne Zweifel ein interessantes Forschungsgebiet offen...
2. Die genaue Formanalyse hat große Auswirkungen darauf, wie wir Sūtren lesen und
verstehen müssen. Natürlich sagt unsere Erkenntnis der Form des Sūtras nichts über den
Wahrheitsgehalt des Sūtras aus. Das Sūtra "vergegenwärtigt" (nen 念) etwas, aber es tut das
nicht in Form eines Erinnerungsfotos (j. kinen shashin 記念写真) und nicht einmal in Form
einer Malerei, wie wir sie von den Reines-Land-Mandalas kennen. Kein Reines-LandMandala gibt die "Farbe" der Bäume korrekt wieder! Das Sūtra vergegenwärtigt uns etwas im
Format eines Worte-Teppichs.
[Bild 16]
Unter anderem wird die Frage nach dem historischen Buddha, die von der westlichen
Forschung aufgeworfen wurde, wird von dieser Erkenntnis tangiert. Was passiert nämlich,
wenn alle Überlieferungen, die vom Buddha Shākyamuni sprechen, mehr oder minder
"Teppichformat" haben? Kann das Teppichformat Historisches bewahren?
Die erste Antwort auf die Frage ist ein klares Nein. Dies liegt an dem Prinzip der Abstraktion
des Teppichs. Eine Blume auf einem Teppich ist keine Blume, denn sie entsteht aus den Farbund Symmetrienotwendigkeiten des Teppichs selbst. Kein Botaniker wird auf einem
Perserteppich irgendetwas Sinnvolles herauslesen können.
Im Teppich verkörpert sich ein ungeheuer geistiges Prinzip, die Mathematik rückt nahe. Der
Teppich ist ein Bild auf dem Wege zur Musik. Zur Recht zitiert Anquetilden persischen
Mystiker Rumi, der über die musikalischen Kadenzen der Weber spekulierte, sie seien in ein
Mysterium gehüllt: "Könnte ich dieses Myterium lösen, so würde es die Welt auf den Kopf
stellen."
4
Anquell 2004, S.10
7
Der Teppich ist so abstrakt, dass er wirklich eine ganz eigene Welt schaffen kann. Als
Beispiel möchte ich das schon gezeigte Boteh nennen. Es ist eine meist mandelförmige Form,
die mal einer Flamme, mal einem Palmblatt, mal einem Auge, mal einem Wipfel gleicht. 5 Das
Boteh-Ornament aus Aserbeidschan erinnerte mich - und das ist ein wahrscheinlich ganz
subjektiver Eindruck - an die Bäume im Reinen Land. Aber was ist es eigentlich? Irgendwann
ist das Boteh einmal aus irgendeinem Gegenstand abgeleitet worden, aber die Menschen
haben es vergessen. Und jeder Teppichknüpfer hat nun seinen eigenen Muster, die mal mehr
in die eine oder die andere Richtung Ähnlichkeit zeigen. Unser aserbeidschanisches Boteh ist
von der Mandelform selbst schon so weit entfernt, dass man wohl erst im Vergleich mit
anderen aserbeidschanischen Botehs das Muster klar als Boteh identifizieren kann.
Es ist sehr wichtig, diese Abstraktion des Textes, die keine vordergründige Realdeutung
erlaubt, im Hinterkopf zu bewahren, wenn man buddhistische Texte liest. Zahlreiche
Bodhisattva-Erzählungen, die man in den Sūtren lesen kann, erzählen uns nach heutigen
Begriffen von Psychopathen. Kaiser Aśoka - zwar kein Bodhisattva, aber immerhin ein
buddhistischer Weltherrscher - ist nach der Schilderung des Aśokāvadāna sogar ein
gefährlicher Psychopath. Bucklicht und fies wie Shakespeares Richard III lässt er selbst nach
seiner Bekehrung zum Buddhisten Andersgläubige in Scharen umbringen. Wehe dem, wer
diesen Text als Darstellung eines idealen Herrschers im Buddhismus missversteht! War der
historische Aśoka wirklich so? Aśoka war aus Sicht der Überlieferung ein CakravartimHerrscher, von denen es nach Vasubandhu vier Sorten gibt: einen Cakravartin mit goldenem
Rad, einen mit silbernem Rad, einen mit kupfernen Rad und einen mit metallenem Rad- unser
Teppich hat also vier Segmente. 6 Der Cakravartin mit goldenem Rad beherrscht alle vier
Kontinente, er trägt die Zeichen eines Großen Wesens, alle konkurierenden Könige
unterwerfen sich ihm ohne Streit. Aśoka war aber ein Cakravartin mit eisernem Rad, der nur
den südlichen Kontinent, also unsere Menschenwelt beherrscht und der ein "Sieger durch das
Schwert" ist - demzufolge hatte er einen Buckel und war grausam selbst nach seiner
Bekehrung. Weil die Ornamentblume auf der einen Seite weiß ist, muss die andere schwarz
sein...
Dennoch kann auch ein Teppich historische Erfahrungen weitergeben. In den neueren
Teppichen aus Afghanistan spiegelt sich der langjährige Krieg. Panzer und Kampfflugzeuge
umkreisen Moscheen.
[Bild 17]
Auf einem Teppich der aus Herat stammt, rollenn auf der äußeren Bordüre diverse Kettenund Radfahrzeuge (ihre Anordung ist durchaus vergleichbar der Reiterbordüre des Teppichs
von Paryzyk!). Im Hauptfeld des Teppichs sind allerhand leichtere Waffen wie Handgranten
dargestellt, ein Panzerspähwagen und Raketenwerfer sind klar zu erkennen. Zwei
Lebensbäume sprießen aus einem schwarzen Untergrund. Alles ist sehr abstrakt, und wüssten
wir nicht, dass das Buch, dem ich die Reproduktion entnommen habe, aus dem Jahr 2000
stammt, hätten wir wohl Schwierigkeiten zu bestimmen, ob russische, amerikanische oder
deutsche Panzer dargestellt sind. Eine einzige Panzerabwehrrakete stößt ins Feld der äußeren
Bordüre vor. Es herrscht tatsächlich Krieg zwischen den beiden Bereichen. Der Teppich ist
offensichtlich Zeugnis eines militärischen Konflikts, der ziemlich assymetrisch ist, und
gleichzeitig drückt er die Hoffnung seiner Überwindung aus.
Es ist äußerst voreilig, wenn man aus der abstrakten "teppichartigen" Form, in der die
buddhistische Überlieferung vorliegt, schließen möchte, dass alles nur selbstreferetiell, auf die
"Teppichwelt" und nicht auf irgendeine historische Erfahrung bezogen ist. Sobald die
abstrakte Form der bekannt ist, kann man freilich jedes beliebige Detail der Überlieferung als
5
vgl. Deutsche Wikipedia
John Strong 1983: The Legend of King Asoka: A Study and Translation of the Asokavadana (Princeton: Princeton Univerity Press), S.50
6
8
historisches Fakt infrage stellen. Jedes konkrete "Was", jede Geschichte, die im Leben des
historischen Buddha geschehen sein soll, verliert ihren Anspruch, als historische Tatsache
gelten zu können. Aber das "Dass" des historischen Buddha bleibt davon unberührt. Die
historische Tatsache des Afghanistan-Kriegs drückt sich in den Teppichen aus, auch wenn
kein einziges Element des Teppichs auf etwas Konkretes bezogen werden kann. Dass sich das
Interesse der afghanischen Teppichknüpfer nun neuartigen Motiven zuwendet, könnte
natürlich daran liegen, dass ihnen ein Werbeprospekt der Firma Krauss-Maffei in die Hände
gefallen ist. Aber das gleichzeitige Erscheinen so vieler ähnlich gestalteter Teppiche
entspricht einer kollektiven, äußerst leidvollen Erfahrung.
Zweitens, ist der Buddhismus - im Gegensatz zum Christentum - eine Religion, die von
Anfang an ein gutes Verhältnis zu den Herrschenden pflegte: Aśoka förderte ihn und auch
schon diverse Sūtren erwähnen königliche Mäzene des Buddha. Darum kann die Versuchung
bestehen, den historischen Buddha zu leugnen, und den ganzen Buddhismus als eine Art
staatlich und priesterlich inszenierten religiösen "Paradigmenwechsel" darzustellen. Aber
auch wenn Religionspolitik großen Einfluss auf die Gestalt einer bestimmten Religion hat,
entstehen Religionen nicht durch einen staatlichen oder theologischen Entwurf. Woimmer so
etwas in der Geschichte dieser Art vollzogen wurde - z.B. in der Amarna-Zeit oder zur
französichen Revolution - ist es nicht zur Traditionsbildung gekommen. Die Masse der
Menschen muss etwas sehen, sonst zieht sie nicht mit.
Drittens spricht die Form der Überlieferung dagegen: wir haben gesehen, dass sie nach der
Modulbauweise geschieht, was sich leicht erklären lässt, wenn man den Anfangszustand als
einen zerbrochenen auffasst: viele Menschen erinnerten sich an den Buddha auf
fragmentarische Weise. Wäre der Buddhismus eine aus irgendwelchen staatlichen
Erwägungen heraus entworfene Religion so müsste man von einer hohen Einheit am Anfang
ausgehen.
Viertens kann von dieser Einheit gerade zur Zeit des Kaiser Aśoka keine Rede mehr sein.
Aśoka musste schon Kompromisse zwischen auseinandergebrochenen buddhistischen
Strömungen aushandeln.
Fünftens ist er Reliquienkult etwas sehr Ungewöhnliches. Er bezog sich in der antiken Welt
immer auf konkrete Personen z.B. Kyros, Maussolos, Alexander der Große...Von Zeus wurde
keine Asche verehrt.
In der Wissenschaft weiß man übrigens oft um das "Dass", ohne dass das "Was" noch eine
wissenschaftliche Frage wäre. Die indoeuropäische Sprache kann man noch bis zu einem
gewissen Grade rekonstruieren, aber eine Sprache, die, sagen wir, 10000 Jahre zurückliegt,
kann man nicht mehr erschließen, sie verschwindet im Rauschen der Vergangenheit. Wer es
doch versucht, handelt unwissenschaftlich. Andererseits haben die Menschen vor 10000
Jahren unzweifelhaft eine Sprache gesprochen.
Die Grenze unser Aussagen liegt, denke ich, genau an dem Ort, den Bultmann für unsere
Aussagen über den historischen Jesus gezogen hat: wir wissen um das "Dass" aber nicht um
das "Was". Bultmanns Schüler haben versucht, diesen engen Rahmen ein wenig auszudehnen:
Sie argumentieren, im Verhältnis der ersten Christen zum auferstandenen Christus, was schon
"in nuce" im Verhältnis der Jünger zum historischen Jesus angelegt war. Kawabata Junshirō,
ein japanischer Christ und Bultmann-Schüler, der an der Tōhoku-Universität
Religionswissenschaft unterrichtet, argumentiert in seinem neuesten Buch noch heute so. 7
Das "Was" verkürzt das Wissen um den historischen Religionsstifter auf einen einzigen Punkt.
Wir sehen und spüren von diesem Punkt ausgehend seine ungeheurer Wirkung und denken,
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Kawabata Junshirō 川端純四郎 2013: 3・11後を生きるキリスト教 ブルトマン、マルクス、バッハ
から学んだこと [Christliches Leben nach dem 11.3. - Was ich von Bultmann, Marx und Bach gelernt habe]
(Tōkyō: Shinkyō shuppansha)
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auf der anderen Seite des Punktes müsste, wie bei einer camera oscura ein irgendwie
analoges Urbild - der "Jesus" oder "Siddharta" in nuce liegen. Doch übersehen wir, dass es
nur das Bild unserer eigenen Leidenschaft ist, das wir auf die andere Seite projizieren. Es ist
interessant zu sehen, wie Kawabata in seinem Buch genau den Jesus wiederentdeckt, den man
aufgrund seiner (Kawabatas) Biographie erwarten kann. Kawabata gesteht im Anfangskapitel
reumütig, dass er aus sozialen Desinteresse die 68ger-Revolte in Japan verpasste, nur um bei
Bultmann in Marburg zu studieren. Heute macht er diese Jugendsünde wieder gut, indem er
einen "Jesus in nuce" unterrichtet, der auch den "zornvollen Aspekt" kennt und die Bürger in
Schrecken versetzt.
Ich möchte den Wert einer solchen leidenschaftlichen Beschäftigung mit Christus oder
Buddha nicht herabsetzen - im Gegenteil! Aber es gibt, denke ich, eine tiefere Frage als die
in-nuce-Frage: Wenn es das gemeinsame Charakteritikum der beiden Gründerreligionen ist,
dass die Gestalt des historischen Gründers, in dem Augenblick unterging, in dem der Name
des Gründers - Buddha oder Christus - von seinen Anhängern erkannt wurde, was hat es dann
mit dem Namen selbst auf sich? Warum ist dieser Name so überwältigend, dass er im
Moment des Auftauchens die Regie der gesamten Erzählung übernimmt? Warum entsteht hier,
wie der Blitz aus heiterem Himmel eine Unzahl neuer Geschichten, die die alte Geschichte,
die Erinnerung an das Leben des historischen Gründers vollkommen überschreiben? 8 Wie
konnte ein kleines Flämmchen, die Biographie eines einzelnen Menschen, eine solche
Explosion hervorrufen, dass wir heute dieses gewaltige Erbe, das sich in tausenden von Sūtren
wiederspiegelt, haben?
Wir lösen das Gleichungssystem, das uns von den Sūtren gestellt wird, nicht mehr nach dem
"historischen Siddharta" auf, in dem wir eine geschichtliche Wahrheit finden können oder
auch nicht, sondern wir kürzen diesen "historischen Buddha", wenn nötig, heraus und fragen
nach dem Namen des Buddha, in dem wir die eigentliche Wahrheit dieses Erbes, die eine
Wahrheit über das menschliche Dasein sein muss, vermuten dürfen.
Die Teppichstruktur der Bodhisattva-Passage
Nach so viel Vorrede bin ich natürlich schuldig, anhand der Bodhisattva-Passage einige der
Prinzipien aufzuzeigen, die ich bis hierher erkärt habe.
Das Herz der Bodhisattva-Passage sind die 8 Merkmale eines Bodhisattva, d.h. die BuddhaLegende, über die ich letztes Mal gesprochen habe. Ihr geht eine allgemeine Einleitung voraus,
die in Kürze die Kriterien des Bodhisattvas erklärt. Dahinter findet sich ein etwas längerer
Text, der dasselbe auf längere Weise erklärt und den Sasaki Kantoku mit "Übung des
Bodhisattvapfads" (im Gegensatz zu den Merkmalen des Bodhisattva!) überschrieben hat.
Im ersten Teil der kurzen Erklärung - Sasaki überschreibt ihn meiner Meinung nach irrtümlich
mit "Die Übung für sich selbst"- wird das Bodhisattvagelübde kurz erklärt (davon später!). Im
zweiten Teil der kurzen Erklärung geht es um die "Übung des Bodhisattva"
Er nennt 5 Punkte:
1. Ein Bodhisattva lenkt seine Schritte in die Zehn Richtungen 遊歩十方。
2. Ein Bodhisattva übt die geschickten Mittel 行權方便
3. Ein Bodhisattva dringt in den Gesetzesspeicher des Buddha ein 入佛法藏
4. Ein Bodhisattva erreicht das andere Ufer (das Erwachen)究竟彼岸
5. Ein Bodhisattva zeigt in Unermesslichen Welten das Buddhagleiche Erwachen 於無量世界
現成等覺
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Grandios das Ende des Johannes-Evangeliums: Joh 21, 25. Vgl. hierzu 274b17, sowie die Worte des Drachens
an Nāgārjuna aus der Nāgārjuna-Überlieferung (T.2047).
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Von diesen fünf Punkten, sind bei näherer Betrachtung vier Punkte, nämlich zwei bis fünf in
den acht Merkmalen des Bodhisattva d.h. der Buddhalegende enthalten: Der werdende
Buddha übt die geschickten Mittel, indem er z.B. das Palastleben verwirft, er dringt in den
Gesetztesschatz ein und erreicht das höchste Erwachen (6.Merkmal). Nicht zuletzt ist der
werdende Buddha ein Seine-Erleuchtung-Zeigender, alles dient der Belehrung der fühlenden
Wesene und erst im gezeigten Parinirvana vollendet sich die Buddhaschaft.
Diese vier Punkte sind wie vier kleine Blütenblätter. Aber es gibt einen fünften Punkt, der neu
ist, und gleichsam die Mitte der Blüte darstellt. Der Bodhisattva ist ein Pilger: er lenkt seine
Schritte in die Unermesslichen Welten der Zehn Richtungen. In dieser kleinen Blüte, die nur
aus 25 Schriftzeichen besteht, ist das Wesentliche und Neue der Reines-Land-Lehre schon
enthalten. Es ist eine Vervielfältigung der Buddhalegende, denn es gibt nicht nur einen
Buddha, sondern unermesslich viele.
Was wir hier im Miniaturmaßstab sehen, wird uns das Sūtra in großem Maßstab vortragen:
Ein Bodhisattva - der spätere Buddha Amida - geht zu einem Buddha, lernt die Welten der
anderen Buddhas kennen. Er übt die geschickten Mittel, dringt in den Gesetzesspeicher der
Buddhas ein, erwacht und zeigt das Buddhagleiche Erwachen in den Unermesslichen Welten denn unermesslich viele Wesen der anderen Länder werden in sein Buddhaland reisen. Der
Name des Bodhisattvas entstammt - nebenbei gesagt- unser kleinen Blüte: er lautet
"Gesetzesspeicher" - Dharmākara.
Diese kleine Blüte über die "Übung des Bodhisattva" wird nach dem zentralen Teil über die
acht Merkmale in Breite erklärt. Sasaki Kanotoku gibt die entsprechende Überschrift. Unsere
kleine Blüte hatte fünf Dimensionen: Der Bodhisattva war
1. Pilger
2. Übender
3. Lernender
4. Vollendender
5. Lehrender
Färbt man den Text fünffarbig ein, so erkennt man, dass sich dieses Muster - mit kleinen
Abweichungen- fünf oder sechsmal wiederholt. Man kann also wirklich von einer Litanei
oder einer Art Rosenkranz sprechen.
Sasaki Kantoku tut dem Text meiner Meinung nach Unrecht, wenn er ihn noch weiter
unterteilt. Abweichungen ergeben sich dadurch, dass ein kleines Gleichnis eingefügt wird (das
Magiergleichnis). Außerdem sind die drei Kriterien, die Nāgārjuna in der
Weisheitsabhandlung über den Bodhisattvas eingeflochten: Geduld, Samādhi und Dharaṇi
(davon später!- Sasaki erkennt nur Samādhi und versucht darum zu unterteilen.)
Wir haben ein zentrales Motiv - die Buddhalegende - um sie herum wir das gleiche
Blumenmuster fünf- oder sechsmal variiert. Zu den Vorlieben der Teppichdesigner gehören
auch die symmetrischen Entsprechungen. In der Tat gibt es im zweiten Faszikel des Sūtras
eine zweite Bodhisattva-Passage (273c23-274b17), die scih auf die Bodhisattvas im Reinen
Land bezieht und inhaltlich ganz Ähnliches zutage bringt.
Die Jōdo-Shinshū-Deutung der Passage
Die Deutung der Passage ist heikel. Meine Aussage, dass sie dem Leser - genauer gesagt dem Hörer des Sūtras - ein Modell des Bodhisattva vor Augen führen soll, brauche ich nicht
zurücknehmen, aber wie erklärt sich die Form der Passage? - Eine Deutung könnte so
aussehen:
Im Zentrum steht die Buddhalegende, nämlich ein Bericht, der "in nuce" wohlmöglich auf das
Leben einer historischen Persönlichkeit zurückgeht. Die Menschen haben aus seinem Leben
das Wesentliche (Archetypische) - nämlich die acht Merkmale - entnommen und im Verlauf
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einer weiteren Legendenbildung vervielfältigt. Plötzlich sahen sie - wie Ornamente auf einem
Teppich - viele Buddhas. Das ist die historische Entstehung des Reines-Land-Denkens und so
werden es die meisten westlichen Religionswissenschaftler wohl interpretieren.
Die "buddhologische" Deutung ist aber eine andere. Im Seminar-Kurs des Honganji-Verlags 9
erinnert Inagi Sen'e an einen bedeutenden Gelehrten der Edo-Zeit , Nikkei Hōrin (日渓法霖
1693-1741). Hōrin zufolge hat die innere Passage - d.h. die Passage über die Acht Merkmalezwei Bedeutungen.
1. Sie verweist auf den "Pfad der bzw. des Heiligen" (shōdōmon 聖道門), genauer gesagt auf
alle "vierundachtzig Dharmatore des Pfads der bzw. des Heiligen". Der Heilige ist hier
natürlich Buddha Shākyamuni.
Dies kann man wieder recht schön anhand unseres Teppich-Paradigmas erklären. Teppiche
haben ja die Eigenschaft, dass sie abstrahieren müssen. Ein Fraktal in der Mathematik kann
diegleichen geometrischen Formen ind jedem Maßstab gleichzeitig darstellen. Aber bei
Teppichen ist eine solche Vervielfältigung desselben Motivs nicht in jedem Maßstab möglich.
Irgendwann ist ein Maßstab erreicht, wo die vierblättrige Blume nur noch durch fünf Knoten
dargestellt wird. Der Teppichknüpfer kann sie noch auf einen einzigen Knoten reduzieren,
dann ist aber die Grenze erreicht. Hōrin behauptet nichts anderes als, dass alle Lehre Buddha
Shākyamunis, sein ganzes Leben in dieser Passage enthalten ist, z.B. auch die beiden anderen
Hauptsūtren der Jōdo Shinshū. Sie werden bloß nicht genannt, weil der Teppich, den wir hier
vor uns liegen haben, zu grobknotig geknüpft ist.
2. Zweitens schildert die Passage die Bodhisattvas, die zur Großen Versammlung kommen.
Das bedeutet nach Hōrin, dass Shākyamuni hier selbst unter den Zuhörern sitzt, dass er in
gewisser Weise ein hörender Buddha ist.
Beide Gedanken sind nicht so abgelegen, wie es auf den ersten Blick scheint. Es gibt viele
Mahāyāna-sūtren, die behaupten, mehr oder minder alle buddhistischen Lehren seien in ihnen
implizit enthalten. Zum Beispiel behauptet das Diamant-sūtra alle Buddhas würden aus seiner
Lehre hervorgehen; einen Vers zu hören, bewahren und zu erklären sei verdienstvoller als
eine Welt voller Edelsteine zu verschenken usw. Das Ganze ist Teil des Teils, dies kann in der
buddhistischen Logik anscheinend mühelos gedacht werden (In der Mathematik ist die
Möglichkeit echte Teilmengen von gleicher Mächtigkeit enthalten zu können, eine
Möglichkeit, die Unendlichkeit zu definieren.)
Im Theravada-Buddhismus ist der Buddha im Vergleich zum Arhat, derjenige, der die Lehre
nicht von anderen gehört hat. Dies gilt aber nur für seine letzte Existenz. In seinen Vorleben
diente er vielen Buddhas wie Dipamkara. Also ist auch er, sobald er sich als Buddha an seine
Vorleben erinnert, ein Hörender.
Das Reines-Land-Denken entsteht historisch aus einer Vervielfältigung der Buddha-Legende.
Der Buddha Śākyamuni verkündete etwas, das in allen Varianten durchgespielt, die
Buddhalegende wurde. Dann kommt aber Umkehrung des Gedankens durch die einfache
Frage: woher kommt dieses Sprechen? Es gibt nichts, das außerhalb dieses Sprechens liegt.
Also kann die Antwort nur sein: aus dem Sprechen selbst. Also ist es ein Hören.
Ich gebe zu: diese Gedanken sind, wenn man sie das erste Mal hört, verwirrend, ihre Logik
wird aber noch klarer werden. Die Jōdo Shinshū bezeichnet sich selbst gerne als die "Schule
des Dharmahörens" (monbō no shūkyō 聞法の宗教). Hier liegt also ein Dreh- und
Angelpunkt der ganzen Lehre. Der große Higashi-Honganji-Gelehrte Akegarasu Haya
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Inagi Sen'e: S.32
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widmete der Passage ein Kapitel unter dem Namen "Shākyamuni, der den Dharma hört"
(shōbō no shakuson 聴法の釈尊) Seinen Gedanken möchte ich nächstes Mal nachgehen.
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