1 Prof. Dr. G. Strobel-Eisele Das pathologische

Werbung
Prof. Dr. G. Strobel-Eisele
Das pathologische Potential reformpädagogischer Ideen und Strukturen
Die in den letzten Monaten ans Tageslicht gekommenen Missbrauchsfälle in kirchlichen und
weltlichen Institutionen haben berechtigter Weise ein breites Medieninteresse gefunden. Die
Kirche stellt sich den erhobenen Anklagen und Fragen, auch wenn die Aussagen und Antworten der Kirche viele noch nicht zufrieden stellen. Die pädagogische Profession dagegen äußert
sich nur spärlich zum pädagogischen Missbrauch in der Odenwaldschule, einer reformpädagogischen Vorzeigeschule. Es gibt vereinzelt Selbstvorwürfe, nicht genug nachgefragt und
auf rückhaltlose Aufklärung gedrängt zu haben. Auch stehen noch Äußerungen im Vordergrund, in denen pädophiler Missbrauch allein auf das individuelle Versagen einzelner Erzieher bzw. Lehrer zurückgerechnet wird. Manche Äußerungen lassen sich auch als Relativierungsversuche interpretieren, weil auf die unbestreitbare Tatsache hingewiesen wird, dass
sexueller Missbrauch doch in vielen gesellschaftlichen Bereichen vorkomme und deshalb kein
strukturelles Problem pädagogischer Institutionen sein kann. Derartige Reaktionen mögen als
erste Zeichen unglaublichen Erschreckens und persönlicher Betroffenheit von Pädagogen verständlich sein, aber sie zielen nicht auf eine fundierte pädagogische Stellungnahme. Der
Missbrauch in der Odenwaldschule nimmt bei genauer Analyse seinen Ausgang von einer
anderen Ebene als der Missbrauch in kirchlichen Einrichtungen. Während in kirchlichen Einrichtungen Päderasten die Struktur für ihre Zwecke ausnutzten, lässt sich der Missbrauch in
der Odenwaldschule sowohl auf ihre Strukturen als auch auf die Idee ihres Erziehungsverständnisses hin erklären.
Die Hinweise verdichten sich nämlich, dass das, was wir heute als sexuelle Übergriffe auf
Kinder beklagen, von einem Teil des reformpädagogischen Ideals nicht zwingend ausgeschlossen ist, sondern die Möglichkeit begünstigt, das Erziehungsgeschehen so zu gestalten,
dass die Schwelle zum sexuellen Missbrauch von Kindern (zu) niedrig gehalten wird. Insbesondere die Idee des „pädagogischen Eros“ berührt diese Tabuzonen immer wieder, anstatt
sich davon eindeutig zu distanzieren. Die schlimmen Zustände an der Odenwaldschule gehen
daher alle Pädagogen „etwas an“, um auf die irritierende Distanzierung von Hentigs anzuspielen, der seine Replik mit der Frage titulierte: „Was geht das mich an?“ Dass sich von Hentig
inzwischen durch seine Äußerungen, die er zu seiner eigenen und der seines Freundes G. Beckers Verteidigung hervorbringt, als Pädagoge selbst diskreditiert hat, steht außer Zweifel.
Die Belege in der „Zeit“ und in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagzeitung“ schließen
nicht klar aus, dass „seine“ Pädagogik im pädagogischen Eros sexuelle Verhältnisse billigend
in Kauf nimmt, wenn sie in gegenseitigem Einverständnis geschehen. Wie kann man von
Hentigs Aussagen, er sei überzeugt, dass sein Freund Becker „nichts gegen den Willen eines
Schülers“ getan habe und er nur von „freundlichen Berührungen“ Kenntnis hatte, anders interpretieren?
Auch sollte das Erziehungsverständnis jener schulpädagogischen Konzepte kritisch aufgearbeitet werden, das den pädagogischen Eros als Fundierung der Lehrer-Schülerbeziehung einfordert. Schulpädagogen wie Peter Struck müssen nun sicherlich kritischer gelesen werden,
der in seinem Buch „Neue Lehrer braucht das Land“ unter dem Kapitel „Freundschaft zwischen Lehrer und Schüler“ Vorschläge unterbreitet, die sexuellen Missbrauch wenn nicht fast
herausfordern, dann in jedem Falle nicht eindeutig und grundsätzlich ausschließen. „Der pädagogische Eros, die freundschaftliche Einstellung zu seinen Schülern ist also eine wichtige
Voraussetzung des Lehrerberufs; wenn sie fehlt, wird Unterricht für Schüler zur Qual“. Und
1
noch eine Spur deutlicher: „Lehrer müssen sich entscheiden, ob sie ... traurige Schüler mit
Umarmungen, mit Streicheln, mit Auf-den-Schoß-Nehmen trösten mögen, ob sie dem
Wunsch der Grundschüler nach einem Gute-Nacht-Kuß im Schullandheim entsprechen wollen“. Die Idee des pädagogischen Eros ist verführerisch, denn sie lässt sich leicht in Rechtfertigungszusammenhänge für Handlungen überführen, die pädophil motiviert sein können.
Es ist Robert Leicht zunächst zuzustimmen, wenn er in Der Zeit vom 25.3.2010 schreibt, die
Pädagogik verwende zur Beschreibung des pädagogischen Verhältnisses falsche Termini.
Dies gilt jedoch doch nur, wenn der pädagogische Bezug fehlgedeutet wird als erotisierte Beziehung. In diesem Falle haben wir es mit einer Fehlform des pädagogischen Handelns zu tun.
Der von Nohl im Rahmen der geisteswissenschaftlichen Pädagogik entwickelte „Pädagogischen Bezug“ als Grundfigur des Erziehungsverhältnisses geht von einer hierarchischen Beziehung aus, vom Erzieher als „Anwalt des Kindes“ und vom notwendigen „Schutzraum“,
den das Kind auf dem Weg zum Erwachsenwerden benötigt, aber er zielte stets auch auf eine
freundliche, das Kind ermutigende soziale Beziehung. Die Beschreibung entspricht dem platonischen Verständnis des pädagogischen Eros, nämlich einer Zuwendung zu Kindern und
jungen Menschen aus dem Geist der Liebe, die in der Tradition klar von der körperlichen Liebe (amor) unterschieden wurde. Es handelt sich bei erzieherischen Verhältnissen um eine Sozialform eigener Art, die eine dem Kind zumutbare Nähe anstrebt und allein seiner Entwicklung dienlich und förderlich sein soll. Das Okkupierende der Erziehung ist dabei ausgeschlossen, weil der Erzieher für das Kind und nicht für sich selbst agiert. Im Übrigen ist dieses Verständnis auch Teil der christlichen Caritas und keinesfalls das, was Päderasten daraus ableiten
und exerzieren.
Die Herausforderung, vor der die Pädagogik steht, lässt sich klar benennen: Es ist die Neubestimmung des pädagogischen Bezugs. Ideen wie der pädagogische Eros müssen keinesfalls in
erster Linie verteidigt oder gar gerettet, sondern einer kritischen Analyse bezüglich ihres verführenden Potentials unterzogen werden. Eine erste und einfache Konsequenz daraus ist es,
Lehramtsstudierende nicht zum Körperkontakt mit Schülern zu ermuntern, sondern sie davon
abzuhalten und sie davon zu überzeugen, Erziehung auf der pädagogischen Differenz von
Erziehen und Lernen aufzubauen. Damit ist gemeint, dass Erzieher und Kinder, Lehrer und
Schüler eben nicht dasselbe tun, sondern die Erwachsenen sich im Interesse des Wohles der
Kinder um deren Lernprozesse bemühen und ihnen mit wohlwollendem Engagement und mit
der nötigen professionellen Distanz begegnen.
Eine fehlerhafte Form des pädagogischen Bezugs liegt bereits vor, wenn, wie im Falle Strucks
und anderer Gleichgesinnter, von einem emotionalisierten partnerschaftlichen Verhältnis ausgegangen wird, d.h. von einer erzieherischen Grundfigur, die das Kind bzw. den Schüler als
gleichen und gleichberechtigten Partner betrachtet, der eigene Ansprüche äußern und durchsetzen kann und wo auch das „Du“ als Anrede angemessen erscheint. Auf diesem Hintergrund
lässt sich dann nur noch schwer begründen, warum bezogen auf die sexuelle Entwicklung das
Prinzip der Partnerschaft nicht auch gelten soll, schließlich setzt Freundschaft ja Freiwilligkeit voraus. Dieses Erziehungsverständnis bringt die Pädagogik bzw. die Pädagogen in das
Dilemma, bewusst oder unbewusst, die Grenzen zwischen dem Erwachsenenstatus und dem
des Kindes zu verwischen und das Kind zu überfordern.
Gerade in der reformpädagogischen Euphorie der letzten beiden Dekaden hatten derartige
Ideen Hochkonjunktur und wurden weder von Wissenschaftsjournalisten noch von der kritischen Öffentlichkeit ausreichend gründlich hinterfragt oder gar in die Schranken verwiesen.
Wer sich als Lehrerin oder Lehrer „nur“ als Wissensvermittler verstand und nicht als ein den
Schülerinnen und Schülern partnerschaftlich verbundener Lern- oder Lebensbegleiter, wurde
2
schnell verdächtigt, nicht pädagogisch genug zu sein. Auch viele pädagogisch ambitionierten
Journalisten beklagten die fehlenden Gemeinschafts- und Näheerfahrungen zwischen Lehrern
und Schülern in den Regelschulen. Das allgemeine Plädoyer, durchaus getragen von der öffentlichen Meinung, richtete sich auf den „ganzen“ Schüler, der sich als „ganzer Mensch“ in
der Schule wohlfühlen sollte. Die Pädagogik ist angesichts der reformpädagogischen Missbrauchsrealität aufgefordert, die Differenz von Distanz und Nähe in pädagogischen Beziehungen und Strukturen neu zu thematisieren und die pathologische Seite dieses Verhältnisses klar
zu reflektieren.
Pädophile Übergriffe ereignen sich nicht nur in einer angstbesetzten hierarchischen Erziehungsstruktur, sondern gerade auch in einem libertären Milieu, in dem man sich wohl fühlt
und die Nähe zwischen Erzieher und Schüler bereits als pädagogische Qualität gilt. Dieser
Eros der Erziehung findet eine entgegenkommende Struktur in den familienähnlichen Lerngemeinschaften, wie die Berichte aus der Odenwaldschule belegen. Die Pädagogik sollte das
Gefahrenpotential von engen, familienähnlichen Schulgemeinschaftsformen thematisieren,
die einen sanften, schleichenden Übergriff auf Kinder erleichtern, und sich auch mit dem pädosexuellen Milieu auseinandersetzen, das sich in Büchern wie „Die Lust am Kind“ (Lautmann1994) zu Wort meldet. Insbesondere sind jene libertären Bürger- und Minderheitsverbände für Pädagogen eine Herausforderung, die das Strafrecht hinsichtlich der sexuellen Kontakte zu Minderjährigen liberalisieren und letztlich die Pädophilie gesellschaftlich hoffähig
machen wollen. Es wird Zeit, mit dieser Form der antiken Tradition endgültig zu brechen, um
Kinder in ihrer Entwicklung vor unfreundlichen bzw. entwicklungsschädlichen Übergriffen
zu bewahren.
Dass Gemeinschaftserziehung stets mit der Erziehung zur Individualität im Konflikt steht,
gehört zu den pädagogischen Beständen seit der Kritik an der nationalsozialistischen Gemeinschaftsideologie und ihren manipulativen Strukturen. Das kindliche Bedürfnis nach sozialer
Zugehörigkeit wird in Gemeinschaften schnell durch erzwungenes Mitmachen überformt,
gegen das sich Kinder nicht wehren können, weil sie noch nicht über genügend „SelbstStand“ verfügen, um ihre Gefühlslagen entsprechend artikulieren zu können. Daher ist gerade
in Institutionen wie Heimen, Internaten und Konvikten den Erziehern und Lehrern eine besondere Verantwortung übertragen, Distanzen zu respektieren und Beziehungen zu kontrollieren.
Vielleicht haben zu viele reformbewegte Pädagogen über diese „vergessenen Zusammenhänge“ zu wenig nachgedacht. Die Pädagogik ist jedenfalls herausgefordert, den distanzlosen,
emotional überfrachteten und „erotisch“ aufgeladenen Beziehungsstrukturen entgegenzutreten, wie sie in manchen reformpädagogischen Einrichtungen gefordert und in der Idee der
familienähnlichen Lerngemeinschaften oder den pädagogischen Polisvorstellungen gewünscht
sind. Zwar gehören Reformen zu allen modernen Institutionen, sie sind gewissermaßen ihre
Betriebsprämisse, aber Reform ist für sich genommen noch kein Qualitätsausweis und die
Berufung auf Reformpädagogik oder die Auszeichnung einzelner Einrichtungen als Reformschulen mit Vorbildcharakter darf Argumente und kritische Kontrolle nicht ersetzen. Daher ist
die Aufarbeitung der entsprechenden Semantiken und die Ersetzung dieser „familienähnlichen“ Gemeinschaftsstrukturen durch eine professionell fundierte Handlungsform zum Wohle
der Schutzbefohlenen die aktuelle Aufgabe der Pädagogik.
Prof. Dr. Gabriele Strobel-Eisele
Pädagogische Hochschule Ludwigsburg
3
Herunterladen