Differenzialdiagnostik und Therapieoptionen bei

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JATROS
Neurologie & Ps ychiatrie 2008
Multiple Sklerose
Differenzialdiagnostik und Therapieoptionen
bei generalisierter Spastik
Läsionen des motorischen Kortex und der von dort
Spastizität kann als Adaptation an die Läsion der Pyabsteigenden deszendierenden Bahnen für die Willramidenbahnen und anderer deszendierender motokürmotorik (kortikospinale Bahn bzw. Pyramidenrischer Bahnen aufgefasst werden. Diese plastischen
bahn) führen zu einer kontralateren Hemiparese/Veränderungen nach Pyramidenbahnläsionen sind
spastik bzw. Tetra- und Paraparese/-spastik.
vielfältig und betreffen nicht nur das zentrale NerVielfach wird unter dem Begriff Spastizität ein
vensystem, sondern auch die Muskulatur. Die große
Symptomenkomplex nach Schädigung des zentralen
Zahl der zellulär und subzellulär ablaufenden plastiNervensystems (ZNS) verstanden („Upper Motor
schen Prozesse ist dafür verantwortlich, dass es keiM. Pinter, Wien
Neuron Syndrome“ bzw. spastisches Syndrom). Chanen einzelnen pathogenetischen Faktor gibt, der die
rakteristisch für dieses Syndrom sind folgende SympSpastizität bestimmt.
tome: geschwindigkeitsabhängige Steigerung des Muskeltonus,
Hyperreflexie mit gesteigerten Flexorenreflexen, Klonus, PyraEvaluierung der Spastizität
midenbahnzeichen, Spasmen, Paresen, Koordinationsstörungen
und Veränderungen der Biomechanik. Das klinische Bild der
Vor der symptomatischen Therapie der Spastizität muss nach
spastischen Bewegungsstörung ist durch langsame, kleinräumige
möglichen kausalen Behandlungsmöglichkeiten gesucht werden.
Willkürbewegungen mit einer Massentendenz (überschießende
Aufgrund der eingangs erwähnten großen Zahl von Erkransynergistische Aktivierung) charakterisiert. Typisch für die spaskungen, welche spastische Bewegungsstörungen induzieren, sind
tische Bewegungsstörung sind ein verzögerter Bewegungsbeginn,
eine sorgfältige Anamnese und eine eingehende klinisch-neuroeine Beeinträchtigung der zeitlichen und räumlichen Organisalogische Untersuchung Conditio sine qua non. Eine exakte totion des Bewegungsablaufes und eine vermehrte Kokontraktion
pische Diagnostik ermöglicht häufig schon die Lokalisation
antagonistischer Muskeln während des Bewegungsablaufes.
der Pyramidenbahnschädigung. Sie ist Voraussetzung für nachSpastizität ist ein häufiges Syndrom, da Schädigungen des
folgende neuroradiologische und neurophysiologische Unterkortikospinalen Traktes einschließlich der begleitenden extrasuchungen.
pyramidalen Bahnsysteme als Ursache der Spastizität bei vielen
Wesentlich zu wissen ist, dass spastische Tonuserhöhung nach
neurologischen Erkrankungen auftreten können. Häufige Erakuten Läsionen des ZNS in der Regel erst mit einer Latenz von
krankungen, die mit Spastizität einhergehen, sind der SchlaganWochen bis Monaten auftritt, welche in ihrer Ausprägung infall, intrazerebrale Blutungen, Schädelhirntraumen, entzündliche
terindividuell und situationsabhängig variiert. In Ruhe kann
Erkrankungen des zentralen Nervensystems (ZNS), hypoxische
Spastizität vollkommen fehlen, bei langsamen gleichmäßigen BeHirnschädigungen und Rückenmarksläsionen.
wegungen bleibt sie minimal, bei brüsker passiver Dehnung eines
Muskels nimmt sie stark zu und lässt typischerweise plötzlich
Definition der Spastizität
nach, wenn die Bewegung ein gewisses Ausmaß überschritten
hat (Taschenmesser-Phänomen).
Spastischer Muskeltonus ist definiert als erhöhter, geschwindigkeitsDie Evaluierung der Spastizität kann klinisch mittels semiquanabhängiger Dehnungswiderstand des nicht willkürlich vorinnertitativer Skalen bzw. mittels neurophysiologisch quantitativer
vierten Skelettmuskels. In der Definition von Lance wird dieser
Tests erfolgen (Tab. 1).
gesteigerte Muskeltonus auf eine Übererregbarkeit des Dehnungsreflexes als eine wesentliche Komponente des „Syndroms des ersEvaluierung
ten motorischen Neurons“ zurückgeführt. Der phasische Dehklinisch/semiquantitativ
neurophysiologisch/quantitativ
nungsreflex ist bei Muskeln mit spastischer Tonuserhöhung zwar
Ashworth
Scale
Oberflächen-EMG
fast immer gesteigert, für die Verlangsamung von WillkürbewegunPenn Spasm Frequency Score
Pendulum-Test
gen von Patienten mit spastisch erhöhtem Muskeltonus spielen
aber weder gesteigerte Muskeleigenreflexe noch gesteigerte toni9-Hole Peg Test
H-Reflex und Hmax/Mmax-Ratio
sche Dehnungsreflexe eine wesentliche Rolle. Diese Beobachtung
Timed Ambulation
Ganganalyse mit Poly-EMG
ist von grundsätzlicher Bedeutung für die Therapie der Spastik.
VAS
Posturographie mit Poly-EMG
So sind Medikamente, die im Tierexperiment und beim
ADL/Hygiene Scales
Menschen eine Reduktion des spastischen Muskeltonus herbeiQuality of Life Measures
führen, nicht notwendigerweise geeignet, eine funktionelle
Verbesserung zu bewirken.
Tab. 1: Evaluierungsmodalitäten der Spastizität
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Wesentlich ist die Beurteilung der Distribution der Spastizität,
da diese entscheidend ist für die therapeutische Vorgangsweise.
Unterschieden werden muss zwischen einer fokalen, segmentalen
und generalisierten Spastizität.
Therapiemodalitäten
Kontrollierte randomisierte Studien zum Vergleich verschiedener
Therapieverfahren wie zum Beispiel Physiotherapie versus medikamentöse Therapie oder Physiotherapie versus elektrische Stimulation oder medikamentöse Therapie versus elektrische Stimulation sind in der Literatur nicht zu finden. Vielerorts hat
sich in der klinischen Praxis ein Stufenplan durchgesetzt.
Physiotherapie
Ein breiter Konsensus herrscht, dass die primäre Basistherapie der
spastischen Bewegungsstörung die Physiotherapie ist. Ziele der
Physiotherapie sind das Training motorischer Restfunktionen im
Sinne einer Funktionserhaltung, die Senkung der spastischen Tonuserhöhung über den Mechanismus der Hemmung des spastischen Muskeltonus durch tonische Dauerdehnung und die Vermeidung von Kontrakturen der Muskeln, Sehnen und Gelenke.
Die wichtigsten, auf empirischer Erfahrung basierenden Behandlungsverfahren sind die Behandlungstechniken von Bobath und
Vojta, welche primär für Kinder mit Zerebralparesen entwickelt
wurden. Der rationale Hintergrund der Bobath-Therapie ist die
Inhibition von pathologischen Reflexmustern, während bei der
Vojta-Therapie noch im ZNS vorhandene Bewegungsmuster reaktiviert werden sollen. Als dritte, weit verbreitete Methode ist die
propriozeptive neuromuskuläre Fazilitation (PNF) zu nennen, bei
welcher spinale Motoneurone reflektorisch aktiviert werden.
Pharmakotherapie
Orale antispastische Therapie
Die in der Behandlung der Spastizität eingesetzten Medikamente
haben – mit Ausnahme von Dantrolen – trotz unterschiedlicher
pharmakologischer Angriffspunkte im zentralen Nervensystem
eine sehr ähnliche Wirkung: Gedämpft wird die Erregbarkeit der
α-Motoneurone über den Mechanismus der Neuromodulation
unterschiedlicher Neurotransmitter (GABA, Glycin und α-2Noradrenalin) im ZNS. Zu den Medikamenten, für welche in
klinischen Studien eine muskelrelaxierende Wirkung nachgewiesen ist, gehören Baclofen, Tizanidin, Diazepam, Tetrazepam,
Memantin, Dantrolen und Clonidin. Mittel der ersten Wahl sind
Baclofen, Tizanidin und Tetrazepam aufgrund der relativ geringen kognitiven und sedierenden Nebenwirkungen. Zur Behandlung schwerer Spastizität einhergehend mit Unruhezuständen
eignet sich Diazepam. Dantrolen sollte wegen der potenziellen
Hepatotoxizität nur bei Versagen der erwähnten Medikamente
verwendet werden.
Durch den Einsatz antispastisch wirkender Medikamente ist
keine wesentliche funktionelle Verbesserung der Motorik zu
erwarten. Im Gegenteil, nicht selten kommt es zu einer Verschlechterung der Parese und eine Reduktion des Medikamentes
ist angezeigt. Dies wurde für die drei wichtigsten antispastischen
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Orale Antispastika
Anfangsdosis/Tag
Maximale Dosis/Tag
Baclofen
2 x 100mg
150mg
Tizanidin
3 x 2mg
36mg
Diazepam
3 x 2mg
60mg
Tetrazepam
1 x 50mg
200mg
Dantrolen
2 x 25mg
200mg
Tab. 2: Maximaldosen für die einzelnen Präparate
Medikamente (Baclofen, Tizanidin und Diazepam) in klinischen
Studien gezeigt. Insofern ist bei der Betrachtung des klinischen
Effektes nicht nur die antispastische Wirkung ins Kalkül zu
ziehen, sondern sehr wohl auch die funktionelle Änderung der
Bewegungsstörung. Die Maximaldosen für einzelne Präparate
sind in Tabelle 2 angeführt.
Botulinumtoxin
Die beste Indikation für die Behandlung mit Botulinumtoxin
ist die lokalisierte, fokale – auf wenige Muskeln beschränkte –
Spastizität. Zwei Präparate zur Behandlung der Spastizität stehen
zur Verfügung: Botox und Dysport. Im Falle der Hemispastizität
nach Schlaganfall kann durch gezielte Injektion eine Reduktion
des Tonus der Ellbogen-, Hand- und Fingerbeuger sowie der
Flexoren des Sprunggelenks und der Zehen erreicht werden und
damit einhergehend eine Verbesserung der mit der Spastizität interferierenden motorischen Restfunktionen. Indikationen, Injektionstechnik, individuelle Dosierung und gelegentlich auftretende
Nebenwirkungen machen es notwendig, dass die Behandlung von
einem erfahrenen Behandlungsteam durchgeführt wird.
Intrathekale medikamentöse Therapie
Indiziert ist die intrathekale kontinuierliche Applikation nur bei
schwerer generalisierter, mehrere Extremitäten betreffender Spastizität, welche durch hoch dosierte, orale antispastische Medikation nicht ausreichend kontrolliert werden kann. Vor Implantation der Pumpe wird mit einer intrathekalen Bolusinjektion oder
über einen intrathekal gelegten, externalisierten Katheter geprüft,
ob der erwartete spasmolytische Effekt durch Applikation von
50µg Baclofen auftritt. Nach Implantation der Pumpe muss der
individuelle Bedarf einschleichend ermittelt werden. Alternativ
zu Baclofen kann auch Morphium oder Clonidin zur Behandlung spastischer Bewegungsstörungen intrathekal appliziert werden. Da es in seltenen Fällen zu schweren Nebenwirkungen der
intrathekalen Therapie kommen kann, soll die Indikation streng
gestellt werden und die Austestung und die Implantation der
Pumpen nur in speziellen Zentren durchgeführt werden.
Prim. Univ.-Doz. Dr. Michaela Pinter
NRZ Rosenhügel
Rosenhügelstraße 192a, 1130 Wien
Tel.: 880 32-42 553, 0664/183 75 75
E-Mail: [email protected]
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