Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Dietrich Böhler Vorlesung Sommer 2007 „Verantwortung, Verstehen und Handeln. Ethikbegründung im Blick auf Hermeneutik und Pragmatik“, Do 14-16, Hörsaal 2, Rostlaube, Freie Universität, Habelschwerdter Allee 45, Berlin-Dahlem „Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“ Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Vorgriff auf die Begründungsperspektive der VL Die Vorlesung wird immer wieder zurückkommen auf die Begründungsperspektive der Berliner Diskurs- und Verantwortungsethik. Diese besteht letztlich, oder kantisch gesagt: an ihrem ‚höchsten Punkt’, in der sokratischen Konfrontation einer These bzw. Handlungsorientierung (als Beitrag in einem argumentativen Diskurs) mit der, von ihrem Vertreter eingenommenen bzw. in Anspruch genommenen Rolle eines glaubwürdigen Diskurspartners. Der Rückgang darauf, daß ‚ich’ mich jeweils im argumentativen Dialog für meinen Beitrag muß verantworten können, vollzieht den Paradigmawechsel von der lebensweltlich und wissenschaftlich eingeübten theoretischen Einstellung, in der man gegenstandsbezogen über etwas redet, zu einer ungewohnten aktuell dialogreflexiven Einstellung: ‚Ich’, angesprochen von einem Du, besinne ‚mich’ auf die von mir eingenommene (und von ‚dir’ angemahnte) Rolle, ‚deines’ Argumentationspartners. − Ist das der logische Kern des Verantwortungsbegriffs und zugleich der Ansatz einer philosophisch elenktischen Begründung von Verbindlichkeiten? Vor dem Hintergrund dieser Fragestellung skizziere und diskutiere ich zunächst Aspekte der Zukunftsverantwortung – in den Vorlesungen (VL) I bis III. Es geht um das SichVerantworten in der globalisierten high-tech-Zivilisation. Ein Diskurs zwischen Hans Jonas, Karl-Otto Apel und der sokratischen Dialogpragmatik. Dann stellen wir die Frage nach den internen Voraussetzungen und Kriterien des EtwasVerstehens und des menschlichen Handelns, und zwar im Blick auf die Ansätze der Hermeneutik und Pragmatik im 20.Jahrhundert – VL IV bis XI. 1 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Zum Beschluß frage ich uns als Diskurspartner, d.h. uns, die wir mit Ansprüchen auf Geltung, also ernsthaft und nach Wahrheit suchend, über Probleme nachdenken. Die abschließende Frage an uns lautet: >Wie können wir unser Handeln verantworten, wie unsere Thesen rechtfertigen?< In theoretischer Distanzierung und in lockerer Anknüpfung an Kants transzendentale Fragestellung formuliert: >Wie ist eine Selbsteinholung sowohl der Verstehens- und Handlungssubjekte als auch der Philosophierenden möglich?< Darauf versuchen wir in den beiden letzten Vorlesungen (XII und XIII) zu antworten. 1. Teil (VL I-III) Sich-Verantworten in der globalisierten high-tech-Zivilisation. Ein Diskurs zwischen Hans Jonas, Karl-Otto Apel und der sokratischen Dialogpragmatik Als im Jahre 1972 die Industriegesellschaften vom Club of Rome die erste drastische Warnung vor den ökologischen Langzeitgefahren des quantitativen ökonomischen Wachstums und den kumulativen Folgeschäden der (damals teils kapitalistischen, teils staatssozialistischen) technologischen Zivilisation erhielten, fanden sich die Philosophen auf die neuen Verantwortungsprobleme sehr schlecht vorbereitet. An der New School for Social Research in New York und an der Universität des Saarlandes waren jedoch zwei, durchaus komplementäre, Denker bereits dabei, eine Ethik der solidarischen Menschheitsverantwortung zu entwerfen: Karl-Otto Apel und Hans Jonas, ein rationaler Postkantianer und ein metaphysischer Postaristoteliker (mit biblisch jüdischer, z. T. kantischer Moralmotivation). Die Beobachtung, daß „die ganz unbeabsichtigten, aber unausweichlichen Nebenwirkungen“ der technologischen industriellen Zivilisation, etwa „die Verschmutzung der Atmosphäre, der Gewässer, des Bodens, die Ausraubung der Biosphäre, der ganzen Lebenswelt durch Überbeanspruchung, durch Ausrottung von Arten“1 unermeßlich sind, führte Jonas zu der Erkenntnis, daß die Wirkungsmacht des Menschen „nach Maßstäben unserer irdischen Umwelt ... enorm gestiegen ... und ein Zustand erreicht worden ist, in dem beinahe alles möglich scheint“2. Daraus erwachse die Einsicht, daß proportional zu dieser Wirkungsmacht auch die Verantwortung des Menschen größer werde, daß es nunmehr eine Verantwortung für die Umwelt, für die Zukunft und für die Menschenwürde gebe. Aus dieser Einsicht entstand 1 So Jonas in dem Gespräch „Erkenntnis und Verantwortung“, in: Böhler u. Brune (Hg.), Orientierung und Verantwortung. Begegnungen und Auseinandersetzungen mit Hans Jonas, Würzburg (Königshausen & Neumann) 2004 (zit.: Böhler/Brune, 2004), S. 451: „Diese Zeitbombe tickt, während wir einfach so leben, wie wir es tun als Mitglieder der westlichen technischen Zivilisation, und woran jeder von uns mitwirkt.“ (S. 450) 2 Ebd., S. 452 f. 2 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Jonas’ bescheiden betitelter, aber groß angelegter „Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation“, das 1978 erschienene „Prinzip Verantwortung“.3 Hans Jonas‘ Denkweg und Karl-Otto Apels kommunikationsbezogene „Transformation der Philosophie“, 1973 in zwei Bänden vorgelegt, zumal seine transzendentalpragmatische Rekonstruktion der normativ ethischen Präsuppositionen des Denkens und ihr Resultat, nämlich die Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft in der Metapraxis des Argumentierens, sind in je eigener Weise von einer faszinierenden Geistesgegenwart. Infolgedessen hat die Arbeit an meinem Lehrstuhl und am Berliner Hans Jonas-Zentrum zum Teil der Auseinandersetzung mit dem intuitionsbezogenen, metaphysischen Denken von Jonas einerseits und der kommunikationsbezogenen Transzendentalphilosophie Apels andererseits gegolten. Die sokratische Diskurspragmatik und dialogbezogene Verantwortungsethik kann Grundgedanken jener beiden komplementären Ansätze präzisieren und weiterentwickeln. – Soviel zum Hintergrund, vor dem ich hier die Prinzipienfrage erörtere: >Was heißt und wohin orientiert Verantwortung als Moralprinzip?< So fragend, diskutieren wir auf der Ebene einer Begründung dessen, was wir im Prinzip tun bzw. anstreben sollen. Diese ideale Prinzipienebene nenne ich im Anschluß an Apel die Ebene A der Diskursethik. Für die Situationsanalyse der technologischen Zivilisation ist es an der Zeit, sich klarzumachen, daß charakteristische Begriffe, mit denen Öffentlichkeit, Wissenschaft und Philosophie auf die planetare Selbstgefährdung der Menschheit reagieren, beschönigend und verfälschend sind. So suggeriert die deutsche Diskussion, daß wir in einer bloßen „ökologischen Krise“ und eben in einer „Risiko“-Gesellschaft leben. Freilich kann die hochtechnologische Zivilisation gerade durch ihre Innovationen mehr zerstören, als sich im Einzelnen prognostizieren und gegenüber künftigen Generationen verantworten läßt. In diesem Betracht ist sie eher eine Gefahrenzivilisation und Zukunftsgefährdungsgesellschaft. Scheint es doch ihr Gesetz zu sein, daß sie permanent kumulative Langzeitwirkungen hervorbringt, welche die Anerkennung des Prinzips Menschenwürde und die Fortdauer „echten menschlichen Lebens auf Erden“ in Frage stellen. Denn sie bringt nicht allein kumulative Langzeitwirkungen hervor, die zusammen mit ökologischen und soziokulturellen Lebensgrundlagen auch Freiheits- und Verantwortungsbedingungen künftiger Generationen fortwährend verschlechtern oder gar zerstören; sie trägt darüber hinaus zur Aushöhlung der 3 Erschienen in Frankfurt am Main, Insel Verlag. 3 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 moralischen Prinzipienorientierung bei. Macht sie doch Forschungs- und MedizinVersprechungen, die individuellen Interessen dienen, während hinderliche moralische Orientierungen als fortschrittsfeindlich, illiberal, ja als inhuman hintangestellt werden. Was die Analysebegriffe angeht, so ist etwa der Begriff ›ökologische Krise‹ sinnlos, weil euphemistisch. Daher wurde er in dem von der Forschungsgruppe „Ethik und Wirtschaft im Dialog“ des Hans Jonas-Zentrums edierten Buch Zukunftsverantwortung in der Marktwirtschaft einer entsprechenden Sinnkritik unterzogen.4 Schon 1978 hatte Hans Jonas seine Leser für „das metaphysische Ausmaß“ und für die Permanenz der technologischkapitalistischen Gefahrensituation sensibilisiert: sie werde der Menschheit nunmehr wie ein Schatten anhaften.5 In den politisch-ethischen Überlegungen und Diskussionen müssen wir m.E. in der Tat davon ausgehen, daß wir weder in einer „ökologischen Krise“ leben, die wie jede Krise zeitlich begrenzt wäre, noch in einer bloßen „Risikogesellschaft“, sondern in der kapitalistisch-dynamischen technologischen Gefahrenzivilisation, deren weitreichende Zerstörungen und Zerstörungspotentiale neue, stets zu erneuernde VerantwortungsEngagements und Verantwortungs-Institutionen erfordern. Die anstehenden Probleme werde ich in den folgenden sechs Abschnitten erörtern: 1. Zum Problem einer globalen Verantwortungsethik – nach Max Weber. 2. Hans Jonas, Karl-Otto Apel und die Berliner Diskursethik – prinzipienethische Antworten auf die neuartigen Herausforderungen der praktischen Vernunft durch die technologische Zivilisation. 3. Metaphysische oder reflexiv dialogische Begründung des Prinzips Mitverantwortung? 4. Gedankenexperimente zum Prinzip Verantwortung. 5. Was heißt ‚Verantwortung’? Keine Fürsorge ohne Rechtfertigung, kein praktischer Diskurs ohne Verständigungsgegenseitigkeit und Öffentlichkeit. 4 Thomas Bausch, Dietrich Böhler, Michael Stitzel u.a. (Hg.), Zukunftsverantwortung in der Marktwirtschaft. In memoriam Hans Jonas. EWD-Bd. 3, Münster (LIT) 2000, bes. S. 58f, 37ff, 168f, 199f (zit.: EWD-3). 5 Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt a.M. (Insel) 1979, bes. 1. und 2. Kap. (zit.: P.V.). Ders., „Technik, Freiheit und Pflicht“, in: Wissenschaft als persönliches Erlebnis, Göttingen (Vandenhoeck und Ruprecht) 1987, S. 45f: „Über eines müssen wir uns [...] im klaren sein: eine Patentlösung für unser Problem, ein Allheilmittel für unsere Krankheit gibt es nicht. Dafür ist das technologische System viel zu komplex, und von einem Aussteigen daraus kann nicht die Rede sein. Selbst mit der einen großen ‚Umkehr‘ und Reform unserer Sitten würde das Grundproblem nicht verschwinden. Denn das technologische Abenteuer selber muß weitergehen; schon die rettenden Berichtigungen erfordern immer neuen Einsatz des technischen und wissenschaftlichen Ingeniums, das seine eigenen neuen Risiken erzeugt. So ist die Aufgabe der Abwendung permanent, und ihre Erfüllung muß immer Stückwerk bleiben und oft nur Flickwerk. Das bedeutet, daß wir wohl in alle Zukunft im Schatten drohender Kalamität leben müssen. Sich des Schattens bewußt sein aber, wie wir es jetzt eben werden, wird zum paradoxen Lichtblick der Hoffnung: er läßt die Stimme der Verantwortung nicht verstummen. Dieses Licht leuchtet nicht wie das der Utopie, aber seine Warnung erhellt unseren Weg – zusammen mit dem Glauben an Freiheit und Vernunft.“ 4 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 1. Hans 23.07.2007 Zum Problem einer globalen Verantwortungsethik – nach Max Weber Jonas’ metaphysisch wertethisches Verantwortungsdenken und die transzendentalpragmatisch oder diskurspragmatisch begründete Verantwortungsethik teilen die Auffassung, daß infolge der (hoch-)technologischen Lebensbedingungen, die seit Mitte des 20. Jahrhunderts herrschen, der Ethik eine ganz neue Stunde geschlagen hat: Alle Menschen seien selbst irgendwie verantwortlich dafür, daß auch künftig menschenwürdiges Dasein möglich ist. Die Diskurs-Verantwortungsethiker schlagen hier die Präzisierung „Mitverantwortlichkeit“ vor. Sie beziehen diesen Begriff vor allem darauf, daß eine direkte Verantwortungszuschreibung für die einzelnen oft weder angemessen noch konkret durchführbar sei, daß aber in der modernen Kommunikationswelt und zumal im Falle rechtsstaatlicher Bedingungen allen diskursfähigen Menschen – unabhängig von ihren institutionalisierten Verantwortlichkeiten – eine Mitverantwortung als Diskurspartner für die Bewußtmachung und mögliche Bewältigung der Zukunftsprobleme zukomme. Warum? Wer von moralischen Problemen wissen und irgendwie zu ihrer Verringerung beitragen kann, der kann als Denkender, mithin als möglicher Diskurspartner auch wissen, daß er eine Mitverantwortung für das Problembewußtsein nicht glaubwürdig zurückzuweisen vermag – und damit auch nicht eine gewisse Mitverantwortung für die Bewältigung der Probleme.6 Das ist die sokratisch-dialogreflexive Mitverantwortungsthese. Sie wird jedoch von denen, die als Theoretiker auf den argumentativen Diskurs blicken, bestritten; so von Jürgen Habermas. Diese Bestreitung bleibt zu diskutieren. Jonas und die transzendentalpragmatischen Diskursethiker sehen die Philosophie vor der Aufgabe, die – verglichen mit aller traditionellen Ethik – ungeheure Mitverantwortung zu denken, also das neue Problem aus dem ihm anhaftenden Ungefähr, jenem „Irgendwie“, zu befreien. In diskursethischer Sicht bedeutet das: Die Philosophie ist einmal zu der Begründungsaufgabe (A) herausgefordert, die Verbindlichkeit einer noch nie dagewesenen und kollektiven Verantwortung zu erweisen; zum anderen steht sie vor zweierlei Anwendungsaufgaben (B), nämlich sowohl die idealisierende Konkretion des Moralprinzips zu moralischen Situationsmaximen bzw. Normen, die eigentlich gelten sollten, neu zu denken als auch Strategien bzw. Konterstrategien für deren Realisierung und Durchsetzung in der Gesellschaft, etwa gegen amoralische Interessen und Funktionssysteme zu entwickeln und auf ihre Moralverträglichkeit hin zu prüfen. 6 Vgl. K.-O. Apel u. H. Burckhart (Hg.), Prinzip Mitverantwortung. Grundlage für Ethik und Pädagogik, Würzburg (Königshausen & Neumann) 2001 (zit.: Prinzip M.V.). 5 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Kant hatte jene Konkretionsaufgabe nochmals vorkommunikativ, nämlich in Beschränkung auf eine vom einsamen Subjekt zu leistende gedankenexperimentelle Anwendung des Kategorischen Imperativs zu lösen versucht. Ohne an Kants methodischem Solipsismus Anstoß zu nehmen, hat Max Weber generell eine bloß innermoralische Orientierung als unzureichend kritisiert: als Leistung einer Gesinnungsethik, die blind sei für die unverantwortlichen Folgen, die ein unmittelbar moralgetreues Verhalten inmitten der „ethischen Irrationalität der Welt“ haben könne.7 In der Tat sieht sich der realistische Ethiker und der ernsthaft Verantwortliche Gesinnungskonflikten ausgesetzt, da die reale Welt Dilemmata bereithält, die in der Perspektive einer reinen Gesinnung unlösbar erscheinen mögen. Sind „schmutzige Hände“ (Sartre) und „Schuldübernahme“ (Bonhoeffer) unausweichlich? Karl-Otto Apel hat Webers Anstoß als eigenständiges, konkret geschichtsbezogenes Begründungsproblem ‚B‘ der Ethik pointiert. Im Jonas-Zentrum wird es sowohl kontrovers diskutiert8 als auch wirtschaftsethisch präzisiert.9 Meines Erachtens geht es auf dieser BEbene um zwei Arten von geschichts- und situationsbezogenen Realisierungsfragen. Einmal um die moralstrategische Durchsetzungsfrage, welche Widerständigkeiten gegen eine moralische (das Moralprinzip konkretisierende) Situationsnorm durch welche Strategien überwunden werden sollten. Zum anderen stellt sich die moralkonservative, gleichsam wertkonservative Frage, welche ethischen Traditionen und Institutionen dem Moralprinzip entsprechen, so daß sie bewahrt bzw. entwickelt werden sollen. Die intrinsisch moralische Konkretionsaufgabe des allgemeinen Moralprinzips der Ebene A besteht darin, vom abstrakt Prinzipiellen zu Maximen, gewissermaßen zu regulativen Sollensperspektiven für das Handeln zu kommen. Dabei geht es zuallererst um einen begrifflichen und methodischen Rahmen für die moralische Konkretion der neuen ZukunftsVerantwortlichkeit, welcher alsdann interdisziplinär auszufüllen wäre. Noch auf der Begründungsebene A können wir die reflexive Letztbegründung des Moralprinzips als ersten Zug der Diskursethik (A 1) von einem zweiten Zug (A 2), nämlich die diskursvermittelte 7 8 9 Max Weber, „Politik als Beruf“, in: Gesammelte Politische Schriften, hg. v. J. Winckelmann, Tübingen (Mohr/Siebeck) 31971, S. 553, vgl. 550ff. Vgl. einerseits Böhler, „Idee und Verbindlichkeit der Zukunftsverantwortung“ in: EWD-3, bes. S. 63ff, 199ff und K.-O. Apel, „Diskursethik als Ethik der Mitverantwortung vor den Sachzwängen“ in: Prinzip M.V., bes. S. 74ff. Andererseits M. Werner, Diskursethik als Maximenethik, Würzburg (Königshausen & Neumann) 2003, bes. S. 199ff, 237ff. So von Th. Bausch: „Unternehmerische Verantwortung im Lichte universalistischer Prinzipienethik“, in: Steinmann u. Scherer (Hg.), Zwischen Universalismus und Relativismus. Philosophische Grundlagenprobleme des interkulturellen Managements, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1998, S. 322-347. Ferner Th. Rusche, Aspekte einer dialogbezogenen Unternehmensethik. EWD-Bd. 4, Münster (LIT) 2002 (zit.: EWD-4), S. 58ff und Teil III. 6 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Anwendung des Moralprinzip zur Normenrechtfertigung unterscheiden.10 Und wenn Habermas von ‚praktischen Diskursen‘ sprach, hatte er, bei kritischem bzw. realistischem Lichte besehen, an nichts anderes gedacht; denn er hat dabei stets die kontrafaktische Unterstellung gemacht, alle würden sich als Teilnehmer eines moralischen Diskurses verhalten – auf argumentativen Konsens gerichtet und mit dem guten Willen, die diskursiv gerechtfertigten Situationsnormen stets zu beachten. Daher konnte er durchgängig auf „allgemeine (sic!) Normenbefolgung“11 und reine Verständigungsorientierung abstellen, ohne daß er diese normativen Gehalte des Diskursgrundsatzes ‚D’ für die reale Handlungsorientierung verantwortungsethisch, nämlich moralstrategisch differenziert hätte. Hingegen hat Apel eine solche situationsrealistische Differenzierung mit seinem, allerdings unglücklich so genannten, „Ergänzungsprinzip“ der moralischen Grundnorm gemäß einer moralstrategischen Ebene B der Diskursethik ins Auge gefaßt.12 Denn als universalistisches Moralprinzip verlangt ‚D‘, daß man auch diejenigen Situationen berücksichtigt und jene Sachzwänge prüft, die einer ausnahmslosen, allgemeinen Befolgung moralischer Normen entgegenstehen. Kritisch an Apel und Böhler anknüpfend hat Horst Gronke diesen Übergang vom idealisierten praktischen Diskurs zur erfolgsverantwortungsethischen Fragestellung diskursarchitektonisch geklärt.13 Im Sinne einer „Verantwortung für den Erfolg des Moralischen“ (Böhler) geht es um die konterstrategische Durchsetzung der moralischen Gehalte gegen die Widerstände einer teilweise amoralischen Systemwelt und einer teilweise „ethisch irrationalen“ Handlungswelt. Denn in der realen Lebenswelt müssen wir damit rechnen, daß moralische und bereits rechtliche Normen gerade nicht allgemein befolgt, sondern egoistisch bzw. partikular interessiert unterlaufen oder auch aus Verantwortungs- bzw. Fürsorgegründen (z.B. angesichts einer Notlage) dispensiert oder uminterpretiert werden. In der gesellschaftlichen Systemwelt kommt hinzu, daß sie neutralisiert oder gar konterkariert werden können durch die Eigensinnigkeit, den Selbstbehauptungscharakter und die ‚Sachzwang-Macht‘ der 10 11 12 13 Vgl. D. Böhler, „Diskursethik und Menschenwürdegrundsatz zwischen Idealisierung und Erfolgsverantwortung“, in: K.-O. Apel, M. Kettner (Hg.), Zur Anwendung der Diskursethik in Politik, Recht und Wissenschaft, Frankfurt am Main (Suhrkamp), 21993, S. 201-231; ders., „Ethik der Zukunfts- und Lebensverantwortung. Teil I“, in: Böhler/Brune, 2004, S. 135 ff. J. Habermas, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1983, S. 53126, bes. S. 103. K.-O. Apel, Diskurs und Verantwortung, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1988, S. 256 ff, 270 ff. u.ö.; ders., Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1998 (zit.: Auseinandersetzungen), Sachregister: „Diskursethik – Begründungsteil A und B“; ders., „Diskursethik und die systemischen Sachzwänge der Politik, des Rechts und der Marktwirtschaft“, in: M. Niquet, F. J. Herrero, M. Hanke (Hg.), Diskursethik. Grundlegungen und Anwendungen. Würzburg (Königshausen & Neumann) 2001, S. 181-204. H. Gronke, „Apel versus Habermas: Zur Architektonik des Diskursethik“, in: A. Dorschel, M. Kettner u.a. (Hg.), Transzendentalpragmatik, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1999, S. 273ff, bes. S. 232ff. 7 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 gesellschaftlichen Systeme (wie Recht, Politik, Wirtschaft). Zudem kanalisieren und modifizieren Institutionen die normativen Gehalte durch ihre Routinen und Mechanismen. Daraus ergeben sich zumindest zwei moralphilosophische Realisierungsaufgaben, die bei Jonas zwar anklingen, aber weder eingeführt und differenziert noch aus dem Moralprinzip abgeleitet werden. Es ist dies einmal die Prüfung, welche ethischen Institutionen und Traditionen dem Moralprinzip gerecht werden, so daß sie bewahrt und entfaltet werden sollten. Das wäre ein Diskursschritt B 1. Außerdem stellt sich nun die heikle Aufgabe, in theoretischen Diskursen, und zwar mit zweckrational strategischer Einstellung – die Tradition spricht hier verunklarend von „Klugheit“ –, Durchsetzungsstrategien zu suchen, die zunächst einmal erfolgsfähig sein müssen. Das wäre eine zweckrational strategische Diskursstufe B 2. Dann steht die moralische Legitimationsaufgabe an, in praktischen Diskursen zu prüfen, ob die entwickelten Strategien ihrerseits mit dem Moralprinzip vereinbar sind. Das wäre die moralstrategische Diskursstufe B 3, eine spezifisch verantwortungsethische Erörterung. Erforderlich ist dazu ein gehaltvolles Moralprinzip, das auch Kriterien ermöglicht für die rationale Abwägung jener Folgelasten, welche eine moralische Konterstrategie für die durchaus verschiedenartigen „Betroffenheitslagen“, die „komplexen Entwicklungspfade“ der Gesellschaften (M. Werner)14 und für die schutzwürdigen Moral-, Freiheits- und Kulturgüter einer Gesellschaft nach sich ziehen kann. Daher wäre eine bloß vermeidungsethische Fassung des Moralprinzips, welche geböte, die Vernichtung der Menschheit zu vermeiden, unzureichend. Es bedarf, wie Apel und Werner gegen Jonas ins Feld geführt haben, mehr als eines puren Bewahrungsprinzips und mehr als einer bloßen Ergänzungsethik. Doch bietet Jonas dazu nicht Ansätze? Leistet er nicht für die Herausarbeitung der normativen Gehalte des Moralprinzips einen wichtigen Beitrag durch seinen phänomenologischen Umgang mit ethischen Intuitionen? Können und müßten hier nicht beide ‚Seiten‘ voneinander lernen? Freilich betrifft Jonas’ Beitrag eher die Konkretionsaufgabe (in meiner Architektonik die Ebene A 2) als die Entwicklung und Prüfung moralischer Strategien, die auf der geschichtsbezogenen Ebene B der Verantwortungsethik anzusiedeln wäre. 14 M. Werner, „Erfaßt das ‚Prinzip Verantwortung‘ die Probleme moderner Technologie?“, in: W. E. Müller (Hg.), Hans Jonas. Von der Gnosisforschung zur Verantwortungsethik, Stuttgart (W. Kohlhammer), S. 227ff, hier S. 233f (zit.: Werner 2003b). Ders., „Hans Jonas’ Prinzip Verantwortung“, in: M. Düwell/K. Steigleder (Hg.), Bioethik. Eine Einführung, Frankfurt a.M. (Suhrkamp), S. 41ff, hier S. 43f (zit.: Werner 2003a). 8 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 2. Hans Jonas, Karl-Otto Apel und die Berliner Diskursethik – prinzipienethische Antworten auf die neuartigen Herausforderungen der praktischen Vernunft durch die technologische Zivilisation. Das, worauf Jonas’ „Prinzip Verantwortung“ reagiert, sind zumal die äußeren Herausforderungen der Moral als Herausforderungen für die Anwendung einer praktischen Vernunft, wie sie mit den, von der technologisch-kapitalistischen Zivilisation verursachten, Gefährdungen von Menschheit und Natur gegeben sind. Worin bestehen diese Herausforderungen? Zumal darin, daß sowohl die moralphilosophische und moraltheologische Tradition als auch die lebensweltlichen Moralvorstellungen bzw. Topoi begrifflich und z. T. auch kriteriologisch unzureichend sind; so daß sie die neuen Probleme nicht als moralische Probleme entfalten, geschweige denn lösen können. Die transzendentalpragmatischen bzw. diskurspragmatischen Diskursethiker teilen sowohl Jonas’ Gefahrenanalyse als auch seine moralphilosophische Traditionskritik und Common-senseKritik im wesentlichen. Freilich betonen sie das Erfordernis einer – möglichst durch öffentliche Verständigung mit den Beteiligten und Betroffenen zu ermittelnden – sichernden Interpretation der Bedürfnisse und Betroffenheitslagen. Außerdem sehen sie mit den äußeren Herausforderungen eine innere Herausforderung an die Philosophie als Sachwalterin der Vernunft, als Begründungsdisziplin des Vernunftbegriffs und seiner möglichen Verpflichtungsgehalte, verbunden. Denn infolge der vorherrschenden Gleichsetzung von Vernunft mit theoretisch analytischer und zweckrational kalkulierender Rationalität bestehe eine „Selbstparalyse der Vernunft“ (Apel). Diese lähmende Orientierungs- und Normierungsunfähigkeit der Vernunft, den Verlust also einer praktischen, moralisch gehaltvollen Vernunft, gelte es zu kompensieren durch eine kommunikationsreflexive Transformation der Transzendentalphilosophie Kants. Verkörperte sie doch den Anspruch, allgemeingültig zu zeigen, daß „reine Vernunft für sich praktisch sein kann und es wirklich ist“.15 Allerdings hat sie diesen Anspruch nicht einlösen können. Vorkommunikativ angesetzt, mußte sie den erforderlichen Verbindlichkeitserweis des Moralprinzips – verallgemeinerbare Gegenseitigkeit und Achtung der Menschenwürde – schuldig bleiben und konnte diesen Mangel an transzendentaler Begründung nur durch solipsistische Erkenntnismetaphysik einer Zweiweltentheorie verdecken.16 15 I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 1787, S. 218. Dazu zuletzt: K.-O. Apel, Transzendentalpragmatische Reflexion: Die Hauptperspektive einer aktuellen KantTransformation, in: N. Reyhani (Hg.): Immanuel Kant, Essays Presented at the Mugla International Kant Symposium. Ankara 2006. S. 279-282. 16 9 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Während Apel konsequent auf eine transzendentale Pragmatik setzt – Selbstaufklärung der Vernunft als internes Kommunikations- und Anerkennungsverhältnis –, konfrontiert Jonas die äußere Bedrohungslage der Menschheit direkt mit ethischen Intuitionen und mit den philosophischen Ethiktraditionen, was einerseits zur präzisierenden Rekonstruktion intuitiv gegebener Werte und ihrer normativen Gehalte führt, andererseits aber eine scharfe Kritik der moralphilosophischen Tradition zur Folge hat. Doch bringt er, um jene Rekonstruktion zu rechtfertigen, auch transzendentale Reflexionen ins Spiel: Skizzen einer transzendentalphänomenologischen Selbstaufklärung der Vernunft. Deren Fragestellung und geltungslogische Reichweite ist der transzendentalpragmatischen Selbsteinholung der Vernunft und Wissenschaft verwandt, wiewohl sie das Apriori der Kommunikation in den kognitiven Leistungen traditionell übergeht. Darauf kommen wir später. Jonas’ Analyse der technologischen Selbstgefährdung der Menschheit mündet in eine Traditionskritik, welche zunächst drei Erweiterungen des Problemhorizonts der Ethik geltend macht. Diese lassen sich gut mit den Begriffen der drei Auswirkungsdimensionen menschlichen Verhaltens in der technologischen Zivilisation erläutern, die Karl-Otto Apel 1973 eingeführt hatte.17 Die Dimensionierung der ethischen Probleme sei in der Tradition räumlich und zeitlich eingeschränkt gewesen: zunächst auf das Verhalten zwischen Personen, also auf eine soziale Mikro-Dimension, dann auf das Verhältnis zwischen Staaten und Völkern, in der politischen Meso-Dimension von Diplomatie, Kriegsführung und Völkerrecht. Im 20. Jahrhundert habe jedoch die technische Praxis neuartige Faktoren in die „moralische Gleichung“ eingeführt, nämlich einmal die hochtechnologische „Unumkehrbarkeit im Verein mit ihrer zusammengefaßten Größenordnung“. In der Tat: Eine ganz neue, zumal ökologische Makro-Dimension ergibt sich (was bereits Apel als neue, externe Herausforderung der praktischen Vernunft analysiert hatte) jetzt daraus, daß die Wirkungen des hochtechnologisch vermittelten Kollektiv- und Systemverhaltens zunehmend räumlich und zeitlich nicht mehr eingrenzbar sind. Hinzu kommt, wie Jonas betont, „ihr kumulativer Charakter: gewisse Wirkungen addieren sich, so daß die Lage für späteres Handeln und Sein nicht mehr dieselbe ist wie für den anfänglich Handelnden, sondern zunehmend davon verschieden und immer 17 Karl-Otto Apel, Transformation der Philosophie II, Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1973 (zit.: Transformation II), S. 359-361. Ders., „Die Situation des Menschen als Herausforderung an die praktische Vernunft“, in: ders., Böhler, Kadelbach (Hg.), Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik: Dialoge, Bd. 1, Frankfurt/M. (Fischer-TB) 1984, hier: S. 49 ff. 10 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 mehr ein Ergebnis dessen, was schon getan ward.“ Demgegenüber habe „alle herkömmliche Ethik [...] nur mit nicht-kumulativem Verhalten“ gerechtnet.18 Naiv erscheint Jonas auch der Erkenntnisbezug des traditionellen ethischen Urteils. Schließlich ging sowohl die aristotelisch-thomasische Tradition der Wertethik bzw. Glücksethik eines guten Lebens als auch die normative Ethik seit Kant ganz selbstverständlich von einer schlichten alltagsweltlichen Voraussetzung aus: da die sittlichen Probleme aus dem ‚mir‘ jeweils vertrauten „Nahkreis des Handelns“ entspringen, kann ‚ich’ auch jeweils aufgrund ‚meines‘ alltagsweltlichen Erfahrungswissens und ‚meines‘ common sense erkennen, was moralisch richtig oder praktisch gut ist.19 Demgegenüber pointiert Jonas, daß die kumulative technologische Veränderung der Welt „lauter präzedenzlose Situationen“ schaffe, für die „die Lehren der Erfahrung ohnmächtig“ seien. Was folgt daraus? Zunächst offenbar die Konsequenz: „Unter solchen Umständen wird Wissen zu einer vordringlichen Pflicht [...], und das Wissen muß dem kausalen Ausmaß unseres Handelns größengleich sein.“20 Offenbar ergibt sich zunächst eine neue Pflicht, die das moralische Urteil an das wissenschaftliche Wissen bindet. Nunmehr sieht sich der Mensch dem neuen moralischen Erfordernis gegenüber, sich bestmögliches Folgenwissen seines weitreichenden, lebensumwälzenden und u. U. lebensgefährlichen high-tech-Verhaltens und –Planens zu beschaffen. Nicht zuletzt diese Einsicht ist es, welche einen wichtigen Aspekt der Diskursethik hervorgebracht hat, nämlich das Postulat, eine Ethik müsse heute mit theoretisch-empirischen Diskursen verbunden werden, um das zur Urteilsbildung erforderliche weitreichende, beispielsweise ökologische, Wissen zu erhalten. Freilich richten die Diskursphilosophen das Augenmerk darauf, daß alle konkreten praktischen Diskurse über die Frage, was wir in einer bestimmten Situation tun sollen, wegen ihrer Abhängigkeit von empirisch theoretischer Wissensbildung und ihrer Angewiesenheit auf die Interpretation komplexer Situationen grundsätzlich fallibel seien. Deshalb gelte es, sowohl ihre Irrtumsfähigkeit zu berücksichtigen, als auch die Revisionsfähigkeit der darauf gestützten praktischen Urteile und Maßnahmen zu gewährleisten. Diese Statusüberlegung radikalisiert Jonas, und zwar durch eine Reflexion, deren wissenschaftstheoretischer Gehalt mit einer 18 19 20 Jonas, P.V., S. 27. Jonas, P.V., S. 23 ff. Jonas, P.V., S. 28. 11 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Grenzerkenntnis Karl R. Poppers übereinkommt21: das Folgenwissen in nicht-geschlossenen Systemen, mithin ein prospektives Wissen für die geschichtliche Welt und für die Biosphäre der Erde könne nie das einer bedingten Prognose sein. Folglich bleibe es stets unzulänglich. Jonas pointiert nun, daß sich aus der Nichtprognostizierbarkeit der ökosozialen Technologiefolgen ein scheinbar paradoxes Ausgangsproblem der Verantwortungsethik als einer Wissens-Ethik ergibt: „Daß das vorhersagende Wissen hinter dem technischen Wissen, das unserem Handeln die Macht gibt, zurückbleibt, nimmt selbst ethische Bedeutung an. Die Kluft zwischen Kraft des Vorherwissens und Macht des Tuns erzeugt ein neues ethisches Problem. Anerkennung der Unwissenheit wird dann die Kehrseite der Pflicht des Wissens und damit ein Teil der Ethik“22. Daraus leitet er die eigentümliche Pflicht zur Folgen-Vorsicht ab. So weit so gut. Allerdings haben diese Argumentationen von sich aus keine moralische Verbindlichkeit. Sie enthalten keinen Grund einer solchen. Diejenigen, die nicht schon vor der Argumentation zu einer moralischen Welt-Verantwortlichkeit entschlossen sind, sondern nach einer rationalen und intersubjektiv gültigen Begründung für eine solche fragen, können sie nicht überzeugen. Wenn man den arationalen Entschluß zu einer solidarischen Verantwortung für die Menschheitszukunft, also auch für eine „Weiterwohnlichkeit der Welt“ (Hans Jonas), nicht schon mitbringt, also einen „act of faith“ (Karl R. Popper), dann ist mit diesen Überlegungen nichts geholfen. Kann Vernunft dann überhaupt etwas ausrichten? Ist überhaupt eine praktische Vernunft möglich, durch die sich erweisen ließe, daß für Menschen als Vernunftwesen bestimmte moralische Pflichten gelten? Gibt es eine praktische, moralisch verbindliche Vernunft? Der Hauptstrom des modernen westlichen Denkens beantwortet diese Gretchenfrage, die Legitimationsfrage der Ethik im allgemeinen und der neuen Zukunftsverantwortungsethik im besonderen, negativ. Eben darin, daß es nicht rational begründbar sondern bloß durch Glaubensentscheidungen motivierbar sei, moralisch sein zu wollen und zu sollen bzw. zukunftsverantwortlich sein zu wollen oder zu sollen – darin erkennt Karl-Otto Apel die innere Herausforderung der Vernunft und der Philosophie als ihrer Sachwalterin: Ist praktische Vernunft im Wissenschaftszeitalter möglich? 21 Vgl. Karl R. Popper, „Naturgesetz und theoretische Systeme“, in: H. Albert (Hg.), Theorie und Realität, Tübingen (Siebeck/Mohr) 1964. Auch in Topitsch (Hg.), Logik der Sozialwissenschaften, Köln (Kiepenheuer) 41967. 22 Jonas, P.V., S. 28. 12 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Was können Apel und die anderen Transzendentalpragmatiker auf der Suche nach einer Antwort anbieten? Das, was sie zunächst – dank der Apelschen Abhandlung über das Kommunikationsapriori der Ethik (1973) – in die Diskussion gebracht haben, ist eine diskursund wissenschaftspragmatische Einsicht: bereits das Kernstück der naturwissenschaftlichtechnologischen Rationalität, das theoretisch-empirische Wissen, als wahrheitsfähiges Wissen lasse sich allein in der dialogischen und daher moralisch geladenen Form eines Diskurses unter gleichberechtigten Argumentationspartnern geltend machen. Insofern setze auch der Naturwissenschaftler voraus, daß er andere Wissenschaftler – logisch gesehen aber alle möglichen kompetenten Diskursteilnehmer – als gleichberechtigte Diskurspartner anerkennen soll und will. Schon diese Gerechtigkeitspräsupposition zeigt, daß die Herausarbeitung der Diskussionsform des Wissens moralisch von Belang ist.23 Diese wissenschafts- und diskurspragmatische Reflexion bringt eine Ethik des Diskurses auf die Bahn: Diskursethik, als genitivus subiectivus verstanden. Denn diese Besinnung auf die Argumentationspragmatik im Rücken der Forschung – das Forschen ist ja zugleich ein Geltendmachen von Hypothesen und Theorien bzw. ein Kritisieren solcher, mithin ein argumentativer Diskurs – deckt eine implizite Wissenschaftsethik als Ethik der Diskurspartner auf. So lieferten Apels Programm einer transzendentalpragmatischen Aufdeckung des Kommunikationsaprioris24 und das einer Rekonstruktiven Pragmatik25 den Grundriß einer Ethik für Diskurse und konnten dadurch sokratisch-kantisch an Popper anknüpfen. Dessen kritisches Wissenschaftsethos, von ihm selbst als eine bloße Entscheidungsangelegenheit angesehen, wurde (hinsichtlich dieser Deutung) als ein dezisionistisches Mißverständnis zurückgewiesen; doch konnte sein normativer Gehalt, das Ethos des selbstkritischen Forschers in einer offenen Gemeinschaft, als angemessene Entsprechung zur intersubjektivdialogischen Form des Habens, Beanspruchens und Geltendmachens einer Erkenntnis aufgewiesen werden. Denn das Erheben von Geltungsansprüchen schließt Moralität ein – zunächst in Form der Anerkennung substantieller moralischer Verpflichtungen gegenüber allen möglichen Diskurspartnern. 23 K.-O. Apel, Transformation II, S. 324ff, 395ff. D. Böhler, „In dubio contra projectum“, in: ders. (Hg.), Ethik für die Zukunft, München (C.H. Beck) 1994 (zit.: E.Z.), bes. S. 255ff, 268ff. 24 K.-O. Apel, „Sprache als Thema und Medium der transzendentalen Reflexion“, in: ders., Transformation II, S. 311ff, bes. 327ff. Ders., „Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft. Grundlagen der Ethik“, ebd., S. 358ff. 25 Böhler, Rekonstruktive Pragmatik. Von der Bewußtseinsphilosophie zur Kommunikationsreflexion: Neubegründung der praktischen Wissenschaften und Philosophie, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1985 (zit. Rekonstruktive Pragmatik), Kap. II und VI. 13 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Wenn aber in den Präsuppositionen der wissenschaftlichen Rationalität und in den Präsuppositionen des Argumentierens moralische Verbindlichkeiten aufweisbar sind, dann ist Vernunft, nun rekonstruiert als dialogische Praxis des Argumentierens, nicht bloß theoretischer, technischer, ökonomischer Natur, nicht ein bloßes Vermögen des Analysierens und Rechnens, sondern zugleich moralisch orientierend und verpflichtend. Dann ist eine moralisch bedeutsame Selbsterkenntnis der Vernunft möglich, welche die moderne Selbstinfragestellung der praktischen Vernunft als gegenstandslos erweist – als Selbstverfehlung der Praxis des Geltung-Beanspruchens und Etwas-Geltendmachens. Jene innere Herausforderung der Idee einer moralisch-praktischen Vernunft durch das vorherrschende moderne Vernunftverständnis hat Karl-Otto Apel als Komplementarität analysiert: Einerseits werde die wissenschaftlich-theoretische Ratio und das formale Kalkül der Zweckrationalität als die Vernunft schlechthin monopolisiert; andererseits würden Wertund Normfragen zu einem ‚act of faith‘ (Popper), einem existenziellen und irrationalen Entscheidungsakt subjektiviert. Gemäß dieser auch von Jonas berührten Komplementarität26, welche Apel als „Komplementaritätssystem“ des modernen westlichen Geistes entfaltet, gilt die Idee einer praktischen Vernunft als obsolet und illusorisch.27 Unter ihren Voraussetzungen erscheint es sinnlos, moralische Ansprüche auf der intersubjektiven Ebene der Vernunft, also des Erweisbaren, prüfen und rein argumentativ darüber befinden zu wollen. Es gilt dann als unmöglich, praktische Fragen wie die Frage nach dem „Vorrang eines Ziels gegenüber anderen unter dem Aspekt der Vernunft zu diskutieren...“.28Vernunft wird auf formale Logik plus theoretisch-empirische Kausalerklärung bzw. auf Zweckrationalität verkürzt, sie schrumpft zur „subjektiven“ und „instrumentellen Vernunft“ (Max Horkheimer). Abb. 1: 26 Jonas, P. V., S. 57. „Die Komplementarität zwischen wertfreiem Objektivismus der Wissenschaft einerseits, existentiellem Subjektivismus der religiösen Glaubensakte und ethischen Entscheidungen andererseits erweist sich als der moderne philosophisch-ideologische Ausdruck der liberalen Trennung zwischen öffentlichem und privatem Lebensbereich, der sich im Zusammenhang mit der Trennung von Staat und Kirche herausgebildet hat.“ In: Apel, Transformation II, S. 370, vgl. 361-378. Weiterentwickelt in: ders., „Die Selbstinfragestellung der praktischen Vernunft in der Gegenwart“, in: Apel, Böhler, Rebel (Hg.), Funkkolleg/Studientexte, Bd. 1, S. 130-137. Vgl. ders. Diskurs und Verantwortung, S. 26-36, 58ff. 28 M. Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, hg. von A. Schmidt, Frankfurt am Main (Fischer) 1967, S. 17. 27 14 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Analyse der technologischen und liberalen Zivilisation als ‚Komplementaritätssystem‘ im Anschluß an Apel Auf der einen Seite ... Auf der anderen Seite ... steht die (von Max Weber an Hand des großen neuzeitlichen Säkularisierungs- / Rationalisierungsprozesses beschriebene) Entwicklung von steht eine Verdrängung aller zweckrationalen Standards moralischen Wert- und Normgesichtspunkte in den Bereich des rational nicht Fassbaren, des im weitesten Sinne mit ihren (z.B. von Jürgen Habermas untersuchten) Sub- und Nebenformen – der wissenschaftlich-technischen Rationalität einer am Erfolg kontrollierten Naturbeherrschung, – der ökonomischen Rationalität des effizienten Mitteleinsatzes bei vorgegebenen Zwecken, – der strategischen Rationalität wechselseitiger Instrumentalisierung zu je eigenen Zwecken, – der pragmatischen Verfahrensrationalität der öffentlichen Willensfeststellung per Mehrheitsbeschluß usw. Irrationalen, eine Entwicklung, die sich gesellschaftspolitisch in der Privatisierung der moralischen Urteilsbildung und philosophisch in der Strömung des Existentialismus niedergeschlagen hat. Komplementär sind diese Seiten insofern, als a) alles, was in den Bereich des Irrationalen fällt, im Bereich des Rationalen nicht vorkommt und umgekehrt, andererseits aber b) die Annahme eines Bereichs des Irrationalen Voraussetzung für den Bereich des Rationalen ist und umgekehrt: der Wissenschaftler, der im Labor seine erfolgskontrollierten Experimente durchführt, muß, indem er experimentiert, moralische Wert- und Normfragen aus dem Blickfeld nehmen (methodologische Werturteilsenthaltung); der Existentialist, der sich in der außergewöhnlichen Situation einer „Ur-Entscheidung für/gegen Vernunft“ wähnt, setzt selbstverständlich voraus, daß die Welt um ihn herum weiterhin „funktioniert“ und dieses „Funktionieren“ anhand von Rationalitätsstandards zu erklären ist. Wenn kein anderer Vernunftbegriff zur Verfügung steht oder möglich sein sollte als der moralneutrale i. S. einer Zweckrationalität, dann verfällt freilich das Sich-Verantworten gegenüber den (moralischen) Ansprüchen Anderer einem Wertsubjektivismus, einem Rückzug auf die Wertwahl einer Person oder Gruppe (samt Tradition), die allenfalls noch plausibel gemacht werden kann. Von jener Subjektivierungsgefahr, letztlich Beliebigkeitsgefahr der Ethik ist Jonas durchdrungen. Das motiviert ihn dazu, die traditionelle substanzielle, nämlich objektive Vernunft, die den Wert des Seins aus diesem selbst vernehmen will, zu erneuern. Es ist dies ein metaphysisch teleologischer, auf die aristotelischthomasische Tradition zurückgreifender Ansatz, der das „Prinzip der Ethik“ aus der „Natur des Ganzen“, nämlich aus dem im Menschen gipfelnden Leben begründen will, – und insofern aus dem, „was die Theologie als ordo creationis zu bezeichnen pflegte.“29 So 29 Jonas, „Epilog – Gnostizismus, Existentialismus und Nihilismus“, in: ders., Gnosis. Die Botschaft des unbekannten Gottes, Frankfurt a.M. (Insel) 1999 (zuerst als „Gnosis und Nihilismus“ in: Kerygma und Dogma, 1960, S. 155-171). 15 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 formulierte Jonas programmatisch im Epilog zu seiner evolutionären Ontologie des Lebendigen: „Organismus und Freiheit“. Zuvor hatte er jedoch unmißverständlich klargemacht, daß er systematisch nach Nietzsches Proklamation des Todes Gottes und nach Heideggers „Sein und Zeit“ denkt. Denn er vertritt nicht etwa objektivistisch eine Ontotheologie, derzufolge Gott das Sein selbst bzw. der Grund des Seins sei und auch als dieses principium des Seins erkennbar sei, sondern er nimmt die Immanenz der Welt, die Endlichkeit des Lebens und die Zeitlichkeit des menschlichen Daseins ernst. Darin ist er so konsequent, daß er in seinem spekulativen Mythos eines möglichen Schöpfergottes die Idee dieses Gottes selbst jenen Bestimmungen und insofern das Transzendente der Immanenz unterwirft.30 Insofern entsubstantialisiert Jonas seinen metaphysischen Ansatz und verbindet ihn mit dem methodischen Atheismus, der den modernen Wissenschaften zugrundeliegt und der vom nachkierkegaardschen Existentialismus aufgenommen wird.31 Dazu paßt es, daß Jonas schon 1964 Heideggers mystisch-ontotheologische „Kehre“ als Flucht vor der Rechtfertigungsaufgabe des Denkens verworfen hatte. Er unterzog sie nämlich einer schneidenden Sinnkritik: diese neue Seinstheologie verbinde den demütigen Gestus des Vernehmens des Seins mit dem hybriden Anspruch, daß durch den Seinsdenker, also durch Heidegger, „das Wesen der Dinge selbst spricht“. So aber werde die (in Wahrheit doch von jeder Theorie erneut zu überbrückende) Subjekt-Objekt-Spaltung scheinhaft erlassen oder vermieden: Heidegger suggeriere nur, sie könne überwunden werden. In Wahrheit mache er sich ungreifbar und völlig unangreifbar. Diskurspragmatisch hieße das: Heidegger entzieht sich dem argumentativen Diskurs. Jonas selbst charakterisiert eine solche selbstimmunisierte Ontotheologie als „die enormste Hybris in aller Geschichte des Denkens.“32 Gegen den ontotheologischen, den „anfänglichen“ und „wesentlichen“ Denker Heidegger, den er geradezu als „Bauchredner des Seins“ apostrophieren kann, macht er, in lockerem Anschluß an Edmund Husserl,33 geltend, daß der Denker und das Denken verantwortlich seien, ja daß das Denken „entscheidend von der Auffassung seiner Verantwortlichkeit“ abhänge.34 30 31 32 Jonas, Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, Frankfurt a.M. (Insel) 1992 (zit. Philosophische Untersuchungen), bes. S. 190-197, 243-247. Jonas, Erinnerungen, Frankfurt a.M. (Insel) 2003, S. 93. Ders., Gespräch mit H. Koelbl, in: H. Koelbl (Hg.), Jüdische Portraits, Frankfurt am Main, (Fischer TB) 1998, S. 170, Sp. 2. Jonas, „Heidegger und die Theologie“, Vortrag von 1964, deutsch in: G. Noller (Hg.), Heidegger und die Theologie, Beginn und Fortgang der Diskussion, München (Christian-Kaiser-Verlag) 1967, S. 316-340, hier S. 335f. 33 34 Ebd., Fußnote 30, S. 336. 16 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Im Einklang mit dem husserlschen Prinzip der Selbstverantwortlichkeit der Philosophie legt Jonas denn auch großen Wert darauf, den geltungsmäßigen Stellenwert seiner eigenen metaphysischen Ontologie und seiner spekulativen Theologie distanziert und kritisch zu erörtern. In selbstverantwortlicher Redlichkeit wahrt er die ontologischen Differenzen zwischen Denker und Gedachtem, zwischen Endlichkeit und möglicher Nicht-Endlichkeit. So spricht er von Gott nur in doppelter Einklammerung: als möglichem Gott, über den er wiederum nur „Vermutungen“ ohne (strengen) Wahrheitsanspruch vorzubringen habe.35 Die Subjekt-Objekt-Differenzen ernstnehmend, denkt er über das Sein-Können eines möglichen Schöpfergeistes nach, indem er behutsam fragt, ob und wie sich die Vermutung (wohlgemerkt!) eines Schöpfergottes heute noch sinnvoll entwickeln lasse. Nicht mehr und nicht weniger. Er argumentiert bewußt als ein nachkantischer und nachhusserlscher Metaphysiker. Das trennt ihn sowohl von der klassischen und thomistischen Ontotheologie als auch von der des späten Heidegger. Diesem kritischen Zug wird weder Vittorio Hösle gerecht, wenn er Jonas schlicht eine „ontotheologische Begründung der Ethik“ zuspricht36, noch Micha Werner, der bei Jonas eine „objektivistische Moralbegründung“ erblickt37. Ohne objektivistische seinstheologische Prämissen will Jonas den naturalistisch monistischen Zug und die Teleologie der klassischen bzw. thomistischen Ontologie neu denken. Ohne Rückgriff auf göttliche Autorität oder auf Allmachtsannahmen will er schöpfungstheologisches Erbe, so die „Heiligkeit des Lebens“ und die „Hütung des Ebenbildes“, in Besitz nehmen38. „Philosophierend habe ich von Möglichkeiten gesprochen, nicht von Wirklichkeiten.“39 In der Tat ist ein hypothetisches Denken der Möglichkeit eines Schöpfergottes, der sich gänzlich dem Weltabenteuer der Immanenz überantwortet habe, etwas grundsätzlich anderes als das (gegenstandsbezogene und ausweisbare Wahrheit beanspruchende) Schauen bzw. Vernehmen von Gott als tatsächlichem Grund des Seins. Jonas’ ontologisch-teleologischer Ansatz – er nennt ihn mit Vorliebe „metaphysisch“ und „ontologisch“ –, bringt ihn von Anbeginn in die Prinzipiendimension und läßt ihn auch das Ethische aus dieser denken. Außerdem gewinnt er durch den Rückgriff auf die biblisch priesterschriftliche Lehre von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen (1. Buch Mose, 1,26f) den normativen Gehalt des Grundsatzes der (zu achtenden) Menschenwürde. Dadurch 35 Jonas, Philosophische Untersuchungen, 3. Teil, S. 171-255. V. Hösle, „Ontologie und Ethik bei Hans Jonas“, in: E.Z., S. 120f. Zur Sache: W. Ch. Zimmerli, „Philosophie in einer Gott-verlassenen Welt“, in: E.Z., S. 151ff, bes. S. 159ff. 37 Werner 2003a, S. 48. 38 Jonas, P.V., S. 57f, 63, 392f. 39 Jonas, „Im Kampf um die Möglichkeit des Glaubens. Erinnerungen an Rudolf Bultmann und Betrachtungen zum philosophischen Aspekt seines Werkes“, in: ders., Wissenschaft als persönliches Erlebnis, S. 75. 36 17 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 erweitert er die Perspektive einer bloßen Bewahrung der Gattung, in deren Sinne sich die erste Formel seines kategorischen Imperativs der Zukunftsverantwortung unter Umständen verstehen läßt: „Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“40 Karl-Otto Apels Kritik hat Jonas darauf festlegen wollen.41 Unangemessenerweise; denn sie überspringt den Kontext und den Rekurs auf Menschenwürde, mit dem das Werk auch schließt: „Um die Hütung des ‚Ebenbildes’.“42 Allerdings ist zu fragen, was Jonas zum Begründungsproblem, d.h. zu einem Verbindlichkeitserweis des Prinzips der Ethik beiträgt. Wenn ein Verantwortungsprinzip der aussichtsreiche Kandidat für die Bestimmung des grundlegenden Moralprinzips sein sollte – wo wäre dann ein solches Prinzip gleichsam zu lokalisieren: primär im Sein oder primär im Dialog der Argumente bzw. im Diskurs, in welchem auch ein Seinsdenker, dadurch, daß er denkend etwas geltend macht, sich je schon befindet? Schließlich stellt sich die Frage, welche differenzierenden Kriterien bzw. normativen Bedeutungsgehalte (etwa Gerechtigkeit, Öffentlichkeit und Kommunikationsfreiheit) intern mit dem Verantwortungsprinzip verbunden werden müßten – besser: als mit ihm verwoben aufzuweisen sind. Müßte Jonas, wenn er diese Frage ernstnimmt, nicht die „doppelte Vereinfachung“ zurücknehmen, die in den Kollektivierungen der vielerlei Beteiligten zu der jetzt lebenden Menschheit und den sehr unterschiedlichen Betroffenen zu der künftigen Menschheit steckt? Micha Werner hat darauf mit Recht hingewiesen43. Die hier nötigen Differenzierungen sind ja Diskursdifferenzierungen. Sie ergeben sich als solche mit innerer Logik, wenn man das Verantwortungsprinzip aus dem Dialogprinzip entwickelt: durch Rückgang auf das Sich-im-Diskurs-Verantworten. Eben das ist der komplementäre, nichtmetaphysische Prinzipienansatz der Berliner Diskurspragmatik und Dialogpragmatik: eine sokratische Ethikbegründung durch rationale sinnkritische Beweisführung im Dialog mit dem Skeptiker. Deren Ergebnis müßte jeder aus stichhaltigen Gründen zustimmen können – auch der ex professo Ungläubige, der skeptische Diskursteilnehmer, dem wir mit keiner bloßen Glaubensannahme kommen können. 40 Jonas, P.V., S. 36. Apel, „Verantwortung heute...“ in: ders., Diskurs und Verantwortung, S. 179ff, vgl. auch das Gespräch mit Apel in: Apel und Burckhart (Hg.), Prinzip M.V., S. 97ff. 42 Jonas, P.V., S. 392f. 43 Werner 2003b, S. 227ff, hier S. 234 und 240. 41 18 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 3. 23.07.2007 Metaphysische versus reflexiv dialogische Begründung des Prinzips Mitverantwortung? Seinen metaphysisch ontologischen Begründungsweg fortsetzend, entwarf Jonas 1985, überarbeitet 1992, den „Versuch einer ‚metaphysischen Deduktion’ der Verantwortungsethik“.44 Bemerkenswerterweise geht er hier in einer sokratisch kantischen Manier zurück auf das, was Menschen als ethische Fähigkeit mitbringen und was sie als normative Verpflichtung nicht bezweifeln können: „Der Mensch ist das einzige uns bekannte Wesen, das Verantwortung haben kann. Indem er sie haben kann, hat er sie. Die Fähigkeit zur Verantwortung bedeutet schon das Unterstelltsein unter ihr Gebot: das Können selbst führt mit sich das Sollen. Die Fähigkeit aber zur Verantwortung – eine ethische Fähigkeit – beruht in der ontologischen Befähigung des Menschen, zwischen Alternativen des Handelns mit Wissen und Wollen zu wählen. Verantwortung ist also komplementär zu Freiheit.“45 Das Manuskript hatte Jonas Hans-Georg Gadamer mit der Bitte um dessen Urteil zugesandt. Dieser hebt in seiner Antwort hervor46, daß Jonas seine Deduktion einer Pflicht zur (Mit-) Verantwortung für „die Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden“ eigentlich durch Rückgang auf ein moralisches Grundfaktum der Vernunft gewinne. „Im Grunde folgen ja auch Sie Kant, wenn Sie von der Gegebenheit der Verantwortung reden: das ist das Vernunftfaktum der Freiheit.“47 Gadamer übergeht allerdings, daß der Rückgang auf die Verantwortungsfähigkeit als „ursprüngliches Erfahrungsdatum“ in einen naturalistischen Fehlschluß48 führt oder gar in einen, wie Jonas selbst erörtert, „logischen Zirkeltrug“ nach Art des ontologischen Gottesbeweises. Letzterem will Jonas dadurch entgehen, daß er aus der begrifflichen ‚Essenz‘ eines ursprünglichen Erfahrungsdatums (nämlich aus dem Begriff der Menschheit) allein die Pflicht zur Fortsetzung von deren Existenz ableitet. Das sei dann „zwar ein Schluß von Essenz zu geforderter Existenz, doch kein Zirkelschluß von Essenz zu gegebener Existenz. Also ist unser Argument kein leeres. Aber es ist auch kein Beweis. Es ist an gewisse unbewiesene, axiomatische Voraussetzungen gebunden: nämlich, daß Verantwortungsfähigkeit an sich ein 44 Jonas, Brief an H.-G. Gadamer, 9. Nov. 1985, in: Böhler/Brune, 2004, S. 480. Jonas, Philosophische Untersuchungen, S. 130f. 46 H.-G. Gadamer, Brief an H. Jonas, 21. April 1986 in Antwort auf das Schreiben von Jonas vom 9. November 1985, in: Böhler/Brune, 2004, S. 471-482, hier: 481f. 47 H.-G. Gadamer, Brief an H. Jonas, vom 21. April 1986, a.a.O., S. 481. Gadamer pointiert also die Analogie zu Kants These einer Verwobenheit der moralischen Autonomie mit der Einsicht in das Sittengesetz als dem „Faktum der reinen Vernunft“, nach: Kritik der praktischen Vernunft, 1787, S. 55ff. 48 So Karl-Heinz Ilting, „Der naturalistische Fehlschluß bei Kant“, in: M. Riedel (Hg.), Rehabilitierung der praktischen Philosophie, Freiburg i.Br. (Rombach) 1972, Bd.1, S. 113-130. Wiederum in: K.-H. Ilting, Grundfragen der praktischen Philosophie, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1994, S. 277-295. 45 19 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Gut ist, also etwas, dessen Anwesenheit seiner Abwesenheit überlegen ist; und daß es überhaupt ‚Werte an sich‘ gibt, die im Sein verankert sind – daß letzteres also objektiv werthaltig ist.“49 Als ein Philosoph, dem die, von Kant als Selbstverpflichtung der Vernunft geltend gemachte, Tugend der Wahrhaftigkeit eingeschrieben ist, zieht Jonas daraus die Konsequenz: „Letztlich kann mein Argument nicht mehr tun, als vernünftig eine Option begründen [...]. Besseres habe ich leider nicht zu bieten.“50 In seinem Brief an Gadamer schließt er damit, daß er glaube, über dieses „Wagestück“ nicht mehr „hinauszukommen (was zwar nötig wäre).“51 Einerseits räumt Jonas damit ein, die Komplementarität des modernen westlichen Geistes nicht überwunden zu haben – eine bloße Option gehört auf die subjektiv existenzielle Seite der Komplementarität. Sein Begründungsziel, die Subjektivität in Wert- und Normenfragen aufzuheben, hat er demnach verfehlt. Andererseits transzendiert – darauf weist Gadamer hin – seine sokratisch kantische Denkweise hier sein metaphysisches Selbstverständnis. Gehen wir das Problem noch einmal durch: Ohne Zirkel im Beweis und ohne naturalistischen Fehlschluß – d.h. ohne Erschleichung des zu erweisenden normativen Gehalts, man solle verantwortungswillig sein (moralisches Sollen), durch dessen stillschweigende Einbeziehung in das empirische Faktum, daß Menschen die Fähigkeit besitzen, Verantwortung zu übernehmen (Seins-Faktum, bloße Tatsache ohne eingeschlossene Anerkennung einer Norm) – können wir Jonas’ Intuition aufnehmen und zwingend neu denken, wenn wir dreierlei tun: 0 präzisieren, daß es (in moralischer Hinsicht) nicht bloß um Verantwortungsfähigkeit, sondern zumal um Verantwortungswilligkeit bzw. -bereitschaft geht; die Pflicht dazu wäre als allgemeinverbindlich zu erweisen, wozu es zunächst einer klaren Bestimmung des moralischen Beweisziels bedarf; 1 entwickeln, daß Verantwortungsbereitschaft zu den Voraussetzungen des argumentativen Dialogs gehöre, also eine kohärente Rekonstruktion dieser durchführen; 2 sodann durch eine sokratische Dialogreflexion einem Skeptiker im Dialog der Argumente andemonstrieren, daß auch er (tu quoque) eine Pflicht zur Verantwortungsbereitschaft implizit dadurch anerkannt hat, daß er in einen argumentativen Dialog mit anderen/mit uns eingetreten ist. 49 Jonas, Philosophische Untersuchungen, S. 139. Ebd., S. 140. 51 Jonas in: Böhler/Brune, 2004, S. 480. 50 20 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 Erläutern wir noch einmal den ersten, bloß 23.07.2007 vorbereitenden Beweisschritt, die diskurspragmatische Rekonstruktion. Diese entwickelt, daß kommunikative Freiheit, die wir in Anspruch nehmen, indem wir etwas Eigenes, das wir geltend machen wollen, vorbringen (etwa ‚meinen‘ Gedanken über Freiheit jetzt), und Verantwortung im Dialog, die wir anerkennen, indem wir Anderen gegenüber etwas zur Geltung bringen, von vornherein an dem ebensowohl logischen wie ontologischen Ort verwoben sind, an dem wir beide voraussetzen und ins Spiel bringen. Dieser Ort ist der Dialog. Denn im Dialog machen wir von unserer Freiheit Gebrauch, indem wir Ansprüche auf Geltung für das, was wir vorbringen, erheben. Diese kommunikative Freiheit können wir jedoch nur in dem Maße verwirklichen, als wir auch zur Verantwortung bereit sind gegenüber den Anderen, die am Dialog teilnehmen, und gegenüber denen, über die wir reden bzw. um deren Ansprüche es geht. Gleichursprünglich mit ‚meiner‘ Freiheit ist im Dialog ‚meine‘ Anerkennung dessen, daß ‚ich‘ anderen Rede und Antwort stehen können muß. In der Dialogsituation ist meine Freiheit gleichursprünglich mit meiner Bereitschaft, mich zu verantworten für das, was ‚ich‘ frei äußere. Diese Bereitschaft betrifft unmittelbar meine Selbstverantwortung in dem gerade geführten Diskurs. Mittelbar betrifft sie mein Engagement für die Realisierbarkeit und die konkrete Realisierung des argumentativen Diskurses als Institution der gemeinschaftlichen Wahrheits- und Richtigkeitssuche: Meine Mitverantwortung. Was ‚meine’ mit ‚meiner’ kommunikativen Freiheit gleichursprüngliche Mitverantwortung anbelangt, so erstreckt sie sich sowohl auf den Dialog als Verfahren und Institution, wie auch auf die Subjekte als Träger von Ansprüchen, die im Dialog zu berücksichtigen sind. Sie bezieht sich thematisch darauf, daß ‚wir’ dafür sorgen, die zu untersuchenden Probleme hinreichend zu explizieren etc., institutionell aber darauf, daß wir uns um angemessene Randbedingungen für die Untersuchung bemühen. Insbesondere um, (a) Diskursgerechtigkeit nicht allein unter den Teilnehmern, sondern schon bei deren Auswahl (welche Ansprüche sollten, direkt oder advokatorisch, in diesem Diskurs vertreten werden?), (b) praktisches Engagement dafür, daß eine Revision fehlerhafter Diskursergebnisse möglich ist und gegebenenfalls durchgeführt wird: Fallibilitätskontrolle, (c) praktisches Engagement dafür, daß die Diskursergebnisse möglichst in die soziale Wirklichkeit gebracht und in die Tat umgesetzt werden: praktische Diskursrelevanz, (d) praktisches Engagement dafür, daß die politischen und sozialen Realisierungsbedingungen für öffentliche argumentative Diskurse überall (weltweit) verbessert oder erst geschaffen 21 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 werden: globale Diskursmöglichkeit. Wozu? Damit in allen Kontexten und für alle Problemsituationen wahrheitsfähige und rechtfertigungsfähige Lösungen möglich sind. Der erste Begründungsschritt, die rekonstruktive Pragmatik des Diskurses, hätte also (unter anderem) die Aufgabe, die Verantwortungsbereitschaft in ihrer Verwobenheit mit der kommunikativen Freiheit als unbezweifelbarer Begleitphänomene und Voraussetzungen der Kommunikation aufzudecken. Die eine ist eine konstitutive Daseinseigenschaft, die andere eine ebenso konstitutive soziale Erwartung. Jeder Mensch hat beide schon in Anspruch genommen, wenn er überhaupt – sich bzw. anderen – etwas zu verstehen gibt und etwas geltend macht. In einem zweiten Begründungsschritt würde dann die rekonstruierte Argumentations- und Kommunikationsvoraussetzung hinsichtlich ihrer Allgemeingültigkeit bezweifelt, damit nun – im reflexiven Dialog mit dem Zweifler – die Möglichkeit dieses Bezweifelns sokratisch sinnkritisch getestet werden kann. Wenn sich in dieser Prüfung herausstellt, daß der angemeldete Geltungszweifel für die konkreten Dialogpartner des Skeptikers nicht als prüfbarer Dialogbeitrag verstehbar ist, dann kann er nicht triftig sein, dann trifft der Zweifel nicht das Sein des Zweifelsgegenstandes. D.h.: dann gehört dieses Sein zum Sein des Dialogs, es ist also ein Stück des Geltungsbodens und des Seinsbodens, auf dem der Zweifelnde als Etwas-Denkender und Kommunizierender selber steht. Dann zeigt sich in dem reflexiv sokratischen Dialog mit dem Skeptiker: Eine Bezweiflung der These, daß Freiheit und Verantwortung gleichursprünglich sind, so daß ‚ich‘ prinzipiell zur Verantwortungsbereitschaft für den Dialog verpflichtet bin, wäre sinnlos, wäre ein performativer Widerspruch. Einen solchen Zweifel kann ‚ich‘ zwar probeweise und for the sake of argument vorbringen, doch kann ich ihn meinen Dialogpartnern gegenüber nicht aufrechterhalten. Warum kann ich das nicht? Weil ‚meine‘ Diskurspartner nur einen solchen Zweifler als Argumentationspartner ernstnehmen und hinsichtlich seiner Dialogbeiträge verstehen können, der zugleich seine kommunikative Freiheit (z.B. die Freiheit, jetzt eine Zweifelsthese zu vertreten) und seine Bereitschaft zur Verantwortung in das dialogische Verhältnis einbringt und der beide darin auch aufrechterhält. Im Dialog muß er verantwortlich dafür sein, daß er den Anderen sinnvolle, diskutierbare Diskursbeiträge vorlegt: Beiträge, für die er als glaubwürdiger Diskurspartner, d.h. ohne Selbstwiderspruch, Rede und Antwort stehen kann. Eben das tut er nicht, wenn er dasjenige in Zweifel zieht, was er (im Verhältnis zu Anderen und zu sich selbst) notwendigerweise als gemeinsame Sinnbasis beansprucht und 22 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 vorausgesetzt hat – im Sinne eines apriorischen 23.07.2007 Perfekts, welches mit einer Diskurspartnerrolle gegeben ist. Freilich bringt auch Jürgen Habermas solche Zweifel vor. Z.B. weist er es als „überschwenglich“ und „fundamentalistisch“ zurück, den „allgemeinen Argumentationsvoraussetzungen“ eine deontologisch verpflichtende Relevanz zuzuerkennen – etwa im Sinne der oben unter „(d)“ postulierten Mitverantwortung für die „realen Bedingungen einer freien, weltöffentlichen Durchführung von kritischen Diskursen (zumal über Menschenrechtsfragen)“.52 Habermas denkt dabei allein in theoretischer Einstellung; er geht nicht sokratisch auf sich selbst als Diskurspartner zurück. Konfrontierte er hingegen diese seine diskurstheoretische Position mit der Rolle des Diskurspartners, die er praktisch eingenommen hat, indem er diese Position (als Diskursbeitrag) uns gegenüber vertritt, dann stünde er vor kruzialen sinnkritischen Fragen seiner Diskurspartner. Zum Beispiel: ‚Wie sollen wir uns auf Sie als Kooperationspartner im Diskurs verlassen können, wenn Sie eine Mitverantwortung für die Realisierungsbedingungen von Diskursen – hier und weltweit – bezweifeln oder gar bestreiten? Und das, wo wir, auch Sie, doch beides wissen: Erstens, daß die Mitverantwortung für solche Realisierungsbedingungen schon in diesem unseren Diskurs beginnt – hermeneutisch als Bemühung, die kritische Position zu verstehen, praktisch etwa als Engagement für eine gute Geschäftsordnung bzw. Diskussionsform. Zweitens, daß die Erhebung und Prüfung von Geltungsansprüchen wie Verständlichkeit, mögliche Wahrheit und Richtigkeit bzw. Legitimität nicht allein auf freie, weltöffentliche Diskurse zielt, sondern geradezu auf dieses universelle Medium angewiesen ist. Warum? Weil diese logisch universellen Ansprüche nur glaubwürdig erhoben und konsequent epistemisch geprüft werden können, wenn man die regulative Idee der Universalität als verbindlich anerkennt und ihr wirklich nachstrebt. D.h. wenn man sich auch darum bemüht, alle möglichen guten Gegengründe in der Welt zur Sprache zu bringen.’ So etwa würde die reflexiv sokratische Prüfung des vom Diskurstheoretiker behaupteten Non sequitur beginnen.53 Und sie wäre fortzusetzen hinsichtlich der, vom Diskurstheoretiker erst recht bestrittenen, doch vom sokratischen Diskurspragmatiker behaupteten, regulativen Idee, ‚wir’ seien als Diskurspartner auch dazu verpflichtet, Mitverantwortung dafür zu übernehmen, daß die Ergebnisse argumentativer Diskurse, zumal solcher über Menschheitsfragen, nicht folgenlos bleiben, sondern – siehe oben Postulat „(c)“ – möglichst politisch, ökonomisch und 52 J. Habermas, „Zur Architektonik der Diskursdifferenzierung“. In: Festschrift Apel 2003, S. 64 u. 62 mit Fn. 22. 53 Auf die Sache – die Universalität der Geltungsgegenseitigkeit, ihre Verwobenheit mit einer Verständigungsgegenseitigkeit (zwischen Diskursteilnehmern und Betroffenen), schließlich die dazu nötige (Welt-)Öffentlichkeit – komme ich in der Auseinandersetzung mit Jonas zurück: hier Kapitel 3. 23 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 ökologisch umgesetzt werden. Wer bezweifelt, daß dieses regulative Pflichtpostulat allgemein verbindlich sei, müßte zeigen, daß er mit diesem Zweifel als Diskurspartner glaubwürdig bleiben kann. Der Sokratiker würde ihn z.B. fragen: ‚Wie sollen deine Diskurspartner sich auf deine Ernsthaftigkeit und Kooperationsbereitschaft (im Diskurs) verlassen können, wenn du bezweifelst, daß ihr euch unbedingt (gemeinsam) bemühen sollt, die zusammen erarbeiteten Diskursresultate auch in die gesellschaftliche Praxis zu bringen?’ Erst dann, wenn diese Begründungsfrage geklärt ist, ergibt es Sinn, die konkrete Frage zu erörtern: ‚Auf welche Weise sollte diese Bemühung realisiert werden? Wie können wir die Resultate eines argumentativen Diskurses in die Praxis bringen, wie sie durchsetzen etc.?’ Das ist ein Anwendungsproblem, und zwar das einer moralstrategischen Durchsetzung dessen, was schon als im Prinzip richtig und geboten erkannt ist. Die Antwort darauf kann im Anschluß an Habermas gegeben werden: Die Richtung der praktischen Umsetzung läge in einer Verbesserung des nationalen und internationalen Rechts. In diesen Institutionen erblickt Habermas den „einzig gangbaren Weg zu einer moralischen Reformierung unseres Verhaltens“.54 Ein solcher sinnkritischer elenchos bildet, mit Gunnar Skirbekk zu sprechen, den praxeologischen Kern von Kants Lehre eines Faktums der Vernunft, die Hans Jonas von Gadamer offeriert worden ist. Denn Kants Idee läßt sich überführen in eine Lehre des Beanspruchthabens von Freiheit und des einsehbaren Anerkannthabens von Verantwortlichkeit auf dem gemeinschaftlichen Seinsboden und Geltungsboden des Dialogs. Problemgeschichtlich gesehen, wäre das eine dialogreflexive Aufhebung Kants, nämlich seines eigenen, mißlungenen Aufhebungsversuchs der metaphysischen Vernunftlehre, durch Rekonstruktion eines moralisch gehaltvollen „Faktums“ der dialogischen Vernunft. Den Anstoß dazu hatte Apel 1967/1973 gegeben, als er Kants Rede vom „Faktum der Vernunft“ als „Ergebnis transzendentaler Selbstbesinnung“ interpretierte und vorschlug, sie transzendentalpragmatisch zu „dechiffrieren“.55 1990 präzisierte er gegenüber Karl-Heinz Ilting und dem Dezisionismus, daß eine Besinnung auf die diskurs- und damit vernunfttragenden Verpflichtungen nicht etwa ein kontingentes Faktum zutage fördere, sondern „ein einsehbares in Freiheit Anerkannthaben, das für die Selbstreflexion der Vernunft immer schon ein ‚Faktum der Vernunft‘ (apriorisches Perfekt!) ist“.56 Der reflexive Rückgang darauf sei weder ein naturalistischer Fehlschluß noch eine petitio principii, denn er 54 Jürgen Habermas, in: Festschrift Apel 2003, S. 64 und S. 62 mit Fn. 22. Apel, Transformation II, S. 418. 56 Ders., Auseinandersetzungen, S. 231. 55 24 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 besage: „Wer mit dem Willen zur Selbstkonsistenz argumentiert – und dies kann man als nichthintergehbar unterstellen –, der hat insofern nicht mehr die Wahlfreiheit, sich auch gegen das Sittengesetz zu entscheiden; denn dieses hat er ineins mit dem Willen zur selbstkonsistenten Argumentation – d.h. ineins mit dem Adressieren einer idealen Argumentationsgemeinschaft – schon notwendigerweise anerkannt“.57 Nunmehr können wir Jonas’ metaphysische Deduktion des Zugleich von Freiheit und Verantwortlichkeit in zwei Schritten ohne Metaphysik einholen: (1) durch Rekonstruktion von Diskurspräsuppositionen, dann (2) durch eine Reflexion darauf, ob jeweils ‚ich’ als Diskursteilnehmer das Rekonstruktionsergebnis sinnvoll bezweifeln kann – hier also das von Jonas angenommene Zugleich. Das Zugleich von Freiheit und Verantwortlichkeit – diskurspragmatisch eingeholt durch Diskursrekonstruktion (1) und aktuelle Diskursreflexion (2) (1) Der argumentative Dialog ist mit allem menschlichen Verhalten verwoben: als Apriori eines (möglichen) Begleitdiskurses. Der Dialog ist der Ort, an dem wir frei etwas zur Geltung bringen wollen. Unsere Ansprüche auf Geltung können wir nur einlösen, indem wir mit den anderen als verantwortungsbereite Diskurspartner kooperieren. Im Dialog zeigt sich, daß kommunikative Freiheit in wechselseitigem Voraussetzungsverhältnis nicht bloß zum Faktum der Verantwortungsfähigkeit steht (so Jonas),sondern zugleich zur moralischen Norm der Verantwortlichkeit. (2) Dieses Sich-Zeigen kann nicht als fallibles Ergebnis einer theoretischen Rekonstruktion relativiert werden, weil beides, was im Dialog in Erscheinung tritt, kommunikative Freiheit und Verantwortungsbereitschaft, auch von denen, die kritisch über die Rekonstruktion reden, durch diese Rede bereits notwendig in Anspruch genommen worden ist. Daher läßt sich im Dialog – durch aktuelle Reflexion auf Diskursvoraussetzungen, welche die Rekonstruktion aufdecken will – auch erweisen, daß jeder von vornherein den zwiefachen Anspruch erheben muß, er besitze bzw. realisiere kommunikative Freiheit, und er sei bereit, Verantwortung zu übernehmen. Wofür? Für die 57 Ebd. 25 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 Wahrheitssuche und Richtigkeitssuche 23.07.2007 im Dialog, zudem für die Realisierungsbedingungen freier argumentativer Diskurse. Denn wer das in Zweifel zöge, beginge einen diskurspragmatischen Widerspruch. Die Erkenntnis dieses (drohenden) Widerspruchs ergibt sich durch sokratische Dialogreflexion: Besinnung in dem aktuell geführten Dialog auf vorausgesetzte Sinnbedingungen eines argumentativen Diskurses. So läßt sich die Unbezweifelbarkeit von kommunikativer Freiheit und moralischer Verantwortungsbereitschaft (im argumentativen Dialog), von Jonas metaphysisch und von Apel transzendentalpragmatisch angenommen, demonstrieren: in einem realen Dialog der Argumente mit einem Zweifler als leibhaftem Dialogpartner, kann ‚ich‘ diesem ‚meinem‘ Partner jederzeit beweisen, daß er aus dem Dialogverhältnis ausbrechen müßte und von ‚mir‘ (und anderen möglichen Partnern) nicht mehr als glaubwürdiger Diskurspartner anerkannt werden könnte, wenn er das Verwobensein seiner Freiheit mit seinem Verantwortlichseinwollen und damit die Verbindlichkeit des Moralprinzips bzw. des Sittengesetzes in Zweifel zöge. Geht nämlich ein solcher Dialogtest für den Zweifler negativ aus, dann ist dialogevident, daß die bezweifelte Annahme eines Prinzips in der Tat eine Sinnbedingung argumentativer Diskurse ist – also ein wahrhaft verbindliches Prinzip. Die reflexiv sokratische Dialog- und Diskurspragmatik kann auf der Ebene allgemeingültiger Kriterien zweierlei nachkantische Errungenschaften in das Gespräch mit Jonas einbringen. Erstens bietet sie eine dialogische Gültigkeitsprüfung der ethischen Intuitionen, die wir aus der Lebenswelt mitbringen: Enthalten sie einen normativen Kern, der sich so präzisieren läßt, daß er als dialogevident gelten kann? Mit Recht legt Jonas auf die Erschließung lebensweltlicher Intuitionen großen Wert. Und es ist der Rückgang auf allgemein einsichtsfähige Moralintuitionen, der seinem normen- und wertphänomenologischen Ansatz – im Unterschied etwa zu dem transzendentalphilosophischen Diskursansatz Apels und zu Habermas’ verfahrensförmigem Diskursansatz – eine attraktive Konkretheit und starke Motivationskraft verleiht. Beides kann eine Vernunftethik wie die Diskursethik m. E. nur gewinnen, wenn sie – im Anschluß an Jonas – transformiert wird zu einer sokratischen Ethik des Sich-im-Dialog-Verantwortens. Sie würde dann die sinnkritische Verbindlichkeitsfrage direkt dialogisch ins Spiel bringen und sie 26 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 auf den ersten beiden Stufen der reflexiven Prinzipienbegründung (A1 und A2) als Verbindlichkeitsprüfung etablieren: >Welche lebensweltlichen moralischen Intuitionen hast du – der du ein glaubwürdiger Diskurspartner sein willst – eigentlich schon anerkannt und solltest sie unbedingt zu befolgen versuchen? Denn anderenfalls müßtest du dich in einen performativen Selbstwiderspruch verwickeln und die von dir beanspruchte Glaubwürdigkeit des Diskurspartners verlieren.< Zweitens kann die sokratisch reflektierende Diskurspragmatik Jonas’ Begründungsdefizit beheben. Denn sie kann erweisen, daß Jonas’ kategorischer Imperativ unhintergehbar ist und infolgedessen als verbindliches Prinzip zu gelten hat58 – unbeschadet möglicher Konkretionen auf der Orientierungsebene idealer praktischer Diskurse (für die Jonas Gedankenexperimente wie das von der Wette in allem Handeln einsetzt) und unbeschadet nötiger erfolgsverantwortungsethischer Strategien auf der Handlungsebene. Damit ist, wie ich hoffe, die innere Herausforderung der praktischen Vernunft durch die wissenschaftlich-technische Zivilisation angenommen und die Komplementaritätsstruktur des modernen westlichen Geistes wirklich aufgehoben. Mit dem reflexiv philosophischen Begründungsdiskurs, der einen solchen Prinzipienerweis erlaubt, haben wir den zweiten Namensgeber der strikten Diskursethik vor uns: im Sinne des genitivus obiectivus. Die dialogpragmatische Form der Diskursethik – nicht zu verwechseln mit Habermas’ „formalpragmatischer“ bzw. „diskurstheoretischer“ Schwundstufe von Diskursethik – ist eine allgemeine Prinzipienethik. Ihre nicht metaphysische, sondern dialogreflexive Begründung des Moralprinzips und der moralischen Grundnormen vollzieht sich durch Diskurs und im Diskurs. An einem solchen Begründungsdiskurs kann jeder teilhaben; seine Resultate sind allgemeingültig, insofern sie jederzeit intersubjektiv nachprüfbar sind. Gemäß des Berliner Dialogdenkens bedeutet „Diskursethik“ in diesem zweiten Sinn so viel wie: Prinzipienethik aufgrund von reflexiven Dialogen im Gespräch mit einem Skeptiker, insofern er einen Zweifel an der Gültigkeit und Verbindlichkeit eines Prinzips vorbringt, der als Argumentationsbeitrag für die Diskurspartner dialogpragmatisch unverständlich ist, so daß sie sich darauf nicht eigentlich einlassen und auf Basis dieser Zweifelsthese nicht mit ihm kooperieren können. 58 Böhler, „Idee und Verbindlichkeit der Zukunftsverantwortung“, in: EWD-3, S. 34ff. Ders., „Warum moralisch sein?“ in: Prinzip M.V., S. 15ff. Ders., „Glaubwürdigkeit des Diskurspartners“, Abschn. 1.4.1 – 1.4.2, in: Wirtschaft und Ethik. Strategien contra Moral?. EWD-Bd. 12, Müster (LIT) 2004. 27 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Der normative Gehalt der Diskursethik als Prinzipienethik erschließt sich, wenn wir dreierlei tun: Wir erinnern uns zunächst an die moralischen Intuitionen, die wir aus unserer Lebenswelt als Vorverständnis dessen mitbringen, wozu wir in einem ernsthaften Dialog verpflichtet sind. Wir fragen uns also, was eigentlich zu der Rolle eines Partners in einem argumentativen Dialog gehört, und sammeln unsere diesbezüglichen Annahmen. So gewinnen wir die Kandidaten für normative Sinnbedingungen eines Dialogbeitrags und damit für die konstitutiven Normen unserer Diskurspartnerrolle. Was wir auf diese Weise erhalten, ist freilich nur ein Vorverständnis. Dieses Vorverständnis müßte nun, zweitens, in eine logische Ordnung gebracht werden, gewissermaßen in ein (vielleicht prinzipiell nur offenes) System. Und zudem müßten in diesem ‚System’ die Arten der Sinnbedingungen unterschieden werden. Hierzu bietet es sich an, zwischen Geltungsansprüchen und vorgängigen bzw. primordialen Dialogversprechen zu differenzieren. Außerdem wäre nach dem internen Verhältnis zu fragen, das die Geltungsansprüche sowohl untereinander als auch zu den Dialogversprechen haben. Dieselbe Frage wäre im Blick auf die Dialogversprechen zu klären. Denn wenn es ein internes System ist, müßte hier eine Verwobenheit bestehen. Gewissermaßen könnte kein Mosaikstein herausgebrochen werden, ohne den inneren Zusammenhang des Ganzen zu zerstören. Ein Kriterium für diese interne Verwobenheit haben wir in der Frage, ob sich diese einzelnen Elemente zwanglos als solche des Diskursprinzips bzw. des argumentativen Dialogs interpretieren lassen. Anders gefragt: Können wir im Blick auf diese Elemente ein bündiges Prinzip formulieren, das den Kerngehalt dieser bildet. Der Kerngehalt ist die Anerkennung der Pflicht, sich um Handlungsweisen und um Diskussionsbeiträge zu bemühen, die unter idealen Bedingungen argumentativ zustimmungswürdig sind. Das ist es, worum wir uns zu bemühen haben. Ob jedoch die jeweils vorgeschlagene Handlungsweise oder die je vorgetragene Argumentation wirklich in einer reinen und unbegrenzten Gemeinschaft der Argumentierenden finden würde, das entzieht sich unserem Wissen- und Tunkönnen. Darauf können wir nur hoffen, dürfen aber auch darauf hoffen. Die Fragen aber, wieviele einzelne Dialogversprechen zu unterscheiden sind, oder in welcher Weise genau sie voneinander abzugrenzen sind, läßt sich nur in einem offenen Prozeß der Problemfindung beantworten. Je nachdem, welche Probleme gestellt werden, je nachdem auch, welche Kandidaten für Diskursnormen in Zweifel gezogen werden, können sich teilweise differierende Formulierungen, Abgrenzungen oder Zusammenfassungen ergeben. 28 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Hier befinden wir uns in dem hermeneutischen Zirkel zwischen dem Vorgriff auf ein mögliches System, den wir mit Hilfe des Diskursprinzips – als dem Kern der einzelnen Sinnbedingungen – machen können, und dem ausgeführten System der möglichst vollzähligen Diskursnormen. Wenn freilich der Methodenweg der hermeneutischen Ellipse unumgänglich ist, dann muß für die Rekonstruktion wohl zugestanden werden, daß sie uns nur zu einem offenen System führen kann. Schließlich haben wir die Möglichkeit – das wäre der dritte und entscheidende Beweisschritt –, einer reflexiven Vergewisserung und Prüfung, ob die einzelnen von der Rekonstruktion angegebenen Elemente tatsächlich im strengen Sinne intersubjektiv gültig und diskursverbindlich sind. Wir lassen, wie oben schon gezeigt, den Skeptiker zu Wort kommen und diesen Geltungsstatus jeweils eines einzelnen Elementes anzweifeln. Dann erproben wir mit ihm als einem argumentativen Diskurspartner, ob sich dieser Zweifel vereinbaren läßt mit der von ihm selbst eingenommenen Dialogrolle. Das ist die sokratische aktuelle Dialogreflexion. Sie prüft, ob der Kandidat einer Diskursnorm wirklich dialogevident ist. Dialogevidenz im reflexiven Diskurs mit dem Skeptiker ist das entscheidende Beweiskriterium. So also geht die diskurspragmatische Prinzipienbegründung vonstatten. Wir können so – zunächst im Sinne der Rekonstruktion – das folgende Schema aufbauen, um es dann in seinen einzelnen Punkten Schritt für Schritt sokratisch zu validieren. Bitte versuchen Sie es selbst – und verbessern Sie damit möglicherweise dieses (ja auch von mir schon einige Male verbesserte) Schema. Jetzt sieht es folgendermaßen aus: 29 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Normative Sinnbedingungen eines Dialogbeitrags / Normen der Diskurspartnerrolle / Elemente des Diskursprinzips Diskurspragmatisch sinnvoll, d.h. diskutierbar als Beitrag zu einem argumentativen Dialog, ist eine Rede, ein Gedanke als Einlösungsversuch von: vier Geltungsansprüchen (a) einlösbar durch: Selbstverantwortung Selbst- und Mitverantwortung erfüllbar durch: Selbstverantwortung Selbstund Mitverantwortung a1) Anspruch auf Verständlichkeit der Redehandlungen (R) als Nachvollziehbarkeit ihres Sinns mit Widerspruchsfreiheit des propositionalen Gehalts (P) als P, als Teil von R und von R als Diskursbeitrag (Voraussetzung für Andere, mit dem Sprecher (S) über R kommunizieren zu können), a2) Anspruch auf Wahrhaftigkeit der Sprecherintention samt Glaubwürdigkeit der Diskursbereitschaft (Voraussetzung für Andere, mit S über R kommunizieren zu wollen, sich auf R einlassen zu können), a3) Anspruch auf Wahrheit bzw. Wahrheitsfähigkeit meiner Proposition, so daß sie im Diskurs ernsthaft (s.o.: a2) vorgebracht und intersubjektiv geprüft werden kann, a4) Anspruch auf Legitimität bzw. Richtigkeit von Normen und Handlungsweisen (auch ‚meiner’ in der Diskussion), woraufhin sie im Diskurs geprüft werden können; konstitutive Bedingung für Kommunikation überhaupt teils konstitutive Bedingung, teils regulative Idee mit konstitutiver Funktion für Dialoge und Kooperationen und sechs vorgängigen Dialogversprechen (b) b1) sich den Anderen mit prüfbaren Diskursbeiträgen als autonomer Diskurspartner zur Verfügung zu stellen, also sich um widerspruchsfreie und sachlich wahrheitsfähige Dialogbeiträge zu bemühen, b2) die nicht begrenzbare Gemeinschaft aller möglichen Anspruchssubjekte, mithin das Universum der sinnvollen Argumente bzw. der sinnvoll argumentierbaren Lebensansprüche als letzte Sinn- und Gültigkeitsinstanz, (selbst- und ergebniskritisch) zu berücksichtigen, also auch nach möglichen besseren Argumenten zu suchen, b3) allen Anderen gleiche Rechte als möglicher Dialogpartner zuzuerkennen und ihre Würde zu achten: Diskursgerechtigkeit (mit Fairneß) und Menschenwürde, b4) mitverantwortlich zu sein für den Diskurs (als Möglichkeit der Verantwortung, jetzt und in Zukunft, also auch für die (in konkreten, falliblen Diskursen zu ermittelnden) menschen-rechtlichen, ökologischen, sozialen und kulturellen Realisierungsbedingungen öffentlicher Diskurse, b5) die Fallibilität von Situationsanalysen und situationsbezogenen Diskursen zu berücksichtigen, also deren Ergebnisse revisionsfähig zu halten und keine irreversiblen Handlungsweisen zu empfehlen, deren Folgen mit (b1) bis (b4) unverträglich sein können, b6) auch in diesem Sinne (b5) mitverantwortlich zu sein für die tendenzielle Umsetzung der Diskursergebnisse in die alltagsweltlichen und gesellschaftlichen Praxisfelder. Sinngeltung diskursbezoge ne regulative Ideen mit konstitutiver Funktion für Dialoge und Kooperationen 30 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Allerdings ist das, was nach der Prinzipienbegründung – also nach geleistetem Verbindlichkeitserweis des Prinzips der Mitverantwortung für den Fortbestand der Menschengattung und für Fortschritte in Sachen Menschenwürde und Gerechtigkeit – noch zu denken und immer wieder zu tun bleibt, mehr als genug: sowohl die Bewältigung der äußeren bzw. materialen Herausforderungen der praktischen Vernunft durch die technologische Zivilisation, also die Eindämmung der Menschheits- und Naturgefährdungen, als auch die Erweiterung des Horizonts und Veränderung der Urteilsgewohnheiten, mit denen wir kraft unseres Common sense und unserer Ethiktradition die neuartigen Gefahren verharmlosen, dadurch aber nochmals zuspitzen. Die Hauptziele dieses Mitverantwortungsengagements können wir mit Jonas als „Weiterwohnlichkeit der Welt“ und als „künftige Integrität des ‚Ebenbildes‘“59 umschreiben. 4. Absolute Pflicht zum Dasein der Menschheit. Hans Jonas’ transzendentaler Begründungshinweis und seine orientierenden Gedankenexperimente. In seinem Werk „Das Prinzip Verantwortung“ schlägt Jonas, um angesichts der Menschheitsund Naturgefährdungen moralische Handlungsorientierungen zu gewinnen, zwei Wege ein: die transzendentalphänomenologische Herausarbeitung ethischer Intuitionen und die Durchführung von Gedankenexperimenten zu deren Konkretion. Diese „Denkexperimente“ sollen die normativ-ethische Diskurs-Frage >Was sollen wir tun?< beantworten, und zwar vor dem Hintergrund der unvermeidlichen Risikobeladenheit menschlichen Handelns im allgemeinen und des technologievermittelten bzw. technologischen Handelns im besonderen. Es geht also, moralintrinsisch, um die richtigen, moralisch legitimierbaren Maximen. In dem Gedankenexperiment der „Heuristik der Furcht“ nimmt Jonas ethische Intuitionen auf. Am Anfang steht die zukunftsethische Grundintuition, daß die Bewahrung des Menschen, so wie er ist, nicht allein ein lohnendes Ziel sei60, sondern eine fundamentale Pflicht: die „Pflicht 59 60 Jonas, „Technik, Freiheit und Pflicht“, in ders.: Wissenschaft als persönliches Erlebnis, S. 46 und P.V., S. 393. Jonas grenzt sich damit von dem metaphysischen bzw. anthropologischen Utopismus ab, wie er radikal von Ernst Bloch, die Hoffnung auf ein „Sein wie Utopie“ zum Prinzip des Daseins erklärend, vertreten worden ist. Vgl. Jonas: P.V., S. 340f,371-373,380-387. Ders., Technik, Medizin und Ethik, Frankfurt a.M. (Insel) 1985, S. 298ff (zit.: TME). Ders., Fatalismus wäre Todsünde. Gespräche über Ethik und Mitverantwortung im dritten Jahrtausend, Münster (LIT) 2005 (zit.: Fatalismus), S. 110f, 76-80 und 95. Dazu: D. Böhler, „Verstehen und Verantworten“, Einl. zu: Fatalismus, S. 15-18. 31 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 zum Dasein künftiger Rechtssubjekte“, die uns „unter anderem allererst das Recht gibt, Wesen wie uns ungefragt ins Dasein zu bringen. Das Recht im einzelnen folgt hier aus der Pflicht im allgemeinen, und nicht umgekehrt.“61 Dieser pflichtethischen Intuition mißt Jonas einen unhintergehbaren transzendentalen Stellenwert zu. Er stützt ihn durch eine transzendental-ontologische, von Edmund Husserl und Max Scheler inspirierte, Besinnung darauf, was Menschen unumgänglich voraussetzen müssen – sowohl in ihrer technologischen Praxis, die einer schöpferischen Schicksalslenkung diene, und in ihrer Freiheit, die sie (auch dabei) in Anspruch nehmen, als auch in ihren allgemeinen kognitiven Leistungen, also der Erkenntnis und der Bewertung von etwas. Leider nur durch Begründungsskizzen zur Flankierung seiner technikethischen Gedankenexperimente spricht Jonas moralisch relevante Voraussetzungen an, die wir praktisch und kognitiv gewissermaßen im Rücken haben. So gewinnt er die moralische Prinzipienperspektive seines neuen kategorischen Imperativs und der Gedankenexperimente, die er anstellt, um uns für dessen Beherzigung zu motivieren. Es geht ihm, wie gesagt, um die Begründung einer menschheitlichen Pflicht, das Dasein der Nachkommen als die Existenzform von Rechtssubjekten mit legitimen Ansprüchen uns Heutigen gegenüber zu gewährleisten. Sein unbedingter moralischer Imperativ fordert: „Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“62 Die in diesem Imperativ eingeschlossene Pflicht, „das Erbe einer vorangegangenen Evolution zu wahren“, begründet Jonas mit der transzendentalen Überlegung, daß wir gar nicht umhin können, „eine wesenhafte Zulänglichkeit unseres innerweltlichen Gewordenseins als Voraussetzung [sic!] aller Ermächtigung zu schöpferischer Schicksalslenkung zu postulieren.“ Er erläutert diese immer schon vorausgesetzte und notwendig vorauszusetzende Zulänglichkeit als „die Zulänglichkeit für Wahrheit, Werturteil und Freiheit.“63 Was hat es mit dieser Voraussetzung auf sich? Jonas zeichnet sie transzendental-ontologisch als natürliche Bedingung der Möglichkeit unserer Fortsetzung der Evolution aus. Doch müßte hinzukommen, daß ‚wir’ uns in der Praxis und damit in unseren Begleitdiskursen zutrauen, dabei Wahrheit, Werturteil und Freiheit hinlänglich zu realisieren. Es wäre also zu zeigen, daß es sich hier um Ansprüche handelt, die wir nicht etwa nicht erheben, sondern relativieren oder ignorieren könnten. Das liefe auf eine 61 Jonas, P.V., S. 89f. Jonas, P.V., S. 36. 63 Ebd., S. 73f. 62 32 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 diskurspragmatische Vertiefung von Jonas’ ontologischem Argument hinaus. Dadurch können die Handelnden gleichsam bei ihren eigenen Ansprüchen gepackt werden, die sie in Begleitdiskursen ihrer Praxis notwendig erheben müssen. Lassen Sie uns zunächst beide Argumente in folgendem Schema unterscheiden. Dann führen wir sie zusammen, indem wir Jonas sinnkritisch und diskurspragmatisch interpretieren. Jonas’ transzendental-ontologischer Hinweis: Voraussetzung unserer Ermächtigung zu schöpferischer Schicksalslenkung ist die Zulänglichkeit für Wahrheit, Werturteil und Freiheit. Diskurspragmatische Ergänzung: Voraussetzung der begleitenden Diskurse einer solchen verantwortlichen Lenkung ist es, daß wir (in den Begleitdiskursen unserer Praxis) uns die Zulänglichkeit für Wahrheit, Werturteil und Freiheit zutrauen und in Anspruch nehmen müssen. 33 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Jene logisch notwendig zu postulierenden, sagen wir, Ansprüche auf logische Geltung und auf Freiheit haben – das läßt sich durch eine aktuelle Dialogreflexion erweisen – in der Tat den Status der Unbezweifelbarkeit. Zu Recht zählt sie Jonas zur „Vorbedingung alles Revidierenkönnens“: Sie gehörten nicht ihrerseits zu dem, was wir revidieren können, seien vielmehr „ein Absolutum, das als höchstes und verletzliches Treugut uns die höchste Pflicht der Bewahrung auferlegt.“64 Hier blitzt ein transzendentales, sinnkritisches Argument gegen Skeptiker oder Fallibilisten und gegen Technikutopisten auf, welche meinen mögen, es sei doch alles revidierbar oder alles zur Veränderung in unsere technische Macht gegeben. Auch wenn das faktisch so sein mag, – läßt sich für eine Revision von allem und jedem, auch der Ansprüche auf Wahrheit, Werturteil und moralische Freiheit, welche die Anerkennung der Anderen als moralischer Rechtssubjekte uns gegenüber einschließt, widerspruchsfrei argumentieren? Das ist die quaestio juris der Vernunft. Kant hat sie als transzendentale Frage nach dem Rechtsgrund von vernünftig sein wollenden Einlassungen und Ansprüchen ausgezeichnet.65 Einzig darum kann es vor dem „Gerichtshof der Vernunft“ resp. in einem argumentativen Diskurs gehen. Es ist dieser vernunftkritische und vernunftreflexive Hintergrund, vor dem Jonas – in der spürbaren Atemlosigkeit eines alten penseur engagé, konfrontiert mit den ungeheuerlichen Folgelasten der hochtechnologischen Wirtschaftsgesellschaft – die absolute Pflicht zum Dasein der Menschheit einführt. Die absolute Pflicht zum Dasein der Menschheit schließe, so argumentiert Jonas weiter, für uns eine erste verantwortungsethische Pflicht ein, nämlich dafür zu sorgen, daß wir die Fähigkeit der zukünftigen Menschheit, sich im Dasein zu halten und auf dem Planeten zu leben, „nicht präjudizieren“, geschweige denn sie vereiteln. Unter dieser „Pflicht gegen das Sosein der Nachkommen, die sich aus der Pflicht zu ihrem Dasein also erst ableitet, [...] stehen dann auch die anderen [scil: verantwortungsethischen] Pflichten gegen sie, zum Beispiel gegen ihre Glücksmöglichkeiten.“66 Zu den Glücksmöglichkeiten unserer Nachkommen zählt, so hebt die Diskursethik hervor, in erster Linie die kommunikative, mithin auch politisch ethische Freiheit, sich über die eigenen Werte und Lebensziele zu verständigen, sie zu wählen und legitim zu realisieren. Deswegen 64 Ebd., S. 74. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 116 ff., vgl. A XI f. 66 Ebd., S. 90. 65 34 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 sei es ein Verfahrensgebot, die Standpunkte der Betroffenen möglichst zur Sprache kommen zu lassen, damit ihre konkreten Lebensansprüche entfaltet und, soweit nötig, in konkreten Diskursen geprüft werden können. Dazu bedarf es, wie wir (kritisch gegenüber Jonas) bemerken werden, rechtsstaatlicher Verhältnisse einer freien Öffentlichkeit und der Anerkennung des Prinzips einer Verständigungsgegenseitigkeit. Versuchen wir, Jonas’ Unterstellung bzw. Teilskizze eines transzendentalen Verbindlichkeitserweises der Pflicht zum Dasein einer zukünftigen Menschheit in transzendentalpragmatischer Sicht und im Blick auf eine aktuelle Dialogreflexion, die hier aber nicht ausführbar ist, auszuarbeiten, dann eröffnet sich der folgende Begründungsweg.. Proponent: Die Frage ist, ob es moralische Verbindlichkeiten gibt, die jeder implizit vorausgesetzt und anerkannt hat. Opponent: Welche sollten das sein? Pro.: Nun, genau diejenigen,die enthalten sind in deinem Beanspruchen von Wahrheit, Werturteil und Freiheit Opp.: Warum denn das? Pro.: Warum? Diese Ansprüche sind in einem argumentativen Diskurs, also vor dem Gerichtshof der Vernunft, nicht revidierbar, weil sie „zur Vorbedingung alles [scil: argumentativen (D.B.)] Revidierenkönnens“ zählen, wie Jonas mit Recht sagt. Opp.: Aber sind denn darin auch makroethische Verbindlichkeiten eingeschlossen? Darum geht es doch in einer Zukunftsethik. Pro.: Ja, die Pflicht zur Achtung der Nachkommen als Rechtssubjekte ist in diesen deinen Ansprüchen impliziert. Opp.: Warum? Jonas schweigt hier wohl, oder? 35 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 Pro.: 23.07.2007 Jonas ist hier schweigsam, aber die Transzendental- bzw. Diskurspragmatiker denken auf seiner Spur.67 Denke mit: Du selbst hast als Diskursteilnehmer universale Wahrheitsansprüche vorausgesetzt. Deren Sinn (Wahrheit) und logische Reichweite (Universalität) würdest du zerstören, mithin dich als Diskurspartner unglaubwürdig machen und aus der Argumentationsgemeinschaft ausscheiden, wenn du nicht zweierlei tätest. Erstens mußt du allen möglichen anderen Diskursteilnehmern das Recht auf Dasein und freie Diskursteilnahme zuerkennen, und zweitens mußt du selbst Mitverantwortung dafür übernehmen, daß auch den Nachkommen die objektiv reale Möglichkeit zuteil wird zwei moralische Urrechte wahrzunehmen: das Recht auf Leben und das Recht auf freie Diskursteilnahme (samt politischen, sozialen u. a. Realisierungsbedingungen). Zurück zu Jonas’ Ausgangspunkt, seiner Grundintuition, es bestehe die Pflicht zum Dasein der Menschheit. Dieser Ansatz macht seine Zukunftsethik zunächst zu einer Ethik der Menschheitsbewahrung und gibt deren normativen Rahmen ab: Jedes technologische Risiko müßte verträglich sein mit der Permanenz moralfähigen Lebens auf Erden. Im Hintergrund steht eine „moralische Furcht“, die „Furcht um den Menschen“ in der hochtechnologischen Zivilisation68. Wachsen die kumulativen Folgen der industriegesellschaftlich normalen Konsumpraxis und ihres Fortschritts- und „Wachstums“-Gangs den sittlichen Fähigkeiten des Menschen über den Kopf? Werden sie am Ende die moralfähige und menschenwürdige Fortexistenz der Gattung unmöglich machen? Zu jener, vor allem ökologisch ethischen Furcht zugunsten möglicher Betroffener tritt eine andere, eine intern moralische Sorge. Denn nicht allein die ökologische Ausdehnungsdimension der hochtechnologisch vermittelten Lebenspraxis ist so gut wie grenzenlos geworden, auch die Tiefendimension der hochtechnologischen Forschung überschreitet längst jedes Manipulationsmöglichkeiten vertraute und ethische Maß: Die Konstruktionsmöglichkeiten molekularbiologischen menschlichen Lebens 67 Vgl. Apel, „Die ökologische Krise als Herausforderung für die Diskursethik“, in: D. Böhler u. J. P. Brune (Hg.), Orientierung und Verantwortung Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, S: 223-258, bes. S. 239 ff. D. Böhler, „Ethik der Zukunfts- und Lebensverantwortung. Erster Teil“, in: ebd., S. 97-160, bes. S. 115 ff., vgl. S. 145 ff. Ders., „Dialogreflexive Sinnkritik als Kernstück der Transzendentalpragmatik“, in: Ders., M. Kettner u. G. Skirbekk (Hg.), Reflexion und Verantwortung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 15-43, bes. S. 33 ff. 68 Jonas, Fatalismus, S. 137. Ders., P.V., S. 63-65. 36 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 überrennen alle Grenzen, welche unsere ethischen Intuitionen und judäo-christlichen Traditionen vom Menschen als dem unantastbaren Ebenbild Gottes gesetzt hatten. Für die Risikobeurteilung bringt Jonas zunächst eine „Heuristik der Furcht“ ins Spiel: das vorgestellte malum anderer, das mögliche „Unheil kommender Geschlechter“. Sich davon „affizieren zu lassen“, sei die eine „>einleitende< Pflicht“ der gesuchten Zukunftsethik; die allererste aber sei die Pflicht zur vorausdenkenden Beschaffung der Vorstellung jenes malum. Welche Einstellung ist erforderlich, um diese einleitenden Pflichten erfüllen zu können? Offenkundig ein idealer Rollentausch mit den möglichen Nachkommen. Dieses dialogbezogene Konzept haben G. H. Mead und die Diskursethik eingeführt: In Fällen der Abwesenheit bzw. Unerreichbarkeit der Betroffenen sollen die Akteure bzw. die aktuellen Diskursteilnehmer einen argumentativen Dialog mit ihnen fingieren, indem sie oder ein kompetenter Teil von ihnen als Anwälte die zu vermutenden Interessen, Werte und Ansprüche der Betroffenen entwickeln und zur Geltung bringen. Ähnlich nimmt Jonas hier den Standpunkt der Betroffenen ein, indem er seinen Lesern einen negativen Wert-Test vor Augen führt: ‚Überlege zunächst, welche Folgen deiner Handlung dir, dessen Wollen in die Richtung des Guten geht, aus dem Blickwinkel der Betroffenen Furcht einflößen würden.’ Ein solches Denkexperiment provoziert zunächst – also im Sinne der ersten einleitenden zukunftsethischen Pflicht – die „moralische Phantasie“ (Günther Anders),69 indem es uns auf die Suche nach dem moralisch (nicht etwa privat und lebensplanerisch) zu Fürchtenden schickt. Zur Begründung verweist Jonas auf eine bekannte logische Asymmetrie in der ethischen Urteilsbildung: Dasjenige, „was wir nicht wollen, wissen wir viel eher als was wir wollen. Darum muß die Moralphilosophie unser Fürchten vor unserm Wünschen konsultieren, um zu ermitteln, was wir wirklich schätzen“.70 Vorsichtig hebt er jedoch hervor, ein solches wertethisches Gedankenexperiment der vorgestellten schlechten Fernwirkungen, gleichsam das worst-case-Szenario, sei kein hinlänglicher Kompaß, sondern bloß eine erste Klärung. Ihm komme nur der Stellenwert einer Findekunst bzw. eines brain storming zu, eben einer „Heuristik der Furcht“71 – im Sinne einer moralischen Furcht vor der Zerstörung solcher Werte, an denen künftig Menschen hängen können, elementar ihr Leben. 69 G. Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München (C.H. Beck) 1956, bes. S. 15ff. und 267 ff.; dazu M. Werner, ››Kann Phantasie moralisch werden?‹‹, in: J.P. Wils (Hg.), Anthropologie und Ethik, Tübingen (A. Francke) 1997, S. 41-63. 70 Jonas, P.V., S. 64. 71 Ebd., S. 63 ff. 37 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Berücksichtigen wir ihren moralischen Hintergrund, dann ergibt sich dieser Weg – aus der Frage, was wir eigentlich schätzen und wollen, und aus zwei moralischen Prämissen folgt die Pflicht zur Heuristik der moralischen Furcht: a) Es gilt, den Menschen, so wie er ist, als Gattungswesen zu bewahren. b) Man soll die Lebens- und Rechtsansprüche der möglichen Betroffenen zur Geltung bringen. c) Also frage man sich zuallererst, welche Folgelasten eines (technologischen) Projektes den (künftigen) Betroffenen Furcht einflößen würden, um diese vermeiden zu können... Jonas’ zweites Gedankenexperiment geht von der realistischen Einsicht aus, die Hannah Arendt im Sinne einer lebensweltlichen Anthropologie entwickelt hat72, die Einsicht, daß alles Handeln des Menschen riskant und nach seinem Risiko schwer einschätzbar ist. Er pointiert dieses intuitive Lebenswissen durch den Vergleich des Handelns mit einem Glücksspiel: „Das Prinzip“ auch der neuartigen, der technologischen Handlungs- bzw. Auswirkungsdimensionen könnten wir erfahren, „wenn wir auf das Element des Glücksspiels oder der Wette reflektieren, das in allem menschlichen Handeln hinsichtlich des Ausgangs wie der Nebenwirkungen enthalten ist, und uns fragen, um welchen Einsatz man, ethisch gesprochen, wetten darf.“73 Das Gedankenexperiment der Wette ist ein zur Abhandlung stilisiertes moralisches Selbstgespräch: Es ähnelt einem praktischen Diskurs, den ein moralisch orientierter und hinsichtlich der technologischen Folgendimension aufgeklärter Projektbefürworter – ein Vernunft- und Moralfreund, der seinen Kant gelesen haben mag – mit sich selbst führt. Er führt seinen Diskurs faktisch zwar allein mit sich – aber logisch geurteilt vor der Geltungsinstanz einer unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft. Auf diese Instanz beruft sich Jonas implizit, indem er stillschweigend das Universalisierungsprinzip Kants zum Leitfaden nimmt und seinen Vernunftfreund vermittels Selbsteinwänden nach dem besten Argument suchen läßt. Komplementär zum vorausgegangenen Denkexperiment setzt dieses mit der Perspektive eines Handelnden in der technologischen Zivilisation ein, welcher bereits weiß, daß seine Handlungen eine kaum begrenzbare Auswirkungsdimension haben können, und auch, daß eine Prognose ihrer Auswirkungen prinzipiell unsicher bleibt.74 In die, von Jonas angespielte, Form des moralischen Selbstgesprächs gebracht, können wir sein Diskurs- 72 H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München (Piper) 71994, §§ 26-34. Jonas, P.V., S. 77. 74 Ebd., S. 76. 73 38 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Gedankenexperiment folgendermaßen beginnen lassen: „Du, der du Interesse an einer technischen Innovation hast, überlege dir, welchen Einsatz deine technologische Wette haben darf und stelle dir die Frage: ‚Darf ich die Interessen Anderer in meiner Wette einsetzen?‘“ Die erste Antwort ergibt sich aus der moralischen Intuition, daß „man, streng genommen, um nichts wetten darf, was einem nicht gehört“75. Doch damit kann es nicht sein Bewenden haben. Denn wenn ‚du’ weiter argumentierst, erkennst ‚du‘ alsbald, daß sich jene Antwort nicht absolut nehmen läßt, weil all dein Handeln „das Schicksal Anderer in Mitleidenschaft zieht“, so daß du, wenn du daraus ein direktes Handlungsprinzip machtest, gar nicht mehr handeln dürftest. Ein gewisses Risiko gehört zu den Anfangsbedingungen menschlichen Handelns in der vielfach verflochtenen und nicht (mit Sicherheit) prognostizierbaren Welt. Hierin trifft sich Jonas ebenso mit Hannah Arendt wie mit Popper, Skirbekk76 und der Diskurspragmatik. Daß die erste Antwort gleichwohl eine gewisse Berechtigung hat, zeigt sich erst, wenn eine Qualifizierung des Wettverbots vorgenommen wird. „Der Einsatz darf nie das Ganze der Interessen der betroffenen Anderen sein, vor allem nicht ihr Leben“77. Nun kann man hiergegen wiederum einwenden, es gebe doch Krisensituationen, in denen sich das drohende größte Übel nur durch einen höchsten Einsatz, etwa des Lebens Vieler (z.B. vieler Soldaten im Fall eines Angriffskriegs), abwenden lasse. Demnach ist also auch das neue Prinzip, das die Unverfügbarkeit des Gesamtinteresses der Betroffenen geltend macht, nicht unbedingt gültig, nämlich nicht in der Alternative Sein oder Nichtsein, welche zur Notwehr und zum höchsten Noteinsatz berechtigt, sondern gleichsam nur in mittleren Problemlagen. Nun fragt es sich ohnehin, ob das eingewandte Extrembeispiel überhaupt auf denjenigen zutrifft, der das Interesse eines technologischen Fortschritts geltend macht. Die heutigen „großen Wagnisse der Technologie“ werden doch nicht, so setzt Jonas das diskursive Gedankenexperiment fort, „zur Rettung des Bestehenden oder Behebung des Unerträglichen unternommen, sondern zur stetigen Verbesserung des je Erreichten, das heißt für den Fortschritt. [...] Also gewinnt hier, wohin der Schutz des Proviso nicht reicht, der Satz, daß mein Handeln nicht ›das ganze‹ Interesse der mitbetroffenen Anderen (die hier die Zukünftigen sind) aufs Spiel setzten darf, wieder Kraft.“78 75 76 77 78 Ebd., S. 77. G. Skirbekk, Une Praxéologie de la Modernité, Paris (Harmattan) 1999, chap. III, V, VIII. Ders., Praxeologie der Moderne, Weilerswist (Velbrück) 2002. Jonas, P.V., S. 78. Ebd., S. 79. 39 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 H. Jonas’ Gedankenexperiment des Elements der Wette im Handeln – rekonstruiert als argumentativer und reflexiver Diskurs Proponent: Du darfst um nichts wetten, was dir nicht gehört. Opponent: Dann müßtest du das Handeln verbieten, weil dieses immer die Interessen Anderer in Mitleidenschaft ziehen kann bzw. dürfte. Pro.: Gut. Aber der Einsatz bzw. die Folgenträchtigkeit deines Handelns darf nie „das Ganze der Interessen der betroffenen Anderen sein“ [bzw. aufs Spiel setzen], „vor allem nicht ihr Leben.“ Opp.: Halt. Das gilt keinesfalls immer und unbedingt: Es gibt Krisensituationen (z. B. Angriffskrieg), in denen sich das drohende größte Übel nur durch höchsten Einsatz (z. B. den des Lebens vieler Soldaten) abwenden läßt. Und das ist dann moralisch legitim, ja verantwortungsethisch geboten. Pro.: Ja. Doch kann diese Ausnahme-Norm nur für Extremsituationen gelten, in denen es um Sein oder Nichtsein geht. Von der Art sind die technologischen Abwägungslagen jedoch nicht. Denn es gibt keine einzelne Technologie, von deren Wahl oder Verwerfung entweder die Existenz der Gattung Mensch abhinge oder ihre Möglichkeit, moralisch zu handeln, sei es, um der Idee universaler Gerechtigkeit zu entsprechen, sei es, um das Prinzip Menschenwürde zu befolgen. Opp.: Wieso denn das? Pro.: Wenn du für eine neue Technologie plädierst, dann geht es stets bloß um einen Fortschritt, d.h. um eine Verbesserung des schon Erreichten bzw. des Bestehenden. Ein solcher kann jedoch zumeist durch mehrere Handlungsmöglichkeiten bzw. Projekte erzielt werden. Opp.: Daraus würde folgen, daß wir dann, wenn eine bestehende Situation technisch verbessert werden soll stets in Alternativen denken und diskutieren sollten. Pro.: Ja gewiß. Aber der moralische Hauptpunkt ist doch der: Es geht dann nicht um eine moralische Pflicht, sondern lediglicht um eine Glücksmöglichkeit, um bessere Lebensbedingungen – und das ist bloß ein vorletztes Ziel. Und immer, wenn es um solche mittleren Ziele geht, gilt unser Imperativ, man solle „das Ganze der Interessen der betroffenen Anderen“ nicht aufs Spiel setzen, wenn das irgend vermeidbar ist. Und hier ist es nicht nur vermeidbar, sondern hier ist diese Vermeidung geboten. Opp.: Das klingt zwar einleuchtend, aber ist das wirklich absolut gültig? Pro.: Bedenke doch, was du als Diskurspartner jetzt gegenüber anderen möglichen Diskurspartnern, wie zum Beispiel mir, in Anspruch genommen hast. Hast du nicht in Anspruch genommen, die Anderen bzw. mich hinsichtlich unserer Interessen als gleichberechtigte Subjekte zu achten? 40 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Opp.: Ja schon, aber was hat das damit zu tun? Pro.: Alles. Frage dich doch nur: Kannst du zugleich ein glaubwürdiger Partner im Diskurs mit uns sein und in Zweifel ziehen, daß du verpflichtet seiest, das Ganze unserer Interessen zu berücksichtigen und, sofern es irgend möglich ist, auch zu achten? Opp.: Vielleicht nicht. Pro.: Absolut nicht. Bemerkenswerterweise geht Jonas mit diesem Gedankenexperiment über eine kontemplative, phänomenologische und ontologische Perspektive hinaus, indem er eigentlich in der Dialogform eines argumentativen Selbstgesprächs denkt. Wenngleich er nicht aus dem Dialog denkt und sich selbst keineswegs diskursethisch versteht, arbeitet er hier (wie auch anderwärts) im Sinne einer Grundforderung des diskursethischen Prinzips ‚D‘. Ist sein Moralfreund doch sorgsam darauf bedacht, die Diskursnorm der gleichberechtigten Berücksichtigung der Interessen aller Anderen zu befolgen, soweit gute Gründe für sie geltend gemacht werden können. Damit entspricht er ‚D’. Denn diesem regulativen Geltungs- und Orientierungsprinzip zufolge soll man sich um eine Handlungsweise bemühen, die universal zustimmungswürdig ist, so daß sie unter reinen Argumentations- und Dialogbedingungen den Konsens der Argumente erzielen würde. Allerdings leistet Jonas’ Denkexperiment der Wette dreierlei nicht: einmal gibt es nichts für die Begründung her, daß jeder und jede überhaupt unabweisbare moralische Verpflichtungen habe. Zudem fehlt eine moralstrategische Fortsetzung zur Lösung von Max Webers Problem einer Verantwortung für den Erfolg des Moralischen in der realen, nicht moralischen Welt. Ähnlich wie Kants Gedankenexperiment des Kategorischen Imperativs oder Habermas’ Verfahren des praktischen Diskurses bleibt auch Jonas’ Diskursexperiment der Wette gleichsam auf einer idealisierenden Begründungsstufe A 2 stehen. Drittens entwickelt es kein Kriterium für die Zuerkennung moralischer Ansprüche. Es bleibt stumm, wenn es um die „Inklusionsfrage“ geht, welche Wesen wir als gleichberechtigte virtuelle Diskurspartner anerkennen und in den Kreis der moralisch Anspruchsberechtigten einbeziehen sollen. Eben das ist etwa bei der Diskussion über die In-vitro-Fertilisation und die Forschung an embryonalen menschlichen Stammzellen umstritten. Auch ein Rückgriff auf das Menschenwürdeprinzip, den Jonas vornimmt, fruchtet hier nicht, weil ja gerade strittig ist, von welchem Entwicklungsstadium an Embryonen der Menschenwürdestatus und der volle Menschenwürdeschutz zukomme. 41 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Angesichts der weltgeschichtlich neuen Situation unbegrenzter, die Gattung gefährdender Handlungsfolgen klärt und rekonstruiert das Gedankenexperiment jedoch den Gehalt einer schon mitgebrachten Verpflichtungsintuition. Indem Jonas solche allgemeinen lebensweltlichen Moralintuitionen rekonstruiert und diese direkt auf die neuartige technologische Problem- bzw. Handlungssituation bezieht, gewinnt seine Verantwortungsethik eine zugleich motivierende und orientierende Kraft. Daran hat es der Diskursethik bislang gefehlt.79 Kommt es aber nicht darauf an, bereits in der Logik der verantwortungsethischen Beratungen und Erörterungen die sozialanthropologisch tiefliegenden Fürsorgeintuitionen zu berücksichtigen, die an den lebensweltlichen Verantwortungsinstitutionen der Elternschaft und der Regierung haften? Muß hier nicht die Diskursethik der verantwortungsethischen Bewahrungsaufgabe besonderen Nachdruck verleihen? So wäre m. E. das erste der erfolgsverantwortlichen Kriterien (B1) folgendermaßen zu präzisieren: ›Prüft, welche Institutionen, Traditionen und ethischen Intuitionen dem Moralprinzip (D) gerecht werden, schützt und entfaltet sie sorgsam!‹80 Wenn wir nunmehr zurückblicken, um Jonas’ und Apels Ansätze als Antworten auf die technologische westliche Moderne zu interpretieren, wenn wir außerdem Apels Ansatz transformieren in ein sokratisches und intuitionssensibles Denken aus dem Dialog, dann dürfte sich das folgende Schema ergeben. 79 80 Vgl. W. Kuhlmann, „‘Prinzip Verantwortung‘ versus Diskursethik“ in: E.Z., S. 277-302. Erstaunlicherweise hat K.-O. Apel, wiewohl er stets den teleologischen Verpflichtungssinn des Moralprinzips auf der moralstrategischen Ebene B betont und dabei nicht nur die Herstellung fehlender Bedingungen für moralisches Handeln, sondern auch die Bewahrung der bereits geschichtlich gegebenen ins Auge fassen konnte, an dieser Stelle kein Kooperationsverhältnis zu Jonas erkannt. Das mag auch daher rühren, daß Apel auf der Ebene B keine eigenständige Fragestellung, was denn das zu Bewahrende sei, und also keinen eigenen Diskursschritt B 1 vorgesehen hat. Dazu die Entfaltung der verantwortungsethischen Diskurse auf der moralstrategischen „Ebene B“ in: D. Böhler, „Ethik der Zukunfts- und Lebensverantwortung. Erster Teil“, in: Böhler/Brune, 2004, hier S. 137 ff, 147 f. 42 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Herausforderungen der technologischen, liberalen Zivilisation Jonas Von Apel zum Dialog-Denken Verantwortungsprobleme durch Handlungs- und Wirkungsdivergenzen: Paralyse des Verantwortungsdenkens durch das „Komplementaritätssystem“ der westlichen Moderne: (1) technologische Wirkmacht – Ohnmacht des Folgen-Wissens, (2) Macht der Naturwissenschaften – Verunsicherung (u. Bezweiflung) religiös-ethischen Normwissens. Behebungsversuch: (Moral.) Motivation durch Sensibilisierung für moral. Ansprüche zukünftiger Generationen: – „Heuristik der Furcht“ – Um was darfst du (nicht) wetten? – „Prinzip Verantwortung!“ Unklar: Unter welchen Voraussetzungen können moralische Ansprüche Künftiger mißachtet werden? Offen: Verbindlichkeitserweis der Pflicht, sie zu berücksichtigen (a) zweck-rationalistisch verengt auf das moralfrei Analysierbare/Kalkulierbare, (b) Moral privatisiert und irrationalisiert als Sache existentieller bzw. religiöser Entscheidungen. Aufhebungsversuch: Sokratisch-sinnkritischer Rückgang auf das, was du als Dialogpartner nicht sinnvoll bezweifeln kannst, wenn du (a) und (b) im Dialog vertrittst, z.B. die Pflicht, alle sinnvoll im Dialog vertretbaren Ansprüche zu berücksichtigen Dialogreflexive Begründung von und Motivation zu universaler und Zukunfts-Verantwortung → Einsicht in meine Ansprüche/Pflichten als Dialogpartner: Prinzip D 43 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 5. Was heißt moralische ‚Verantwortung’ für die Zukunft? Keine Fürsorge ohne Rechtfertigung, kein praktischer Diskurs ohne Verständigungsgegenseitigkeit und Öffentlichkeit. Auch wenn Hans Jonas eine Begründungsarchitektonik fehlt, die bei der moralstrategischen Urteilsbildung eine differenzierte Orientierung für moralrestriktive Verhältnisse vorsieht – wie Apels „Teil B der Ethik“, so sieht er sich doch einem moralstrategischen Dilemma gegenüber. Vereinfacht lautet es: ökologische Zukunftsverantwortung oder demokratische Wahrnehmung von Nahinteressen. Im Hintergrund steht sein Gedanke, Verantwortungsfreiheit setze ein Sein voraus, das der Verantwortung Sinn gibt. Insofern bestehe die unbedingte Pflicht, dieses Sein, nämlich die Existenz der Gattung als Teil der Natur und die moralische Idee der Menschheit samt ihrem Kernbegriff ›Menschenwürde‹ zu bewahren. Um diesen Bewahrungspflichten gerecht zu werden, hat er unter bestimmten Umständen einen zeitweiligen Dispens der Demokratie und die Errichtung einer Ökodiktatur für sinnvoll gehalten. Dabei ist gleich mitzuverstehen, daß er aus US-amerikanischer Perspektive, gemäß des US-amerikanischen Sprachgebrauchs über Demokratie nachdenkt und dabei die Mehrheitsregel in den Mittelpunkt rückt. Das ist freilich etwas anderes als ein demokratischer Rechtsstaat, dessen Verfassung starke moralische Normen und Regularien enthält, welche sich zwanglos zukunftsethisch auslegen und ergänzen lassen. Eine solche umweltethische sowie tierethische Ergänzung hat das Deutsche Grundgesetz am 27. Oktober 1994 durch Einfügung von Artikel 20a und dessen Erweiterung am 26. Juli 2002 erfahren81, nach dem Tode von Hans Jonas also. Freilich hat diese Ergänzung nicht die justiziable Form und Kraft eines eigenen Grundrechts, d.h. bindend für die Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung, sondern nur den Stellenwert einer Staatszielbestimmung und ist hineingestellt in das geltende Gesetz und Recht. Insofern löst sie das von Jonas erkannte Dilemma von Nahinteressen versus Zukunftsverantwortung nicht eigentlich auf. Wenn sich, wie etwa bei drohender Klimakatastrophe, das Dilemma zwischen Zukunftsverantwortung und demokratischer Politik, die zum Interessenopportunismus zwischen Wähler und Parteien neige, dramatisch zuspitze, müsse der Philosoph „durchaus den 81 Der Artikel 20a des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland lautet: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.“ 44 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Mut haben, zu sagen, Demokratie ist höchst wünschbar, aber kann nicht selber die unabdingbare Bedingung dafür sein, daß ein menschliches Leben auf Erden sich lohnt.“82 Läßt sich dieser Not-Vorbehalt als erfolgsverantwortungsethische Konter-Strategie rechtfertigen? Jonas hat dafür heftige Kritik hinnehmen müssen, besonders massiv von Karl R. Popper83. Doch ist hier Vorsicht geboten. Zunächst einmal müßte man, wie es Jonas voraussetzt, strikt unterscheiden zwischen faktischer öffentlicher Meinung bzw. Mehrheitsentscheidung und normativer Rechtfertigung. Denn eine Ethik, der es um normative Legitimität und eine unbedingte Verpflichtung geht, steht und fällt damit, daß sie keinerlei faktische Übereinkunft, weder einen empirischen Konsens von Beteiligten noch gar einen Mehrheitsentscheid von Interessenten, als Geltungsgrund für die gesuchte Verantwortungspflicht von Akteuren oder für die gesuchte Richtigkeit eines Verhaltens akzeptieren darf. Das liefe auf einen naturalistischen bzw. faktizistischen Fehlschluß hinaus, der allein aus dem Faktum einer Übereinkunft auf deren Sollensgeltung schlösse. Erforderlich ist ein nichtrelativierbarer Maßstab, damit sich ein irgendwie zustandegekommener Konsens und erst recht eine Mehrheitsentscheidung jeweils auf die moralische Zustimmungswürdigkeit hin überprüfen läßt. Die Suche nach einem Verbindlichkeitskriterium jenseits von Subjektivismus und Relativismus verbindet Jonas’ ontologische und intuitionistische Wertethik mit letztlich dialogreflexiv normativer Diskursethik. Beide Ansätze kommen darin überein, daß der gesuchte Maßstab in dem Umkreis zu finden sein müßte, der sich mit den normativ geladenen Begriffen „Idee der Menschenwürde und des moralfähigen Menschen“ und „Verantwortung dafür, daß künftige Generationen diesen Ideen noch gerecht werden können, indem sie sich ihrerseits verantwortlich und moralisch verhalten“ beschreiben läßt. Diese Konzepte enthalten unbedingte, doch regulative Geltungskriterien für die moralische Richtigkeit des Verhaltens, denen immer nachzustreben sei. Wenn aber die Durchsetzung kurzfristiger Nahinteressen mittels Demokratie jener Richtungspflicht gefährlich zuwiderläuft, dann gehört – genau insoweit – auch eine Demokratie auf den Prüfstand; entweder müßte sie verändert werden, oder es stünde, falls die Veränderung scheitert, als ultima ratio ein zeitweiliger Dispens der Demokratie an. „Was ich mit der potentiellen Möglichkeit einer Tyrannei als äußerster Rettungsmaßnahme gemeint habe, ist einzig dem vergleichbar, was sein wird, wenn ein Haus brennt oder ein Schiff untergeht. Dann nämlich kann man keine Abstimmung mehr machen, und dann kann man nicht die normalen Gesetzesverfahren laufen lassen, sondern es müssen gewisse 82 83 Gespräch mit E. Gebhardt, in: E.Z., S. 210, 211. Vgl. Jonas, P.V., S. 254 f., 259-270, 302-305. Vgl. das Interview mit K. R. Popper in: DIE WELT, 8. Juli 1987. 45 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Notmaßnahmen ergriffen werden ...“ Freilich würde Jonas die Demokratie „mit großem Kummer verschwinden sehen und würde ausschließlich akzeptieren, daß sie zeitweilig, sagen wir mal, suspendiert würde.“84 Um für die Überwindung von Moralrestriktionen und –Gefährdungen der Zukunftsverantwortung klare Kriterien zu erarbeiten, ergänzen die Diskursethiker Jonas’ Ansatz durch die moralstrategische B-Perspektive einer Verantwortung für die Möglichkeit der Verantwortung. Anders gesagt: Es geht um die Verantwortung für den (tendenziellen) Erfolg des Moralischen in der Demokratie, in der globalisierten Markt- und Geldgesellschaft und in der globalisierten High-tech-Zivilisation.85 Mit anderen Worten: ‚Wie ist in nonmoralanalogen oder gar moralwiderständigen Verhältnissen eine moralförderliche Praxis möglich, die selbst als moralisch gelten kann?’. Es ist diese grundsätzliche Frage, die sich im Anschluß an Apel als Begründungsproblem einer verantwortungsethischen Orientierung stellen läßt: als das B-Problem der legitimen Durchsetzung dessen, was das Moralprinzip zu tun fordert, wenn die Verhältnisse dem entgegenstehen. Bemerkenswerterweise zeigt sich, gerade im Licht dieser moralstrategischen bzw. erfolgsverantwortungsethischen Begründungsfrage, daß hinreichend viel für eine Kritik an Jonas’ Relativierung der Demokratie spricht. Inwiefern? Ein Grund liegt darin, daß Jonas die begründungslogisch zuerst anstehende verantwortungsethische Frage dessen, der eine moralische Maxime gegen Widerständigkeiten durchsetzen will, überhaupt nicht stellt: die Frage, welche Institutionen und Traditionen im jeweiligen Veränderungsfeld (also hier: innerhalb der demokratischen Staats- und Regierungsform) dem Moralprinzip gerecht werden oder doch entgegenkommen, so daß sie bewahrt und möglichst weiterentwickelt werden sollten. Dieser erste Prüfauftrag der verantwortungsethischer Diskurse, gewissermaßen die Diskurse Stufe B 1, fehlt bei Jonas. Er bezieht sein Verantwortungsprinzip unmittelbar auf mögliche Widerstände, die aus der Demokratie entstehen können. Hier fehlt eine Diskursdifferenzierung, die nötig ist, damit die Anwendung des Verantwortungsprinzips nicht rigoristisch wird, sondern damit sie sich ihrerseits verantworten läßt; so nämlich, daß nach Maßgabe verantwortungsethischer Kriterien Rechenschaft über die möglichen Folgen abgelegt wird, die ein moralisch sein wollendes Handeln unter gegebenen non-moralanalogen Verhältnissen haben kann. Sowohl bloßer guter Wille als auch rigorose Vorsorgemaßnahmen können moralisch illegitime Folgen zeitigen. 84 85 E.Z., S. 210, 211. Dazu D. Böhler, „Idee und Verbindlichkeit der Zukunftsverantwortung“, in: EWD-3, hier bes. S. 63 ff. 46 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Ein zweiter Grund ergibt sich direkt daraus: Weil die Frage nach der moralischen Bewahrungswürdigkeit bzw. Entwicklungswürdigkeit geschichtlicher Institutionen von ihm nicht als eigenständige verantwortungsethische Stufe berücksichtigt wird, nimmt Jonas unmittelbar die Demokratie als Mehrheitsherrschaft ins Visier, ohne den (moralisch hoch relevanten) rechtsstaatlichen Rahmen der Demokratie, den modernen Verfassungsstaat mit den menschenrechtlichen Ideen der französischen und der amerikanischen Revolution, eigens zu berücksichtigen. Beziehen wir die moralische Bewahrungsfrage hingegen auf den modernen Verfassungsstaat, so leuchtet ein, daß eine Demokratiekritik weithin als immanente Kritik zu üben ist: geleitet von Grundsätzen des demokratischen Rechtsstaats selbst. Dazu gehören solche, deren normativer Kerngehalt reflexiv letztbegründbar ist, so daß sie als Momente bzw. Konkretionen des Diskurs-Moralprinzips erwiesen werden können. Wenn das der Fall ist, dann ist bei der Entwicklung einer moralischen Konter-Strategie äußerste Vorsicht geboten. Deren Grenze ist dann sofort in Sicht: die Strategie darf nicht pauschal ‚Dispens der Demokratie‘ heißen. Läßt sich aber ein Moralitätserweis tragender normativer Gehalte und prozeduraler Regeln der rechtsstaatlichen Demokratie antreten? Ja, auf indirekte Weise: durch den sokratischen Rückgang der Diskurspragmatik auf die dialogförmige Argumentationssituation86, in der man sich auch befindet, wenn man die universale Gültigkeit einer Norm, mithin auch deren moralische Verbindlichkeit bezweifelt. Dieser Rückgang führt über eine dialogische Sinnprüfung des Zweifels – als eines Beitrags im argumentativen Dialog – zum Erweis der Verbindlichkeit oder Nichtverbindlichkeit des bezweifelten normativen Gehalts oder Verfahrens. Denn dasjenige, was sich in einer aktuellen Argumentation unter Diskurspartnern nicht sinnvoll bezweifeln läßt, das ist prinzipiell gültig, so daß seine normative Forderung als verbindlich, als universal einsehbare Pflicht, zu gelten hat und daher befolgungswürdig ist. Kann die Dialog- bzw. Diskurspragmatik auf diese Weise zeigen, daß alle, welche überhaupt die Rolle eines Denkenden als Argumentationspartner einnehmen können – einzig auf die Potentialität kommt es in Geltungsfragen an –, daß also wir alle bereits gewisse demokratisch-rechtsstaatliche Grundwerte und Grundnormen von vornherein dadurch als befolgungswürdig vorausgesetzt haben, daß wir ernsthafte Diskurspartner sein wollen? Haben 86 Der aktuelle Forschungsstand der Diskurspragmatik spiegelt sich zumal in den Büchern Prinzip Mitverantwortung, 2001 (s. o. Anm. 6); sowie Philosophieren aus dem Diskurs. Beiträge zur Diskurspragmatik, hrsg. v. H. Burckhart u. H. Gronke, Würzburg (Königshausen & Neumann) 2002; in den Studien Böhlers, Brunes, Gronkes, Rähmes und Werners in: Böhler, Kettner, Skirbekk (Hg.), Reflexion und Verantwortung. Auseinandersetzungen mit Karl-Otto Apel. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2003; ferner in: Böhler u. Brune (Hg.), Orientierung und Verantwortung, 2004 (s. o. Anm. 1). In Vorbereitung: D. Böhler, Verbindlichkeit aus dem Diskurs, Freiburg i.Br. (Alber) 2006/7. 47 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 wir als solche gewisse rechtsstaatliche Prinzipien (notwendigerweise) für uns selbst in Anspruch genommen – also impliziert? Welche Prinzipien können das sein? Einmal ist es m. E. das rechtsethische Prinzip, die Würde, nämlich sowohl die Unverletzlichkeit allen menschlichen Lebens als auch die moralischen Rechtsansprüche einer 87 Kommunikationsfreiheit zu achten. Person auf Selbstbestimmung und auf Sodann ist, wie mir scheint, es das Prinzip, keine Beschlüsse und Maßnahmen in Kraft zu setzen oder anzuerkennen, die ganz auf das Zustandekommen im Geheimen angewiesen, nicht der öffentlichen Kritik ausgesetzt und nicht der öffentlichen Zustimmungsfähigkeit unterworfen sind; also das Prinzip der Öffentlichkeit.88 Verbunden mit dem Grundrecht der Kommunikationsfreiheit, enthält es nämlich m. E. den dritten unabweisbaren Grund einer Metakritik an Jonas’ Bewertung und Suspenserwägung der Demokratie; wohlgemerkt: sofern es um eine rechtsstaatliche Demokratie mit (möglichst verfassungsrechtlichen) Garantien von Menschenwürde, Öffentlichkeitsprinzip und Menschen- samt Bürgerrechten zu tun ist. Warum? Das Öffentlichkeitsprinzip wie auch das Menschenwürdeprinzip, insoweit es die Achtung der Selbstbestimmung und als deren Elemente die Gewährleistung der Informations-, Meinungs- und Koalitionsfreiheit gebietet, bezeichnet eine Bedingung der Möglichkeit moralischer Rechtfertigung. Dann jedenfalls, wenn das transzendentalhermeneutische Argument der Diskurspragmatik gilt, welches besagt: eine zureichende Beurteilung der Handlungen Anderer ebenso wie eine wahrheitsfähige Einschätzung der Interessen Anderer ist nur in dem Maße möglich, als man sich dabei auf die freie Artikulation ihrer Handlungsorientierungen und Interessen stützen kann. Wahrheitsfähig, nämlich situationserkennend, und (darauf aufbauend) legitim, also durch gute Gründe gerechtfertigt und in diesem Sinne ›gerecht‹, können moralische Urteile, Maximen oder Normen einzig dann sein, wenn sie nicht bloß auf der subjektiven Vermutung eines einsamen Gedankenexperimentators oder einer Experten-Elite beruhen, sondern wenn sie die wirkliche Situation der Betroffenen berücksichtigen – ausgehend von deren Selbstverständnis. Aus dieser erkenntnistheoretischen Überlegung hatte ich in der Entstehungszeit der Diskursethik, bei Gelegenheit einer kontroversen Diskussion des „Funkkollegs Praktische 87 88 D. Böhler: „Diskursethik und Menschenwürdegrundsatz zwischen Idealisierung und Erfolgsverantwortung“, in: K.-O. Apel und M. Kettner (Hg.), Zur Anwendung der Diskursethik in Politik, Recht, Wissenschaft, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1992, S. 201-231. Ders., „Menschenwürde und Diskursethik“, Nachwort zu: Thomas Rusche, Aspekte einer dialogbezogenen Unternehmensethik, EWD-4, hier S. 247 ff. Vgl. D. Böhler, „Kritische Moral oder pragmatische Sittlichkeit“, in: ders. u. K.-O. Apel, Funkkolleg: Studientexte, Bd. 3, Weinheim und Basel (Beltz) 1984, S. 845-886. 48 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Philosophie/Ethik“ im Jahre 1980, die geltungslogische Folgerung abgeleitet:89 Keine Gültigkeit ohne argumentative Geltungsgegenseitigkeit, keine Geltungsgegenseitigkeit ohne Verständigungsgegenseitigkeit. Anders pointiert: Ohne „Verständigungs-Gegenseitigkeit“ über die Bedeutung der Situation und der situationskonstitutiven Interessen keine Wahrheit und Gerechtigkeit, also keine „Geltungs-Gegenseitigkeit“ für moralische Urteile und für moralische Normen bzw. Handlungsorientierungen. Diese Einsicht ist es, die Jonas selbstwidersprüchlich – nämlich in Widerspruch zu seiner moralischen Absicht einer Einbeziehung der Interessen der mitbetroffenen Anderen90 – überspringt, indem er als traditioneller Phänomenologe und als Gedankenexperimentator denkt. Denn das sind Denkweisen, die sich gut mit einem methodischen Solipsismus vereinbaren lassen, nicht aber kommunikative Verfahren der Situationserkenntnis eröffnen. Hingegen führt jene Einsicht zu g einer „phänomenologisch-hermeneutischen Maxime“ der Situationserkenntnis.91 Ist eine Verständigungsgegenseitigkeit unabdingbar, so folgt eine tiefgreifende Kritik des, von Jonas noch ein gutes Stück geteilten, Selbstverständnisses der traditionellen Philosophie als theoria.92 Die theoria-Tradition dachte zugleich objektivistisch und methodisch solipsistisch; und sie konnte das Eine tun, weil sie das Andere tat. So nahm sie an ihrem Ursprung an oder setze späterhin voraus, daß die Seinsstrukturen (Platons Ideen) und die Kriterien richtigen Handelns (z.B. Platons Paradigmen) durch eine geistige Schau (theoria) erkennbar seien, zu der es einer Kommunikation mit Anderen eigentlich nicht bedürfe: Erkenntnis des Wahren unabhängig von Verständigung und Sprache, jenseits einer Kommunikationsgemeinschaft. Eine grundsätzliche Kritik an dem seither wirksamen methodischen bzw. transzendentalen Solipsismus der Philosophie, ja des abendländischen und westlichen Geistes insgesamt, hat 89 90 91 92 Ich beziehe mich auf die aufschlußreiche Kontroverse zwischen dem Personalismus Manfred Riedels mitsamt dem Quasi-Kantianismus Otfried Höffes auf der einen Seite und dem transzendentalpragmatischen Ansatz bei der realen Kommunikationsgemeinschaft und deren kontrafaktischen Normen auf der anderen Seite: Apel, Böhler, Rebel (Hg.), Funkkolleg: Studientexte, Bd. 1, S. 269-277. Hier konnte das Hintergrundsproblem der traditionellen Philosophie, der methodische Solipsismus, kontrovers herausgearbeitet werden. Vor diesem Hintergrund ließ sich dann eine kommunikativ hermeneutische Vorstufe für praktische Diskurse als unabweisbar begründen: D. Böhler, „Transzendentalpragmatik und kritische Moral“, in W. Kuhlmann und D. Böhler (Hg.), Kommunikation und Reflexion. Zur Diskussion der Transzendentalpragmatik, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1982, hier S. 108ff, S. 206 und 243f. Dazu: Jon Hellesnes, „Ethischer Konkretismus und Kommunikationsethik“, in: D. Böhler, T. Nordenstam und G. Skirbekk (Hg.), Die pragmatische Wende, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1986, bes. S. 183f. Jonas, P.V., S. 78f. Dazu hier: Kap. 4. D. Böhler, Rekonstruktive Pragmatik, S. 123ff. Jonas überschreitet dieses klassisch theoretische Selbstverständnis der Philosophie jedoch mit Argumenten, die auf ein „Leib-Apriori“ (M. Merleau-Ponty) der Erkenntnis und auf eine Sinnkritik hinzielen, indem sie – gegenüber Descartes und Husserl – das Sinnkriterium einer, wie Gronke formuliert, leibpragmatischen Widerspruchsfreiheit geltend machen. Vgl. Jonas, Organismus und Freiheit, Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 1973, S. 32ff – Das Prinzip Leben, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1994, S. 38f. Dazu Gronke, Das Denken des Anderen, Würzburg (Königshausen & Neumann) 1999, S. 161f. Vgl. in diesem Zusammenhang die differenzierte diskursethische Kritik an Jonas von M. Werner: „Dimensionen der Verantwortung“, in: E.Z., S. 303-340, bes. S. 324ff. 49 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 als erster Apel sprachphilosophisch und problemgeschichtlich vorgetragen93. Habermas hat sie in seinem Ansatz einer „Theorie des kommunikativen Handelns“ fruchtbar gemacht.94 Ich selbst hatte in den 68er Jahren aus der theoria-Kritik die Konsequenz einer Sinnkritik des reduktionistischen Historischen Materialismus und seiner unhermeneutischen, objektivistisch monologischen Ideologiekritik gezogen95. Jene kommunikativ hermeneutische Einsicht und die daraus folgende Traditionskritik der theoria-Tradition (von Platon und Aristoteles zu Hegel und Marx, von Kant zum modernen Szientismus und zur analytischen Philosophie wie auch zur Phänomenologie) gab einen wichtigen Anstoß für die Entwicklung einer neuen, einer kommunikativen Ethikform – eben der Diskursethik. Diese erkennt erstmals an, daß die Gültigkeit moralischer Sätze von der Kommunikation mit den betroffenen Interessensubjekten abhängt; infolgedessen verpflichtet sie die moralisch Urteilenden dazu, sich um eine solche Kommunikation zu bemühen. In diesem Sinne haben Habermas und Apel, Kuhlmann und ich seinerzeit die Diskursethik pointiert als Ethik der Kommunikation eingeführt – etwa gegenüber Kants und Rawls Moralfindung durch pure Gedankenexperimente, die vermeintlich ein einsames Subjekt anstellen könne; demgemäß auch in Opposition zu Kohlbergs universalistischer Moralstufe 6,96 in Opposition zum ethischen Kantianismus und Personalismus, schließlich in Opposition zum Naturrecht und zur objektiven Wertethik. Praktisch politisch führt dieser kommunikative Ansatz, wie schon erwähnt, zur Opposition gegen jede Expertokratie: von Platons Philosophenherrschaft bis zur modernen Technokratie. Glücklicherweise hat sich die zugrundeliegende kommunikativ hermeneutische Einsicht in Politik und Recht der Bundesrepublik Deutschland soweit durchgesetzt, daß – bis hin zur Ermöglichung von Verbandsklagen der Umweltverbände – Anhörungsprozeduren und andere Verfahren der Verständigung mit Betroffenen institutionalisiert worden sind. Leider Gottes hat es nach der deutschen Vereinigung zum Zwecke einer beschleunigten Modernisierung im Rahmen des „Aufbaus Ost“ zahlreiche Rücknahmen und Einschränkungen dieser Partizipationsrechte gegeben, die sogenannten „Beschleunigungsgesetze“.97 93 94 95 96 97 Apel, Transformation II, daraus die Studien „Sprache als Thema und Medium der transzendentalen Reflexion“, a.a.O., S. 311-329; sowie „Der transzendentalhermeneutische Begriff der Sprache“, a.a.O., S. 330-357. Habermas, Theorie des Kommunikativen Handelns. 2 Bde, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1981; ders., Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1973, bes. S. 96 ff. Böhler, Metakritik der Marxschen Ideologiekritik. Prolegomenon zu einer reflektierten Ideologiekritik und ‚Theorie-Praxis-Vermittlung‘, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1971, ders., „Kritische Theorie – kritisch reflektiert“, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Vol. LVI/4, 1970, S. 511-525. Vgl. J. Habermas, „Moralentwicklung und Ich-Identität“, in: ders., Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1976, S. 63-91, bes. S. 84 f. Dazu: W. Erbguth u. B. Wiegand-Hoffmeister, „Umweltrecht im Gegenwind? Ein ethisch orientiertes Umweltrecht ist nötig“, in: EWD-3, S. 411 ff, bes. 422 ff. 50 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Was die Ethikbegründung anbelangt, haben wir hier einen dritten Bedeutungsaspekt von ‚Diskursethik‘: Ethik, die zur Kommunikation verpflichtet – und das bereits, um die Erkenntnis der Situation zu gewährleisten. Keine Situationserkenntnis ohne Sinnverständigung mit den Menschen. Für den diskursethischen Begründungsweg habe ich daraus eine architektonische Konsequenz gezogen, die auch die Differenz zu Jonas augenfällig macht: Direkt auf die dialogreflexive Letztbegründung des Moralprinzips und seiner, aus den normativen Sinnbedingungen der Diskurspartnerrolle erwachsenen, einzelnen Verpflichtungsgehalte – das ist die transzendentalpragmatischen Begründungsstufe (A 1) müsse als erster Konkretionsschritt die öffentliche Verständigung (oder ersatzweise ein hermeneutisches Verfahren zum Zweck einer möglichen Verständigung) über den konkreten Sinn der Interessen möglichst aller Betroffenen folgen. Die Sinnverständigung mit den möglichen Betroffenen wäre also eine Diskursstufe eigenen Rechts (A 2).98 Erst nach einer solchen Verständigungsbemühung fänden – als dritte Begründungsstufe – situationsbezogene Diskurse einen logischen Ort. Zunächst wären in interpretativen, mehr oder weniger theoretischen empirischen Diskursen die Erschließungsfrage ‚Wie ist die Situation beschaffen, welche moralisch relevanten Ansprüche sind hier zu berücksichtigen?‘ zu beantworten (A3). Doch sei diese sogleich durch die selbstkritische Kontrollfrage zu ergänzen: ‚Ist die zugrundeliegende Situationsinterpretation zutreffend?‘ (A3.1). Erst daran kann sich m. E. die Aufgabe anschließen, für die so bestimmte Situation eine moralische Maxime zu bilden: eine ideale Situationsnorm als Anwendung des Moralprinzips auf die hier zu berücksichtigenden moralischen Ansprüche. Dabei ist kontrafaktisch zu unterstellen – darin besteht die Idealisierung eines reinen praktischen Diskurses –, es stünden dieser Maxime keine moralischen Restriktionen wie partikuläre Interessen, eigensinnige Institutionen und Machtkonstellationen im Wege, und es würden sich alle betroffenen Anspruchssubjekte wie dialogisch gesonnene Argumentationspartner verhalten. Die hier zu stellende Frage (A4) mag lauten: ‚Was wäre unter ganz und gar moralgemäßen bzw. dialogischen Handlungsbedingungen (die freilich kaum anzutreffen sein dürften) moralisch richtig?’ Praxisbezogen gefragt: ‚Welche Handlungsweise sollen wir, wenn sie schon nicht direkt realisierbar sondern eher ein Ideal ist, unbedingt als Muster anerkennen und als Wegweiser nehmen, dessen Richtung es zu folgen gilt?’ Oder: ‚Was sollten wir angesichts der zu berücksichtigenden Ansprüche eigentlich tun?’ In striktem Bezug auf das Moralprinzip 98 D. Böhler, „Kritische Moral oder pragmatische Sittlichkeit?“, in: Funkkolleg Studientexte, Bd. 3, bes. S. 855870. 51 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 wird so geprüft, ob eine vorgeschlagene Situationsnorm legitim ist, ob ihr argumentative „Geltungs-Gegenseitigkeit“ unter reinen Diskursbedingungen zukommt. Insofern der demokratische Rechtsstaat das Prinzip der Öffentlichkeit etabliert und praktiziert, ist er eine Realisierungsbedingung für moralische Diskurse. Stellt er doch den institutionellen Rahmen für eine freie Sinnverständigung mit den Adressaten moralischer Normen und den Gegenständen moralischer Urteile bereit. Aus diesem Grunde und in dieser Hinsicht läßt sich ein Dispens der Demokratie nicht rechtfertigen. Wohl aber kann – auf der verantwortungsethischen Ebene B – in Form einer moralischen Konter-Strategie Widerstand gegen einzelne Mehrheitsbeschlüsse und Regierungsmaßnahmen in einer Demokratie legitimiert werden. Jonas’ kontemplativ eingestellte, an die antike theoria angelehnte Phänomenologie kann dem Prinzip der Öffentlichkeit eine solche grundlegende Rolle nicht einräumen. Sein Selbstverständnis und seine Methode stehen dem entgegen, weil er „die universale Verantwortung gegenüber allem lebendigen Sein ‚monologisch‘ aus dessen werthafter Struktur selbst“ gleichsam abliest bzw. intuitiv abschaut.99 „Sieh hin und Du weißt“100, wofür Du verantwortlich bist, nämlich für das schutzbedürftige, werthafte, organische Leben um Dich herum – sagt Jonas intuitionistisch: Du weißt es, so wie Eltern, die ihren schutzbedürftigen Kindern gegenüberstehen, ‚normalerweise‘ (!) wissen, daß sie ihnen Fürsorge und Vorsorge zu gewähren haben. Handlungs- und gefühlsphänomenologisch ansetzend, nimmt Jonas allein das asymmetrische Verhältnis der Ausgangs- und Handlungsbedingungen eines Verantwortlichen in den Blick. Einzig diese praktische und intuitive Asymmetrie sei es, die den Verantwortungsbegriff konstituiere. Trifft das zu? Recht hat Jonas als Phänomenologe, insoweit er zeigt, worin die Ausgangslage und die direkte praktische Aufgabe der Verantwortung besteht – nämlich stellvertretend, mithin fürsorgend für ein wertvolles, um seiner selbst willen schutzbedürftiges Wesen zu handeln. Diesen Verantwortungsaspekt stellt die rechte Seite der folgenden Abbildung dar, während ihre linke Hälfte den dialogförmigen, logisch symmetrischen Rechtfertigungsaspekt veranschaulicht: 99 100 Vgl. Micha Werner: „Dimensionen der Verantwortung“, in: E.Z., S. 332, vgl. 314-318. Jonas, P.V., S. 235. 52 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Verantwortungsaspekte Rechtfertigungsbezug Fürsorgebezug logisch symmetrisch: Sich-Verantworten im argumentativen Dialog faktisch asymmetrisch: Handlungsbedingungen und fürsorgendes Handeln S1 mit GeltungsAnspruch S2 mit EinlösungsErwartung machtvolles Subjekt S1 ohnmächtiges, wertvolles Gegenüber Logisch und diskurspragmatisch gesehen, ist Jonas im Unrecht. Denn logisch hat sowohl die Situation der Prinzipienbegründung, in der einer dem anderen im argumentativen Dialog demonstriert, daß man prinzipiell zur Mitverantwortung für schutzbedürftige Wesen verpflichtet sei, eine symmetrische Form, als auch die konkrete Rechtfertigungssituation einer oder eines Verantwortlichen, die bzw. der über seine Praxis befragt wird oder sich selbst Fragen stellt. So befragt, muß sie bzw. er in einem symmetrischen Dialog mit Argumenten begründen können, daß die im Sinne der Fürsorge praktizierten Handlungsweisen den legitimen Ansprüchen gerecht werden bzw. gerecht geworden sind, die man im Namen seines Betreuten geltend machen kann oder die jener – später einmal – selbst gegenüber den Verantwortlichen vorbringen kann, etwa das herangewachsene Kind gegenüber den Eltern. Dann sind die Verantwortlichen gefordert, die Asymmetrie des fürsorgenden Handelns zu verlassen und sich auf die Symmetrie des argumentativen Dialogs einzulassen. Es ergeben sich dann zweierlei Diskurs-Symmetrien: sowohl die im engen Sinne logische oder semantisch syntaktische Symmetrie zwischen Rede und Gegenrede, als Aussagen betrachtet, wie auch die dialogpragmatische bzw. kommunikationsethische zwischen Frage und Antwort, Gründefordern und Gründegeben, Anerkennungserwartung und Anerkenntnis, wie sie sich in der Interaktion gleichberechtigter Diskurspartner einstellen. Das ist die Form 53 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 der Verantwortung als Rechtfertigung: das 23.07.2007 Sich-im-Dialog-Verantworten. Keine Verantwortung ohne mögliche Rechenschaft. : Verantwortung: Verwobenheit von Fürsorge und Rechtfertigung rechtfertigt sich Subjekt 2 Diskurssymmetrie im Dialog anerkennt GeltungsanSubjekt 1 sprüche von bzw. für Fürsorgegegenstand als mögl. Subjekt Handlungsasymmetrie behandelt Fürsorgegegenstand Beide Aspekte, das Rede-und-Antwort-Stehen und das stellvertretende Handeln des Fürsorglichen sind miteinander verwoben. Das eine verlöre ohne Bezug auf das andere seinen Sinn. Das Verwobensein der Fürsorgebeziehung mit der Rechtfertigungsbeziehung zeigt sich schon daran, daß ‚ich’, der Fürsorgende, bei Fragen nach dem Warum meiner Handlungsweise sowohl zum ‚Gegenstand’ meiner Fürsorge als auch zu dem Fragenden die symmetrische Stellung eines Diskurspartners werde einnehmen müssen. ‚Ich’ komme dabei nämlich nicht umhin, sowohl dem Frager Geltungsansprüche für seine Frage (als ernstgemeint, verständlich und wahrheitsdienlich bzw. legitimitätsförderlich) zuzubilligen und ernsthaft, verständlich mit guten Gründen wahrheitsbemüht darauf einzugehen, als auch meinen Fürsorgegegenstand als virtuellen gleichberechtigten Argumentationspartner anzuerkennen und mich seinen möglichen Geltungsansprüchen zu stellen. ‚Ich’ darf nicht bloß fürsorgend agieren – das liefe auf einen bloßen, nicht diskursiv kontrollierten und gegenseitig gerechtfertigten Paternalismus hinaus. Vielmehr soll ‚ich’ die Diskurspartnerrolle übernehmen und als Diskurspartner zur Rechtfertigung, zum Geltungsdiskurs über meine Fürsorge bereit sein. 54 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Warum? Ich bin einerseits Handelnder, ein faktisches Subjekt (Ich I), aber ‚ich’ bin zugleich virtueller Diskurspartner, der zu seinen Handlungen Stellung nehmen kann (Ich II). Daher kann ‚ich’ als Diskurspartner nicht einerseits (in der Fürsorgerelation) einem Menschen, für den ich sorge, jenen Wert beimessen resp. unterstellt haben, den etwa das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verfassungsrechtlich zur staatspolitischen Richtschnur erhoben hat: Menschenwürde, aber andererseits (in der Rechtfertigungsbeziehung) bezweifeln oder gar bestreiten, daß ich ihn als mögliches Subjekt von Geltungsansprüchen anerkennen soll, mithin als möglichen gleichberechtigten Diskurspartner ernstnehmen soll. Wie? So, daß sich meine Fürsorgehandlungen ihm (oder seinen bestmöglichen Anwälten) gegenüber als angemessen, als mit seiner (möglichen) Selbstbestimmung vereinbar und somit als zustimmungswürdig rechtfertigen lassen. Wer sich allein auf einen Fürsorgestandpunkt stellte und die Verpflichtung zur argumentativen Rechtfertigung in diesem strengen Sinne in Zweifel zöge oder sie mißachtete, der verstrickte sich in einen performativen Widerspruch. Hinsichtlich einer solchen Zweifelsbehauptung oder einer solchen Mißachtung der Menschenwürde seines Schützlings verlöre er seine Glaubwürdigkeit als Diskurspartner. Der von Jonas verabsolutierte Fürsorgeaspekt bezieht sich auf die appellative wertethische Ausgangssituation eines Handlungsmächtigen im Verhältnis zu einem wertvollen, vergleichsweise ohnmächtigen Gegenüber, während sich der Geltungsaspekt aus der, damit von vornherein verbundenen, dialogethischen Rechtfertigungssituation ergibt. Erst beide Aspekte, miteinander und ineinander, machen den eigentlich moralischen, metakonventionellen, weil auf das Moralprinzip bezogenen Sinn von ‚Verantwortung’ im allgemeinen und von ‚Zukunftsverantwortung’ im besonderen aus. Zur Verantwortung gehört das Sich-Verantworten, die Rechtfertigung ggf. des Warum und des Wie, der Mittel und Wege: der fürsorgende Akteur muß sich handlungs- und folgenbezogen verantworten können gegenüber anderen bzw. gegenüber den Ansprüchen der Adressaten seiner Fürsorge, den faktischen Ansprüchen eines Schützlings oder den virtuellen Ansprüchen zukünftiger Betroffener – im Falle der Zukunftsverantwortung. 55 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 6. 23.07.2007 Das Prinzip Achtung der Menschenwürde – eine Verbindlichkeit des Argumentationspartners? Wozu und wem gegenüber verpflichtet es? Nun liegt hier der Einwand nahe, ob jene starke, nämlich unbedingte und letztlich diskursideale, Verpflichtung zur Rechtfertigung einer Fürsorgepraxis nicht einzig dann gilt, wenn der hier vorausgesetzte Menschenwürdegrundsatz nicht bloß in Anspruch genommen sondern seinerseits als ein unbezweifelbar verbindliches Prinzip erwiesen worden ist? Hans Jonas greift die Pflicht zur Achtung der menschlichen Würde aus der biblischen Tradition auf, geht also zurück auf die erste Quelle eines moralisch elaborierten Verfassungsrechts und der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ der Vereinten Nationen von 1948 wie schon der UN-Charta von 1945. Allein, das Zitieren religiöser oder rechtspolitischer Urkunden ist keine Begründung. Wer so zitiert, der beweist damit ja nicht, daß dem zitierten normativen Gehalt strikte intersubjektive Verbindlichkeit zukommt – Verbindlichkeit aus Gründen, die sich nicht sinnvoll bezweifeln oder außer Geltung setzen lassen. Hier ist eine philosophische Prinzipienbegründung gefragt. Doch wenn wir uns anheischig machen, einen solchen Verbindlichkeitserweis zu versuchen, sehen wir uns wieder dem Begründungsskeptizismus der szientifisch gesonnenen westlichen Moderne und der radikal vernunftkritischen, relativistischen Postmoderne gegenüber. Auf dem schlüpfrigen Grunde dieses tiefsitzenden Skeptizismus ist es fast Common sense geworden, daß man zwar ethische Werte und Normen wie Menschenwürde brauche, daß sich diese jedoch nicht allgemein einsichtig machen ließen: Rationale Verbindlichkeit sei nicht möglich, praktische bzw. moralische Vernunft sei nicht zu haben; moralische bzw. rechtsethische Prinzipien hätten bloß den schwachen non-rationalen Status einer Entscheidung. In diesem Tenor bestreiten heute sowohl die Relativismen von Existentialismus und Postmoderne als auch die moderne Entleerung der Vernunft zur Zweckrationalität die (rational erweisbare) Allgemeinverbindlichkeit moralischer Normen und ebenso die eines Moralprinzips. Angesichts dieser zeitgeistigen Bestreitung, grundsätzlich aber, weil wir als Denkende alle Geltungsansprüche vor dem "Gerichtshof der Vernunft" (Kant) sollten rechtfertigen können, ist es uns auferlegt, die Gültigkeit und die einsehbare Verbindlichkeit auch der Menschenwürdenorm rational zu erweisen, – selbst dann, wenn wir sie aus uralter 56 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Glaubenstradition und aus der Aufklärungstradition bzw. der des Vernunftrechts schon 'haben'. 6.1 Zu Genese und Gehalt des Prinzips der Menschenwürde: Urrecht auf Leben und Selbstbestimmung. Entstanden ist das Unversehrtheitsgebot der Menschenwürde bekanntlich aus der biblischen Überzeugung, daß Gott den Menschen nach seinem Bilde geschaffen habe (1. Mose 1, 26f), woraus sich das sechste der Zehn Gebote "Du sollst nicht morden" (2. Mose 20, 13 und 5. Mose 5, 17, präzisiert im Noah-Bund: 1. Mose 9, 6) ableiten läßt. Und wie gesagt: der rechtsethische Impetus, der sich heute in Menschenrechtsdeklarationen und etwa in der deutschen bundesrepublikanischen Verfassung objektiviert hat, steht in der Wirkungsgeschichte dieses biblischen Bekenntnisses. So haben sich die Mütter und Väter des deutschen Grundgesetzes bei der Formulierung von dessen Erstem Artikel teils direkt von diesem schöpfungstheologischen und bundestheologischen Hintergrund leiten lassen, teils von Kants säkularer Einholung und Erweiterung des normativ ethischen Gehalts der ‚Gottesebenbildlichkeit’. Samuel von Pufendorfs Einführung der dignitas humana als naturrechtlicher Zentralnorm, nämlich als Ur-Rechtstitel jedes Menschen,101 nicht nur aufgreifend sondern sie vernunftethisch pointierend, hatte Kant die Selbstzweckformel des Kategorischen Imperativs entwickelt. Er erhob es zur Vernunftpflicht, man solle ein menschliches Wesen niemals bloß als Mittel sondern stets zugleich als Zweck brauchen, so daß der absolute Wert der Menschheit als vernunftfähiger, mithin moralfähiger Natur in jedem einzelnen Menschen geachtet werde.102 Damit erweitert er die primär leibbezügliche Unversehrtheitsverpflichtung des Buches Genesis um die Anerkennungspflicht, es gelte die Autonomie der Anderen als Personen und vernunftfähiger Wesen zu wahren. Das Recht auf Leben und das Recht freier Selbstbestimmung (in den moralischen Grenzen, die die Achtung der Freiheit des Nebenmenschen bzw. der möglichen Betroffenen setzt) – das sind die Eckpfeiler des Menschenwürdeprinzips. 101 Vgl. Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, Göttingen 41962, S. 139 ff. K.-H. Ilting, Naturrecht, in: Geschichtliche Grundbegriffe, hg. v. O. Brunner, W. Conze u. R. Koselleck, Stuttgart 1978, Bd. 4, S. 287 ff. 102 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe, S. 429ff. 57 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 Von der biblischen und kantischen Tradition 23.07.2007 motiviert, haben die deutschen Verfassungsmütter und -väter 1948 einen Beschluß gefaßt: sie haben das erweiterte Gebot der Menschenwürde als oberste Richtschnur allen staatlichen Handelns gesetzt. Nunmehr gilt es faktisch kraft förmlicher, verfassungsgebender Entscheidung und deren staatlich-rechtlicher Anerkennung. Einzig und allein den Standpunkt des Geltens kraft faktischer Entscheidung, einer Art Glaubensentscheidung, vertritt gegenwärtig die große politisch ethische Koalition des modernen Pluralismus und des postmodernen Relativismus. Eben auf diese innere Herausforderung der Vernunft antwortet die Begründungsreflexion der Diskursethik, die sokratische Diskurspragmatik. Läßt sich die Entscheidung für die Grundnorm der Menschenwürde – ja möglicherweise darüber hinaus die Intuition einer Achtung der belebten Natur (im Sinne von Albert Schweitzer oder Hans Jonas) – auch so begründen, daß ihr Verpflichtungsgehalt als verbindlich erkannt wird103? Und zwar so, daß jede Person, die allein Argumente, nicht schon eine Glaubensentscheidung, gelten läßt, zu dieser Erkenntnis gelangen kann? Um das zu klären, begeben wir uns in einen Diskurs mit einem Skeptiker, der auch die Diskursethik und ihre diskurspragmatische Begründung in das Schema des herrschenden Rationalitätsverständnisses zwängen will, so daß er die These vertritt: ‚Da die Diskursethik ein rationaler Ansatz ist, kann sie keine gehaltvollen Werte bzw. Normen begründen; rationalitätstheoretisch ist sie ein Dialog-Verfahren und kann allenfalls zu einer Verfahrensregel gelangen, die besagt: das Ergebnis oder der Vorschlag ist vorzuziehen, dem man aufgrund gemeinsamer (Ober-) Interessen zustimmen kann. Und diese Regel gilt nur für diejenigen, die sich auf der nonrationalen Basis ihrer Willenentscheidung zu einem solchen Dialogverfahren bereitgefunden haben.‘ Prüfen wir diese Position in einem gewissermaßen sokratischen Dialog, der zum Teil eine aktuelle Besinnung der Dialogteilnehmer auf ihre Diskursrolle, eine Reflexion im Dialog auf den Diskurs darstellt. 103 In diesem Zusammenhang skizziere ich zwar nur die Begründung der Menschenwürdenorm, weise aber darauf hin, daß die aktuell dialogreflexive Begründungsreflexion der Diskursethik weiterreicht. So zeigt sie, daß Diskurspartner, indem sie auf Wahrhaftigkeit verpflichtet sind, auch zum ernsthaften Umgang mit ihren naturethischen Intuitionen verpflichtet sind. Außerdem zeigt sie, im Dialog auf Sinnbedingungen des Diskurses (bzw. des Argumentierens) reflektierend, daß zu diesen die Bereitschaft zählt, alle sinnvollen Argumente zu berücksichtigen und daß die Annahme moralischer Rechte der Natur als ein solches gelten muß. So zuletzt: Horst Gronke, Natur. 58 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 6.2 Selbsteinholung des Diskurspartners (II). Moralische Orientierung durch sokratisch sinnkritische Reflexion auf den Diskurs in dem jeweiligen Streitgespräch: Die Achtung der Würde jedes Menschen ist eine unbestreitbare Pflicht. Zweifler: Ich behaupte erstens, daß die Diskursethik, weil sie zur Begründung moralischer Normen und Werturteile nichts als den Rückgang auf den Diskurs zu bieten hat, keine prinzipielle moralische Orientierung ermöglicht, wie sie der Grundsatz, die Würde jedes Menschen sei unbedingt zu achten, enthält. Der Ansatz bei dem Diskurs kann – zweitens – bloß zu einem Konsensbildungsverfahren gelangen, dem das Kriterium einer interessegeleiteten Zustimmung zugrundeliegt. Das ermöglicht selbstredend keine unbedingte Verpflichtung und Verbindlichkeit. Diskursethiker: Mit Blick auf eine strikte, diskurspragmatische Begründungsreflexion – nicht im Blick auf Habermas, der ja bereits die Situation des praktischen Diskurses voraussetzt, auf die aber ein Skeptiker sich nicht einlassen muß, weil er deren Zumutung mit der Frage kontern kann "Warum soll es vernünftig sein, sich als praktischer Diskurs-Teilnehmer (statt z. B. rein zweckrational bzw. strategisch als homo oeconomicus) zu verhalten?" – werde ich dir durch Reflexion auf den Diskurs im Dialog zu zeigen versuchen, daß deine Ausgangsthese (1) nicht zutrifft und daß deine Kriterienannahme (2) nicht folgt. Zweifler: Wie das? Diskursethiker: Bedenke, was du als gültig und für dich als meinem Partner im Diskurs – jetzt zunächst in dieser realen Kommunikationsgemeinschaft – voraussetzen und als verbindlich anerkennen mußt, - damit deine Rede von mir (und anderen) als Argument mit kritisierbarem Geltungsanspruch behandelt werden kann, mußt du voraussetzen, daß sie als argumentativer Beitrag im Dialog mit anderen verständlich ist (Sinnbedingung); - damit du von mir (und ggf. anderen) jetzt als Argumentationspartner im Dialog über Wahrheit und Richtigkeit ernst genommen werden kannst, mußt du den Anspruch auf Wahrhaftigkeit voraussetzen. 59 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 Zweifler: 23.07.2007 Was soll das heißen? Diskursethiker: Du mußt bereit sein, den Anspruch auf Ernsthaftigkeit deiner Partnerintention einzulösen. Du mußt ernsthaft bereit sein, mit mir als Dialogpartner zusammenzuarbeiten, und diese Bereitschaft verbindlich in den Diskurs einbringen (Moralbedingung). - Denn wie anders sollten wir deine und meine Beiträge hinsichtlich ihrer Ansprüche, allein kraft ihrer Begründbarkeit und freien Einsehbarkeit zu gelten, hier in einem Diskurs prüfen, ggf. verbessern und zur Geltung bringen können? Dazu müssen wir alle erreichbaren Argumente zur Sache in unserem Dialog berücksichtigen (Geltungsbedingung). Du stimmst mir doch sicher bei: Wir können wissen, daß der argumentative Dialog eine verbindliche (Meta-)Institution für dich, mich und für alle möglichen Anspruchssubjekte ist, so daß er als Diskursuniversum etwas Ideales an sich hat, da er alle performativ und propositional widerspruchsfreien Argumente und deren mögliche Vertreter, und zwar als Gleichberechtigte, einschließt. Zweifler: Das ist geschenkt. Aber daraus folgt doch nicht, daß die Diskursethik die Verbindlichkeit der Menschenwürde (1) und damit auch – im Unterschied zur interessierten Zustimmung – ein ethisch gehaltvolles Kriterium für Gültigkeit (2) begründen kann. Diskursethiker: Nicht eigentlich die Diskursethik, wohl aber die argumentative Dialogreflexion, auf die sie aufbaut und deren Resultate sie als normative Gehalte der Ethik präsentiert. Zweifler: Und wie soll die Begründung vor sich gehen? Diskursethiker: In drei Schritten. Zunächst erinnert man sein intuitives und wissenschaftsvermitteltes Vorverständnis von Dialog. Dieses systematisierend, rekonstruiert man notwendige interne Bedingungen, die bei der Durchführung eines Dialogs, in dem allein nach Wahrheit und Richtigkeit gesucht wird, erfüllt werden müssen. Man stellt also Sinnbedingungen eines argumentativen Diskurses 60 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 auf. Drittens bezweifelt man den Status einer dieser rekonstruierten Bedingungen: Ist X wirklich schlechthin konstitutiv und allgemeingültig? Dieser Zweifel leitet die eigentliche Gültigkeitsprüfung ein, den Verbindlichkeitserweis. Zweifler: Ein solcher Zweifel ist allerdings angebracht. Denn dein Ausgang von einem Vorverständnis und dein „Rekonstruieren“ bzw. „Aufstellen“ von Sinnbedingungen kann äußerst kontextabhängig, interpretationsabhängig und daher fehlerhaft sein. Diskursethiker: Jedenfalls muß man mit solchen Fehlerquellen immer rechnen. Aus diesem Grunde zeichnet die Diskurspragmatik die Prüfung des Zweifels als den entscheidenden Begründungsschritt aus. Hier wird im Sinne einer sokratischen Prüfung, eines reflexiven Elenchos, geklärt, ob sich der jeweilige skeptische Einwand überhaupt als sinnvolle Argumentation in einem Dialog durchhalten läßt. Für einen solchen Elenchos ist vor allem zweierlei erforderlich104: Erstens dürfen die Dialog-Teilnehmer nicht nur ihre Aussagen, sondern müssen ihre ganze performativ-propositionale Rede betrachten; und sie müssen diese wiederum (hinsichtlich ihrer Geltungsansprüche) als Beiträge zu einem jetzt stattfindenden Dialog in Augenschein nehmen. Zweitens ist zu klären, ob sich diese Thesen von anderen Diskurspartnern als argumentative Dialogbeiträge verstehen und mithin prüfen lassen oder aber nicht. Zweifler: Aber was hast du als Kriterium für Unverständlichkeit im Diskurs zu bieten? Wann tritt der dialogische Unverständlichkeitsfall ein? Diskursethiker: Er tritt genau dann ein, wenn jemand eine skeptische Behauptung vorbringt, die etwas bezweifelt, was sie selbst in Anspruch nehmen muß, um als Diskursbeitrag für Partner in der Diskussion jetzt verständlich und prüfbar zu sein. Wollen wir so verfahren? Läßt du dich auf eine solche dialog-praktische Prüfung ein? Zweifler: Ja. Probieren wir einmal, was dabei herauskommt. 104 Das Verhältnis von 'Vorverständnis', 'Rekonstruktion' und 'Dialogreflexion' wird näher bestimmt in: Böhler, Strategik, S. 143 ff. 61 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 Diskursethiker: 23.07.2007 Gut. Das Verfahren bedeutet freilich eine mögliche Letztbegründung. Das heißt: Wenn eine solche Skeptikerwiderlegung durch Reflexion auf Sinn- und Geltungsbedingungen des Diskurses im Diskurs gelingt, dann ist das Bezweifelte als letztgültig bzw. als uneingeschränkt verbindlich erwiesen. Zweifler: Einverstanden. Prüfen wir zunächst meine These (2), die Kriterienannahme. Ich präzisiere und ergänze sie jetzt, indem ich behaupte: (2a) Durch argumentationsreflexiven Rückgang auf den Diskurs kommt man nicht zu einer verbindlichen Orientierung, sondern nur zum Kriterium einer interessegeleiteten Zustimmung. Und diese ist (3) nur verbindlich für den jeweiligen Teilnehmerkreis, der sich faktisch zur Beteiligung an diesem Diskurs entschlossen hat. Diskursethiker: Laß uns untersuchen, ob dies ein sinnvoller argumentativer Dialogbeitrag ist. Schließlich bringst du diese These in einem Diskurs (nämlich gerade jetzt im Dialog mit mir) und mit Anspruch auf Geltungsfähigkeit vor. Im zweiten Teil deiner These sprichst du von dem „Kriterium einer interessegeleiteten Zustimmung“, auf welches allein die Diskursreflexion führen könne. Ich konzentriere mich zunächst auf diesen Punkt: Bist du der Ansicht, daß in einem Diskurs nicht nur Argumente, sondern auch schon Interessen als Gültigkeitsinstanzen zählen? Zweifler: Laß mich diese Ansicht hier einmal vertreten. Diskursethiker: Gut. Dann wollen wir prüfen, ob sie sich in einem Diskurs vertreten läßt. Um nun den Beweisgang abzukürzen, stelle ich dir eine Frage, die auf die vorhin getroffene Unterscheidung von Sinnbedingungen der Rede (a) und Glaubwürdigkeitsbedingungen der Partnerintention (b) zurückgreift. Zweifler: Nur zu! Diskursethiker: Ist es eine sinnvolle Rede (a) und bist du für mich (bzw. deine Partner im Dialog – wer immer sie sein mögen) ein glaubwürdiger, ernstzunehmender Diskurspartner (b), wenn du behauptest: ‚Nicht nur Argumente gelten im Diskurs, 62 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 sondern auch bloße Interessen. Daher kann eine Zustimmung, die aus Interessen erfolgt, ein Kriterium für Gültigkeit sein‘? Kannst du selbst als wahrhaftiger Diskurspartner, der nach Wahrheit und Richtigkeit sucht und der als solcher von mir (bzw. deinen Partnern) ernst genommen sein will (b), diese ‚Interessen-Kriterien-These‘ als These mit kritisierbarem Geltungsanspruch (a) verstehen und in einem argumentativen Dialog vertreten? Zweifler: Das ist in der Tat heikel. Diskursethiker: Es ist vielmehr unmöglich. Bedenke doch: Wenn du (und wann immer du) wirklich nach Wahrheit bzw. Richtigkeit suchst, kannst du im Diskurs Interessen nicht einfach gelten lassen und gegeneinander abwägen, nur weil sie halt vorliegen, also zufälligerweise empirisch gegeben sind. Vielmehr kannst du, der du dich in einer Argumentation befindest, solche Interessen lediglich als Kandidaten für gute Gründe, als Ansprüche auf mögliche Geltung nehmen. Diese Ansprüche müßten jedoch erst eingelöst werden, nämlich durch triftige, allgemeine Zustimmung verdienende Argumente, welche bestimmte Interessen hinreichend begründen können. Andernfalls wärest du nicht, wie du vorgibst, ein nach Gültigkeit suchender Diskurspartner, sondern ein raffinierter Interessendurchsetzer, der sich einer Diskursveranstaltung bloß als Mittel zum Zweck seiner Interessenlegitimation bedient und der damit die Würde seiner Partner verletzt, indem er sie nur scheinbar als gleichberechtigte Partner eines Dialogs der Argumente ernstnimmt. Und... Zweifler: Du spielst offenbar auf die Menschenwürde an. Diskursethiker: Ja. Denn die nimmst du, jetzt im Dialog mir gegenüber, für dich in Anspruch, und ebenso nehme ich sie für mich in Anspruch. Zweifler: Und inwiefern verletze ich sie? Diskursethiker: Wenn du letztlich nicht nach dem besten Argument suchst, nach Gründen, die gelten können, dann nimmst du mich nicht als 63 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Argumentationspartner ernst, sondern machst mich zum Mittel deines Kalküls. Du achtest mich nicht in meiner Würde als gleichberechtigtes Vernunftsubjekt. Du beziehst mich gar nicht als gleichberechtigten und in gleicher Weise mitverantwortlichen Wahrheits- und Richtigkeitssucher ein. Es geht dir nicht darum, zu erfahren, ob ich neue Argumente zum Problem habe; du willst mich vielmehr dazu bringen, daß ich deine Interessen legitimiere. Damit erniedrigst du mich. Du würdigst mich herab zum Mittel deiner eigenen partikularen Zwecke, du manipulierst mich. Zweifler: Wohl wahr. Diskursethiker: Langsam. Gibst du damit zu, daß die Suche nach Gültigkeit, also nach Wahrheit (von Sachverhaltsbehauptungen) und Richtigkeit (von Normbehauptungen bzw. von Normen und Handlungsweisen) an die Achtung der Würde all jener (als Argumentationspartner) gebunden ist, die an der Gültigkeitssuche teilnehmen? Zweifler: Das folgt offensichtlich. Aber diese Achtung bezieht sich ausschließlich auf die Diskursteilnehmer, nicht auf die da draußen "und nicht auf 'meine' Praxis außerhalb von" Diskursen. Dazu bin ich als Diskursteilnehmer nicht verpflichtet. Diskursethiker: Diesen Einwand, den zuerst Karl-Heinz Ilting und dann Habermas vorgebracht haben, müssen wir eigens diskutieren. Laß uns zunächst festhalten, was wir geklärt haben und worin wir inzwischen übereinkommen. Zweifler: Gut, mein Herr Pedant. Diskursethiker: Wir müssen einräumen, daß sich sowohl ein theoretischer Diskurs (über die Wahrheit von Sachverhaltsaussagen, etwa von Situationsbeschreibungen) als auch ein praktischer Diskurs (über die Richtigkeit eines normativen Urteils, die Legitimität einer Norm oder die Berechtigung zu einer bestimmten Handlung) nur dann führen läßt und daß ein Diskursergebnis nur dann gültig sein kann, wenn die Teilnehmer ausschließlich nach guten Gründen suchen, wenn sie einander als 64 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 gleichberechtigte Partner mit gleicher Würde achten und wenn sie aus freier Einsicht das Verfahren als rational erkennen können. Stimmst du dem zu? Zweifler: Insoweit bin ich einverstanden. Denn wahr oder richtig kann schlechterdings nur etwas sein, das alle, die sich sachkundig machen und ausschließlich Argumente gelten lassen, prüfen und dem sie frei, aus Einsicht, zustimmen können. Diskursethiker: Eben; genau darauf kommt es an. In diesem Sinne können wir jetzt das Kriterium der Zustimmung näher bestimmen und deine Vermutung prüfen, die Diskursethik könne bloß eine interessegeleitete Zustimmung ins Auge fassen, da sie von rationalen Einigungsverfahren ausgehe. Offenbar so, wie man sie aus wohlgeordneten realen Diskursveranstaltungen, etwa Verhandlungen, kennt. Und in solchen sogenannten Diskursen machen die Leute natürlich ihre Interessen geltend. Nun frage ich dich, der du jetzt mein Argumentationspartner bist, als ein solcher allein Argumente gelten lassen willst und darfst, und der du allein nach dem besten, eben dem wahren (theoretischen) bzw. dem richtigen (praktischen) Argument suchst: Könntest du eigentlich einverstanden und in deiner Sache zufriedengestellt sein, wenn man dir sagte: 'Deine Wahrheits- und Richtigkeitssuche ist mit Sicherheit dann am Ziel, wenn deine Gesprächspartner deiner Argumentation deshalb zustimmen, weil diese mit ihren zufälligen Interessen übereinkommt, so daß sie dazu motiviert werden, dir ihre Zustimmung zu geben.’ Könnte dieser faktische, interessenbasierte Konsens dein Gültigkeitskriterium sein? Zweifler: Das wohl nicht. Diskursethiker: Bestimmt nicht. Denn wenn du dich darauf einließest, müßtest du immer argwöhnen, dich selbst zu betrügen bzw. von Interessenten, vielleicht auch liebedienerisch oder sonst korrumpierend, fehlgeleitet zu werden. Du könntest nicht im Einklang – in "Homologie", sagt Sokrates – mit dir als ernsthaftem Argumentationssubjekt und als Diskurspartner (b) sein. Du nähmest einen Widerspruch in Kauf zwischen dem Anspruch auf argumentative Gültigkeit, den 65 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 du mit deiner Behauptung oder einem anderen Beitrag im Diskurs erhoben hast und einem Gültigkeitskriterium, das dich mit zufälligen Interessen abspeist bzw. mit einer faktischen Zustimmung aufgrund solcher. Zweifler: Damit hast du wohl Recht. Doch inwiefern soll damit meine These widerlegt sein? Diskursethiker: Als sinnlos erwiesen, mithin restlos widerlegt ist deine Annahme, daß sich in einem Rückgang auf den argumentativen Diskurs, durch den sich die Diskursethik begründet, keine verbindliche Orientierung gewinnen lasse, sondern nur das Kriterium – sagen wir jetzt besser: das Scheinkriterium – der interessegeleiteten Zustimmung. Und ... Zweifler: Ja, eine Besinnung im Dialog auf den argumentativen Diskurs führt nicht zu dem schwachen Kriterium einer ‚interessegeleiteten Zustimmung’. Das sehe ich ein. Aber... Diskursethiker: Gemach. Schritt für Schritt. Unsere Klärung dessen, was du als Argumentationspartner in diesem unseren Streitgespräch selbst in Anspruch genommen hast und daher nicht sinnvoll bezweifeln oder bestreiten kannst, – diese Klärung zwischen uns ist noch nicht zum Schluß gebracht. Zweifler: So laß sie uns denn zu Ende bringen. Diskursethiker: Durch die Widerlegung deiner Kritik der Diskursethik ist auch die transzendentalpragmatische bzw. diskurspragmatische Generalthese der Ethik aus dem Dialog als wahr erwiesen. Denn an der Unhaltbarkeit deiner Kritik – jetzt können wir präziser sagen: an ihrer Unvertretbarkeit in einem Dialog der Argumente – zeigt sich, daß genau das zutrifft, was sie bestreitet. Zweifler: Und das wäre? Diskursethiker: Das ist zweierlei. Erstens, daß es für materiale Normen wie das Menschenwürdegebot sehr wohl eine intersubjektive rationale Gültigkeit und 66 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 einsehbare Verbindlichkeit gibt – eine Gültigkeit und Verbindlichkeit aus allgemein einsichtigen Gründen; nämlich aus jenen Gründen, die wir alle haben bzw. erkennen, wenn wir uns besinnen auf die vorgängige (primordiale) Rolle eines Dialogpartners, die wir mit jeder ernsthaften Behauptung und mit jeder ernstgemeinten Frage bereits übernommen haben. Anders gesagt, eine rationale Letztbegründung moralischer Grundnormen ist möglich. Rationalität ist folglich nicht, wie die herrschende Meinung will, auf Zweckrationalität beschränkt, die sich erschöpfe im Kalkül gegebener Daten oder Interessen und daher moralische Normen nicht aus sich begründen könne. Zweifler: Es gibt also so etwas wie praktische Vernunft, die moralisch orientierungsfähig ist: Moralische Prinzipienorientierung aus dem argumentativen Diskurs. Ja, das setze ich als Diskurspartner offenbar voraus. Diskursethiker: Zweitens hast du implizit auch die diskursethische Generalthese anerkannt. Sie besagt: Die Suche nach bzw. die Bemühung um einen rein argumentativen Konsens, damit einhergehend die Geltungseinklammerung von bloßen Interessen und der Geltungsvorbehalt gegenüber einer faktischen Zustimmung, schließlich die (dazu logisch erforderliche) gleichberechtigte Berücksichtigung aller sinnvollen Argumente zur Sache, die irgend jemand vorbringen könnte, ist die (nicht sinnvoll bestreitbare) Orientierung jedes argumentativen Diskurses. Mithin ist sie eine wahrlich verbindliche Orientierung für alle, die sich nicht in die Tasche lügen, sondern nach dem fragen, was erkennbarerweise zählt. Alle diese nennen wir Vernunftsubjekte oder Diskursteilnehmer oder Erkenntniswillige im strengen Sinne. Zweifler: So ist es wohl. Diskursethiker: Du stimmst mir bei? Zweifler: Ja. Dieser Letztbegründung aus dem Diskurs muß ich zustimmen. Doch was haben wir damit an moralischem Gehalt gewonnen? 67 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 Diskursethiker: 23.07.2007 Wir besitzen eine Letztbegründung des argumentativen Dialogprinzips oder des Diskursprinzips als dem Prinzip, dem elementaren Grundsatz der Moral: Bemühe dich um die Argumentation und um diejenige Handlungsweise, die die begründete Zustimmung aller als Diskurspartner verdient. Zweifler: Aber das ist doch formal und schließt nicht die Pflicht zur Achtung der Würde jedes menschlichen Wesens ein. Diskursethiker: O doch. Genau diese Pflicht schließt das letztbegründbare Diskursprinzip ein. Zweifler: Weshalb und inwiefern? Diskursethiker: Weil das Diskursprinzip begründeterweise verlangt, sich um die gleichberechtigte Berücksichtigung aller sinnvollen Argumente zu bemühen, die von irgend jemandem für irgend etwas vorgebracht werden könnten, schließt es in erster Linie die Verpflichtung ein, das Leben und darüber hinaus das Selbstbestimmungsrecht, genauer: die kommunikative Freiheit (die Denk- und Dialogchancen) all derer zu achten und zu schützen, die Ansprüche haben könnten. Zweifler: Darin wäre in der Tat ein Gutteil des materialen normativen Gehalts des Menschenwürdegrundsatzes eingeschlossen, der das ursprüngliche moralische Recht aller möglichen Mitglieder der Menschengattung gleichsam wertethisch zum Ausdruck bringt. Aber ich bin mir dessen noch nicht recht gewiß und überlege weiter. Diskursethiker: Allerdings mögen noch Skeptiker auftreten und tun es in postmodernen Zeiten bzw. kulturrelativistischen Stimmungen auch, welche bezweifeln, daß die Pflicht, den so verstandenen Menschenwürdegrundsatz nach Kräften zu befolgen, absolut gültig und universal verbindlich ist. Doch ließe sich darüber wiederum ein Skeptikerdialog führen, in dem sinnkritisch gezeigt würde, daß sich die prinzipielle Verpflichtung zur Achtung der Menschenwürde, mithin zum Schutz der kommunikativen Freiheit bzw. der Dialogmöglichkeiten und natürlich der 68 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Lebensmöglichkeiten von Anspruchssubjekten gar nicht sinnvoll bestreiten läßt, so daß diese Pflicht als absolut verbindlicher Grundsatz gelten muß. Zweifler: Doch wie steht es mit meinem vorhin (in Anlehnung an Ilting und Habermas) gebrachten Einwand, daß sich ein Begründungsversuch der Menschenwürdenorm aus dem Diskurs auch bloß auf die Teilnehmer an einem Diskurs (und strenggenommen nur solange, wie der Diskurs dauert) erstrecken könne? Dann wäre ja der universale und uneingeschränkte Geltungsanspruch des Menschenwürdegebots gerade verfehlt. Denn "Menschenwürde" ist unteilbar und immer relevant – oder sie ist nichts. Diskursethiker: Richtig. Laß uns also deinen Einwand prüfen. Bringe ihn nochmals vor! Zweifler: Ja: Ich bezweifle, daß ich oder jeder x-beliebige ernsthafte Diskurspartner dazu verpflichtet ist, auch außerhalb von Diskursen die Würde aller Menschen zu achten. Diskursethiker: Meinst du das ernst? Zweifler: Ja; das sage ich dir als dein ernsthafter Diskurspartner. Ich treibe kein Spiel mit dir sondern achte, auch indem ich diese These vorbringe, deine Würde als Diskurspartner. Und ich selbst halte meinen Anspruch hoch, dir ein wahrhaftiger Diskurspartner zu sein. Diskursethiker: Letzteres kannst du aber nicht, wenn du zugleich diese These mir gegenüber behauptest. Zweifler: Das verstehe ich nicht. Ich werde doch noch zweifeln dürfen. Diskursethiker: Gewiß. Doch es gibt sinnvolle und sinnlose Zweifel. Und der deine ist zwar in gewisser Weise nützlich, weil wir etwas an ihm lernen können; aber als Diskursbeitrag zwischen Dialogpartnern ist er sinnlos, weil er sich nicht mit dem Anspruch vereinbaren läßt, ihr Vertreter sei ein wahrhaftiger, ein glaubwürdiger 69 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Diskurspartner und achte (als ein solcher) unbedingt die Würde seiner Gesprächspartner. Zweifler: Wieso? Ich kann doch praktisch dir ein glaubwürdiger Diskurspartner sein und theoretisch Zweifelsexperimente anstellen. Diskursethiker: Zieh dich nicht aufs Theoretische zurück; denn deine Theorien mußt du mit deiner aktuellen Praxis als Dialogpartner vereinbaren können. Eben daran bemißt sich deine Wahrhaftigkeit bzw. Glaubwürdigkeit als Partner im argumentativen Diskurs. Sinnvoll ist einzig der Gedanke und derjenige Zweifel, den du als glaubwürdiger Diskurspartner vertreten kannst; die Anderen müssen dich hinsichtlich deiner Meinung als ihren Partner – jetzt im Diskurs mit dir – ernstnehmen können. Eine vermeintlich radikale Theorie oder Skepsis, die mit glaubwürdiger Dialogpraxis nicht vereinbar ist, erweist sich im Dialog als sinnlos. Zweifler: Langsam, langsam! Warum soll eine radikale theoretische Perspektive nicht mit ernsthafter Praxis vereinbar sein? Betreibst du nicht eine unerlaubte Vermengung von Theorie und Praxis? Springst du nicht aus dem Diskurs in die Welt der Praxis? Diskursethiker: Nein; ich demonstriere, daß eine dialogbezogene, rechtfertigungsfähige Vermittlung von Theorie und Praxis besteht. Dieser weichst du aus. Du entziehst dich gewissen Dialognormen, gewissen Verbindlichkeiten einer – und jetzt – deiner Diskurspartnerrolle, indem du unverbindliche theoretische Spekulationen, freischwebende Zweifel, anstellst. Das ist sinnlos. Laß die Spielerei! Zweifler: Du gehst zu weit. Wie kommst Du dazu? Diskursethiker: Ich komme dazu, weil du mich als deinen Diskurspartner in Anspruch nimmst Daher will auch dich als meinen Diskurspartner bei den – jetzt deinen – Verbindlichkeiten der Diskurspartnerrolle nehmen. Komm aus deiner Verschanzung hinter einer bloß theoretischen Perspektive hervor; vergiß nicht bei deinem Theoretisieren, daß du jetzt mit mir im Diskurs bist! 70 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Zweifler: For the sake of argument. Was soll ich tun? Diskursethiker: Steh Rede und Antwort; verantworte dich jetzt im Diskurs! Laß dich als meinen Diskurspartner direkt befragen: Wie ist es um deine Glaubwürdigkeit als Diskurspartner bestellt, wenn du mir diese zwar ebenso versicherst wie deine Bereitschaft, meine Würde im Diskurs zu achten, aber hier jetzt ein Transferproblem zwischen Theorie (Diskurs) und Praxis (verhalten außerhalb des Diskurses) etablierst? Wenn du das tätest, würdest du behaupten, du seiest nicht verpflichtet, meine Würde wie die anderer auch außerhalb des Diskurses zu achten. Zweifler: Und warum darf man das Transferproblem nicht so scharf stellen? Diskursethiker: Sieh doch: Dann ist es um deine Glaubwürdigkeit geschehen. Denn wenn du das bezweifelst, sagst du mir damit, du wissest nicht und könnest nicht wissen, daß du verpflichtet seiest, die Menschenwürde auch außerhalb des Diskurses zu achten. Eine nicht gewußte, eine nicht frei einsehbare Verpflichtung ist freilich keine – jedenfalls keine moralische, keine verbindliche, auf die man bauen kann. Also kann ich außerhalb des Diskurses nicht auf dich als moralische Person zählen. Und da soll ich im Diskurs auf dich zählen? Zweifler: Genauer bitte. Warum denn nicht? Diskursethiker: Versetze dich in meine Situation, in die dein Zweifel mich als deinen Diskurspartner bringt. Und nun laß dich fragen: Wenn dir jemand so käme – gleichsam am Sonntag, im Diskurs, und er sagte dir zu, die Menschenwürde der anderen Sonntägler, der Diskursteilnehmer, zu achten; doch darüber hinaus, im Alltag, wisse er sich nicht auf das Menschenwürdegebot verpflichtet, – könntest du ihn aufgrund dieser Rede als glaubwürdigen, als wahrhaftigen Partner im Diskurs anerkennen? Zweifler: Wohl eher nicht. 71 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 Diskursethiker: 23.07.2007 Mit Sicherheit nicht. Bedenke nur zweierlei: Einmal die Verwobenheit von Diskursen und Alltagswelt. Denn Diskurse finden ja nicht auf einem anderen Stern statt, sondern müssen in der realen Welt geplant, organisiert, durchgeführt und ihre Ergebnisse auf diese angewandt bzw. in dieser realisiert werden. Überall da ist die Glaubwürdigkeit und die Menschenwürde der Diskurspartner als Menschen in der Praxis gefragt. Und genau das weißt du als Diskurspartner ebensogut wie ich. Zweifler: Da muß ich dir zustimmen. Diskursethiker: Bedenke zum anderen, daß sich die Grenze zwischen den Teilnehmern und den Nicht-Teilnehmern an einem Diskurs der Argumente nicht empirisch festlegen läßt: Eine solche Grenze wäre immer zufällig und willkürlich. Denn sie läßt sich nur von außen bzw. durch zufällige Umstände festsetzen und bleibt dem argumentativen Diskurs äußerlich. So könntest du Teilnehmer aber auch Außenstehender sein, Beteiligter oder Zaungast oder Betroffener. Doch diese empirische Zufälligkeit tut nichts zur Sache. Zweifler: Was ist denn hier die "Sache"? Diskursethiker: Die Sache des Diskurses sind die Argumente und die Suche nach möglicher Wahrheit bzw. Richtigkeit, also die Suche nach den besten, d. h. universal geltungsfähigen Argumenten. Solche Argumente müßten alle berechtigten Ansprüche und die Gründe, die für diese sprechen können, berücksichtigen und einschließen. Folglich müssen die jeweiligen Diskursteilnehmer auch die Würde aller achten, die an diesem faktischen Diskurs nicht teilnehmen, die aber Diskursteilnehmer sein könnten, werden könnten oder gewesen sein könnten. Zweifler: Das würde allerdings heißen, daß ich meine Eingangsvermutung (3), aus einem Diskurs ergäben sich nur Verpflichtungen für den faktischen Teilnehmerkreis, mithin keinerlei universale Verbindlichkeit, zurücknehmen müßte. 72 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 Diskursethiker: 23.07.2007 In der Tat. Du hast ihr nämlich schon zuwidergehandelt, hast sie dialogpraktisch widerlegt. Zweifler: Wodurch? Dadurch, daß ich für meine These Wahrheit bzw. Wahrheitsfähigkeit beansprucht habe? Diskursethiker: Genau. Denn durch den Geltungsanspruch auf Wahrheit für dein Argument hast du dich an einen unbegrenzten Teilnehmerkreis gerichtet und hast alle möglichen Argumentationssubjekte als Wesen anerkannt, welche das Recht haben, zu leben und frei ihre Auffassung vorzubringen bzw. vorbringen zu lassen. Zweifler: Das wären freilich alle Menschen. Diskursethiker: Ja, zumindest alle Menschen. Denn von diesen Wesen wissen wir, daß ihnen die Möglichkeit, Diskursteilnehmer zu werden, von Natur mitgegeben ist. Zweifler: Das ist ein anthropologisches Faktum. Diskursethiker: Ja, eine Fähigkeit, die zumindest unserer Gattung zukommt, die Fähigkeit, Ansprüche zu haben oder auch geltend machen zu können. Zweifler: Aber auch diese Fähigkeit ist ein natürliches Faktum. Schließt du dann nicht von einer bloßen Tatsache auf eine Norm, von einem Sein auf ein Sollen? Diskursethiker: Ein solcher Fehlschluß, der „naturalistische Fehlschluß“, läge dann vor, wenn wir allein aus kontingenten Fakten eine Norm ableiten würden. Das tun wir hier jedoch nicht. Zweifler: Wieso nicht? Du setzt doch das Faktum voraus, daß ein Wesen die Potentialität besitzt, Ansprüche haben oder anmelden zu können. Diskursethiker: Gewiß. Aber das ist weder die einzige noch die ausschlaggebende Voraussetzung. Und als ein – vielleicht sogar irrtumsfähiges interpretierbares – Faktum darf es das auch nicht sein. 73 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 Zweifler: 23.07.2007 Allerdings nicht; denn was wir benötigen, ist der Grund für eine Verbindlichkeit, wie Kant sagt, also für eine prinzipielle Verpflichtung. Diskursethiker: Genau. Und den haben wir auch. Zweifler: Nur, woher nehmen wir solche starken Gründe? Diskursethiker: Die allgemein einsehbaren, daher allgemein verbindlichen Gründe für eine unbedingte Verpflichtung kommen aus unserem praktischen Vorwissen, das wir als Diskurspartner mitbringen und dessen wir uns durch Reflexion auf interne Voraussetzungen des Diskurses, dessen normative Sinnbedingungen, vergewissern können. Zweifler: Und eine dieser Sinnbedingungen, dieser Diskursnormen, ist die Verpflichtung, die Würde aller anderen möglichen Diskursteilnehmer zu achten, also zumindest die Würde aller menschlichen Wesen? Diskursethiker: Ja. Und weil das eine Diskursnorm ist, ist es zugleich eine Norm, die für die Praxis verpflichtend ist. Das gehört zu unserem Verpflichtungswissen als Diskursteilnehmer. Zweifler: Diskurspartner jedoch, die dieses Verpflichtungswissen bezweifeln, bringen einen sinnlosen Diskursbeitrag vor, weil sie sich dadurch zu dem grundlegenden Wahrhaftigkeitsanspruch ihrer Diskurspartnerrolle in Widerspruch setzen. Das heißt, daß sie durch diesen Zweifel ihre eigene Glaubwürdigkeit als Diskurspartner erschüttern? Verhält es sich so? Diskursethiker: So ist es. Zweifler: Dann habe ich verstanden. Der Menschenwürdegrundsatz läßt sich als verbindlich erweisen, läßt sich letztbegründen durch Reflexion auf den argumentativen Diskurs im Dialog mit dem Zweifler. 74 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Moral aus Einsicht. Die sokratische Motivation des Diskurspartners. Reflexive Dialoge sind und leisten zunächst eine Begründungsreflexion. Indem sie uns einer Wahrheit bzw. einer Verbindlichkeit oder einer Unhaltbarkeit vergewissern, bringen sie uns in den Besitz einer Einsicht. Eine Einsicht ist stets auch "Quelle von Orientierungskraft"105, welche motiviert. Ja sie ist die stärkste Motivation überhaupt, weil sie 'mich' von innen zu einem Verhalten bewegt – autonom. Doch ist sie nicht allein autonom, sondern auch übersubjektiv, nämlich verallgemeinerungsfähig, weil sie auf Gründen beruht, die jeder prüfen und nachvollziehen kann, indem er sich auf das besinnt, was er selbst im Dialog mit sich oder mit anderen als die eigene und gemeinsame Basis in Anspruch nimmt, in Anspruch nehmen muß. Eben deshalb ist eine Begründung durch Reflexion auf den Diskurs im Dialog mit anderen zugleich die überzeugendste Motivation, die sich denken läßt. Die von der aktuellen Reflexion im Dialog, erschlossene Motivationsquelle bleibt stets erneut fruchtbar zu machen. Das läßt sich nicht allein philosophierend tun, sondern vor allem praktisch – von uns allen... Durch Besinnung auf unsere Rolle als Diskurspartner können nicht allein Konflikte rational gelöst, sondern ebenso Mißstimmungen überwunden werden. Beides erschließt Hoffnung und bestärkt Tatkraft. Zudem läßt sich durch diese Besinnung sowohl die Einsicht in die wechselseitige Mitverantwortung für Dialoge und ihre praktische Wirksamkeit erwerben als auch die Bereitschaft zur solidarischen Mitverantwortlichkeit fördern. So kann auch die, angesichts mancher Menschheitsaufgaben naheliegende, ja in der monologischen Perspektive des Einzelnen unvermeidliche Resignationslähmung überwunden – und Hoffnung geschöpft werden. Denk also auf dich zurück: auf die persona, die Rolle, die du jetzt mit deiner Frage oder Behauptung etc. im Diskurs anderen gegenüber eingenommen hast. Was hast du durch die Übernahme einer Diskurspartnerrolle als wahr, was als verbindlich vorausgesetzt? Mit welchen Erwartungen begegnen dir infolgedessen die anderen in dem jetzt geführten Diskurs? Aus dieser Besinnung erwächst die Diskursethik. Denn ihre Begründung ist vor allem Erinnerung und Er-innerung. Der erste Schritt jener Ethikbegründung ist eine Erinnerung. 105 Gronke, Management, S. 323 75 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Woran? An deine Rolle als Diskurspartner, die du, indem du ernsthaft über etwas nachdenkst, im vorhinein schon eingenommen und anderen gegenüber in Anspruch genommen hast: Sammle die Erinnerungen an alle Verbindlichkeiten, die du in einem Dialog, in dem allein das sinnvolle Argument zählt, nicht mit einem solchen bezweifeln kannst; und eigne sie dir an, indem du – im Dialog mit anderen darauf achtest, ob dein Versuch, eine davon in Abrede zu stellen, den argumentativen Dialog zerstört oder dich als Diskurspartner unglaubwürdig macht. So kannst du sie er-innern, d.h. reflexiv vergewissern, indem du sinnkritisch erweist, daß die jeweils von dir erinnerte Diskursnorm wirklich gültig ist. Denn das, was du nicht mit einem sinnvollen Argument bezweifeln kannst, genau das ist logisch gültig. Handelt es sich dabei um eine moralische Norm, dann ist diese unbedingt verbindlich. Wer sich das vor Augen führt, gewinnt die moralische Prinzipieneinsicht; in eins damit motiviert er sich auf sokratische Weise. Er motiviert sich, eben das zu praktizieren und zu sein, was er im Diskurs bereits beansprucht: ein glaubwürdiger Diskurspartner, dessen Theorie kohärent zu seiner Praxis steht, dessen Geltungsanspruch mit seiner Handlungsweise zusammenklingt. 76 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 6.3 Menschenwürde für Embryonen? 23.07.2007 Verantwortungspflicht bei Nichtwissen und Diskursdissens: Selbsteinholung des Diskurspartners Zum Beschluß dieser Vorlesung möchte ich die umstrittene Frage diskutieren: Sind wir einsehbar verpflichtet, Embryonen den Anspruch und die Rechte der Menschenwürde zuzuerkennen? Es ist m.E. fruchtbar, dieses Problem im Anschluß an Hans Jonas zu behandeln. Ist er es doch, der die von der Gentechnologie und der Reproduktionstechnik aufgeworfenen bioethischen Herausforderungen so frühzeitig wie kein anderer Philosoph erkannt – und sogleich im Lichte des Menschenwürdeprinzips erörtert hat.106 Lassen Sie mich mit dem Auszug aus einem Podiumsbeitrag von Jonas beginnen. Im Rückblick auf seine, damals gut zwei Jahrzehnte währende, Beschäftigung mit bioethischen Problemen vermittelt er hier das Staunen und das moralische Zittern, das den Denkenden überkommen kann, wenn er sich dahinein vertieft. Hinsichtlich der Gentechnik am Menschen fragt er sich: „Wo wird einem unheimlich?“ Und er antwortet: „An zwei Punkten: der eine ist, daß wir nicht recht wissen können, was wir tun, wenn wir in den subtilen, komplexen, von uns in keiner Weise voll überschaubaren molekularen Bauplan eines künftigen Menschen eingreifen. Damit zu experimentieren, ist verboten. Denn wenn es schiefgeht, existiert gleichwohl ein Individuum, das wir verantworten müssen. Das ist der Punkt. Noch unheimlicher wird es, wenn das ganze nicht an einem Individuum geschieht, sondern wenn man eine ganz neue Erbreihe begründet. Da ließen wir uns auf ein biologisches Abenteuer ein, zu dem wir beim Menschen einfach nicht das Recht haben. Irgendwelche Monstrositäten in der Pflanzen- oder Kleintierwelt zu erzeugen, mag auch das Ehrfurchtsgefühl vieler Menschen verletzen, aber damit läßt sich ethisch eventuell fertig werden. Wenn es jedoch darum geht, daß wir auch nur auf dem Versuchswege in einem individuellen Fall etwas ausprobieren und etwas Schreckliches dabei herauskommt: „Menschenwesen“, die niemand wollen kann, die wir aber auch nicht wie bei einer mißglückten Automobilkonstruktion einfach verschrotten können, wird die Sache nicht nur bedenklich, sondern es faßt einen das Grauen. Uns graut davor, daß wir, die wir nach der Imago Dei, nach dem Bilde Gottes geschaffen wurden, dies korrigieren und verbessern wollen, daß wir vielleicht sogar etwas konzipieren können, was in eine andere Evolutionsrichtung führt. Dazu fehlt uns das Recht! Es fehlen uns die Weisheit, das Wissen, das Übersehenkönnen der Folgen, und es fehlt uns vor allen Dingen das Recht dazu, grauenvolle und unglückliche Wesen bewußt oder um des Experiments willen 106 H. Jonas, Technik, Medizin und Ethik. Zur Praxis des Prinzips Verantwortung. Frankfurt a. M. (Insel) 1985. 77 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 in die Welt zu setzen. Die Gentechnologie ist ein Gebiet, wo schon der Versuch ein Verbrechen sein kann.“107 Wie in seinen medizinethischen Veröffentlichungen denkt Jonas auch in dieser Stellungnahme aus dem Zusammenhang seines „Prinzips Verantwortung“ mit der Menschenwürde, deren Wahrung bzw. Ermöglichung jenem Prinzip den Richtungssinn gibt. Wie leicht und wie radikal wir - dank der Gentechnologie - von dieser Orientierung abweichen, ja ihr zuwiderhandeln können, sei Grund genug zum Gruseln. Können Menschen nunmehr auch den Menschen - metaphysisch gesagt, das Ebenbild Gottes – genetisch umkonstruieren? Wenn dann aber etwas Schreckliches dabei herauskomme, „Menschenwesen, die niemand wollen kann“, dann dürften wir sie nicht etwa einfach verschrotten. Jonas fragt sich weiter, was wir eigentlich biotechnisch dürfen – vielleicht gar „eine andere Evolutionsrichtung“ produzieren? Seine direkte Antwort ist die eines metaphysischen Glaubens – ernsthaft, aber nicht zwingend: „Mein Nein dazu ist sehr emphatisch, aber es liegt nicht in der Sphäre des Beweisbaren und des Argumentierbaren.“108 Eher implizit findet sich in Jonas’ Gedankengängen auch eine indirekte, eine vernunftmethodische Antwort. Ihre Geltungskraft scheint mir weitaus größer zu sein, da sie ersichtlich in der Sphäre des Argumentierbaren, ja des Beweisbaren liegt. Und zwar so, daß sie sich als Orientierung für unlösbar erscheinende Streitfragen anbietet. Denn sie kann die über den Umgang mit Embryonen streitenden Parteien aus ihrem Sachstreit herausholen und in eine Reflexion über die Sinnvoraussetzungen des Sich-über-etwas-Streitens hineinstellen. Jedenfalls ist sie dazu angetan, wenn man sie explizit macht. Das sei hier versucht – im Blick auf die von Jonas äußerst geistesgegenwärtig und problemsensibel, nämlich seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts, aufgedeckte bioethische Problematik. Gelegentlich deutet Jonas, der Schüler Edmund Husserls, einen Reflexionsweg an, der auch unabhängig von dem soeben angesprochenen Beispiel einer genetischen Veränderung der Menschengattung (zum Zweck ihrer vermeinten Verbesserung) hochbedeutsam ist für die allgemeine bioethische Diskussion. Ich denke an sinnkritische Argumente, wie er sie in der Berliner Ansprache „Fatalismus wäre Todsünde“, mehr noch in den bioethischen 107 H. Jonas’ Votum zur „Diskussion“, in: B. Engholm/W. Röhrich (Hrsg.), Ethik und Politik heute. Karl-Otto Apel, Hans Jonas, Hans Küng im Gespräch, Opladen (Leske & Budrich) 1990, S. 78. 108 H. Jonas, Vom Profit zur Ethik und zurück, in: Fatalismus wäre Todsünde, Münster 2005, S. 123. 78 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Abhandlungen „Gehirntod und menschliche Organbank: Zur pragmatischen Umdefinierung des Todes“ und „Laßt uns einen Menschen klonieren: Von der Eugenik zur Gentechnologie“ vorgebracht hat.109 Der dabei von ihm teils beschrittene, teils implizierte Argumentationsweg läßt sich als sinnkritischer Rückgang auf Verpflichtungen erläutern, die ‚wir‘ als Diskursteilnehmer auch mit den skeptischsten Argumenten nicht mehr sinnvoll bezweifeln bzw. hintergehen können – nämlich genau dann nicht, wenn wir uns bewußt machen, welche moralisch geladenen Sinnbedingungen ‚wir‘ in Anspruch nehmen – und auch erfüllen müssen –, sofern ‚wir‘ als leibhafte Diskurspartner glaubwürdig bleiben wollen; das heißt, sofern ‚wir‘ uns, nämlich uns als Argumentationspartner, nicht selbst widersprechen und damit die Geltungsfähigkeit unserer Beiträge zerstören wollen. Insoweit trifft sich Jonas hier mit dem diskurspragmatischen Königsargument des performativen Selbstwiderspruchs als einer dialog-pragmatischen Inkonsistenz, also des zu vermeidenden Widerspruchs zwischen der besonderen These eines Diskursteilnehmers und seiner allgemeinen Rolle als Diskurspartner.110 Nun ist Jonas’ philosophischer Hintergrund nicht der einer sinnkritischen Reflexion im (jeweils geführten) Dialog auf die internen Bedingungen eines argumentativen Dialogs, sondern Edmund Husserls postcartesische Zweifelsmethode, sein Verfahren einer fortschreitenden Einklammerung des (in der Lebenswelt oder in einem wissenschaftlichen Diskurs) üblicherweise für gültig Gehaltenen: die Reflexionsmethode der Epoché. Obschon Jonas die Reflexionsphilosophie seines Lehrers weniger würdigt als vielmehr kritisiert111 – und das zu Recht, wenn es um deren solipsistisch bewußtseinsidealistischen Rahmen geht –, lehnt er sich, wie Gronke zeigt, an deren Einklammerungsmethode an.112 Bemerkenswerterweise kommen der transzendentalphänomenologische und der transzendental- bzw. diskurspragmatische Reflexionsansatz darin überein, daß der Geltungsboden einer Pro-und-contra-Argumentation selbst in einem Seinsboden gründet, der zugleich eine normative Basis ist. Denn der Sinn und die Wahrheitsgeltung einer Pro-und109 H. Jonas, Technik, Medizin und Ethik (zit. TME), Frankfurt a. M. 1985, S. 219 ff., S. 116 ff. Vgl. die Einführung dieses sinnkritischen Arguments in: D. Böhler, „Philosophischer Diskurs im Spannungsfeld von Theorie und Praxis“, in: Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik, hg. v. K.-O. Apel, D. Böhler und K. Rebel, Weinheim und Basel (Beltz) 1984, (zit. Funkkolleg Studientexte), Bd. II, S. 313-355, hier S. 328 f., 348-352. 111 Vgl. H. Jonas, „Husserl und Heidegger“, in: D. Böhler, J. P. Brune (Hg.), Orientierung und Verantwortung (zit. Orientierung), Würzburg 2004, S. 24 ff. Zuletzt in: H. Jonas, Philosophie. Rückschau und Vorschau am Ende des Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1993, S. 11-13, 17 f. Dazu: D. Böhler, „Ethik der Zukunfts- und Lebensverantwortung. Erster Teil“, in: D. Böhler, J. P. Brune (Hg.), Orientierung, 2004, S. 110 ff. 112 Zu dieser Rekonstruktion: H. Gronke, „Das Prinzip Verantwortung und seine Denkanstöße für die Zukunft. Das Beispiel Bioethik“, in: D. Böhler, J. P. Brune (Hg.), Orientierung, 2004, S. 298 ff., hier: S. 314, vgl. 309 ff. 110 79 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 contra-Argumentation ist abhängig von den zugleich ontologischen und normativen Grundlagen der Institution eines argumentativen Dialogs und der Rolle eines Diskurspartners. Da es zur kommunikativen Freiheit eines Diskurspartners gehört und es dessen gutes Recht als Argumentationspartner ist, jedenfalls versuchsweise die Gültigkeit eines moralisch verpflichtenden Prinzips in Frage zu stellen oder dessen Anwendbarkeit auf den jeweiligen Streitgegenstand zu bezweifeln, kann man in grundlegenden Streitfragen auf direktem Wege keinen begründeten Konsens erwarten – wohl aber auf dem indirekten Weg einer methodischen Rückbesinnung. Diesen indirekten Weg hat Jonas an entscheidenden Stellen gesucht und auch (mehr oder weniger konsequent) beschritten. Ein solches Verfahren schlage ich nun für eine strikt argumentative Auseinandersetzung über die politisch und rechtlich umstrittene Frage vor: Soll Embryonen Menschenwürde und der daraus resultierende Schutzanspruch zugesprochen werden oder aber nicht? Auch unter denen, die dem Prinzip der zu achtenden Menschenwürde generell beipflichten und dessen Geltung anerkennen, kann es ja faktisch strittig sein, ob sich dieses Prinzip auf sämtliche Formen menschlichen Lebens, etwa auf seine Früheststadien oder auch auf alle Stadien des Sterbeprozesses, anwenden läßt.113 Und eben das ist zur Zeit strittig – ersteres auch im deutschen „Nationalen Ethikrat“, den Kanzler Schröder berufen hat. Ist die Vernunft in solchem Streit am Ende? Hans Jonas hat die Anwendbarkeit des Menschenwürdegrundsatzes auf ein Späteststadium untersucht. Im Blick auf solche Menschen, deren Herz-Kreislaufsystem mitsamt den davon abhängigen Organen zwar noch in Funktion ist (weshalb sie bisher allgemein als lebendige Menschen erachtet worden waren), deren Hirnfunktionen aber offenbar abgestorben sind, hat er ein Nichtwissenkönnen geltend gemacht und daraus ein „Im Zweifel für das Leben“ abgeleitet. Auf diesem reflexionsmethodischen Wege erklärte er eine Organentnahme zu diesem Zeitpunkt für nicht legitimationsfähig, mithin für illegitim.114 Hingegen beziehe ich mich hier auf den Streit um das Frühststadium menschlichen Lebens; im Blick auf den Streit um PID, um das Forschungsklonen und um die Forschung an 113 Vgl. zuletzt: Stellungnahme des nationalen Ethikrates, Januar 2003, Genetische Diagnostik vor und während der Schwangerschaft, Berlin 2003. Ferner: Norbert Copray (Hg.), Ethik Jahrbuch 2004, Frankfurt/M. (Fairness Stiftung) 2004. 114 Vgl. die oben genannte Studie in: TME, 1985, S. 219 ff. Dazu Gronke, a.a.O. 80 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 menschlichen embryonalen Stammzellen stelle ich die indirekte Frage: Ist eine allgemeinverbindliche Orientierung, eine nicht mehr sinnvoll bezweifelbare Einsicht in moralische Pflichten, auch dann möglich, wenn es (noch) nicht gelingt, den faktischen Dissens über das Vorliegen moralischer Rechte des Gegenstands der Diskussion mit gegenstandsbezogenen Argumenten eindeutig aufzulösen? Gibt es nicht auch im Sachstreit Verantwortungspflichten der Diskurspartner als solcher, die für den Umgang mit dem Gegenstand des Diskurses ausschlaggebend sein könnten? Das ist der in meinen Augen entscheidende Ausgangspunkt für eine rein argumentative Lösung des Streits über die moralische Anspruchsberechtigung menschlicher Embryonen im Frühstadium und in vitro. Erstaunlich genug, daß diese naheliegende Frage meines Wissens noch kaum gestellt worden ist... In Deutschland ist das um so erstaunlicher, als hierzulande Mehrheits-Voten des "Nationalen Ethikrates" und erst recht Aufsätze seines Mitglieds Volker Gerhardt geradezu vor Augen führen115, was dabei herauskommt, wenn man drauflosargumentiert, um bloß eine Meinung bzw. ein Interesse zu vertreten.116 Dazu bedürfte es keines wissenschaftlichen Rates und keiner Philosophen in einem solchen. Das tun wir im Alltag und z.B. im Parlament allesamt überdrüssig genug. Zum Schluß versuche ich, diese Frage zu beantworten, indem ich Argumente, die Jonas zumindest andeutet, sokratisch weiterentwickele. Die Argumentationsstrategie besteht darin, den Streitgegenstand –‚ kommt Embryonen Menschenwürde zu?‘ – noch dahingestellt sein zu lassen, indem man sich eines Urteils in dieser Sache strikt enthält, um stattdessen die Streitpraxis, den Diskurs, verbindlich zu klären. Wenn wir uns noch einmal die hier einschlägigen Grundgedanken von Jonas‘ Verantwortungsethik in Erinnerung rufen, dann zeigt sich bald der kritische Punkt eines ontologischen und intuitionsgestützten Denkens – jener Punkt, an dem ein argumentativer Skeptiker dem intuitiven Metaphysiker nicht mehr folgen kann. Es ist dieser tote Punkt, der allein den angedeuteten Reflexionsweg noch offenläßt: die dialogreflexive Rückwendung auf ‚uns‘ als Diskutanten. Die Rückwendung hat die Form eines sokratischen 115 Vgl. V. Gerhardt, "Über die Verkehrung der moralischen Fronten in der deutschen Biopolitik", in Ethik Jahrbuch, 2004, S. 56-62. 116 Ein Paradebeispiel ist die Stellungnahme des deutschen "Nationalen Ethikrates" zum Klonen vom 13.09.2004. Dazu: Christian Schwägerl, "Nicht Fisch, nicht Fleisch. Erfolglose Gruppentherapie: Der Ethikrat zum Klonen", in: FAZ, 14.09.2004, S. 35. 81 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Reflexionsgesprächs mit dem Skeptiker und ist insofern analog zu Jonas’ stillschweigender Anknüpfung an Husserls Epoché und an das sokratische Wissen des Nichtwissens. Wir erinnern uns: Dem Wissen um das Nichtwissen angesichts der – legt man den strengen wissenschaftslogischen Begriff der bedingten Prognose zugrunde – einzuräumenden Nichtprognostizierbarkeit technologischer Handlungsfolgen in der Ökosphäre, mißt Jonas mit Recht verantwortungsethische Bedeutung zu: „Die Kluft zwischen Kraft des Vorherwissens und Macht des Tuns erzeugt ein neues ethisches Problem. Anerkennung der Unwissenheit wird dann die Kehrseite der Pflicht des Wissens und damit ein Teil der Ethik, welche die immer nötiger werdende Selbstbeaufsichtigung unserer übermäßigen Macht unterrichten muß.“117 Ich frage nun, ob sich diese Einsicht grundsätzlicher verstehen und weitreichender anwenden läßt, als es im „Prinzip Verantwortung“ der Fall ist. Ist sie nicht auch für die Bioethik wichtig, vielleicht gar ausschlaggebend?118 Das zeigt sich, wenn wir uns noch einmal das Resultat von Jonas‘ Gedankenexperiment der Wette vor Augen führen: Ein Risiko, welches entweder das Ganze der möglichen Interessen der betroffenen Anderen, vor allem ihr Leben, umfaßt, oder aber sogar das Ganze der Menschheit, nämlich Gattungsexistenz und Menschenwürde samt Verantwortungsfähigkeit, dürfe man mit keiner Technologie eingehen. Schließlich würden die großen Wagnisse der Technologie bloß für einen Fortschritt unternommen und nicht etwa „zur Rettung des Bestehenden oder zur Behebung des Unerträglichen“. Dafür allein jedoch ließe sich ein höchster Noteinsatz, auch der des Lebens von Menschen, u. U. rechtfertigen – so unter bestimmten Bedingungen in einem Krieg119, sofern dieser nicht die Menschheit aufs Spiel setze usw. Auf diese Weise bestärkt Jonas die, von einem gewissenhaften Diskursteilnehmer schon als moralische Intuition mitgebrachte und in diesem Gedankenexperiment vorausgesetzte, Motivation zur Zukunftsverantwortlichkeit. Fazit des Denkexperiments ist also die Einsicht in die Verbindlichkeit des Jonasschen Imperativs: „Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden“120 – wohlgemerkt des „echten menschlichen Lebens“, worunter Jonas im Unterschied zum 117 H. Jonas, PV, 1978, S. 28. Eine Übersicht über Jonas’ Beiträge zur bioethischen Diskussion gibt M. Werner, „Hans Jonas’ Prinzip Verantwortung“, in: M. Düwell, K. Steigleder, Bioethik. Eine Einführung. Frankfurt am Main (Suhrkamp), S. 41-56. 119 H. Jonas, PV, 1978, S. 79. 120 Ebenda, S. 36. 118 82 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Utilitarismus etc. eine Existenzweise versteht, die der Würde des Menschen und seiner ontologischen Verantwortung für die „Idee des Menschen“ gerecht wird.121 Bezieht man nun das Gedankenexperiment der Wette und damit Jonas’ Zukunftsimperativ auf den Streit über die Legitimität der Präimplantationsdiagnostik (PID) und der ‚verbrauchenden‘ Forschung an embryonalen menschlichen Stammzellen, z. B. dem Forschungsklonen, so zeigt sich auf den ersten Blick offenbar: Wenn gilt, daß die genannten Technologien bzw. Forschungstätigkeiten das Ganze der möglichen künftigen Interessen der von ihnen betroffenen Embryonen aufs Spiel setzen, ohne daß sie zur Rettung der Menschheit beitragen, dann sind sie moralisch nicht zu rechtfertigen. Freilich drängt sich hier der Einwand auf, daß eine umstandslose Anwendung des Gedankenexperiments zum Zweck der Überprüfung von PID und ‚verbrauchender Embryonenforschung‘ das eigentliche Problem überspringe: ob nämlich das Ganze der künftigen Interessen von Embryonen, auch von Embryonen „in vitro“, moralisch zu berücksichtigen ist, ob also Embryonen ein moralischer Status mit Anspruch auf Menschenwürde etc. zukomme, das sei doch gerade eine offene Frage – jedenfalls umstritten. Und das umso mehr, als bereits über die Frage nach dem Anfang menschlichen Lebens im öffentlichen Diskurs faktisch Dissens herrsche.122 Es ist demnach strittig, wofür wir unbedingt moralische Verantwortung tragen. Wenn aber mit guten Gründen Uneinigkeit über den Gegenstandsbereich der Verantwortung besteht, dann hilft Jonas’ Verantwortungsbegriff, der sich auf den Gegenstand der Verantwortung beschränkt und sich mit der schwachen Argumentationskraft eines metaphysischen Glaubens auf dessen motivationsfähigen Seinswert verläßt, nicht weiter. Eine metaphysische Theorie, die dem Leben, zuhöchst dem menschlichen Leben, Seinswürde und Schutzanspruch zuschreibt, also an eine „Ehrfurcht vor dem Leben“ appelliert, begründet hier letztlich nichts. Sie artikuliert nur den eigenen Wert- und Normen-Standpunkt, eine individuell schon mitgebrachte Motivation. Auch eine Differenzierung der Motivation durch Entfaltung ethischer Intuitionen führt kaum weiter, da der Skeptiker deren universale Verbindlichkeit (für diesen Fall) in Zweifel ziehen dürfte. 121 Ebenda, S. 91 ff. und 84 ff. ders., Technologisches Zeitalter und Ethik., in: Fatalismus wäre Todsünde, S. 86 und a.a.O., S. 137, 138. 122 Ich danke Herrn Peter Brune, M. A., für seine Mitarbeit bei der Ausarbeitung der folgenden Argumentation. 83 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 An diesem Dissenspunkt ist offenkundig ein Verbindlichkeitserweis erforderlich, der auch den argumentationsbereiten Skeptiker oder den Andersmeinenden einbezieht bzw. das skeptische Argument entkräftet. Für die Begründungsarbeit würde das bedeuten: erforderlich ist ein nicht-metaphysischer und nicht-intuitionistischer Weg. Schließlich kann jede metaphysische und intuitionistische Theorie vom Skeptiker mit Recht als fallibel gekennzeichnet und bezweifelt werden, weil sie, wie Jonas zuletzt selbst einräumte, bloß „eine Option [...] zur Wahl stellt“.123 Zudem darf dieser Argumentationsweg nicht deduktiv sein, weil sich alle Ableitungen einer moralischen, also verbindlichen Sollensvorschrift in der Ausweglosigkeit eines Begründungstrilemmas verlieren, wie Karl R. Popper bzw. Hans Albert nachdrücklich in Erinnerung gebracht haben.124 Gibt es hier dann überhaupt einen orientierungsfähigen Vernunftweg, oder muß die Vernunft kapitulieren und einer Letztentscheidung, einer plausiblen Option, das Feld überlassen? Offen bleibt der sokratische Weg der Besinnung darauf, daß man auch als Skeptiker mit seinem Etwas-Bezweifeln jeweils schon in einem argumentativen Dialog mit Anderen ist und daß man in diesem Dialog die eigene Zweifelsthese müßte verantworten können. Hier kommt, wie wir entwickelt haben, der von Jonas übersprungene Tätigkeitsbegriff der Verantwortung ins Spiel: Verantwortung als ein Sich für die eigene These bzw. Zweifelsbehauptung Verantworten. Dieser responsorische Begriff findet sich mehr oder weniger deutlich bei Sokrates, bei Wilhelm von Humboldt und dem frühen Löwith. Obzwar auch Jonas an wichtigen Stellen von ihm zehrt125, holt er ihn nicht in seinen primär gegenstandsorientierten phänomenologischen Denkansatz ein. Wenn nicht die postkantianische Transzendentalpragmatik, so doch deren Transformation in eine sokratische Dialogpragmatik bietet hingegen eine solche reflexive Begründungsmöglichkeit. Worin besteht diese? Erinnern wir uns: Sokratisch bei sich selbst als jetzt Denkendem, als Diskursteilnehmer ansetzend, besinnt man sich darauf, daß man selbst – auch als Skeptiker – mit seinem Zweifel einen Dialogbeitrag gegenüber Anderen als Partner im argumentativen Dialog geltend macht bzw. gemacht hat. 123 H. Jonas, „Zur ontologischen Grundlegung einer Zukunftsethik“, in: Ders., Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, Frankfurt a. M. 1992, S. 140. Vgl. Jonas’ selbstkritische Äußerung in: Fatalismus wäre Todsünde, S. 96 f. 124 Vgl. H. Albert, Traktat über kritische Vernunft, Tübingen (Mohr/Siebeck) 1968. S. 11-15; W. Kuhlmann, „Ist eine philosophische Letztbegründung moralischer Normen möglich?“, in: Funkkolleg Studientexte, Bd. 2, S. 572-605. 125 Z.B. TME, 1985, S. 200. Ferner: H. Jonas, Macht oder Ohnmacht der Subjektivität? Das Leib-Seele-Problem im Vorfeld des Prinzips Verantwortung. Frankfurt a. M. (Insel) 1981, Einleitung, S. 13-18. Dazu Böhler, „Ethik der Zukunfts- und Lebensverantwortung“, in: D. Böhler, J. P. Brune (Hg.), Orientierung, 2004, S. 97-160. 84 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Man geht reflexiv auf das zurück, was beide Seiten, Opponent und Proponent, die ja beide als Diskurspartner ernst genommen sein wollen, vorweg in Anspruch nehmen müssen – nämlich, daß sie sich als irrtumsfähige Menschen für ihr Projekt im Dialog der Argumente verantworten können. Durch eine solche Besinnung auf den Diskurs sowie auf ‚mich‘ resp. ‚dich‘ als Partner in einem Diskurs kann die Diskurspragmatik dem Metaphysiker Jonas beispringen. Wie? Sie macht mit der von ihm eingeklagten „Anerkennung der Unwissenheit“ im Diskurs ernst. Sie bezieht diese Anerkennung so auf die offene Frage nach dem moralischen Status von Embryonen, daß die Antwort mit ihrer (nun anerkannten) Fallibilität von Situationseinschätzungen und konkreten Diskursen moralisch vereinbar ist. Denn wer immer etwas behauptet oder bezweifelt und sich damit Anderen gegenüber für einen Gedanken rechtfertigen will, ist einsehbar dazu verpflichtet, die „Möglichkeit der Verantwortung“ als Möglichkeit der Rechtfertigung zu bewahren: die Möglichkeit, sich dialogförmig für ein Projekt oder eine These zu verantworten. Das aber heißt, der Behauptende bzw. Bezweifelnde ist zunächst gehalten, „das Ganze der Interessen“ (Hans Jonas) möglicher Anspruchssubjekte nicht aufs Spiel zu setzen, sondern deren Rechte zu berücksichtigen. Und letztlich ist er verpflichtet, die zugleich normative und ontologische Idee des Menschen, welche nicht allein die Bewahrung der Gattungsexistenz, sondern auch die Hütung von Menschenwürde und Moralfähigkeit einschließt, in seinen Entscheidungen zur Geltung zu bringen. Negativ ausgedrückt besagt das: Solange nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann, daß gravierende Einwände gegen eine Handlungsweise möglich sind – etwa aus der Perspektive von Embryonen, deren moralischer Status jetzt faktisch noch offen sein mag –, solange besteht die grundsätzliche Verpflichtung, den Rechtfertigungsdialog und das Irrenkönnen in concreto ernst zu nehmen, statt in eine folgenirreversible Handlungsweise, die nicht irren dürfte, überzugehen. Welche (fehlbaren) Handlungsweisen dürfen wir nicht wählen? Gewißlich solche, durch die wir (im Falle des Irrtums) ein unwiederbringliches höchstes Moralgut zerstören würden – zumal menschliches Leben und Menschenwürde. Mithin gilt: Im Zweifel für die Verantwortung (als ein Sich-im-Dialog-Verantworten-Können), also auch für das Leben und die Menschenwürde. 85 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Diese Pflicht zur Vorsicht erstreckt sich auch auf den faktisch noch umstrittenen moralischen Status menschlicher Embryonen. Wenn ‚wir’ uns darauf besinnen, was es heißt, ein glaubwürdiger Partner im Diskurs der Argumente zu sein, dann ergibt sich – im Einklang mit Hans Jonas’ Gedankenexperiment über „das Element der Wette im [technologischen] Handeln“126 – dieser Verbindlichkeitserweis: - Eine Technologie, deren Einsatz mit dem Risiko verbunden ist, das Ganze der möglichen Interessen moralisch anspruchsberechtigter Wesen aufs Spiel zu setzen, ohne dadurch zur Rettung der Menschheit beizutragen, ist moralisch nicht zu verantworten. - Sowohl PID als auch ‚verbrauchende Embryonenforschung‘, letztere gerne getarnt als „therapeutisches Klonen“, setzen das Leben von Menschen-Embryonen aufs Spiel, ohne zur Rettung der Menschheit beizutragen. - Ob Embryonen moralisch anspruchsberechtigte Wesen sind, ist noch nicht eindeutig geklärt und faktisch umstritten (faktischer Dissens, faktisches Unwissen). - Solange aber nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann, daß gravierende moralische Einwände – wie: „Mißachtung der Menschenwürde!“ – gegen eine Handlungsweise möglich sind, bleibt die grundsätzliche Pflicht bestehen, die Instanz des argumentativen Dialogs und die Irrtumsfähigkeit in konkreten Fragen ernst zu nehmen, statt eine folgenirreversible, nicht irren dürfende Handlungsweise zu wählen. Also gilt: Im Zweifel für das Leben und für die Nichtverfügbarkeit von Embryonen. Indem ‚wir‘ zwar die Streitsache selbst offen lassen, uns aber auf unsere Rollenpflichten im Diskurs besinnen, erkennen ‚wir‘ Diskurspartner das, was ‚wir‘ absolut nicht dürfen – absolut nicht, solange ein Sachstreit besteht, in dem das menschliche Ganze auf dem Spiele steht bzw. stehen kann. Denn die Achtung der Menschenwürde ist ein unbedingtes Prinzip. Es gebietet, menschliches Leben als „Zweck an sich selbst“ (Kant) zu achten, mithin jegliche Instrumentalisierung dessen zu unterlassen. 126 H. Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 76ff. 86 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Eine solche hat man freilich schon begonnen, wenn man hier bloß, wie es zeitgeist- und politiküblich geworden ist, im landläufigen Sinne ‚pragmatisch‘ verfährt: statt streng zu argumentieren, verdrängt man die argumentationstragende Reflexion auf die Verantwortungsbedingungen von Argumentationspartnern ohne Skrupel durch eine Kalkulation von Nutzen und Nachteil hinsichtlich besonderer Interessen. Für Klarheit und Strenge, für Selbstverantwortung und Diskursverantwortung einzustehen, ist jedoch des Denkens sokratische Pflicht. Ohne eine Wachsamkeit über jene Prinzipien, die das Denken als Dialog der Argumente tragen, verkäme es selbst – und damit die Menschenwürde, welche die Denkenden je schon selbst in Anspruch genommen haben. Heute gilt es mehr denn je, sie als Prinzip zu hüten und in ihrer Unbedingtheit zu achten. Darin erblicke ich auch das Vermächtnis von Hans Jonas, der sich von der Philosophie dieses Jahrhunderts gewünscht hat, sie sie möge „ihrer Wächterrolle über das Unverzichtbare ... im Neudenken der Idee der Verantwortung“ treu sein – „unbeirrt durch allen berechtigten Zweifel, ob sie damit etwas ausrichtet.“127 Im Anschluß an den Skeptikerdialog haben Diskussionen mit den Teilnehmern stattgefunden, in denen diese aktuelle Fragen gestellt und Einwände vorgebracht haben. Zudem haben zwei Teilnehmer einen schriftlichen Beitrag geliefert. Eine der Diskussionen hat Frau Bernadette Herrmann, M.A., vorstrukturiert und geleitet. Eine weitere systematische Diskussion zu Problemen der Moralbegründung und zur Anwendung der Diskursethik hat Herr Dr. Horst Gronke vorbereitet und moderiert. Diese beiden Arbeitsphasen waren sehr fruchtbar. Dafür sei Herrn Dr. Gronke und Frau Herrmann herzlich gedankt. 127 H. Jonas, Philosophie. Rückschau und Vorschau am Ende des Jahrhunderts, Ffm. 1993, S. 42 f. 87 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 7. Wie sollen wir urteilen? Urteilskriterien aus dem Diskurs oder aus dem Gewissen? Der Diskursgrundsatz ‚D’ ist Erkenntnis- und Handlungsprinzip zugleich. Er lautet kurz: Bemühe Dich um Handlungen und um Thesen, deren Begründung auch alle anderen – als Diskurspartner – zustimmen könnten. Welche weiteren Maßstäbe gibt es, die sich an diesen Kernmaßstab anschließen? So fragend, richte ich den Blick auf die Ethik- und Geistesgeschichte. In ihr hat es seit Sokrates und Jesus Innovationen und Regressionen gegeben, Annäherungen an das metakonventionelle. universalistische Urteilsniveau im Sinne des Diskurs-Moralprinzips und erhebliche Regressionen auf konventionelle und sogar vorkonventionelle Stufen. Durch diese geschichtsbezogene ‚Sicht‘ möchte ich nicht allein klären, welche metakonventionellen bzw. postkonventionellen Errungenschaften des Geistes tatsächlich in das moralische Urteilen eingeflossen sind, sondern zumal, inwiefern diese als Urteilskriterien unverzichtbar, weil unhintergehbar sind. Denn solche müßten wir dann in unserer Urteilspraxis auch bewußt befolgen und sorgsam anwenden. Die Leitfrage ist also: Wie sollen wir urteilen? Woran können und sollen wir uns orientieren, wenn wir Diskurse führen? Dazu wähle ich die Form eines Erörterungsdialogs zwischen einem Fragenden und mir. Es geht um verbindliche rationale Kriterien für unsere Diskurse. 7.1 Urteilskriterien aus dem Diskurs und Aufstufung der Diskurse? Fragender: In welchem Sinne sollen die Kriterien rational sein? Im Sinne eines reflexiven Aufweises von internen Diskursvoraussetzungen, so daß sie den Status von unhintergehbaren Bedingungen des Argumentierens haben, und zwar jeder Art des Argumentierens – gleich, ob es sich um theoretische oder praktische oder meinetwegen auch um ästhetische Argumentationen handelt? Böhler: Ja – sofern wir sie, worauf wir uns im folgenden freilich msit beschränken, nicht bloß aus unserem Vorverständnis vom argumentativen Dalog rekonstruieren, sondern insofern wir die Rekonstruktionsergebnisse auch im Diskurs mit einem Skeptiker als unhintergehbar erweisen können. 88 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Fragender: Wie denn? Böhler: So daß wir, erlaube die Wiederholung, uns als Diskurspartner fragen, ob unsere Zweifel an der, durch die Rekonstruktion gewissermaßen plausibel gemachten Diskursvoraussetzung X sich von uns als ein sinnvolles Argument im Diskurs durchhalten läßt. Anders gesagt: ob wir an der Verbindlichkeit von X wirklich zweifeln können, wenn wir als Diskurspartner glaubwürdig bleiben wollen. Wir fragen also diskursreflexiv: ›Müssen wir die Verbindlichkeit von X voraussetzen und anerkennen, wenn wir glaubwürdige, selbstwiderspruchsfreie Diskurspartner sein und bleiben wollen?‹ Wenn das für ein Rekonstruktionsergebnis zutrifft, dann handelt es sich um ein Ergebnis auf der höchsten Reflexionsstufe des Philosophierens, um Ergebnisse eines reflexiven Diskurses, der nach notwendigen Bedingungen des Argumentierens als der reinen Form kommunikativer Praxis fragt. Solche Bedingungen müßten zugleich für das Philosophieren selbst gelten. Deshalb können wir den Diskurs, der danach fragt, den philosophischen Diskurs im engeren Sinne nennen und näher bestimmen, daß er zwei Ebenen hat: die anfängliche einer Rekonstruktion unseres Vorverständnisses davon, was für einen argumentativen Dialog intrinsisch erforderlich ist, und die begründende bzw. vergewissernde Ebene einer sinnkritischen Reflexion auf den Zweifel an einem rekonstruiertem. Fragender: Die in einem solchen höchststufigen Diskurs aufgewiesenen Argumentationsbedingungen hätten also den Status einer universalen Letztbegründung, insofern sie für alles sinnvolle Argumentieren gelten würden? Böhler: Ja. Und der andere Teil meiner leitenden Gesichtspunkte soll auf der zweithöchsten Reflexionsstufe gewonnen werden, nämlich durch Besinnung auf die notwendigen Bedingungen eines sinnvollen praktischen Argumentierens. Diese Besinnung führen wir in einem praktisch-philosophischen Diskurs durch. Fragender: Hier möchte ich Sie unterbrechen und von den höchsten Reflexionsstufen bzw. Diskursstufen noch einmal heruntersteigen und noch einmal nachfragen: Was verstehen Sie unter »Diskurs«? Böhler: Ich verstehe darunter eine Argumentation, die man zur Prüfung einer aufgestellten Behauptung durchführt, die sowohl einen idealen dialogischen Anspruch erhebt, als auch eine rein dialogische Form hat. Sie erhebt nämlich den Anspruch, eine Prüfung zu sein, die eigentlich jederzeit und mit jedermann, sofern er sich sachkundig macht und sich auf das 89 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Argumentieren einläßt, als gleichberechtigtem Dialogpartner durchgeführt werden kann, und zu demselben Ergebnis führen würde. Freilich kann man eine solche Prüfung, empirisch gesehen, auch alleine, z. B. einsam am Schreibtisch sitzend, durchführen. Aber auch dann erhebt man diesen Anspruch auf Wiederholbarkeit des Diskurses mit prinzipiell jedem, der vernünftig fragt. Man beansprucht eben, das Ergebnis eines solchen Diskurses, gegenüber jedem, der vernünftig fragt und sich aufs Argumentieren einläßt, verteidigen und es so als das richtige Ergebnis beweisen zu können. Wer einen solchen Anspruch erhebt, ... Fragender: Pardon, wenn ich Sie erneut unterbreche: aber geht nicht letztlich jeder, der Argumente vorbringt, davon aus, diese auch mit Gründen – also argumentativ – verteidigen zu können – und zwar potentiell jedem gegenüber? Das nimmt doch z. B. jeder Naturwissenschaftler für seine Hypothesen in Anspruch. Böhler: Ja, Sie haben recht. Denn jeder, der eine theoretische Behauptung aufstellt, also eine Behauptung darüber, ob ein bestimmter Sachverhalt besteht oder aber ob er nicht besteht, der erhebt den Anspruch auf Wahrheit seiner Aussage. Diesen theoretischen Geltungsanspruch müßte er gegenüber allen, die ihn begründeterweise bezweifeln, rechtfertigen können. Fragender: Ja, aber das gilt zunächst ja nur für theoretische, sagen wir: naturwissenschaftliche Aussagen. Uns interessiert hier aber vorrangig der Status moralischer Aussagen, z.B. in alltäglichen Konfliktsituationen. Und da scheint die Situation doch anders zu sein. Berufen wir uns nicht in praktischen Fragen letztlich auf unser eigenes Gewissen und geben damit zu erkennen, daß wir über das, was uns als >das Richtige< , erscheint, keinen weiteren Dialog führen wollen? Jedenfalls lassen wir es doch oft bei einer privaten Gewißheit bewenden. Böhler: Hier sprechen Sie eine wesentliche Frage der philosophischen Ethik an. Die These, daß das Letzte, worauf man sich jeweils beruft, sein eigenes Gewissen ist – diese These hat sich in der neuzeitlichen Ethik entwickelt und hat in dem gegenwärtigen ethischen Selbstverständnis der westlichen Welt eine privilegierte Stellung. Insofern sie die Leugnung einer intersubjektiven verbindlichen praktischen Vernunft einschließt, hat diese These zu einer abstrakten Entgegensetzung von irrationaler ethischer Privatheit bzw. Entscheidung einerseits und von ethisch neutraler, technischer bzw. strategischer Rationalität andererseits, geführt. 90 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Fragender: Dann dürfte es zur Klärung des Selbstverständnisses unserer Gesellschaft bzw. der Sittlichkeit unserer Gesellschaft darauf ankommen, die Gültigkeit der Gewissensthese zu prüfen. Sollten wir also nicht einen praktischen Diskurs über den Geltungsanspruch der Gewissensthese führen? Böhler: Ja. Aber dazu bedarf es mehr als eines einfachen praktischen Diskurses. Dazu bedarf es eines praktisch philosophischen Diskurses. Denn die Gewissensthese enthält eine Behauptung über den Grund der Geltung praktischer Behauptungen bzw. Orientierungen. Und eben damit, mit der Frage nach dem Grund für die Geltung praktischer Behauptungen, hat es der praktisch philosophische Diskurs zu tun. Denn während wir in einem einfachen praktischen Diskurs nur fragen, ob eine konkrete praktische Behauptung Ihrem Anspruch gerecht wird, geht es in einem praktisch philosophischen Diskurs zugleich um Allgemeineres und Grundsätzlicheres. Denn hier argumentieren wir nicht mehr nur sachkonzentriert, sondern besinnen wir uns zugleich auf Möglichkeiten und Grenzen des Aufstellens praktischer Behauptungen schlechthin. Die Leitfrage des praktisch philosophischen Diskurses lautet: Welche Bedingungen müssen praktische Argumentationen, insbesondere praktische Behauptungen, erfüllen, damit sie überhaupt Sinn geben und als Argumentationshandlungen gelingen können? Fragender: Dann wäre also der praktisch philosophische Diskurs gewissermaßen ein Diskurs über konkrete praktische Diskurse und über jeweilige konkrete praktische Behauptungen. So weit, so gut. Aber wir sollten nicht meine Eingangsfrage nach dem Stellenwert der gesuchten Kriterien für Diskurse, etwa Letztgültigkeit, vergessen. Und auch meine spezielle Frage nach dem Verhältnis von praktischem Diskurs und Gewissen bitte ich, nicht aus dem Auge zu verlieren. 7.2 Diskursbezogene Moral und ihre innere kritische Spannung zu faktischen ‚Diskursen’ oder: Die kontrafaktische Voraussetzung einer idealen Argumentationsgemeinschaft in der realen. Böhler: Ein erstes leitendes Kriterium für die Beurteilung gegenwärtiger oder historischer ethischer Positionen ist die These von der Unhintergehbarkeit einer reflektierenden, mithin diskursbezogenen Moral, die eigentlich jeder, der über ethische Fragen nachdenkt, durch dieses Nachdenken schon unterstellt. Ich meine eine Ethik, die sich begründeter – und 91 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 einsichtiger - nicht bloß auf die Autorität etablierter Normen stützt, sondern eben diese Normen an der Vernunft prüft und die unter dem letztlich Guten dasjenige versteht, was wir vernünftigerweise tun sollen, so daß sie die etablierten Normen gegebenenfalls verwirft und verändert. Fragender: Das ist doch die herausragende moralische Errungenschaft der »Achsenzeit«, die Jaspers in den Zeitraum zwischen 800 und 200 v. Chr. datiert. Greifen Sie das auf? Böhler: O ja, nur würde ich die Achsenzeit lieber mit Jesus beschließen wollen. Denn Jesus hat die Infragestellung der blinden Autorität von Institutionen m. E. zum Höhepunkt geführt – z. B. dadurch, daß er die heiligste Institution seines Volkes, den Sabbat, dem Menschen unterordnete. Damit hat er den ethisch revolutionären Anstoß gegeben, das Geltungsverhältnis von Institutionen und Mensch umzukehren. Denn in archaischen Kulturen und Mythen sind es die heiligen Institutionen, die als solche Gültigkeit haben und die ihrerseits den Menschen eine bloß abgeleitete Würde und Geltungsfähigkeit vermitteln. Demgegenüber betont Jesus am Beispiel des heiligen Sabbat, daß diese von Gott eingesetzte und durch das dritte Gebot als Teil der göttlichen Schöpfungsordnung verbindlich gemachte Institution nicht etwa als solche und daher absolut gelte, sondern als Institution für den Menschen. Infolgedessen sei sie auch dem menschlichen Urteil unterstellt. Ein solches Beurteilen der Institutionen nimmt Jesus für seine Jünger und sich selbst in Anspruch, wenn er das Kornsammeln der Jünger am Sabbat und das Heilen chronischer Krankheiten am Sabbat rechtfertigt – also sogar Dinge, die man ebensogut an anderen Tagen hätte tun können. Diesen in der Ethikgeschichte ungeheuren Vorgang hat uns der Evangelist Markus am Schluß des zweiten Kapitels überliefert : Zitator: »Und es begab sich, daß Jesus am Sabbat durch die Saaten dahinwanderte; und seine Jünger fingen an, auf dem Weg Ähren abzureißen. Und die Pharisäer sagten zu ihm: Siehe, warum tun sie am Sabbat, was nicht erlaubt ist? Da sprach er zu ihnen: Habt ihr niemals gelesen, was David tat, als er Not litt und ihn und seine Begleiter hungerte? Wie er in das Haus Gottes hineinging zur Zeit des Hohenpriesters Abjathar und die Schaubrote aß, die niemand essen darf als nur die Priester und (die er) auch seinen Begleitern gab? Und er sprach zu ihnen: Der Sabbat ist um der Menschen willen geschaffen worden und nicht der Mensch um des Sabbats willen. Somit ist der Sohn des Menschen Herr auch über den Sabbat.« Böhler: Zudem spitzt Jesus die Reich-Gottes-Hoffnung und die damit verbundene universal menschheitliche Moral Israels im Sinne eines Evangeliums vom Reich Gottes und einer Liebesmoral zu. Er selbst praktiziert diese Verkündigung in einer Weise, an der man geradezu 92 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 exemplarisch erfahren kann, was nachkonventionelle Moral und kommunikative Ethik bedeuten. Das Friedensreich, Liebesreich und Gerechtigkeitsreich Gottes bedeutete für Jesus die eschatologische, noch in der Zukunft stehende und schon mit seiner Lebenspraxis anbrechende Neue Welt. Diese >Neue Welt< war zugleich Gegenentwurf gegen herrschende Ordnungen und Verhaltenszwänge, vor allem gegen selbstgenügsame Autoritäten und Gesetzlichkeiten, die den Menschen zum Mittel machten. Es ist kein Zufall, sondern folgerichtig im Sinne einer Entwicklungslogik der Ethik, daß das abendländische Denken überall dort, wo es nicht auf eine selbstgenügsame konventionelle Moral zurückfällt, sondern sich auf der Stufe kritischer Moral hält, diese ursprünglich eschatologische, auf das kommende Reich bezogene Spannung zwischen den jeweils etablierten Ordnungen und gesetzten Normen einerseits, und einer idealen moralischen Basis der Prüfung und Rechtfertigung von Normen andererseits, in gewisser Weise festgehalten hat. Fragender: Hat nicht Ernst Bloch in der Gegenwart ähnlich argumentiert? Böhler: Ja, insofern als Blochs utopische Philosophie Elemente der jüdisch-christlichen Philosophie aufgenommen und verarbeitet hat. Dabei handelt es sich um nichts weniger als um theologische Fossilien in der Philosophie. Vielmehr ist jene Spannung zwischen der jeweils gegebenen sittlichen Ordnung sowie Rechtsordnung und einer postulierten idealen moralischen Gemeinschaft ein unentbehrliches Strukturmerkmal jeder reflektierenden Ethik. Fragender: Würden Sie das als Ihren zweiten leitenden Gesichtspunkt bezeichnen? Böhler: Ja. Dabei geht es um die Einsicht in die unaufhebbare Spannung zwischen dem Ethos einer etablierten Sittlichkeit, die in einer jeweiligen realen Kultur und Gesellschaft, in einem jeweiligen Staat, tatsächlich gilt, und den idealen Forderungen einer Vernunftethik, die in einer reinen Argumentationsgemeinschaft allein aufgrund verallgemeinerbarer Argumente zur Geltung gebracht werden bzw. wurden.128 128 Eine analoge Spannung ist auch für das theoretische Argumentieren grundlegend; vgl. Böhler, STE 11,2.1, in: Apel, Böhler, Rebel, aaO., und ders. in: Kuhlmann u. Böhler, aaO., S.86f., 104 f. In gewisser Weise hat schon Ch. S. Peirce für das theoretische Argumentieren, und zwar sowohl hinsichtlich der Wahrheit empirischer Realitätsdefinitionen als auch hinsichtlich der Richtigkeit logischer Schlußfolgerungen, jene Spannung gedacht; nämlich die Spannung zwischen dem, was in einer realen Wissenschaftsgemeinschaft jeweils als herrschende Meinung etabliert ist, und dem, was in einer unbegrenzten Gemeinschaft aller Verstandeswesen aufgrund hinreichender Erfahrung und korrekten Schlußfolgerns als das Wahre gelten würde. Insofern ist Peirce auch der Klassiker einer gemeinschaftsbezogenen und daher kommunikationsbezogenen Wahrheitstheorie. Vgl. Peirce, Schriften I, hrsg. v. K.-O. Apel, Frankfurt 1967, S. 257 ff. , 310 f. und 359 ff. Dazu die Einleitung Apels in 93 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Zu welchen bedenklichen Ergebnissen es führen kann, die Moral des status quo gegen universale Prinzipien der Vernunftethik ins Feld zu führen, zeigte noch in der Endphase der Apartheid ein Votum des liberalen Historikers Golo Mann. 1979 versuchte er, die südafrikanische Rassenpolitik folgendermaßen zu rechtfertigen: Zitator: »Es ist leicht, (. ..) gegen Rassendiskriminierung zu wettern. Was aus Südafrika würde, wenn in der ganzen Republik mir nichts, dir nichts das Prinzip >one man one vote< gelte, das weiß kein Mensch. Man muß aber doch denen, deren Ahnen seit 300 Jahren ein blühendes Gemeinwesen aufbauten, wo vorher überhaupt nichts war (. ..), doch einräumen, daß auch sie ein klein wenig von der Sache verstehen. ( ...) Grundsätze wie Gleichheit, Selbstbestimmung der Nation, die dort taugen, wo sie erdacht wurden (. ..), müssen deshalb noch nicht überall auf Erden taugen. Kurzum, hier sollte man sich eines eigenen Urteils enthalten und von denen lernen, die reale Erfahrungen haben.«129 Böhler: Gegenüber dieser Betonung sog. >realer Erfahrungen<, die die Funktion haben kann, eklatantem Unrecht den Schein der Berechtigung zu verschaffen, orientiert sich die reflektierende Ethik nicht am faktisch Gegebenen, an einer jeweiligen Gesellschaft und ihrer etablierten Sittlichkeit, sondern an etwas, das noch nicht ist, das aber schon »vorscheint«, wie Ernst Bloch sagen konnte; und zwar an einer reinen kommunikativen Sittlichkeit, die sowohl als schlechthin gut gelten könnte wie auch zunehmend institutionalisierbar sein müßte. Fragender: So etwas wie ein langer Marsch der kommunikativen Vernunftethik bzw. Diskursethik durch die Institutionen? Böhler: Wohl eher ein langer Weg der Verkörperung der universalistischen und daher diskursbezogenen Moral durch die Menschheitsgeschichte – der Verkörperung als Institutionalisierung von weltweiter Öffentlichkeit und Freiheit, von weltweiter Lebenssicherung und Naturbewahrung – sofern es überhaupt weitergehen soll mit der Menschheit. demselben Band, S.58ff., 106f. und 120ff. Zur Bedeutung jener Spannung für die Wissenschaftstheorie und für die praktische Philosophie: D. Böhler, Rekonstruktive Pragmatik und Hermeneutik. Kap. II 2, V, VI, vgl. I 1 und X. 129 G. Mann, Marxismus auf dem Vormarsch – in Europa und der Dritten Welt? Hrsg. vom Arbeitgeberverband der Metallindustrie, Köln 1979, S. 29f. 94 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Fragender: Also hätte eine solche Perspektive keinen anarchistischen; aber doch wohl einen grundsätzlich kritischen Sinn? Denn fordert die These von der Spannung zwischen gegebener Sittlichkeit und vernünftiger Sittlichkeit nicht zur moralischen Kritik des Bestehenden, zu praktischen Diskursen, heraus? Böhler: Ja, sie verlangt der Vernunft gewissermaßen ab, praktisch zu werden, und sie provoziert die jeweils herrschende Sittlichkeit, vernünftig zu werden, d.h. rechtfertigungsfähig in argumentativen Diskursen. Die Einsicht in die grundsätzliche Spannung zwischen der etablierten Sittlichkeit und einer einsehbaren Moral bzw. einer Vernunftethik ist eine Bedingung dafür, daß praktische Diskurse überhaupt als sinnvolle Unternehmungen angesehen und durchgeführt werden können: Wenn wir nämlich in ethischer Selbstzufriedenheit und Selbstgenügsamkeit das jeweils etablierte Ethos als den Inbegriff der Sittlichkeit unterstellen würden, dann gäbe es keinen Anlaß für praktische Diskurse... Fragender: ...oder man würde diejenigen, die doch eine moralische Kritik vom Zaune brächen, als Störenfriede oder Verhaltensgestörte, als Majestätsverbrecher bzw. Gotteslästerer aus der Gemeinschaft ausschließen. Böhler: Und das noch mit gutem Gewissen und dem Pathos, die wahrhaft guten Sitten zu verteidigen. So hat man Jesus gekreuzigt und Sokrates hingerichtet. Fragender: Jesus und Sokrates. Die beiden großen ethischen Gestalten der Achsenzeit – so meinen Sie es doch wohl! Aber geraten Sie nicht in Schwierigkeiten, Sokrates zu begreifen, wenn Sie an dem eben hervorgehobenen Strukturmerkmal einer reflektierenden, diskursbezogenen Ethik festhalten? Denn eine solche Spannung kannte Sokrates wohl nicht. Er war und blieb doch der treue Bürger der Polis Athen und unterwarf sich den Gesetzen und Verfahrensregeln dieser Polis und ihrer Gerichtsbarkeit. Er hat diese Ordnung m. E. nicht im Blick auf die Instanz einer idealen Gemeinschaft hin überschritten. Böhler: Ja und nein. Die einschlägigen Abschnitte aus dem Dialog »Kriton« zeigen einerseits, daß Sokrates sich den Gesetzen unterwirft, andererseits aber, daß er den Grund für die Verbindlichkeit dieser Gesetze offenbar nicht im faktischen Gelten dieser Gesetze findet, sondern in einem moralischen Grundsatz, an dem sich der sittliche Wille der Person Sokrates bildet und orientiert. Insofern läßt sich sagen, daß sich die moralische Identität an einem Grundsatz richtigen Verhaltens und nicht etwa bloß an den zufällig geltenden Gesetzen 95 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Athens, die noch dazu unrechtmäßige Todesurteile ermöglichen, orientiert und ausgebildet hat. Fragender: Ein positiver bei dem negativen Dialektiker Sokrates? Böhler: Ja, und sogar zwei! Einmal ist es der Grundsatz, daß es für den Menschen besser sei, unrecht zu leiden, als unrecht zu tun. Dieser Grundsatz überschreitet sogar den Horizont jeder Rechtsordnung: Denn keine Rechtsordnung gebietet, Unrecht zu erleiden, vielmehr ist sie in erster Linie ein System der Sicherung vor und Vermeidung von Unrecht. Hinzu kommt ein kritisch dialogischer, ein diskursbezogener Grundsatz: der Logos-Grundsatz. 7.3 Der sokratische Logosgrundsatz und das traditionell ausgeblendete zweifache Kommunikations-Apriori Vor allem um diesen muß es gehen, wenn nach der Bedeutung des Sokrates für den philosophischen Diskurs im Allgemeinen und den praktisch-philosophischen Diskurs im Besonderen und ebenso, wenn nach Sokrates‘ Bedeutung für den Begriff der Vernunft und für die Vernunftethik gefragt wird. Insofern Sokrates nämlich sagt bzw. durch seine kritisch dialogische Lebenspraxis zu erkennen gibt, daß er nichts als letztlich richtig gelten lassen und daher nichts befolgen wolle als dasjenige, was im kritischen Dialog, also in einem Diskurs, standhält, insofern hat er selbst die Dialog-Gemeinschaft der Argumentierenden als die Instanz und die Grundlage der " Verbindlichkeit von Normen vorausgesetzt. Und eben damit hat er – so indirekt und lautlos wie radikal – die grundsätzliche, kritische Spannung zwischen der jeweiligen realen rechtlich-politischen Regel-Gemeinschaft und einer idealen dialogischen Argumentationsgemeinschaft eingeführt. Vorsichtiger gesagt: er hat sie zumindest in Anspruch genommen. Fragender: Dann wäre der sokratische Logos-Grundsatz Ihr dritter leitender Gesichtspunkt bzw. Urteilsmaßstab? Böhler: Ja; jedenfalls insofern er als eine gewisse Vorform unseres Diskurs-Moralprinzips gelten kann. 96 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Fragender: Aber was heißt eigentlich »logos« ? Und worin besteht jener Logos-Grundsatz? Böhler: »Logos« ist ein schwer übersetzbares Wort und ein schwer mit einem Wort wiedergebbarer philosophischer Begriff. Im Blick auf den Sprachgebrauch in den platonischen Dialogen können wir jedenfalls annäherungsweise sagen, daß dieser Begriff vor allem für das Reden, für das Argumentieren und damit auch für das Denken steht. Und zwar können diese Bedeutungen wieder in zwei verschiedenen Aspekten erscheinen, einmal dynamisch-pragmatisch, also handlungsbezogen, ein anderes Mal statisch und semantisch, nämlich auf das fertige Resultat bezogen. »Logos« kann sich sowohl auf die Tätigkeit des Redens, Argumentierens und Denkens als auch auf deren Resultate beziehen, also auch auf das Gesagte, das Argument und den Gedanken. Friedrich Schleiermacher war insofern nicht im Unrecht, als er in seiner Übersetzung des Platonischen Dialogs »Kriton« den Ausdruck »Logos« mit »Satz« wiedergab. Fragender: Aber kommen Sie Schleiermacher damit nicht zu weit entgegen? Mir scheint nämlich, daß die Übersetzung von »Logos« durch das Wort »Satz« bloß einen Bedeutungsaspekt von »Logos« aufgreift, und daß er selbst diesen unzulässig einschränkt. Denn ein Satz ist eine logisch syntaktische Größe, mit der es Logiker und Grammatiker zu tun haben. Wenn wir den Teil einer – sei es mündlich vorgebrachten, sei es schriftlich fixierten – Rede als Satz betrachten, dann sehen wir damit von dem dialogischen Charakter jenes Redeteils doch ab. Wir nehmen ihn dann nicht mehr als das, was er ursprünglich ist und als was er verstanden sein will, nämlich als Äußerung eines Sprechers, durch die dieser sowohl eine Kommunikationssituation zu Adressaten herstellt, als auch diesen einen bestimmten Inhalt zu verstehen gibt.130 Böhler: Sie haben recht. Und für uns kommt es eben darauf an, daß man einem Satz nicht Folge leisten kann, wohl aber einer Äußerung, die entweder ein praktisches Argument vorbringt oder eine Maxime, also einen praktischen Grundsatz, formuliert, oder die einfach 130 Vgl. die Analyse der Form einer Äußerung, die Habermas gegeben hat: Äußerungen haben eine Doppelstruktur; sie sind »nämlich aus einem performativen Satz und einem davon abhängigen Satz propositionalen Gehalts zusammengesetzt (. ..). Der dominierende Satz enthält ein Personalpronomen der ersten Person als Subjektausdruck, ein Personalpronomen der zweiten Person als Objektausdruck und ein Prädikat, das mit Hilfe eines performatorischen Ausdrucks in Präsensform gebildet wird (>Ich verspreche dir, daß ...<). Der abhängige Satz enthält einen Namen oder eine Kennzeichnung als Subjektausdruck, der einen Gegenstand bezeichnet, und einen Prädikatausdruck für die allgemeine Bestimmung, die dem Gegenstand zu- oder abgesprochen wird. Der dominierende Satz wird in einer Äußerung verwendet, um einen Modus der Kommunikation zwischen Sprechern/Hörern herzustellen; der abhängige Satz wird in einer Äußerung verwendet, um über " Gegenstände zu kommunizieren.« In: Habermas/Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie -Was leistet die Systemforschung? , Frankfurt 1971, S.104f. 97 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 eine Aufforderung enthält. Aber an eine bloße Aufforderung ist im »Kriton« nicht gedacht, sondern an das Ergebnis einer Argumentation. In der griechischen Verbindung von Denken und Reden durch das Begriffswort Logos steckt eine tiefe Wahrheit, die freilich erst in der Gegenwart, in der die Philosophie Sprache und Kommunikation als Basis des Denkens und Erkennens entdeckt, richtig zum Vorschein kommt. Fragender: Welche Wahrheit meinen Sie? Böhler: Ich meine eben die Untrennbarkeit von Reden und Denken. Sowohl hinsichtlich der Sinnermöglichung als auch hinsichtlich der Geltungsermöglichung sind Reden und Denken nicht voneinander abtrennbar. Denn ein Denken ohne leises Reden, nämlich ohne die lautlose Verwendung von Begriffsworten und anderen Elementen einer geschichtlich entstandenen Sprache, die dem Denkenden etwa durch die Begriffsworte immer schon Bedeutungen vorgegeben hat, müßte völlig sinnleer bleiben. Ein Denken ohne Sprache hätte nichts mehr zu denken, weil es buchstäblich bedeutungslos bliebe. Andererseits bliebe ein Reden, das nicht zugleich dächte, blind, weil unkontrolliert und rechtfertigungsunfähig. Fragender: Wäre das Ihr vierter leitender Gesichtspunkt oder Letztmaßstab? Böhler: Ja; und zwar ist dieses ein allgemeines Kriterium dafür, ob eine Position Sinn macht und daher auch Geltung beanspruchen darf, d.h. ob sie diskussionswürdig sein kann. Es läßt sich als das zweifache Sprachapriori und Kommunikationsapriori des Denkens kennzeichnen. Unter einem Apriori verstehen wir ja etwas Unhintergehbares, ein letztes Fundament, hinter das man nicht zurück kann, weil man als Denkender schon selbst darauf steht. Von der gesprochenen Sprache kann man das in doppelter Hinsicht sagen. Fragender: Wie meinen Sie das? Böhler: Nun, Sprache ist, wie ich schon sagte, ein zweifacher Möglichkeitsgrund des Denkens und Argumentierens: Einmal ermöglicht Sprache Sinn und intersubjektive Verständlichkeit bzw. Verstehbarkeit. Zum anderen kann nur eine sprachliche Kommunikationsgemeinschaft ein Argument auch intersubjektiv zur Geltung bringen. 98 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Fragender: Wie kommen Sie zu dieser Behauptung? Böhler: Zunächst durch ein Gedankenexperiment. Denn die Überlegung, ob Denken und Argumentieren ohne Sprache möglich sind, führt uns zu zwei Thesen: Erstens – ohne eine geschichtliche Sprache, z. B. ohne ihre Begriffsworte und ihr erfahrungsvermitteltes Weltverständnis, bliebe alles Denken bedeutungsleer. Zweitens – ohne eine sprachlich regulierte Kommunikationsgemeinschaft könnte kein Gedanke überhaupt verstanden und beurteilt werden. Denn nur dank der besonderen Regeln des Wortgebrauchs und dank der von allen Sprachen vorausgesetzten Regeln der Schlüssigkeit kann einer, der allein denkt, und können prinzipiell alle anderen das Gedachte identifizieren und beurteilen. Fragender: Aber was hat das mit dem Begriff »Logos« zu tun? Böhler: Lassen Sie es mich noch einmal von den beiden Aspekten her sagen, die im Begriffswort Logos stecken, insofern es Denken und Reden verbindet: Denken ohne Sprache bliebe sinnleer, und ein Reden ohne Denken bliebe blind, ohne KontroIle nämlich und daher begründungsunfähig. Argumentieren aber heißt, anderen gegenüber Gründe für das Gesagte angeben und für das Gesagte mit Begründungen einstehen – jedenfalls immer dann, wenn andere Zweifel anmelden. Wenn das aber so ist, dann ist das denkende Reden, das Argumentieren, ein reflektiert dialogisches Verhalten. Fragender: Könnte man demnach sagen, daß der Begriff Logos auch durch »Dialog« und durch »Argument bzw. These im Dialog« erläutert werden kann? Ja, könnte man noch weitergehen und dort, wo der frühe Platon logos sagt – etwa in der frühen Schrift »Kriton«, in der Platon seinen Lehrer Sokrates ja noch recht unverfälscht zu Wort kommen läßt – nun auch entsprechend übersetzen und behaupten, das sei die, richtige Übersetzung? Böhler: Da sollte man vorsichtig sein. Das würde ich nicht so sehr als eine philologisch richtige Übersetzung bezeichnen, wohl aber als eine philosophisch richtige Erläuterung von logos. Und oft kann ja, wie Ernst Bloch zu sagen pflegte, philosophisch richtig sein, was philologisch falsch ist. Fragender: Das verstehe ich nicht. 99 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Böhler: Nun, Blochs Bemerkung meint nicht mehr und nicht weniger als dieses: Eine immanent historische und eine immanent philologische Forschung kann uns – im Idealfall – zu dem ursprünglich gemeinten Sinn des Autors oder dem Selbstverständnis der handelnden Person zurückführen; aber wer sagt uns, daß die historischen Gestalten ein hinreichendes Bewußtsein von dem, was sie taten und sagten, schon erworben hatten? Wer sagt uns, daß sie dieses zureichende Bewußtsein dem geschichtlichen Kontext, in den sie als unmittelbar Beteiligte gewissermaßen verstrickt waren, überhaupt ein solches zureichendes Bewußtsein erwerben konnten ? Es ist dann die Aufgabe der Späteren, das herauszuholen, nämlich zu erläutern, zu explizieren, was die historischen Gestalten nur unterstellt haben, ohne sich diese Unterstellung klarzumachen oder auf dem Niveau ihrer Zeit klarmachen zu können. Fragender: Das ist einsichtig. Wie lautet nun der Logos-Grundsatz des Sokrates? Böhler: Das veranschaulicht uns der Anfang des Dialogs »Kriton«. Sokrates ist zum Tode verurteilt und wartet in der Gefängniszelle auf seine Hinrichtung. Er hat noch eine Galgenfrist, die er zur Flucht benutzen kann. Wer einflußreiche Freunde oder selbst genug Geld hatte, pflegte sich durch Bestechung und Flucht der Hinrichtung zu entziehen. In dieser Situation kommt sein alter Freund Kriton und berichtet ihm, daß alles zur Flucht vorbereitet sei und auch in vielen anderen griechischen Städten genug Gastfreunde darauf warteten, ihm Asyl zu geben. Zudem sei es, sagt Kriton, moralisch geboten, zu fliehen, damit er seine Kinder aufziehen und ausbilden könne, statt sie zu Waisen zu machen. Sokrates antwortet: Zitator - Sokrates: »Deine Sorge um mich, lieber Kriton, ist viel wert, wenn sie nur einigermaßen mit dem Richtigen bestehen könnte; wenn aber nicht, so ist sie um so peinlicher, je dringlicher sie ist. Wir müssen also erwägen, ob dies wirklich tunlich ist oder nicht. Denn nicht jetzt nur, sondern schon immer habe ich ja das an mir, daß ich nichts anderem von mir gehorche als dem logos, der sich mir bei der Erwägung als der beste gezeigt hat. Das also, was ich schon früher in meinen Reden festgesetzt habe, kann ich ja nun nicht verwerfen, weil mir dies Schicksal geworden ist; sondern jene Reden erscheinen mir noch als ganz dieselben, und ich schätze und ehre sie noch ebenso wie vorher. Wenn wir also jetzt nicht bessere vorzubringen haben, so wisse nur, daß ich dir nicht nachgeben werde, mag auch die Macht der Menge noch mehr, als es schon geschieht, um uns wie Kinder einzuschüchtern, Gefangenschaft, Tod und Verlust des Vermögens auf uns loslassen. Wie können wir also dies 100 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 recht zu unserer Befriedigung untersuchen? Wenn wir zunächst jene Thesen wieder aufnehmen, die du über die Meinungen der Leute aufstellst, und fragen, ob es wohl für jeden Fall richtig sei oder nicht, daß man auf einige Meinungen zwar achten müsse, auf andere aber nicht, oder ob es zwar, bevor ich sterben sollte, richtig war, während nun offenbar geworden ist, daß es nur so obenhin der Unterhaltung wegen gesagt und in Wahrheit nichts war als ein Scherz und müßiges Geschwätz. Ich meinesteils habe Lust, Kriton, dies mit dir gemeinschaftlich zu untersuchen: ob mir diese These jetzt wohl anders erscheinen wird, nun es so mit mir steht, oder noch ebenso; und demgemäß wollen wir sie entweder beiseite lassen oder ihr folgen. So aber, glaube ich, wurde sonst immer von denen behauptet, die etwas Rechtes zu sagen meinten, wie ich jetzt eben sagte, daß von den Meinungen, welche die Menschen hegen, man einige zwar sehr hoch achten müsse, andere aber nicht. Sprich nun, Kriton, bei den Göttern, dünkt dich dies nicht gut gesagt zu sein? Denn du hast doch menschlichen Ermessens nach nicht damit zu rechnen, morgen sterben zu müssen, und das vorliegende Mißgeschick sollte dich nicht irreleiten. Erwäge also: Scheint dir die These nicht richtig, daß man nicht alle Meinungen der Menschen beachten muß, sondern nur einige, andere aber nicht? Was meinst du? Ist das nicht gut gesagt? Zitator - Kriton: O ja. Sokrates: Und nicht wahr, die guten Meinungen soll man beachten, die schlechten nicht? Kriton: Ja. Sokrates: Und die guten, sind das nicht die der Vernünftigen, die schlechten aber die der Unvernünftigen? Kriton: Wie anders?«131 7.4 Wechselseitige Voraussetzung von Gewissen und unbegrenzter Argumentationsgemeinschaft Fragender: Das ist eine eindrucksvolle Argumentation. Hier zeigt sich Sokrates von einer anderen Seite – jedenfalls von einer anderen Seite, als man ihn oft kennenlernt. Böhler: So? Wie meinen Sie das? 131 Platon, Kriton, 46b-47a (Hervorhebungen D. B.) 101 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Fragender: Oft wird doch Sokrates in den Kontext –nämlich vor allem im Zusammenhang einer Gesinnungsethik als Ethik der Gewissensentscheidung gestellt. So hat Karl-Otto Apel die These vertreten, »daß Sokrates sich gegenüber allen institutionellen Autoritäten der konventionellen Moral auf die innere Stimme des > Daimonion< als letzte Entscheidungsinstanz beruft« und daß er daher als »einer der ersten Vertreter von Kohlbergs Stufe 6 des moralischen Bewußtseins«, und zwar hinsichtlich der »Orientierung am Gewissen«, angesehen werden könne. Verstehen Sie Sokrates nicht als Gewissensethiker? Böhler: Die neuzeitliche Gewissensethik, die vor allem auf der christlichen Aneignung des stoischen Gewissensbegriffs beruht, ist eine Individualethik, eine Ethik der moralisch autonomen Person. Sie bezieht sich, wie Hegel sagte, »auf die Innerlichkeit des Gewissens«. In diesem Sinne können wir Sokrates noch nicht einen Gewissensethiker nennen. Sein Daimonion ist nicht das, was wir in der christlichen Tradition als die personale Instanz des Gewissens verstehen. Freilich konnte Sokrates innerhalb der christlichen Tradition, vor allem im Humanismus und im Deutschen Idealismus, in diesem Sinne aktualisiert werden, und hat dann auch als Vorbild einer Gewissensethik gewirkt. Und die Wirkungsgeschichte läßt sich von einem Denken nicht abtrennen, weil ein vergangenes Denken nur durch das Aktualisierungsinteresse der Späteren zur Sprache gebracht werden kann. Aber gewiß ist diese, gleichsam im kantischen Geist der Gesinnungsethik gehaltene, Sokrates-Deutung historisch fragwürdig. Fragender: Liegt in dieser neuzeitlichen Vorstellung des >personalen Gewissens< nicht genau jenes Problem verborgen, von dem wir bereits zu Beginn sprachen: Gilt die Berufung auf das Gewissen als Anrufung einer letzten, nicht mehr hintergehbaren Instanz, dann entzieht man sich dadurch ja rationaler, und d. h. intersubjektiver Kritik und Prüfung. Böhler: In der Tat. Und es sind – von der Romantik bis zum Existentialismus und dessen politischen Wirkung, etwa in der deutschen Diskussion und Gesetzgebung über das Recht einer Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen – sind immer wieder Stimmen laut geworden, die das Gewissen offenbar als ein heiliges dunkles Wesen verstehen, in das man nicht hineinleuchten könne und dürfe. Noch am 25. Juni 1980, in einer besonders wichtigen Debatte um eine Reform der westdeutschen Prüfungsinstitution von Amtsträgern auf 102 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Anerkennung als Wehrdienstverweigerer132, begründete der sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete Egon Lutz \ seine Bedenken gegen eine Gewissensprüfung der Kriegsdienstverweigerer mit dem Argument, das Gewissen eines Menschen sei überhaupt nicht prüfbar. Im Protokoll des Deutschen Bundestages lesen wir: Zitator I: »Vizepräsident Frau Renger: Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lutz.‹‹ Zitatator II: MdB Egon Lutz: »Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute ist über ein Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Kriegsdienstverweigerung zu befinden. Die Mehrheit meiner Fraktion und die FDP versprechen sich von der Verabschiedung dieses Gesetzes spürbare Verbesserungen für den jungen Menschen. Einige Freunde und ich können diese Auffassung nicht teilen. ... Hauptpunkt unserer Kritik ist die Tatsache, daß auch weiterhin an dem unmöglichen Institut der Gewissensprüfung festgehalten wird. Dabei wissen wir alle – und dies nicht nur aus dem Anhörungsverfahren -, daß man ein Gewissen nicht prüfen kann. ... Die Vertreter beider Kirchen haben uns in eindringlichen Worten klargemacht, daß man ein Gewissen nicht prüfen kann. Allenfalls, so meinten sie, könne man die Ernsthaftigkeit einer Gewissensentscheidung erkennen. Selbst dies erscheint mir fraglich.«133 Böhler: Nun sind wir mit einem Salto morale in die politische Zeitgeschichte gesprungen – aber nicht ohne sachliche Berechtigung. Denn die Privatisierung der Moral, die das moralische Urteil als nicht rational prüfbar ansieht, ist eine zweischneidige Angelegenheit. Schon Hegel hat das bedacht. In der »Rechtsphilosophie« betont er, daß das Gewissen immer dann, wenn es nur eine »formelle Subjektivität« sei, sich auf dem Sprunge befinde, »ins Böse umzuschlagen« – nämlich in eine bloße selbstgenügsame Behauptung des Ich- Willens, die den moralischen Dialog abbricht. Schärfer noch kritisiert Hegel den Abbruch der moralischen Argumentation durch Berufung auf die innere Stimme des Gewissens in der Vorrede zur »Phänomenologie des Geistes«: Dort sagt er, daß in der Moderne der gesunde Menschenverstand sich naiv auf sein Inneres, auf das Gewissen, berufe und meine, dagegen könne keine Einrede stattfinden. 132 Nach dem sogenannten Postkartenurteil des Bundesverfassungsgerichts vom # wann?## hat diese Reform, die zur Abschaffung der bisherigen Verhandlungen zur Gewissensprüfung führte, ## wann? # ihren Abschluß gefunden. 133 Deutscher Bundestag, 229. Sitzung 3. Juli 1980. Plenarprotokoll 8/229, S.18673. 103 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Zitator: Indem der gemeine Menschenverstand »sich auf das Gefühl, sein inwendiges Orakel, beruft, ist er gegen den, der nicht übereinstimmt, fertig; er muß erklären, daß er dem weiter nichts zu sagen habe, der nicht dasselbe in sich finde und fühle; mit anderen Worten, er tritt die Wurzel der Humanität mit Füßen. Denn die Natur dieser ist, auf die Übereinkunft mit anderen zu dringen, und ihre Existenz (ist) nur in der zustande gebrachten Gemeinsamkeit der Bewußtsein(e). Das Widermenschliche besteht darin, im Gefühle stehen zu bleiben und nur durch dieses sich mitteilen zu können.«134 Fragender: Wenn es aber die Natur der Humanität ist, auf Übereinkunft mit anderen zu dringen, müßte man dann nicht die Idee und den Begriff des Gewissens letztlich fallen lassen und durch die Idee der, auf Übereinkunft und also auf Verständigung bezogenen, Argumentationsgemeinschaft ersetzen? Böhler: Soweit würde ich auf keinen Fall gehen. Und diesen Vorschlag können auch Sie, insofern Sie argumentieren und sich Ihre Rolle als argumentierender Diskurspartner bewußt machen, nicht ohne Selbstwiderspruch durchhalten. Denn einerseits plädieren Sie für die Anerkennung der Instanz einer unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft, andererseits aber zielt Ihr Vorschlag darauf ab, die Träger dieser Gemeinschaft, nämlich die moralischen Personen, die als moralische Personen für sich ein Gewissen beanspruchen, von vornherein dieses Anspruchs zu berauben. Dadurch würden Sie jeden Menschen, insofern er moralisch argumentiert und insofern er sich als moralisch Argumentierender eben Urteilsfähigkeit und damit Gewissen unterstellt, von vornherein Lügen strafen und ihn moralisch entmündigen. Wenn Sie aber den Anspruch des Einzelnen auf Gewissen und damit auf moralische Urteilsfähigkeit nicht anerkennen, wenn Sie also nicht zugestehen, daß sich jedermann die moralische Urteilsfähigkeit zutrauen darf, dann – das wäre die Konsequenz – berauben Sie die Idee der Argumentationsgemeinschaft ihrer Basis. Ja, Sie können einen moralisch argumentierenden Dialog überhaupt nicht mehr denken. Denn ein solcher Dialog kann ja erst zustande kommen, wenn Menschen jenen Anspruch auf Gewissen und moralische Urteilsfähigkeit erheben, wenn ferner andere Menschen diesen Anspruch anerkennen und 134 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes. In: Werke in zwanzig Bänden, hrsg. von E. Moldenhauer und K. M. Michael, Frankfurt 1970 Bd. 3, S. 64f. 104 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 wenn sich schließlich beide Seiten daran begeben, die Berechtigung dieses Anspruchs in einem konkreten Fall zu prüfen. Fragender: Das leuchtet ein. Aber nun bin ich ganz verwirrt. Wollen Sie etwa den Sokrates mit mir spielen, der seine Gesprächspartner, die das Gute und die Tugenden zu wissen meinen, so verwirrt, daß sie am Ende nicht mehr ein und aus wissen ? Böhler: Nein, wir sind ja als Gleichberechtigte in einen verständigungsorientierten Dialog eingetreten. Keiner will hier den anderen sprachlos machen oder gar verwirren. Das entspräche nicht einem philosophischen Diskurs, der in Hegels Sinne die ideale Humanität zur Existenz bringen will. Außerdem scheint mir, daß wir einer Lösung ziemlich nahe sind. Denn es geht gar nicht darum, die vernünftige Argumentationsgemeinschaft gegen das Gewissen und damit gegen die moralische Person auszuspielen. Das würde, wie wir gesehen haben, zur Zerstörung der Basis der Argumentationsgemeinschaft selbst führen. Fragender: Gut, das würde ich Ihnen ja jetzt zugestehen. Aber ist es nicht umgekehrt auch so, daß es selbstwidersprüchlich wäre, die Idee der moralischen Person oder des Gewissens gegen die Idee der vernünftigen Argumentationsgemeinschaft auszuspielen ? Böhler: In der Tat. Die beiden Begriffe bzw. Ideen setzen sich wechselseitig voraus. Und sie sind jeweils ohne den anderen nicht schlüssig denkbar. Wer den einen ohne den anderen denkt, der verwickelt sich in Widersprüche. Deshalb heißt mein fünfter Letztmaßstab bzw. leitender Gesichtspunkt: Eine Bedingung für den Sinn und das Gelingen praktischer Behauptungen ist es, daß man die wechselseitige Voraussetzung von Gewissen und vernünftiger, letztlich idealer, Dialog – und Argumentationsgemeinschaft anerkennt und beachtet. 7.5 Sinnkriterium der pragmatischen Widerspruchsfreiheit versus moralischer Subjektivismus oder Institutionalismus Fragender: Aber müßte man nicht noch hinzufügen: Außerdem ist zu beachten, daß die Idee der vernünftigen Argumentationsgemeinschaft der letzte Geltungsmaßstab ist und nicht etwa eine private Gewißheit? Und lassen Sie mich noch einen Schritt weitergehen und behaupten: dieser Zusatz gilt auch für theoretische Behauptungen und für die individuellen Gewißheiten eines Forschers bei theoretischen Problemen. 105 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Böhler: So ist es. Als eigentlicher Geltungsmaßstab, als Kriterium für die Geltung aus Gründen, kommt letztlich weder mein Gewissen noch meine theoretische Gewißheit in Frage, sondern nur die Idee der unbegrenzten Gemeinschaft aller vernunftfähigen Argumentierenden. Dann aber ist auch der Gewissensentscheid eines Einzelnen geltungsmäßig nicht das Letzte, sondern durchaus hintergehbar. Wie sehr man in einer persönlichen Entscheidungssituation oder im Falle des einsamen Entschlusses eines Staatsmannes mit sich selber allein sein mag und mit sich alleine einen Gewissensdiskurs durchführen muß, so erhebt man doch, wenn man sich auf das Gewissen beruft, den Anspruch, das Gute zu suchen und zu finden bzw. das richtige Urteil über eine eigene schon vollzogene Handlung gefällt zu haben. Dieser Anspruch auf das Gute und Richtige weist aber immer über den Einzelnen hinaus. Er läßt sich nämlich überhaupt nur als eine Behauptung verstehen, eine Behauptung aber ist eine dialogische Argumentationshandlung. Diese Argumentationshandlung hat folgende Form: Zitator: »Ich behaupte hiermit gegenüber dir oder mir und letztlich gegenüber allen möglichen Argumentierenden, daß dasjenige, was ich jetzt inhaltlich sagen werde, gilt.« Mit anderen Worten: »Ich behaupte, gegenüber der Argumentationsgemeinschaft, daß die Aussage, die ich jetzt machen werde, so beschaffen ist, daß sie der Prüfung durch alle sachkundigen Zweifler, die sich an die Argumentationsregeln halten, standhalten und daher in der unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft als gültig anerkannt werden würde.« Böhler: Nun gibt es viele Sätze und ganze Abhandlungen, ja, ganze philosophische Werke, die mit diesem Geltungsanspruch, den sie, zumeist unausdrücklich, selber erheben, in Widerspruch geraten, weil sie, auf der inhaltlichen Ebene der Aussagen, Thesen vertreten, die mit jenem Anspruch unverträglich sind. Wenn das der Fall ist, haben wir, wie ich sagen möchte, eine pragmatische Inkonsistenz vor uns: Fragender: Weshalb sprechen Sie von einer pragmatischen Inkonsistenz? Ich kenne nur logische Inkonsistenzen, nämlich Widersprüche zwischen zwei oder mehreren Sätzen, zwischen Aussagen also. Das aber ist das Thema der formalen Logik. Böhler: Ja, es geht mir aber nicht um formallogische Widersprüche, um Widersprüche in einem Ableitungszusammenhange von Sätzen aus Obersätzen. Mir geht es hier um eine philosophische Pragmatik, eine transzendentale Pragmatik des Diskurses, wenn Sie so wollen. Nämlich um eine Besinnung darauf, was man beachten muß und was man schon als gültig bzw. verbindlich voraussetzt, wenn man argumentiert. 106 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Fragender: Und was wäre zu beachten? Böhler: Was man zuerst beachten muß, ist, daß eine Entsprechung zwischen dem eigentlichen Behauptungsakt und der als gültig behaupteten Aussage hergestellt wird. Diese Entsprechung nenne ich pragmatische Konsistenz oder Widerspruchsfreiheit. Ist sie aber nicht gegeben, dann liegt eine pragmatische Inkonsistenz vor. In diesem pragmatischen Kriterium sehe ich übrigens den sechsten leitenden Gesichtspunkt einer philosophischen Geltungsprüfung von Behauptungen und damit auch von jenen Behauptungen, die in der Ethikgeschichte aufgestellt worden sind. Fragender: Ist dieser sechste Maßstab, also die Forderung nach pragmatischer Konsistenz bzw. Widerspruchsfreiheit, nicht eine Antwort auf die Leitfrage des praktischphilosophischen Diskurses? Auf die Frage also „Welche Bedingungen müssen praktische Behauptungen erfüllen, damit sie überhaupt Sinn geben und als Argumentationshandlungen gelingen können?“ Böhler: Ja, die Argumentationsnorm der pragmatischen Konsistenz oder performativen Widerspruchsfreiheit ist eine Antwort auf diese Frage. Aber sie gilt nicht nur für praktische Behauptungen, sondern für alle Behauptungen – auch für theoretische. Fragender: Ich möchte auf das Thema »Gewissen« zurückkommen, um mir diese Überlegung ganz klarzumachen. Wenden wir doch unser Kriterium der pragmatischen Konsistenz auf die Gewissensthese an! Was folgte daraus für eine Behauptung wie: »Mein je eigenes Gewissen ist die letzte moralische Instanz?« Oder was folgte daraus für die These, daß die gewissensmäßige Selbstaufforderung »praktisch unhintergehbar« ist, wie viele meinen? Böhler: Wenn »letzte moralische Instanz« soviel bedeuten soll wie »letzte Instanz für die Geltung einer Handlung oder eines Vorschlags als praktisch verbindlich bzw. verpflichtend«, dann würden wir ja folgende Behauptung vor uns haben: Zitator: »Ich behaupte und erhebe damit als Argumentierender gegenüber allen möglichen anderen Argumentierenden den Anspruch, daß die folgende These einer Prüfung in der unendlichen Argumentationsgemeinschaft standhalten kann – nämlich die These >Mein je eigenes Gewissen ist die letzte Instanz für die Geltung moralischer Urteile<.« 107 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Böhler: >...und also nicht die ideale Argumentationsgemeinschaft< – so ließe sich die These fortsetzen. Im Behauptungsakt selbst wendet sich unser Gewissensethiker an die ideale Argumentationsgemeinschaft und erkennt sie eben damit als letzte Instanz für die Geltungsprüfung seiner These an. Aber in der behaupteten Aussage, in der These »mein eigenes Gewissen ist die letzte moralische Instanz«, bestreitet er ja implizit, daß die ideale Argumentationsgemeinschaft die letzte Geltungsinstanz sei. Fragender: Der pragmatische Widerspruch liegt hier also darin, daß der Gewissensethiker mit seiner These gerade den Gegenstand seiner Behauptung, nämlich den Maßstab für »moralisch« bzw. »unmoralisch«, der Prüfung durch die unbegrenzte Argumentationsgemeinschaft entzieht, weil er sich auf sein je eigenes Gewissen zurückzieht und damit aus der Kommunikation ausscheidet. Böhler: Und dasselbe würde für die These der praktischen Unhintergehbarkeit meiner je eigenen gewissensmäßigen Selbstaufforderung gelten. Denn wenn ich diese These als Argumentierender vertrete, dann habe ich ja bereits meine . eigene Selbstaufforderung insofern überschritten, als ich mich an die ideale Argumentationsgemeinschaft gewandt habe. Diese Besinnung auf die notwendigen Voraussetzungen des Argumentierens erinnert an die dialektischen Analysen Hegels in der Rechtsphilosophie. Dort heißt es: Zitator: »Das wahrhafte Gewissen ist die Gesinnung: das, was an und für sich gut ist, zu wollen. (...) Ob aber das Gewissen eines bestimmten Individuums dieser Idee des Gewissens gemäß ist, ob das, was es für gut hält oder ausgibt, auch : wirklich gut ist, dies erkennt sich allein aus dem Inhalt dieses Gutseinsollenden. ( ...) Das Gewissen ist daher (...dem) Urteil unterworfen, ob es wahrhaft ist oder nicht, und seine Berufung nur auf sein Selbst ist unmittelbar dem entgegen, was es sein will, (nämlich) die Regel einer vernünftigen, an und für sich gültigen allgemeinen Handlungsweise.« Böhler: So weit, so gut. Aber hieran schließt Hegel, in Form einer Folgerung einen Gedanken an, den er nicht als, Folgerung aus seiner Erörterung des Verhältnisses von allgemeinem Anspruch und besonderer Realität des Gewissens, ableiten kann. Er fährt nämlich unvermittelt fort: 108 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Zitator: »Der Staat kann deswegen das Gewissen in seiner eigentümlichen Form, das ist als subjektives Wissen, nicht anerkennen, so wenig als in der Wissenschaft die subjektive: Meinung, die Versicherung und Berufung auf eine subjektive, Meinung, eine Gültigkeit hat.«135 Fragender: Ist diese Folgerung nicht typisch für Hegel als preußischer Staatsphilosophen? Allgemein gefragt: Kann man sie wirklich als Philosoph ziehen und als Diskurspartner verteidigen? Müßten die Philosophierenden als solche nicht streng unterscheiden zwischen der realen politischen Gemeinschaft von Menschen in einem, auf positivem Recht gegründeten, Staatswesen und einer idealen Vernunftgemeischaft von Menschen als praktisch Argumentierender, die sich allein auf dialogische Normen gründet? Böhler: Genau. Mit dieser Unterscheidung steht und fällt eine praktische Philosophie. Durch diese wird sie kritisch. Ohne diese verfällt sie nicht allein der Kritikunfähigkeit und dem Konformismus, sondern öffnet einer Staats- bzw. Machtmetaphysik Tor und Tür. Unversehens erhebt man dann, wie Hegel es in seiner Rechtsphilosophie tatsächlich getan hat, den Staat selbst zur moralischen Instanz, und zwar zur letzten moralischen Instanz; dann aber erkennt man nichts mehr an, worauf man sich berufen" kann, um an der politischen Gemeinschaft und Rechtsgemeinschaft eines jeweils geschichtlich gegebenen Staates überhaupt noch Kritik zu üben. Der Staat wird dann zum Vertreter Gottes oder jedenfalls der Sittlichkeit schlechthin. Fragender: Mir scheint, daß Hegel damit in gefährliche Nähe zum absolutistischen Ordnungs- und Friedensstaat des Thomas Hobbes kommt, der um des Bürgerfriedens willen, um der Vermeidung von konfessionellen und weltanschaulichen Bürgerkriegen willen, dem Staat die Weihe des sterblichen Gottes verlieh, gegenüber dem man sich nicht auf sein Gewissen berufen dürfe. Nun hat aber der moderne politische Staat, der bürgerlich revolutionierte Staat, gerade diese Gewissensfreiheit als Menschenrecht anerkannt. Böhler: Ja. Und er hat damit auch die praktische Vernunft des Diskurses freigegeben und hat sie als die höhere Instanz anerkannt. Denn der bürgerlich-demokratische Staat behauptet ja nicht »die praktische Vernunft – das bin ich«. Vielmehr legt er sich darauf fest, daß er nur anerkennungswürdig ist, insofern er politischen Ansprüchen der praktischen Vernunft gerecht 135 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, aaO. Bd. 7, S. 254 f. (§ 137). 109 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 wird – insofern er etwa einerseits die freie Öffentlichkeit und damit die Freiheit der Kommunikation und andererseits die Gewissensfreiheit des Einzelnen als Menschenrecht bzw. Grundrecht anerkennt. So heißt es im fünften Artikel des »Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland« Zitator: »Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet.« Böhler: Und der Artikel 4 des Grundgesetzes lautet: Zitator: »(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. (2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet. (3) Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.« Fragender: Da sind wir wieder bei der Gewissensprüfung der Kriegsdienstverweigerer angelangt. Würden Sie diese am Ende ebenso ablehnen wie seinerzeit der Abgeordnete Egon Lutz und die Hälfte seiner Fraktion? Böhler: Wenn man staatliche Behörden und vom Staat eingesetzte Untersuchungsausschüsse nicht mit der freien und letztlich sowohl zeitlich als auch personal unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft, also mit der idealen Vernunftgemeinschaft, verwechselt, dann gibt es keine praktisch vernünftige Begründung für eine Gewissensprüfung der Kriegsdienstverweigerer. Bedenken Sie nur, daß ein Ausschuß zur Prüfung der Anträge auf Anerkennung der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen unter Zeitdruck seine Entscheidung fällen muß und daß er keineswegs eine reine Argumentationssituation unter gleichberechtigten Dialogpartnern, die alle nichts als das beste argument suchten, ermöglicht, geschweige denn sicherstellt. Bedenken Sie nur, wie unterschiedlich einerseits die Fähigkeiten der Betroffenen sind, ihre Gründe als Argumente vorzubringen, und wie unterschiedlich andererseits die Maßstäbe der Prüfer dafür sein können, was sie als Gewissensgründe anerkennen und was nicht. Bedenken Sie nicht zuletzt die Gefahr einer 110 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Gesinnungsschnüffelei im Lebenslauf der zu Prüfenden – und das könnte ja bis zu Anfragen an den Verfassungsschutz gehen. So pointierte der Abgeordnete Lutz mit Recht: Zitator: »Wir alle wissen aus der täglichen Spruchpraxis der Prüfungsausschüsse, daß es immer wieder zu unerträglichen Entscheidungen kommt. Ja, wir wissen, daß es ein pures Spiel mit dem Zufall ist, ob die Gewissensentscheidung des jungen Menschen nun die Billigung des Ausschusses findet oder nicht.«136 Böhler: Zudem hat eben eine staatliche Behörde als staatliche Behörde keineswegs die Geltungskraft und die sittliche Würde, die wir in Anspruch nehmen und uns unterstellen, wenn wir uns auf unser Gewissen berufen, und die der idealen Vernunftgemeinschaft aller moralisch Argumentierenden wahrhaft zukommt. Es ist interessant, daß viele Kriegsdienstverweigerer und in gewisser Weise auch der zitierte Abgeordnete Lutz letztlich in diesem Sinne gegen die Institution der Prüfungsausschüsse protestiert haben. Jedenfalls können ihre Argumente in diesem Sinne philosophisch begründet werden. Fragender: Wenn ich mir nun Ihre Antwort auf meine Frage nach den leitenden Gesichtspunkten bzw. Maßstäben, an denen Sie die Entwicklung der Ethik beurteilen wollen, noch einmal vor Augen führe, dann scheint es mir, daß sie jetzt vor allem Ihren zweiten leitenden Gesichtspunkt begründet und auf ein praktisches Beispiel, nämlich die Kriegsdienstverweigerung, angewandt hatten. Böhler: Sie meinen die Anerkennung der kritischen Spannung zwischen einer realen politischen und rechtlichen Gemeinschaft einerseits und der idealen Argumentations- und Vernunftgemeinschaft andererseits? Fragender: Ja. 136 A.a.O., S. 18674. Vgl. E. Lutz, aaO., S.18674: »Die Ausschüsse sind bei Vorrang des schriftlichen Verfahrens gehalten, alle ihnen notwendig erscheinenden Beweise zu erheben. Es ist nicht auszuschließen, daß wildgewordene Prüfungsausschüsse künftig fröhlich Beweis erheben: beim Jugendamt, in den Schulen, bei der Polizei, beim Verfassungsschutz und sonstwo. Der Bund könnte eine solche exzessive Erhebungsmethode nicht einmal stoppen, denn die Ausschüsse sind an Weisungen nicht gebunden. Ich weiß nicht, ob wir eine solche neue Möglichkeit der Gesinnungsschnüffelei auch nur andeutungsweise zulassen dürfen.« 111 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Böhler: Gut. Aber unsere Argumentation konnten wir nur durchführen, weil wir zugleich auch von den anderen leitenden Gesichtspunkten Gebrauch gemacht haben. Nämlich von dem Logos- bzw. Diskurs-Grundsatz, ferner von der zwiefachen Sprachlichkeit des Denkens, also auch der einsamen Gewissensentscheidung, sodann von dem wechselseitigen Verhältnis zwischen Gewissen und Argumentationsgemeinschaft als letztem Geltungsmaßstab, und schließlich von der Norm der pragmatischen Konsistenz einer Argumentationshandlung. So sind wir zu dem Ergebnis gekommen, daß das Gewissen nicht institutionell bzw. politisch hintergangen werden darf, daß es aber hinsichtlich der Geltung von praktischen Urteilen sehr wohl überschritten werden darf, ja, daß es gewissermaßen selbst über sich hinausverweist auf die Geltungsinstanz der idealen Vernunftgemeinschaft oder Argumentationsgemeinschaft. Im Prinzip ist das Gewissen prüfbar. Eine solche Prüfung nimmt das Gewissen nur bei seinem Anspruch, »das, was an und für sich gut ist, zu wollen«, wie Hegel sagt. Aber eine rationale Prüfung dieses Anspruchs ist nicht unter Entscheidungszwang, unter Zeitdruck und den anderen fehlerproduzierenden Bedingungen möglich, die in einem staatlichen Verfahren nun einmal unvermeidbar sind. Eine strikt rationale Prüfung ist nur in einem rein argumentativen Dialog möglich, in dem nichts zählt als – wie Habermas sagt – der eigentümlich zwanglose Zwang des besten Arguments. 8 Sind Allgemeingültigkeit und Verbindlichkeit nach der pragmatischhermeneutischen Wende möglich? Karl-Otto Apels Ansatz diskurspragmatisch und dialogreflexiv rekonstruiert Gewöhnlich nehmen wir in der Alltagskommunikation, aber auch in der Forschung, eine sachbezogene und inhaltskonzentrierte Perspektive ein, indem über etwas gesprochen wird. Ob man etwas nun betrachtet oder beschreibt, analysiert oder erörtert, stets macht man in der dritten grammatischen Person („er“, „sie“, „es“) Aussagen über ein Thema. Diese Konzentration auf das in Rede stehende Thema, auf das Worüber der Rede und den Aussagegehalt ihrer Sätze, läßt sich mit einem Terminus der pragmatisch linguistischen Wende, die Karl-Otto Apel in Form einer „Transformation“ der (Transzendental-) Philosophie 112 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 vollzieht, als semantische Beziehung zwischen einem Verwender sprachlicher Zeichen und den davon bezeichneten bzw. besprochenen Themen charakterisieren. 8.1 Das Apriori der realen Kommunikationsgemeinschaft So sehr es im Zeichen einer sprachpragmatischen Transformation der Philosophie naheliegt, die semantische Beziehung als getragen von sprachlicher Kommunikation oder direkt als ein Stück dieser zu beschreiben, so ferne lag das dem Selbstverständnis und dem methodologischen Ausgangspunkt der philosophischen Tradition, bis hoch in das zwanzigste Jahrhundert. Gleich, ob empiristisch oder rationalistisch oder transzendentalphilosophisch orientiert, die Philosophen unterstellten oder konzipierten die wahrheitsfähige „Aussage“ als eine im Prinzip kommunikationsunabhängige, im Grunde einsam wahrnehmbare, Beziehung: ein ‚Ich‘ denkt über die Welt nach, es versteht und erkennt die Welt, ohne dabei auf Kommunikation mit anderen angewiesen zu sein. Unterstellt oder auch behauptet wird von Descartes über Kant bis Husserl einerseits, von Hume, Locke und der empiristischen Linie andererseits, daß einer schon für sich alleine Sinn und Bedeutung haben, Wahrheit und Richtigkeit finden kann. Ja, vielfach wurde diese transzendentale Einsamkeit und Autarkie logisch und emanzipatorisch überhöht, indem man in ihr eine notwendige Bedingung für die Freiheit von Vorurteilen, von Autoritätsabhängigkeit usw. sah: transzendentale Einsamkeit oder methodischer Solipsismus als Basis des autonomen Urteils. Der von dem „Man“ emanzipierte, der mündige Wissenschaftler, der redliche Selbstdenker sei der methodisch einsame Denker. Dem hält Karl-Otto Apel ein zweifaches „Apriori der Kommunikationsgemeinschaft“ entgegen. Erstens gelte: Damit sich einer auch nur auf etwas als etwas Bestimmtes, als etwas mit Sinn und Bedeutung, beziehen könne, sei er auf eine Sprach- und Erfahrungsgemeinschaft angewiesen, die ihm Wortgebrauch und grammatische Regeln vorgibt. Die römischitalienisch-humboldtsche Linie des Sprachhumanismus auf den Begriff bringend,137 zudem Argumente von Ch. S. Peirce, Wittgenstein und Heidegger ausarbeitend,138 führt Apel zunächst das Apriori der realen Sprach- und Kommunikationsgemeinschaft als Voraussetzung für Sinn und Bedeutung ein. Einer allein würde nichts verstehen, könnte sich auf gar nichts beziehen – auch nicht auf sich selbst. Nur weil ‚ich’ immer schon eine Kommunikationsgemeinschaft im Rücken habe, kann ‚ich’ Sinn und Sinnhorizont haben. 137 Apel, Sprache. Dazu: Apel, Transformation II, S. 330 ff. und 9 ff. Apel, Peirce; ders., Transformation II, S. 157 ff., S. 178 ff. Zu Wittgenstein: ebenda 28 ff. und ders., Transformation I, S. 225 ff., S. 335 ff.; ders., Sprache, S. 22 ff. Zu Heidegger: Apel, Sprache, S. 52-68; ders., Transformation I, S. 276 ff. und S. 22-52. 138 113 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 23.07.2007 Hinzu komme ein Zweites: Distanz zu Vorurteilen, Unabhängigkeit von ihrer Macht und ein freies, begründetes Urteil, das Anspruch auf Geltung erheben kann, lassen sich nur erarbeiten; und zwar indem man sich auf den Diskurs mit anderen einlasse, anderen Gründe gebe, sich den Fragen und Einwänden anderer aussetze und so in die Gemeinschaft der Argumentierenden eintrete. Und daß wir dazu bereit sind, setzen wir, so Apel, mit jedem Satz voraus. Erheben wir doch mit jedem Satz implizit die Ansprüche auf dessen Verständlichkeit und Geltungsfähigkeit als eines tendenziell öffentlichen, für alle verständlichen und prüfbaren Satzes. Damit überschritten wir den engen geschichtlichen Kontext eines besonderen Auditoriums und einer bestimmten Nationalsprache und träten in das unbegrenzte Universum sinnvoller Rede und prüfbarer Gründe ein. Das aber sei von normativ ethischer Bedeutung. Denn das redende Beanspruchen von Geltung lasse sich nicht etwa (gemäß der Linie Descartes – Kant – Husserl) auf die Selbstidentität des „Ich denke, das alle meine Vorstellungen muß begleiten können“ zurückführen, also auf ein einsames, in transzendentalem Singular angesiedeltes Vernunftsubjekt, sondern es setze den Plural leibhafter und verschiedenartiger Sprecher bzw. Sprecherinnen mit ihren leiblich sinnlich vermittelten Situationsbezügen, Erfahrungen usw. voraus; deshalb kann der frühe Apel (mit Anklängen an Feuerbach, den jungen Marx, an Plessner, Rothacker und Merleau-Ponty) von einem „Leibapriori“ des Verstehens und Erkennens sprechen.139 Auch lasse sich die Pragmatik der Rede, etwa das Geltungbeanspruchen, keinesfalls als pure zweckrationale Angelegenheit verstehen, als ethisch neutrales commercium zwischen Sprechern bzw. Diskursteilnehmern, die zwar als „Inter-Subjekte“ (Niquet)140 eine Kommunikationsfunktion, aber damit keine Verpflichtung untereinander und gar gegenüber abwesenden 141 Anspruchssubjekten eines Diskursuniversums hätten. In einer sich über Jahrzehnte zuspitzenden Kritik jener, nur zu gut mit dem methodischen Solipsismus harmonierenden, Common-sense-Auffassung von Kommunikation und Diskurs, wie sie von Hobbes bis Ilting und immer wieder vertreten wird,142 argumentiert Apel dafür, daß die sprachliche Verständigung und das in sie hineingewobene Denken-Reden a priori ethisch aufgeladen sei. So setze das Erheben eines Geltungsanspruchs die Anerkennung der Anderen als möglicher Versteher und Kritiker je ,meiner‛ Geltungsansprüche voraus, ja – die Anerkennung letztlich aller möglichen Anderen als gleichberechtigter Diskursteilnehmer. Im 139 Apel, Transformation I, S. 25; ders., Transformation II, S. 16 f., S. 96-100, passim; ders. 1963 a. M. Niquet, 1993, S. 148-166. 141 Die neutrale Charakteristik von möglichen Diskursteilnehmern als „Intersubjekten“ statt als Dialogpartnern legt eine solche zweckrationalistische Verkürzung nahe; dazu Böhler 2001b, bes. S. 162-171. 142 Apel, Transformation II, 330 ff., 220 ff.; Ilting 1982, S. 621-648 ; dazu Apels Antwort: Apel, Auseinandersetzungen, S. 221-280. 140 114 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 Zuge einer solchen transzendentalpragmatischen 23.07.2007 Rekonstruktion der Sinn- und Geltungsbedingungen von Diskursen – ich kann hier nur ihre Richtung angeben – lasse sich das Apriori der Argumentation bzw. der unbegrenzbaren oder idealen Argumentationsgemeinschaft als Geltungsbasis und Geltungsinstanz des Denkens bzw. des Diskurses über ein Thema einsehen. Mit dieser Überlegung haben wir bereits die zweite Erkenntnis- und Diskursebene betreten. Wenn man nach Voraussetzungen eines Diskurses fragt, hat man selbst eine höherstufige Einstellung eingenommen: die zum konkreten, themagebundenen Diskurs komplementäre Perspektive einer Erörterung des Diskurses selbst. Es ist die gewissermaßen transzendentale Perspektive dessen, der die internen, pragmatischen Voraussetzungen des Redens im allgemeinen, des Argumentierens im besonderen aufdecken will; ihm geht es um eine pragmatische Rekonstruktion, eine reflexive und explikative Analyse des etwas Denkens und Sagens als eines Vermittelns von Sinn und Beanspruchens von Geltung in bezug auf andere und sich selbst.143 Reflexiv ist die Rekonstruktion nur mittelbar, insofern sie Voraussetzungen aufdeckt, die der Rekonstrukteur bei seiner Arbeit selber in Anspruch nimmt; analytisch verfährt dieser, indem er etwa den Kommunikationszusammenhang „argumentativer Diskurs“ auf seine Präsuppositionen hin analysiert. Explikativ ist dieses Geschäft, weil aufgrund der Analyse eine Praxis in Begriffen erläutert werden kann, die man ohne Analyse nur eingeübterweise – „abgerichtet“ sagt der ehemalige Grundschullehrer Wittgenstein sogar – und gewohnheitsmäßig vollzogen hätte. Man konnte eben sprechen; nun kennt man eine Sprache; zum knowing how kommt ein knowing that hinzu. Indem wir erläutern, was wir tun, wird unsere Praxis bewußter. Wir können nunmehr verstehen, was wir tun, indem wir sagen, wie wir es tun bzw. auch, warum wir es so und nicht anders tun. Insofern kann die Rekonstruktion von der Praxis selbst eingeholt werden. Die Praxis wird reflexiv; genauer: Sie wird in einem höheren Maße reflexiv, als sie es bereits gewesen ist. Denn auf elementare Weise ist jede menschliche Praxis von vornherein reflexiv, weil 144 umgangssprachlichen Verständigung getragen wird. und insofern sie von der Jede gesprochene Sprache aber sei – das arbeitet Apel gegenüber dem logischen Positivismus des frühen Wittgenstein, Russells und Carnaps wie auch gegenüber der undialektischen, nicht bei der Reflexivität der Sprache ansetzenden, Sprachspielpragmatik des späten Wittgenstein heraus145 – in ihrer Struktur 143 Zu Begriff und Verfahren einer (transzendental-)pragmatischen Rekonstruktion: Böhler 1985, bes. S. 19 ff., S. 175 f., Kap. V und VI. 144 Ebenda, Kap. IV und V. 145 Apel, Sprache, S. 31 ff. Ders., Transformation I, S. 247, S. 365-377; ders., Auseinandersetzungen, S. 482 ff.; vgl. Böhler 1985, S. 195 ff. 115 Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007 reflexiv. Die Grammatik der Rede sei geradezu 23.07.2007 ihre performativ-propositionale Selbstbezüglichkeit: etwas sagend bezögen sich die Sprecher auf die Geltungsansprüche ihrer Rede und insofern auf sich selbst, andererseits auf die anderen, zu denen sie sprechen, und indirekt auf alle anderen, mit denen sie eine Sprache teilen können (Apriori der realen Kommunikationsgemeinschaft), bzw. auf all jene, mit denen sie Sinngeltung teilen könnten (Apriori der idealen Argumentationsgemeinschaft). Von dieser elementaren Reflexivität der Sprache geht die transzendentalpragmatische Rekonstruktion der Rede im allgemeinen und der Argumentation im besonderen aus. Indem sie diese hinsichtlich ihrer Voraussetzungen, ihrer sprachlogischen und dialogischen Präsuppositionen, rekonstruiert, macht sie die Diskurspraxis sich selbst durchsichtig, kultiviert deren logisches und ethisches Niveau. Nun können die Teilnehmer an einem Diskurs ihre Rolle besser verstehen und können beispielsweise wissen, was es heißt, Dialogpartner in der Argumentationsgemeinschaft zu sein. Es ereignet sich eine reflexive Bildung und Aufstufung der Praxis als Folge ihrer Rekonstruktion. Der Habilitand Apel spricht mit dem Neuhegelianer Theodor Litt von einer „Selbstaufstufung der Sprache“ und des „Geistes“ (im Hegelschen Sinne). Allerdings kommt die reflexive Selbstaufstufung der Sprache durch eine Rekonstruktion nicht zum Abschluß. Denn diese erfolgt in theoretischer Einstellung, so daß sich hier noch keine reflexive Selbsteinholung des Sprechers in seiner augenblicklichen Rede ergeben kann. Das ist erst auf der dritten Diskurs- und Erkenntnisebene, der einer aktualen sinnkritischen Dialogreflexion, möglich. Doch bevor ich darauf eingehe, erlaube ich mir, auf der zweiten Ebene verharrend, eine Abschweifung in Apels Wissenschaftstheorie. […] Wir brechen die Internet-Präsentation an dieser Stelle ab. Wenn Sie hier weiterlesen und weiter mitdenken möchten, wechseln Sie bitte das Medium und schlagen folgendes Buch auf: D. Böhler: Dialogreflexive Sinnkritik als Kernstück der Transzendentalpragmatik. Karl-Otto Apels Athene im Rücken. In: D. Böhler, M. Kettner und G. Skirbekk (Hg.): Reflexion und Verantwortung. Auseinandersetzungen mit Karl-Otto Apel. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002, S. 15-43. 116