EMPFEHLUNGEN Schweiz Med Forum 2007;7:483–484 483 Botulinumtoxin Typ A: Empfehlungen zur Behandlung bei Spastizität Schweizer Arbeitsgruppe für fokale Spastizität Michael Baumberger (Schweizer Paraplegiker-Zentrum Nottwil); Heinrich Brunnschweiler (Reha Rheinfelden); Karin Diserens (Centre Hospitalier Universitaire Vaudois, Lausanne); Alain Kaelin (Inselspital Bern); Christian Kätterer (REHAB Basel); René Müri (Inselspital Bern); Kathi Schweikert (REHAB Basel); Aurelio Tobon (Schweizer Paraplegiker-Zentrum Nottwil); Philippe Vuadens (Clinique Romande de Réadaptation, Sion); Peter Zangger (Spezialarztpraxis, Zürich); Daniel Zutter (Clinica Hildebrand, Brissago). Einleitung In den letzten Jahren ist Botulinumtoxin Typ A (BoNT-A) als Behandlungsoption bei adulten Patientinnen und Patienten mit Spastizität auf zunehmendes Interesse gestossen. In einem kürzlich erschienenen europäischen Konsensuspapier wird die Behandlung als erste Wahl unter den pharmakologischen Therapieoptionen der fokalen Spastizität bezeichnet [1]. Das Produkt Botox® ist in der Schweiz seit dem Jahr 2000 für die Behandlung der fokalen Spastizität nach Schlaganfall bei Erwachsenen zugelassen. Für diese Indikation besteht auch eine Erstattungspflicht aus der Grundversicherung (aktuell allerdings noch limitiert auf vier Behandlungen pro Fall). Seit 2006 besteht für das Produkt Dysport® eine Zulassung für die Behandlung der Armspastizität bei Erwachsenen infolge eines Schlaganfalls, ebenfalls mit Erstattungspflicht. Durch die Einschränkung der schweizerischen Zulassung auf fokale Spastizität nur nach Schlaganfall ergeben sich häufig Situationen, in denen die behandelnde Ärztin bzw. der behandelnde Arzt BoNT-A in nicht zugelassenen sogenannten «off-label»-Indikationen einsetzen möchte. Hier besteht grundsätzlich kein Erstattungsanspruch durch die gesetzliche Krankenversicherung. Andererseits ist die Ärztin oder der Arzt verpflichtet, für die Patientin oder den Patienten die wirksamste und schonendste Therapie zu wählen. Als praktischer Lösungsansatz für die jeweilige «off-label»-Indikation bieten sich bisher lediglich individuelle Verhandlungen mit den Kostenträgern an, um im Einzelfall zu zeigen, dass die obengenannten Bedingungen erfüllt sind. Hier wären offizielle Behandlungsrichtlinien für das therapeutische Vorgehen bei konkreten Patientinnen und Patienten nützlich. Auf der Grundlage des europäischen Konsensusstatements zur Behandlung der fokalen Spastizität [1] sowie der Leitlinien des Arbeitskreises Botulinumtoxin der Deutschen Gesellschaft für Neurologie [2] und vor dem Hintergrund ihrer umfassenden klinischen Erfahrung in der Anwendung von BoNT-A erachten die Mitglieder der «Schweizer Arbeitsgruppe für fokale Spastizität» die Therapie als effektiv und nebenwirkungsarm. Sie halten die Anwendung von BoNT-A in der fokalen Behandlung der Spasti- zität, ungeachtet der zugrunde liegenden Erkrankung, für wissenschaftlich adäquat begründet und sind überzeugt, dass die Kriterien für einen kostenerstattungsfähigen Einsatz gegeben sind. Zwar gilt BoNT-A als eine teure Behandlung in einem Gebiet der Medizin, wo bislang der Kostendruck auf Medikamentenbudgets gering war. BoNT-A stellt aber in bezug auf Wirksamkeit, Sicherheit und Wirkungsdauer von 12 bis 16 Wochen einen guten Wert dar. Konsensus Spastizität ist meist die Folge einer Schädigung des zentralen Nervensystems (Hirn und Rückenmark) und kann bei Patientinnen und Patienten mit Schlaganfall, bei traumatischen und nichttraumatischen Schädigungen aller Art des Gehirns und des Rückenmarks auftreten. Es handelt sich um eine unwillkürliche muskuläre Überaktivität, die verschiedene schädliche Auswirkungen haben kann, zum Beispiel Schmerzen, fixierte Gelenkfehlstellungen und eine beeinträchtigte Funktion. BoNT-A ist eine sehr effiziente Option bei der Behandlung der Spastizität und hat eine innovative Rolle, wenn die Behandlungsziele fokal sind. Es konnten mittlerweile beträchtliche dokumentierte Erfahrungen hinsichtlich der klinischen Anwendung, der Indikationen, der Wirkung und der Sicherheit gemacht werden. Empfehlungen – Das klinische Management von Patientinnen und Patienten mit Spastizität erfordert einen multidisziplinären therapeutischen Ansatz, innerhalb dem neben der BoNT-A-Anwendung auch physiotherapeutische, orthetische und chirurgische Massnahmen sowie die intrathekale Gabe von Baclofen und der Einsatz systemischer antispastischer Medikamente erwogen werden sollten und bei dem die Kompatibilität des BoNT-A mit anderen applizierten Medikamenten abgesichert ist. – Die Therapie mit BoNT-A sollte nur von Ärztinnen und Ärzten mit entsprechender fachlicher Ausbildung, Erfahrung und Ausrüstung EMPFEHLUNGEN (EMG und/oder ultraschallgestützter Injektionstechnik) durchgeführt und bei weiterhin gegebener Indikation wiederholt werden. – Vor der Anwendung von BoNT-A stellt die behandelnde Ärztin bzw. der behandelnde Arzt sicher, dass anschliessend ein adäquates Rehabilitationsmanagement erfolgt, beispielsweise in Form krankengymnastischer Übungen und/oder des Einsatzes von Redressionsmassnahmen. – Das therapeutische Ziel des Einsatzes von BoNT-A bei Spastizität ist die Verbesserung von Aktivität und Partizipation der Patientin oder des Patienten (gemäss ICF). Dies kann unter anderem folgende Komponenten beinhalten: Verbesserung der motorischen Möglichkeiten im Sinne des Geh- und Stehvermögens und des aktiven Einsatzes der Hand oder des Armes, Erleichterung des Transfers (z.B. vom Bett zum Rollstuhl), Minderung von Schmerzen, Erleichterung und Stabilerhaltung der Pflege (u.a. Intimpflege bei Adduktorenspasmus) sowie Prophylaxe von Sekundärkomplikationen (u.a. Ulzera bei «spastischer Hand»; Kontrakturen; Dekubitus). – Vor der Durchführung der Therapie sind die Patientinnen und Patienten sowie gegebenenfalls die Bezugspersonen zu informieren. Eine Übereinkunft in der Festlegung der Therapieziele sollte erreicht werden. Für nicht entscheidungsfähige Patientinnen und Patienten gelten die gesetzlichen Grundlagen. Korrespondenz: Dr. med. Christian Kätterer Facharzt für Neurologie FMH REHAB Basel Postfach CH-4025 Basel [email protected] Schweiz Med Forum 2007;7:483–484 484 – Die Auswahl von Patientinnen und Patienten für die Behandlung mit BoNT-A sollte bestimmt werden durch a) das Verteilungsmuster der Spastizität; b) die dynamische spastische Komponente; c) die eindeutig definierte therapeutische oder pflegerische Zielsetzung; d) die Kontextfaktoren (gemäss ICF). – BoNT-A ist bei fokalen Problemen im Zusammenhang mit der Spastizität einer systemischen Therapie in der Regel überlegen und daher einer oralen Medikation vorzuziehen. – Die fokale Behandlung kann bei Para- oder Tetraspastik, vor allem bei spinaler Ätiologie auch zusätzlich zur intrathekalen Baclofengabe mittels Pumpensystem sinnvoll sein, um zum Beispiel eine Dosisreduzierung des Baclofens und dadurch beispielsweise eine Verminderung von dessen zentralen Nebenwirkungen zu erreichen. – BoNT wird gegenwärtig als BoNT-A in Form von Botox® (Allergan) und Dysport® (Ipsen) sowie Xeomin® (Merz) und ferner als BoNT-B in Form von NeuroBloc® (Elan) auf dem Markt angeboten. Die erwähnten Präparate unterscheiden sich voneinander, auch bezüglich der Einheitendefinition. Ein nachgewiesenes Dosisverhältnis ist nicht etabliert. Literatur 1 Ward AB, Aguilar M, de Bey Z, Gedin S, Kanovsky P, Molteni F, et al. Use of botulinum toxin type A in management of adult spasticitiy – a European consensus statement. J Rehabil Med. 2003;35:98–9. 2 Wissel J, Benecke R, Erbguth F, Heinen F, Jost W, Naumann M, et al. Konsensus-Statement zur fokalen Behandlung der Spastizität mit Botulinumtoxin. Neurol Rehabil. 2003;9: 242–3.