Values and Norms in the Age of Globalisation, Poznań 13-15

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Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
23.07.2007
Dietrich Böhler
Vorlesung Sommer 2007
„Verantwortung, Verstehen und Handeln. Ethikbegründung im Blick auf Hermeneutik
und Pragmatik“, Do 14-16, Hörsaal 2, Rostlaube, Freie Universität, Habelschwerdter Allee
45, Berlin-Dahlem
„Handle so, daß die Wirkungen deiner
Handlung verträglich sind mit der
Permanenz echten menschlichen Lebens
auf Erden.“ Hans Jonas, Das Prinzip
Verantwortung.
Vorgriff auf die Begründungsperspektive der VL
Die Vorlesung wird immer wieder zurückkommen auf die Begründungsperspektive der
Berliner Diskurs- und Verantwortungsethik. Diese besteht letztlich, oder kantisch gesagt: an
ihrem
‚höchsten
Punkt’,
in
der
sokratischen
Konfrontation
einer
These
bzw.
Handlungsorientierung (als Beitrag in einem argumentativen Diskurs) mit der, von ihrem
Vertreter eingenommenen bzw. in Anspruch genommenen Rolle eines glaubwürdigen
Diskurspartners.
Der Rückgang darauf, daß ‚ich’ mich jeweils im argumentativen Dialog für meinen Beitrag
muß verantworten können, vollzieht den Paradigmawechsel von der lebensweltlich und
wissenschaftlich eingeübten theoretischen Einstellung, in der man gegenstandsbezogen über
etwas redet, zu einer ungewohnten aktuell dialogreflexiven Einstellung:
‚Ich’, angesprochen von einem Du, besinne ‚mich’ auf die von mir eingenommene (und von
‚dir’ angemahnte) Rolle, ‚deines’ Argumentationspartners. − Ist das der logische Kern des
Verantwortungsbegriffs und zugleich der Ansatz einer philosophisch elenktischen
Begründung von Verbindlichkeiten?
Vor dem Hintergrund dieser Fragestellung skizziere und diskutiere ich zunächst Aspekte der
Zukunftsverantwortung – in den Vorlesungen (VL) I bis III. Es geht um das SichVerantworten in der globalisierten high-tech-Zivilisation. Ein Diskurs zwischen Hans Jonas,
Karl-Otto Apel und der sokratischen Dialogpragmatik.
Dann stellen wir die Frage nach den internen Voraussetzungen und Kriterien des EtwasVerstehens und des menschlichen Handelns, und zwar im Blick auf die Ansätze der
Hermeneutik und Pragmatik im 20.Jahrhundert – VL IV bis XI.
1
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
23.07.2007
Zum Beschluß frage ich uns als Diskurspartner, d.h. uns, die wir mit Ansprüchen auf Geltung,
also ernsthaft und nach Wahrheit suchend, über Probleme nachdenken. Die abschließende
Frage an uns lautet:
>Wie können wir unser Handeln verantworten, wie unsere Thesen rechtfertigen?< In
theoretischer Distanzierung und in lockerer Anknüpfung an Kants transzendentale
Fragestellung formuliert: >Wie ist eine Selbsteinholung sowohl der Verstehens- und
Handlungssubjekte als auch der Philosophierenden möglich?< Darauf versuchen wir in den
beiden letzten Vorlesungen (XII und XIII) zu antworten.
1. Teil (VL I-III)
Sich-Verantworten in der globalisierten high-tech-Zivilisation.
Ein Diskurs zwischen Hans Jonas, Karl-Otto Apel
und der sokratischen Dialogpragmatik
Als im Jahre 1972 die Industriegesellschaften vom Club of Rome die erste drastische
Warnung vor den ökologischen Langzeitgefahren des quantitativen ökonomischen
Wachstums und den kumulativen Folgeschäden der (damals teils kapitalistischen, teils
staatssozialistischen) technologischen Zivilisation erhielten, fanden sich die Philosophen auf
die neuen Verantwortungsprobleme sehr schlecht vorbereitet. An der New School for Social
Research in New York und an der Universität des Saarlandes waren jedoch zwei, durchaus
komplementäre, Denker bereits dabei, eine Ethik der solidarischen Menschheitsverantwortung
zu entwerfen: Karl-Otto Apel und Hans Jonas, ein rationaler Postkantianer und ein
metaphysischer Postaristoteliker (mit biblisch jüdischer, z. T. kantischer Moralmotivation).
Die Beobachtung, daß „die ganz unbeabsichtigten, aber unausweichlichen Nebenwirkungen“
der technologischen industriellen Zivilisation, etwa „die Verschmutzung der Atmosphäre, der
Gewässer, des Bodens, die Ausraubung der Biosphäre, der ganzen Lebenswelt durch
Überbeanspruchung, durch Ausrottung von Arten“1 unermeßlich sind, führte Jonas zu der
Erkenntnis, daß die Wirkungsmacht des Menschen „nach Maßstäben unserer irdischen
Umwelt ... enorm gestiegen ... und ein Zustand erreicht worden ist, in dem beinahe alles
möglich scheint“2. Daraus erwachse die Einsicht, daß proportional zu dieser Wirkungsmacht
auch die Verantwortung des Menschen größer werde, daß es nunmehr eine Verantwortung für
die Umwelt, für die Zukunft und für die Menschenwürde gebe. Aus dieser Einsicht entstand
1
So Jonas in dem Gespräch „Erkenntnis und Verantwortung“, in: Böhler u. Brune (Hg.), Orientierung und
Verantwortung. Begegnungen und Auseinandersetzungen mit Hans Jonas, Würzburg (Königshausen &
Neumann) 2004 (zit.: Böhler/Brune, 2004), S. 451: „Diese Zeitbombe tickt, während wir einfach so leben,
wie wir es tun als Mitglieder der westlichen technischen Zivilisation, und woran jeder von uns mitwirkt.“ (S.
450)
2
Ebd., S. 452 f.
2
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Jonas’ bescheiden betitelter, aber groß angelegter „Versuch einer Ethik für die technologische
Zivilisation“, das 1978 erschienene „Prinzip Verantwortung“.3
Hans Jonas‘ Denkweg und Karl-Otto Apels kommunikationsbezogene „Transformation der
Philosophie“, 1973 in zwei Bänden vorgelegt, zumal seine transzendentalpragmatische
Rekonstruktion der normativ ethischen Präsuppositionen des Denkens und ihr Resultat,
nämlich die Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft in der Metapraxis des
Argumentierens, sind in je eigener Weise von einer faszinierenden Geistesgegenwart.
Infolgedessen hat die Arbeit an meinem Lehrstuhl und am Berliner Hans Jonas-Zentrum zum
Teil der Auseinandersetzung mit dem intuitionsbezogenen, metaphysischen Denken von
Jonas einerseits und der kommunikationsbezogenen Transzendentalphilosophie Apels
andererseits
gegolten.
Die
sokratische
Diskurspragmatik
und
dialogbezogene
Verantwortungsethik kann Grundgedanken jener beiden komplementären Ansätze präzisieren
und weiterentwickeln. – Soviel zum Hintergrund, vor dem ich hier die Prinzipienfrage
erörtere: >Was heißt und wohin orientiert Verantwortung als Moralprinzip?< So fragend,
diskutieren wir auf der Ebene einer Begründung dessen, was wir im Prinzip tun bzw.
anstreben sollen. Diese ideale Prinzipienebene nenne ich im Anschluß an Apel die Ebene A
der Diskursethik.
Für die Situationsanalyse der technologischen Zivilisation ist es an der Zeit, sich
klarzumachen, daß charakteristische Begriffe, mit denen Öffentlichkeit, Wissenschaft und
Philosophie auf die planetare Selbstgefährdung der Menschheit reagieren, beschönigend und
verfälschend sind. So suggeriert die deutsche Diskussion, daß wir in einer bloßen
„ökologischen Krise“ und eben in einer „Risiko“-Gesellschaft leben. Freilich kann die
hochtechnologische Zivilisation gerade durch ihre Innovationen mehr zerstören, als sich im
Einzelnen prognostizieren und gegenüber künftigen Generationen verantworten läßt. In
diesem Betracht ist sie eher eine Gefahrenzivilisation und Zukunftsgefährdungsgesellschaft.
Scheint es doch ihr Gesetz zu sein, daß sie permanent kumulative Langzeitwirkungen
hervorbringt, welche die Anerkennung des Prinzips Menschenwürde und die Fortdauer
„echten menschlichen Lebens auf Erden“ in Frage stellen. Denn sie bringt nicht allein
kumulative Langzeitwirkungen hervor, die zusammen mit ökologischen und soziokulturellen
Lebensgrundlagen auch Freiheits- und Verantwortungsbedingungen künftiger Generationen
fortwährend verschlechtern oder gar zerstören; sie trägt darüber hinaus zur Aushöhlung der
3
Erschienen in Frankfurt am Main, Insel Verlag.
3
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23.07.2007
moralischen Prinzipienorientierung bei. Macht sie doch Forschungs- und MedizinVersprechungen, die individuellen Interessen dienen, während hinderliche moralische
Orientierungen als fortschrittsfeindlich, illiberal, ja als inhuman hintangestellt werden.
Was die Analysebegriffe angeht, so ist etwa der Begriff ›ökologische Krise‹ sinnlos, weil
euphemistisch. Daher wurde er in dem von der Forschungsgruppe „Ethik und Wirtschaft im
Dialog“
des
Hans
Jonas-Zentrums
edierten
Buch
Zukunftsverantwortung
in
der
Marktwirtschaft einer entsprechenden Sinnkritik unterzogen.4 Schon 1978 hatte Hans Jonas
seine Leser für „das metaphysische Ausmaß“ und für die Permanenz der technologischkapitalistischen Gefahrensituation sensibilisiert: sie werde der Menschheit nunmehr wie ein
Schatten anhaften.5 In den politisch-ethischen Überlegungen und Diskussionen müssen wir
m.E. in der Tat davon ausgehen, daß wir weder in einer „ökologischen Krise“ leben, die wie
jede Krise zeitlich begrenzt wäre, noch in einer bloßen „Risikogesellschaft“, sondern in der
kapitalistisch-dynamischen
technologischen
Gefahrenzivilisation,
deren
weitreichende
Zerstörungen und Zerstörungspotentiale neue, stets zu erneuernde VerantwortungsEngagements und Verantwortungs-Institutionen erfordern.
Die anstehenden Probleme werde ich in den folgenden sechs Abschnitten erörtern:
1. Zum Problem einer globalen Verantwortungsethik – nach Max Weber.
2. Hans Jonas, Karl-Otto Apel und die Berliner Diskursethik – prinzipienethische
Antworten auf die neuartigen Herausforderungen der praktischen Vernunft durch die
technologische Zivilisation.
3. Metaphysische oder reflexiv dialogische Begründung des Prinzips Mitverantwortung?
4. Gedankenexperimente zum Prinzip Verantwortung.
5. Was heißt ‚Verantwortung’? Keine Fürsorge ohne Rechtfertigung, kein praktischer
Diskurs ohne Verständigungsgegenseitigkeit und Öffentlichkeit.
4
Thomas Bausch, Dietrich Böhler, Michael Stitzel u.a. (Hg.), Zukunftsverantwortung in der Marktwirtschaft. In
memoriam Hans Jonas. EWD-Bd. 3, Münster (LIT) 2000, bes. S. 58f, 37ff, 168f, 199f (zit.: EWD-3).
5
Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt
a.M. (Insel) 1979, bes. 1. und 2. Kap. (zit.: P.V.).
Ders., „Technik, Freiheit und Pflicht“, in: Wissenschaft als persönliches Erlebnis, Göttingen (Vandenhoeck
und Ruprecht) 1987, S. 45f: „Über eines müssen wir uns [...] im klaren sein: eine Patentlösung für unser
Problem, ein Allheilmittel für unsere Krankheit gibt es nicht. Dafür ist das technologische System viel zu
komplex, und von einem Aussteigen daraus kann nicht die Rede sein. Selbst mit der einen großen ‚Umkehr‘
und Reform unserer Sitten würde das Grundproblem nicht verschwinden. Denn das technologische
Abenteuer selber muß weitergehen; schon die rettenden Berichtigungen erfordern immer neuen Einsatz des
technischen und wissenschaftlichen Ingeniums, das seine eigenen neuen Risiken erzeugt. So ist die Aufgabe
der Abwendung permanent, und ihre Erfüllung muß immer Stückwerk bleiben und oft nur Flickwerk.
Das bedeutet, daß wir wohl in alle Zukunft im Schatten drohender Kalamität leben müssen. Sich des
Schattens bewußt sein aber, wie wir es jetzt eben werden, wird zum paradoxen Lichtblick der Hoffnung: er
läßt die Stimme der Verantwortung nicht verstummen. Dieses Licht leuchtet nicht wie das der Utopie, aber
seine Warnung erhellt unseren Weg – zusammen mit dem Glauben an Freiheit und Vernunft.“
4
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
1.
Hans
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Zum Problem einer globalen Verantwortungsethik – nach Max Weber
Jonas’
metaphysisch
wertethisches
Verantwortungsdenken
und
die
transzendentalpragmatisch oder diskurspragmatisch begründete Verantwortungsethik teilen
die Auffassung, daß infolge der (hoch-)technologischen Lebensbedingungen, die seit Mitte
des 20. Jahrhunderts herrschen, der Ethik eine ganz neue Stunde geschlagen hat: Alle
Menschen seien selbst irgendwie verantwortlich dafür, daß auch künftig menschenwürdiges
Dasein möglich ist.
Die Diskurs-Verantwortungsethiker schlagen hier die Präzisierung „Mitverantwortlichkeit“
vor.
Sie
beziehen
diesen
Begriff
vor
allem
darauf,
daß
eine
direkte
Verantwortungszuschreibung für die einzelnen oft weder angemessen noch konkret
durchführbar sei, daß aber in der modernen Kommunikationswelt und zumal im Falle
rechtsstaatlicher Bedingungen allen diskursfähigen Menschen – unabhängig von ihren
institutionalisierten Verantwortlichkeiten – eine Mitverantwortung als Diskurspartner für die
Bewußtmachung und mögliche Bewältigung der Zukunftsprobleme zukomme. Warum? Wer
von moralischen Problemen wissen und irgendwie zu ihrer Verringerung beitragen kann, der
kann als Denkender, mithin als möglicher Diskurspartner auch wissen, daß er eine
Mitverantwortung für das Problembewußtsein nicht glaubwürdig zurückzuweisen vermag –
und damit auch nicht eine gewisse Mitverantwortung für die Bewältigung der Probleme.6 Das
ist die sokratisch-dialogreflexive Mitverantwortungsthese. Sie wird jedoch von denen, die als
Theoretiker auf den argumentativen Diskurs blicken, bestritten; so von Jürgen Habermas.
Diese Bestreitung bleibt zu diskutieren.
Jonas und die transzendentalpragmatischen Diskursethiker sehen die Philosophie vor der
Aufgabe, die – verglichen mit aller traditionellen Ethik – ungeheure Mitverantwortung zu
denken, also das neue Problem aus dem ihm anhaftenden Ungefähr, jenem „Irgendwie“, zu
befreien. In diskursethischer Sicht bedeutet das: Die Philosophie ist einmal zu der
Begründungsaufgabe (A) herausgefordert, die Verbindlichkeit einer noch nie dagewesenen
und kollektiven Verantwortung zu erweisen; zum anderen steht sie vor zweierlei
Anwendungsaufgaben (B), nämlich sowohl die idealisierende Konkretion des Moralprinzips
zu moralischen Situationsmaximen bzw. Normen, die eigentlich gelten sollten, neu zu denken
als auch Strategien bzw. Konterstrategien für deren Realisierung und Durchsetzung in der
Gesellschaft, etwa gegen amoralische Interessen und Funktionssysteme zu entwickeln und auf
ihre Moralverträglichkeit hin zu prüfen.
6
Vgl. K.-O. Apel u. H. Burckhart (Hg.), Prinzip Mitverantwortung. Grundlage für Ethik und Pädagogik,
Würzburg (Königshausen & Neumann) 2001 (zit.: Prinzip M.V.).
5
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Kant hatte jene Konkretionsaufgabe nochmals vorkommunikativ, nämlich in Beschränkung
auf eine vom einsamen Subjekt zu leistende gedankenexperimentelle Anwendung des
Kategorischen Imperativs zu lösen versucht. Ohne an Kants methodischem Solipsismus
Anstoß zu nehmen, hat Max Weber generell eine bloß innermoralische Orientierung als
unzureichend kritisiert: als Leistung einer Gesinnungsethik, die blind sei für die
unverantwortlichen Folgen, die ein unmittelbar moralgetreues Verhalten inmitten der
„ethischen Irrationalität der Welt“ haben könne.7 In der Tat sieht sich der realistische Ethiker
und der ernsthaft Verantwortliche Gesinnungskonflikten ausgesetzt, da die reale Welt
Dilemmata bereithält, die in der Perspektive einer reinen Gesinnung unlösbar erscheinen
mögen.
Sind
„schmutzige
Hände“
(Sartre)
und
„Schuldübernahme“
(Bonhoeffer)
unausweichlich?
Karl-Otto Apel hat Webers Anstoß als eigenständiges, konkret geschichtsbezogenes
Begründungsproblem ‚B‘ der Ethik pointiert. Im Jonas-Zentrum wird es sowohl kontrovers
diskutiert8 als auch wirtschaftsethisch präzisiert.9 Meines Erachtens geht es auf dieser BEbene um zwei Arten von geschichts- und situationsbezogenen Realisierungsfragen. Einmal
um die moralstrategische Durchsetzungsfrage, welche Widerständigkeiten gegen eine
moralische (das Moralprinzip konkretisierende) Situationsnorm durch welche Strategien
überwunden werden sollten. Zum anderen stellt sich die moralkonservative, gleichsam
wertkonservative Frage, welche ethischen Traditionen und Institutionen dem Moralprinzip
entsprechen, so daß sie bewahrt bzw. entwickelt werden sollen.
Die intrinsisch moralische Konkretionsaufgabe des allgemeinen Moralprinzips der Ebene A
besteht darin, vom abstrakt Prinzipiellen zu Maximen, gewissermaßen zu regulativen
Sollensperspektiven für das Handeln zu kommen. Dabei geht es zuallererst um einen
begrifflichen und methodischen Rahmen für die moralische Konkretion der neuen ZukunftsVerantwortlichkeit, welcher alsdann interdisziplinär auszufüllen wäre. Noch auf der
Begründungsebene A können wir die reflexive Letztbegründung des Moralprinzips als ersten
Zug der Diskursethik (A 1) von einem zweiten Zug (A 2), nämlich die diskursvermittelte
7
8
9
Max Weber, „Politik als Beruf“, in: Gesammelte Politische Schriften, hg. v. J. Winckelmann, Tübingen
(Mohr/Siebeck) 31971, S. 553, vgl. 550ff.
Vgl. einerseits Böhler, „Idee und Verbindlichkeit der Zukunftsverantwortung“ in: EWD-3, bes. S. 63ff, 199ff
und K.-O. Apel, „Diskursethik als Ethik der Mitverantwortung vor den Sachzwängen“ in: Prinzip M.V., bes.
S. 74ff. Andererseits M. Werner, Diskursethik als Maximenethik, Würzburg (Königshausen & Neumann)
2003, bes. S. 199ff, 237ff.
So von Th. Bausch: „Unternehmerische Verantwortung im Lichte universalistischer Prinzipienethik“, in:
Steinmann u. Scherer (Hg.), Zwischen Universalismus und Relativismus. Philosophische
Grundlagenprobleme des interkulturellen Managements, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1998, S. 322-347.
Ferner Th. Rusche, Aspekte einer dialogbezogenen Unternehmensethik. EWD-Bd. 4, Münster (LIT) 2002
(zit.: EWD-4), S. 58ff und Teil III.
6
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Anwendung des Moralprinzip zur Normenrechtfertigung unterscheiden.10 Und wenn
Habermas von ‚praktischen Diskursen‘ sprach, hatte er, bei kritischem bzw. realistischem
Lichte besehen, an nichts anderes gedacht; denn er hat dabei stets die kontrafaktische
Unterstellung gemacht, alle würden sich als Teilnehmer eines moralischen Diskurses
verhalten – auf argumentativen Konsens gerichtet und mit dem guten Willen, die diskursiv
gerechtfertigten Situationsnormen stets zu beachten. Daher konnte er durchgängig auf
„allgemeine (sic!) Normenbefolgung“11 und reine Verständigungsorientierung abstellen, ohne
daß
er
diese
normativen
Gehalte
des
Diskursgrundsatzes
‚D’
für
die
reale
Handlungsorientierung verantwortungsethisch, nämlich moralstrategisch differenziert hätte.
Hingegen hat Apel eine solche situationsrealistische Differenzierung mit seinem, allerdings
unglücklich so genannten, „Ergänzungsprinzip“ der moralischen Grundnorm gemäß einer
moralstrategischen Ebene B der Diskursethik ins Auge gefaßt.12 Denn als universalistisches
Moralprinzip verlangt ‚D‘, daß man auch diejenigen Situationen berücksichtigt und jene
Sachzwänge prüft, die einer ausnahmslosen, allgemeinen Befolgung moralischer Normen
entgegenstehen. Kritisch an Apel und Böhler anknüpfend hat Horst Gronke diesen Übergang
vom idealisierten praktischen Diskurs zur erfolgsverantwortungsethischen Fragestellung
diskursarchitektonisch geklärt.13
Im Sinne einer „Verantwortung für den Erfolg des Moralischen“ (Böhler) geht es um die
konterstrategische Durchsetzung der moralischen Gehalte gegen die Widerstände einer
teilweise amoralischen Systemwelt und einer teilweise „ethisch irrationalen“ Handlungswelt.
Denn in der realen Lebenswelt müssen wir damit rechnen, daß moralische und bereits
rechtliche Normen gerade nicht allgemein befolgt, sondern egoistisch bzw. partikular
interessiert unterlaufen oder auch aus Verantwortungs- bzw. Fürsorgegründen (z.B.
angesichts einer Notlage) dispensiert oder uminterpretiert werden. In der gesellschaftlichen
Systemwelt kommt hinzu, daß sie neutralisiert oder gar konterkariert werden können durch
die Eigensinnigkeit, den Selbstbehauptungscharakter und die ‚Sachzwang-Macht‘ der
10
11
12
13
Vgl. D. Böhler, „Diskursethik und Menschenwürdegrundsatz zwischen Idealisierung und
Erfolgsverantwortung“, in: K.-O. Apel, M. Kettner (Hg.), Zur Anwendung der Diskursethik in Politik, Recht
und Wissenschaft, Frankfurt am Main (Suhrkamp), 21993, S. 201-231; ders., „Ethik der Zukunfts- und
Lebensverantwortung. Teil I“, in: Böhler/Brune, 2004, S. 135 ff.
J. Habermas, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1983, S. 53126, bes. S. 103.
K.-O. Apel, Diskurs und Verantwortung, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1988, S. 256 ff, 270 ff. u.ö.; ders.,
Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, Frankfurt am Main
(Suhrkamp) 1998 (zit.: Auseinandersetzungen), Sachregister: „Diskursethik – Begründungsteil A und B“;
ders., „Diskursethik und die systemischen Sachzwänge der Politik, des Rechts und der Marktwirtschaft“, in:
M. Niquet, F. J. Herrero, M. Hanke (Hg.), Diskursethik. Grundlegungen und Anwendungen. Würzburg
(Königshausen & Neumann) 2001, S. 181-204.
H. Gronke, „Apel versus Habermas: Zur Architektonik des Diskursethik“, in: A. Dorschel, M. Kettner u.a.
(Hg.), Transzendentalpragmatik, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1999, S. 273ff, bes. S. 232ff.
7
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gesellschaftlichen Systeme (wie Recht, Politik, Wirtschaft). Zudem kanalisieren und
modifizieren Institutionen die normativen Gehalte durch ihre Routinen und Mechanismen.
Daraus ergeben sich zumindest zwei moralphilosophische Realisierungsaufgaben, die bei
Jonas zwar anklingen, aber weder eingeführt und differenziert noch aus dem Moralprinzip
abgeleitet werden. Es ist dies einmal die Prüfung, welche ethischen Institutionen und
Traditionen dem Moralprinzip gerecht werden, so daß sie bewahrt und entfaltet werden
sollten. Das wäre ein Diskursschritt B 1. Außerdem stellt sich nun die heikle Aufgabe, in
theoretischen Diskursen, und zwar mit zweckrational strategischer Einstellung – die Tradition
spricht hier verunklarend von „Klugheit“ –, Durchsetzungsstrategien zu suchen, die zunächst
einmal erfolgsfähig sein müssen. Das wäre eine zweckrational strategische Diskursstufe B 2.
Dann steht die moralische Legitimationsaufgabe an, in praktischen Diskursen zu prüfen, ob
die entwickelten Strategien ihrerseits mit dem Moralprinzip vereinbar sind. Das wäre die
moralstrategische Diskursstufe B 3, eine spezifisch verantwortungsethische Erörterung.
Erforderlich ist dazu ein gehaltvolles Moralprinzip, das auch Kriterien ermöglicht für die
rationale Abwägung jener Folgelasten, welche eine moralische Konterstrategie für die
durchaus verschiedenartigen „Betroffenheitslagen“, die „komplexen Entwicklungspfade“ der
Gesellschaften (M. Werner)14 und für die schutzwürdigen Moral-, Freiheits- und Kulturgüter
einer Gesellschaft nach sich ziehen kann. Daher wäre eine bloß vermeidungsethische Fassung
des Moralprinzips, welche geböte, die Vernichtung der Menschheit zu vermeiden,
unzureichend.
Es bedarf, wie Apel und Werner gegen Jonas ins Feld geführt haben, mehr als eines puren
Bewahrungsprinzips und mehr als einer bloßen Ergänzungsethik. Doch bietet Jonas dazu
nicht Ansätze? Leistet er nicht für die Herausarbeitung der normativen Gehalte des
Moralprinzips einen wichtigen Beitrag durch seinen phänomenologischen Umgang mit
ethischen Intuitionen? Können und müßten hier nicht beide ‚Seiten‘ voneinander lernen?
Freilich betrifft Jonas’ Beitrag eher die Konkretionsaufgabe (in meiner Architektonik die
Ebene A 2) als die Entwicklung und Prüfung moralischer Strategien, die auf der
geschichtsbezogenen Ebene B der Verantwortungsethik anzusiedeln wäre.
14
M. Werner, „Erfaßt das ‚Prinzip Verantwortung‘ die Probleme moderner Technologie?“, in: W. E. Müller
(Hg.), Hans Jonas. Von der Gnosisforschung zur Verantwortungsethik, Stuttgart (W. Kohlhammer), S. 227ff,
hier S. 233f (zit.: Werner 2003b). Ders., „Hans Jonas’ Prinzip Verantwortung“, in: M. Düwell/K. Steigleder
(Hg.), Bioethik. Eine Einführung, Frankfurt a.M. (Suhrkamp), S. 41ff, hier S. 43f (zit.: Werner 2003a).
8
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2. Hans Jonas, Karl-Otto Apel und die Berliner Diskursethik –
prinzipienethische Antworten auf die neuartigen Herausforderungen der
praktischen Vernunft durch die technologische Zivilisation.
Das, worauf Jonas’ „Prinzip Verantwortung“ reagiert, sind zumal die äußeren
Herausforderungen der Moral als Herausforderungen für die Anwendung einer praktischen
Vernunft, wie sie mit den, von der technologisch-kapitalistischen Zivilisation verursachten,
Gefährdungen von Menschheit und Natur gegeben sind. Worin bestehen diese
Herausforderungen?
Zumal
darin,
daß
sowohl
die
moralphilosophische
und
moraltheologische Tradition als auch die lebensweltlichen Moralvorstellungen bzw. Topoi
begrifflich und z. T. auch kriteriologisch unzureichend sind; so daß sie die neuen Probleme
nicht
als
moralische
Probleme
entfalten,
geschweige
denn
lösen
können.
Die
transzendentalpragmatischen bzw. diskurspragmatischen Diskursethiker teilen sowohl Jonas’
Gefahrenanalyse als auch seine moralphilosophische Traditionskritik und Common-senseKritik im wesentlichen. Freilich betonen sie das Erfordernis einer – möglichst durch
öffentliche Verständigung mit den Beteiligten und Betroffenen zu ermittelnden – sichernden
Interpretation der Bedürfnisse und Betroffenheitslagen. Außerdem sehen sie mit den äußeren
Herausforderungen eine innere Herausforderung an die Philosophie als Sachwalterin der
Vernunft,
als
Begründungsdisziplin
des
Vernunftbegriffs
und
seiner
möglichen
Verpflichtungsgehalte, verbunden. Denn infolge der vorherrschenden Gleichsetzung von
Vernunft mit theoretisch analytischer und zweckrational kalkulierender Rationalität bestehe
eine
„Selbstparalyse
der
Vernunft“
(Apel).
Diese
lähmende
Orientierungs-
und
Normierungsunfähigkeit der Vernunft, den Verlust also einer praktischen, moralisch
gehaltvollen Vernunft, gelte es zu kompensieren durch eine kommunikationsreflexive
Transformation der Transzendentalphilosophie Kants. Verkörperte sie doch den Anspruch,
allgemeingültig zu zeigen, daß „reine Vernunft für sich praktisch sein kann und es wirklich
ist“.15 Allerdings hat sie diesen Anspruch nicht einlösen können. Vorkommunikativ angesetzt,
mußte sie den erforderlichen Verbindlichkeitserweis des Moralprinzips – verallgemeinerbare
Gegenseitigkeit und Achtung der Menschenwürde – schuldig bleiben und konnte diesen
Mangel an transzendentaler Begründung nur durch solipsistische Erkenntnismetaphysik einer
Zweiweltentheorie verdecken.16
15
I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 1787, S. 218.
Dazu zuletzt: K.-O. Apel, Transzendentalpragmatische Reflexion: Die Hauptperspektive einer aktuellen KantTransformation, in: N. Reyhani (Hg.): Immanuel Kant, Essays Presented at the Mugla International Kant
Symposium. Ankara 2006. S. 279-282.
16
9
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Während Apel konsequent auf eine transzendentale Pragmatik setzt – Selbstaufklärung der
Vernunft als internes Kommunikations- und Anerkennungsverhältnis –, konfrontiert Jonas die
äußere Bedrohungslage der Menschheit direkt mit ethischen Intuitionen und mit den
philosophischen Ethiktraditionen, was einerseits zur präzisierenden Rekonstruktion intuitiv
gegebener Werte und ihrer normativen Gehalte führt, andererseits aber eine scharfe Kritik der
moralphilosophischen Tradition zur Folge hat. Doch bringt er, um jene Rekonstruktion zu
rechtfertigen,
auch
transzendentale
Reflexionen
ins
Spiel:
Skizzen
einer
transzendentalphänomenologischen Selbstaufklärung der Vernunft. Deren Fragestellung und
geltungslogische Reichweite ist der transzendentalpragmatischen Selbsteinholung der
Vernunft und Wissenschaft verwandt, wiewohl sie das Apriori der Kommunikation in den
kognitiven Leistungen traditionell übergeht. Darauf kommen wir später.
Jonas’ Analyse der technologischen Selbstgefährdung der Menschheit mündet in eine
Traditionskritik, welche zunächst drei Erweiterungen des Problemhorizonts der Ethik geltend
macht. Diese lassen sich gut mit den Begriffen der drei Auswirkungsdimensionen
menschlichen Verhaltens in der technologischen Zivilisation erläutern, die Karl-Otto Apel
1973 eingeführt hatte.17 Die Dimensionierung der ethischen Probleme sei in der Tradition
räumlich und zeitlich eingeschränkt gewesen: zunächst auf das Verhalten zwischen Personen,
also auf eine soziale Mikro-Dimension, dann auf das Verhältnis zwischen Staaten und
Völkern, in der politischen Meso-Dimension von Diplomatie, Kriegsführung und Völkerrecht.
Im 20. Jahrhundert habe jedoch die technische Praxis neuartige Faktoren in die „moralische
Gleichung“ eingeführt, nämlich einmal die hochtechnologische „Unumkehrbarkeit im Verein
mit ihrer zusammengefaßten Größenordnung“. In der Tat: Eine ganz neue, zumal ökologische
Makro-Dimension ergibt sich (was bereits Apel als neue, externe Herausforderung der
praktischen Vernunft analysiert hatte) jetzt daraus, daß die Wirkungen des hochtechnologisch
vermittelten Kollektiv- und Systemverhaltens zunehmend räumlich und zeitlich nicht mehr
eingrenzbar sind. Hinzu kommt, wie Jonas betont, „ihr kumulativer Charakter: gewisse
Wirkungen addieren sich, so daß die Lage für späteres Handeln und Sein nicht mehr dieselbe
ist wie für den anfänglich Handelnden, sondern zunehmend davon verschieden und immer
17
Karl-Otto Apel, Transformation der Philosophie II, Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1973 (zit.: Transformation II),
S. 359-361.
Ders., „Die Situation des Menschen als Herausforderung an die praktische Vernunft“, in: ders., Böhler,
Kadelbach (Hg.), Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik: Dialoge, Bd. 1, Frankfurt/M. (Fischer-TB) 1984,
hier: S. 49 ff.
10
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mehr ein Ergebnis dessen, was schon getan ward.“ Demgegenüber habe „alle herkömmliche
Ethik [...] nur mit nicht-kumulativem Verhalten“ gerechtnet.18
Naiv erscheint Jonas auch der Erkenntnisbezug des traditionellen ethischen Urteils.
Schließlich ging sowohl die aristotelisch-thomasische Tradition der Wertethik bzw.
Glücksethik eines guten Lebens als auch die normative Ethik seit Kant ganz
selbstverständlich von einer schlichten alltagsweltlichen Voraussetzung aus: da die sittlichen
Probleme aus dem ‚mir‘ jeweils vertrauten „Nahkreis des Handelns“ entspringen, kann ‚ich’
auch jeweils aufgrund ‚meines‘ alltagsweltlichen Erfahrungswissens und ‚meines‘ common
sense erkennen, was moralisch richtig oder praktisch gut ist.19 Demgegenüber pointiert Jonas,
daß die kumulative technologische Veränderung der Welt „lauter präzedenzlose Situationen“
schaffe, für die „die Lehren der Erfahrung ohnmächtig“ seien. Was folgt daraus? Zunächst
offenbar die Konsequenz: „Unter solchen Umständen wird Wissen zu einer vordringlichen
Pflicht [...], und das Wissen muß dem kausalen Ausmaß unseres Handelns größengleich
sein.“20
Offenbar ergibt sich zunächst eine neue Pflicht, die das moralische Urteil an das
wissenschaftliche Wissen bindet. Nunmehr sieht sich der Mensch dem neuen moralischen
Erfordernis
gegenüber,
sich
bestmögliches
Folgenwissen
seines
weitreichenden,
lebensumwälzenden und u. U. lebensgefährlichen high-tech-Verhaltens und –Planens zu
beschaffen. Nicht zuletzt diese Einsicht ist es, welche einen wichtigen Aspekt der
Diskursethik hervorgebracht hat, nämlich das Postulat, eine Ethik müsse heute mit
theoretisch-empirischen
Diskursen
verbunden
werden,
um
das
zur
Urteilsbildung
erforderliche weitreichende, beispielsweise ökologische, Wissen zu erhalten.
Freilich richten die Diskursphilosophen das Augenmerk darauf, daß alle konkreten
praktischen Diskurse über die Frage, was wir in einer bestimmten Situation tun sollen, wegen
ihrer Abhängigkeit von empirisch theoretischer Wissensbildung und ihrer Angewiesenheit auf
die Interpretation komplexer Situationen grundsätzlich fallibel seien. Deshalb gelte es, sowohl
ihre Irrtumsfähigkeit zu berücksichtigen, als auch die Revisionsfähigkeit der darauf gestützten
praktischen Urteile und Maßnahmen zu gewährleisten. Diese Statusüberlegung radikalisiert
Jonas, und zwar durch eine Reflexion, deren wissenschaftstheoretischer Gehalt mit einer
18
19
20
Jonas, P.V., S. 27.
Jonas, P.V., S. 23 ff.
Jonas, P.V., S. 28.
11
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
23.07.2007
Grenzerkenntnis Karl R. Poppers übereinkommt21: das Folgenwissen in nicht-geschlossenen
Systemen, mithin ein prospektives Wissen für die geschichtliche Welt und für die Biosphäre
der Erde könne nie das einer bedingten Prognose sein.
Folglich bleibe es stets unzulänglich. Jonas pointiert nun, daß sich aus der
Nichtprognostizierbarkeit der ökosozialen Technologiefolgen ein scheinbar paradoxes
Ausgangsproblem der Verantwortungsethik als einer Wissens-Ethik ergibt: „Daß das
vorhersagende Wissen hinter dem technischen Wissen, das unserem Handeln die Macht gibt,
zurückbleibt, nimmt selbst ethische Bedeutung an. Die Kluft zwischen Kraft des
Vorherwissens und Macht des Tuns erzeugt ein neues ethisches Problem. Anerkennung der
Unwissenheit wird dann die Kehrseite der Pflicht des Wissens und damit ein Teil der Ethik“22.
Daraus leitet er die eigentümliche Pflicht zur Folgen-Vorsicht ab.
So weit so gut. Allerdings haben diese Argumentationen von sich aus keine moralische
Verbindlichkeit. Sie enthalten keinen Grund einer solchen. Diejenigen, die nicht schon vor der
Argumentation zu einer moralischen Welt-Verantwortlichkeit entschlossen sind, sondern nach
einer rationalen und intersubjektiv gültigen Begründung für eine solche fragen, können sie
nicht überzeugen. Wenn man den arationalen Entschluß zu einer solidarischen Verantwortung
für die Menschheitszukunft, also auch für eine „Weiterwohnlichkeit der Welt“ (Hans Jonas),
nicht schon mitbringt, also einen „act of faith“ (Karl R. Popper), dann ist mit diesen
Überlegungen nichts geholfen. Kann Vernunft dann überhaupt etwas ausrichten? Ist
überhaupt eine praktische Vernunft möglich, durch die sich erweisen ließe, daß für Menschen
als Vernunftwesen bestimmte moralische Pflichten gelten? Gibt es eine praktische, moralisch
verbindliche Vernunft? Der Hauptstrom des modernen westlichen Denkens beantwortet diese
Gretchenfrage, die Legitimationsfrage der Ethik im allgemeinen und der neuen
Zukunftsverantwortungsethik im besonderen, negativ. Eben darin, daß es nicht rational
begründbar sondern bloß durch Glaubensentscheidungen motivierbar sei, moralisch sein zu
wollen und zu sollen bzw. zukunftsverantwortlich sein zu wollen oder zu sollen – darin
erkennt Karl-Otto Apel die innere Herausforderung der Vernunft und der Philosophie als ihrer
Sachwalterin: Ist praktische Vernunft im Wissenschaftszeitalter möglich?
21
Vgl. Karl R. Popper, „Naturgesetz und theoretische Systeme“, in: H. Albert (Hg.), Theorie und Realität,
Tübingen (Siebeck/Mohr) 1964. Auch in Topitsch (Hg.), Logik der Sozialwissenschaften, Köln
(Kiepenheuer) 41967.
22
Jonas, P.V., S. 28.
12
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
23.07.2007
Was können Apel und die anderen Transzendentalpragmatiker auf der Suche nach einer
Antwort anbieten? Das, was sie zunächst – dank der Apelschen Abhandlung über das
Kommunikationsapriori der Ethik (1973) – in die Diskussion gebracht haben, ist eine diskursund wissenschaftspragmatische Einsicht: bereits das Kernstück der naturwissenschaftlichtechnologischen Rationalität, das theoretisch-empirische Wissen, als wahrheitsfähiges Wissen
lasse sich allein in der dialogischen und daher moralisch geladenen Form eines Diskurses
unter gleichberechtigten Argumentationspartnern geltend machen. Insofern setze auch der
Naturwissenschaftler voraus, daß er andere Wissenschaftler – logisch gesehen aber alle
möglichen kompetenten Diskursteilnehmer – als gleichberechtigte Diskurspartner anerkennen
soll und will. Schon diese Gerechtigkeitspräsupposition zeigt, daß die Herausarbeitung der
Diskussionsform des Wissens moralisch von Belang ist.23
Diese wissenschafts- und diskurspragmatische Reflexion bringt eine Ethik des Diskurses auf
die Bahn: Diskursethik, als genitivus subiectivus verstanden. Denn diese Besinnung auf die
Argumentationspragmatik im Rücken der Forschung – das Forschen ist ja zugleich ein
Geltendmachen von Hypothesen und Theorien bzw. ein Kritisieren solcher, mithin ein
argumentativer Diskurs – deckt eine implizite Wissenschaftsethik als Ethik der Diskurspartner
auf. So lieferten Apels Programm einer transzendentalpragmatischen Aufdeckung des
Kommunikationsaprioris24 und das einer Rekonstruktiven Pragmatik25 den Grundriß einer
Ethik für Diskurse und konnten dadurch sokratisch-kantisch an Popper anknüpfen. Dessen
kritisches Wissenschaftsethos, von ihm selbst als eine bloße Entscheidungsangelegenheit
angesehen, wurde (hinsichtlich dieser Deutung) als ein dezisionistisches Mißverständnis
zurückgewiesen; doch konnte sein normativer Gehalt, das Ethos des selbstkritischen
Forschers in einer offenen Gemeinschaft, als angemessene Entsprechung zur intersubjektivdialogischen Form des Habens, Beanspruchens und Geltendmachens einer Erkenntnis
aufgewiesen werden. Denn das Erheben von Geltungsansprüchen schließt Moralität ein –
zunächst in Form der Anerkennung substantieller moralischer Verpflichtungen gegenüber
allen möglichen Diskurspartnern.
23
K.-O. Apel, Transformation II, S. 324ff, 395ff. D. Böhler, „In dubio contra projectum“, in: ders. (Hg.), Ethik
für die Zukunft, München (C.H. Beck) 1994 (zit.: E.Z.), bes. S. 255ff, 268ff.
24
K.-O. Apel, „Sprache als Thema und Medium der transzendentalen Reflexion“, in: ders., Transformation II, S.
311ff, bes. 327ff. Ders., „Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft. Grundlagen der Ethik“, ebd., S.
358ff.
25
Böhler, Rekonstruktive Pragmatik. Von der Bewußtseinsphilosophie zur Kommunikationsreflexion:
Neubegründung der praktischen Wissenschaften und Philosophie, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1985 (zit.
Rekonstruktive Pragmatik), Kap. II und VI.
13
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
23.07.2007
Wenn aber in den Präsuppositionen der wissenschaftlichen Rationalität und in den
Präsuppositionen des Argumentierens moralische Verbindlichkeiten aufweisbar sind, dann ist
Vernunft, nun rekonstruiert als dialogische Praxis des Argumentierens, nicht bloß
theoretischer, technischer, ökonomischer Natur, nicht ein bloßes Vermögen des Analysierens
und Rechnens, sondern zugleich moralisch orientierend und verpflichtend. Dann ist eine
moralisch bedeutsame Selbsterkenntnis der Vernunft möglich, welche die moderne
Selbstinfragestellung
der
praktischen
Vernunft
als
gegenstandslos
erweist
–
als
Selbstverfehlung der Praxis des Geltung-Beanspruchens und Etwas-Geltendmachens.
Jene innere Herausforderung der Idee einer moralisch-praktischen Vernunft durch das
vorherrschende moderne Vernunftverständnis hat Karl-Otto Apel als Komplementarität
analysiert: Einerseits werde die wissenschaftlich-theoretische Ratio und das formale Kalkül
der Zweckrationalität als die Vernunft schlechthin monopolisiert; andererseits würden Wertund Normfragen zu einem ‚act of faith‘ (Popper), einem existenziellen und irrationalen
Entscheidungsakt subjektiviert. Gemäß dieser auch von Jonas berührten Komplementarität26,
welche Apel als „Komplementaritätssystem“ des modernen westlichen Geistes entfaltet, gilt
die Idee einer praktischen Vernunft als obsolet und illusorisch.27 Unter ihren Voraussetzungen
erscheint es sinnlos, moralische Ansprüche auf der intersubjektiven Ebene der Vernunft, also
des Erweisbaren, prüfen und rein argumentativ darüber befinden zu wollen. Es gilt dann als
unmöglich, praktische Fragen wie die Frage nach dem „Vorrang eines Ziels gegenüber
anderen unter dem Aspekt der Vernunft zu diskutieren...“.28Vernunft wird auf formale Logik
plus theoretisch-empirische Kausalerklärung bzw. auf Zweckrationalität verkürzt, sie
schrumpft zur „subjektiven“ und „instrumentellen Vernunft“ (Max Horkheimer).
Abb. 1:
26
Jonas, P. V., S. 57.
„Die Komplementarität zwischen wertfreiem Objektivismus der Wissenschaft einerseits, existentiellem
Subjektivismus der religiösen Glaubensakte und ethischen Entscheidungen andererseits erweist sich als der
moderne philosophisch-ideologische Ausdruck der liberalen Trennung zwischen öffentlichem und privatem
Lebensbereich, der sich im Zusammenhang mit der Trennung von Staat und Kirche herausgebildet hat.“ In:
Apel, Transformation II, S. 370, vgl. 361-378. Weiterentwickelt in: ders., „Die Selbstinfragestellung der
praktischen Vernunft in der Gegenwart“, in: Apel, Böhler, Rebel (Hg.), Funkkolleg/Studientexte, Bd. 1, S.
130-137. Vgl. ders. Diskurs und Verantwortung, S. 26-36, 58ff.
28
M. Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, hg. von A. Schmidt, Frankfurt am Main (Fischer)
1967, S. 17.
27
14
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
23.07.2007
Analyse der technologischen und liberalen Zivilisation als ‚Komplementaritätssystem‘
im Anschluß an Apel
Auf der einen Seite ...
Auf der anderen Seite ...
steht die (von Max Weber an Hand des großen neuzeitlichen Säkularisierungs- / Rationalisierungsprozesses beschriebene) Entwicklung von
steht eine Verdrängung aller
zweckrationalen Standards
moralischen Wert- und
Normgesichtspunkte
in den Bereich des rational nicht Fassbaren, des
im weitesten Sinne mit ihren (z.B. von Jürgen Habermas
untersuchten) Sub- und Nebenformen
– der wissenschaftlich-technischen Rationalität einer
am Erfolg kontrollierten Naturbeherrschung,
– der ökonomischen Rationalität des effizienten
Mitteleinsatzes bei vorgegebenen Zwecken,
– der strategischen Rationalität wechselseitiger
Instrumentalisierung zu je eigenen Zwecken,
– der pragmatischen Verfahrensrationalität der
öffentlichen Willensfeststellung per
Mehrheitsbeschluß usw.
Irrationalen,
eine Entwicklung, die sich gesellschaftspolitisch
in der
Privatisierung der moralischen Urteilsbildung
und philosophisch in der Strömung des
Existentialismus niedergeschlagen hat.
Komplementär sind diese Seiten insofern, als a) alles, was in den Bereich des Irrationalen fällt, im Bereich des
Rationalen nicht vorkommt und umgekehrt, andererseits aber b) die Annahme eines Bereichs des Irrationalen
Voraussetzung für den Bereich des Rationalen ist und umgekehrt: der Wissenschaftler, der im Labor seine erfolgskontrollierten Experimente durchführt, muß, indem er experimentiert, moralische Wert- und Normfragen aus dem
Blickfeld nehmen (methodologische Werturteilsenthaltung); der Existentialist, der sich in der außergewöhnlichen
Situation einer „Ur-Entscheidung für/gegen Vernunft“ wähnt, setzt selbstverständlich voraus, daß die Welt um ihn
herum weiterhin „funktioniert“ und dieses „Funktionieren“ anhand von Rationalitätsstandards zu erklären ist.
Wenn kein anderer Vernunftbegriff zur Verfügung steht oder möglich sein sollte als der
moralneutrale i. S. einer Zweckrationalität, dann verfällt freilich das Sich-Verantworten
gegenüber den (moralischen) Ansprüchen Anderer einem Wertsubjektivismus, einem
Rückzug auf die Wertwahl einer Person oder Gruppe (samt Tradition), die allenfalls noch
plausibel
gemacht
werden
kann.
Von
jener
Subjektivierungsgefahr,
letztlich
Beliebigkeitsgefahr der Ethik ist Jonas durchdrungen. Das motiviert ihn dazu, die traditionelle
substanzielle, nämlich objektive Vernunft, die den Wert des Seins aus diesem selbst
vernehmen will, zu erneuern. Es ist dies ein metaphysisch teleologischer, auf die aristotelischthomasische Tradition zurückgreifender Ansatz, der das „Prinzip der Ethik“ aus der „Natur
des Ganzen“, nämlich aus dem im Menschen gipfelnden Leben begründen will, – und
insofern aus dem, „was die Theologie als ordo creationis zu bezeichnen pflegte.“29 So
29
Jonas, „Epilog – Gnostizismus, Existentialismus und Nihilismus“, in: ders., Gnosis. Die Botschaft des
unbekannten Gottes, Frankfurt a.M. (Insel) 1999 (zuerst als „Gnosis und Nihilismus“ in: Kerygma und
Dogma, 1960, S. 155-171).
15
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
23.07.2007
formulierte Jonas programmatisch im Epilog zu seiner evolutionären Ontologie des
Lebendigen: „Organismus und Freiheit“.
Zuvor hatte er jedoch unmißverständlich klargemacht, daß er systematisch nach Nietzsches
Proklamation des Todes Gottes und nach Heideggers „Sein und Zeit“ denkt. Denn er vertritt
nicht etwa objektivistisch eine Ontotheologie, derzufolge Gott das Sein selbst bzw. der Grund
des Seins sei und auch als dieses principium des Seins erkennbar sei, sondern er nimmt die
Immanenz der Welt, die Endlichkeit des Lebens und die Zeitlichkeit des menschlichen Daseins
ernst. Darin ist er so konsequent, daß er in seinem spekulativen Mythos eines möglichen
Schöpfergottes die Idee dieses Gottes selbst jenen Bestimmungen und insofern das
Transzendente der Immanenz unterwirft.30 Insofern entsubstantialisiert Jonas seinen
metaphysischen Ansatz und verbindet ihn mit dem methodischen Atheismus, der den
modernen Wissenschaften zugrundeliegt und der vom nachkierkegaardschen Existentialismus
aufgenommen wird.31
Dazu paßt es, daß Jonas schon 1964 Heideggers mystisch-ontotheologische „Kehre“ als
Flucht vor der Rechtfertigungsaufgabe des Denkens verworfen hatte. Er unterzog sie nämlich
einer schneidenden Sinnkritik: diese neue Seinstheologie verbinde den demütigen Gestus des
Vernehmens des Seins mit dem hybriden Anspruch, daß durch den Seinsdenker, also durch
Heidegger, „das Wesen der Dinge selbst spricht“. So aber werde die (in Wahrheit doch von
jeder Theorie erneut zu überbrückende) Subjekt-Objekt-Spaltung scheinhaft erlassen oder
vermieden: Heidegger suggeriere nur, sie könne überwunden werden. In Wahrheit mache er
sich ungreifbar und völlig unangreifbar. Diskurspragmatisch hieße das: Heidegger entzieht
sich dem argumentativen Diskurs. Jonas selbst charakterisiert eine solche selbstimmunisierte
Ontotheologie als „die enormste Hybris in aller Geschichte des Denkens.“32 Gegen den
ontotheologischen, den „anfänglichen“ und „wesentlichen“ Denker Heidegger, den er
geradezu als „Bauchredner des Seins“ apostrophieren kann, macht er, in lockerem Anschluß
an Edmund Husserl,33 geltend, daß der Denker und das Denken verantwortlich seien, ja daß
das Denken „entscheidend von der Auffassung seiner Verantwortlichkeit“ abhänge.34
30
31
32
Jonas, Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, Frankfurt a.M. (Insel) 1992 (zit.
Philosophische Untersuchungen), bes. S. 190-197, 243-247.
Jonas, Erinnerungen, Frankfurt a.M. (Insel) 2003, S. 93. Ders., Gespräch mit H. Koelbl, in: H. Koelbl (Hg.),
Jüdische Portraits, Frankfurt am Main, (Fischer TB) 1998, S. 170, Sp. 2.
Jonas, „Heidegger und die Theologie“, Vortrag von 1964, deutsch in: G. Noller (Hg.), Heidegger und die
Theologie, Beginn und Fortgang der Diskussion, München (Christian-Kaiser-Verlag) 1967, S. 316-340, hier
S. 335f.
33
34
Ebd., Fußnote 30, S. 336.
16
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23.07.2007
Im Einklang mit dem husserlschen Prinzip der Selbstverantwortlichkeit der Philosophie legt
Jonas denn auch großen Wert darauf, den geltungsmäßigen Stellenwert seiner eigenen
metaphysischen Ontologie und seiner spekulativen Theologie distanziert und kritisch zu
erörtern. In selbstverantwortlicher Redlichkeit wahrt er die ontologischen Differenzen
zwischen Denker und Gedachtem, zwischen Endlichkeit und möglicher Nicht-Endlichkeit. So
spricht er von Gott nur in doppelter Einklammerung: als möglichem Gott, über den er
wiederum nur „Vermutungen“ ohne (strengen) Wahrheitsanspruch vorzubringen habe.35
Die Subjekt-Objekt-Differenzen ernstnehmend, denkt er über das Sein-Können eines
möglichen Schöpfergeistes nach, indem er behutsam fragt, ob und wie sich die Vermutung
(wohlgemerkt!) eines Schöpfergottes heute noch sinnvoll entwickeln lasse. Nicht mehr und
nicht weniger. Er argumentiert bewußt als ein nachkantischer und nachhusserlscher
Metaphysiker. Das trennt ihn sowohl von der klassischen und thomistischen Ontotheologie als
auch von der des späten Heidegger. Diesem kritischen Zug wird weder Vittorio Hösle gerecht,
wenn er Jonas schlicht eine „ontotheologische Begründung der Ethik“ zuspricht36, noch
Micha Werner, der bei Jonas eine „objektivistische Moralbegründung“ erblickt37. Ohne
objektivistische seinstheologische Prämissen will Jonas den naturalistisch monistischen Zug
und die Teleologie der klassischen bzw. thomistischen Ontologie neu denken. Ohne Rückgriff
auf göttliche Autorität oder auf Allmachtsannahmen will er schöpfungstheologisches Erbe, so
die „Heiligkeit des Lebens“ und die „Hütung des Ebenbildes“, in Besitz nehmen38.
„Philosophierend habe ich von Möglichkeiten gesprochen, nicht von Wirklichkeiten.“39
In der Tat ist ein hypothetisches Denken der Möglichkeit eines Schöpfergottes, der sich
gänzlich dem Weltabenteuer der Immanenz überantwortet habe, etwas grundsätzlich anderes
als das (gegenstandsbezogene und ausweisbare Wahrheit beanspruchende) Schauen bzw.
Vernehmen von Gott als tatsächlichem Grund des Seins.
Jonas’ ontologisch-teleologischer Ansatz – er nennt ihn mit Vorliebe „metaphysisch“ und
„ontologisch“ –, bringt ihn von Anbeginn in die Prinzipiendimension und läßt ihn auch das
Ethische aus dieser denken. Außerdem gewinnt er durch den Rückgriff auf die biblisch
priesterschriftliche Lehre von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen (1. Buch Mose, 1,26f)
den normativen Gehalt des Grundsatzes der (zu achtenden) Menschenwürde. Dadurch
35
Jonas, Philosophische Untersuchungen, 3. Teil, S. 171-255.
V. Hösle, „Ontologie und Ethik bei Hans Jonas“, in: E.Z., S. 120f. Zur Sache: W. Ch. Zimmerli, „Philosophie
in einer Gott-verlassenen Welt“, in: E.Z., S. 151ff, bes. S. 159ff.
37
Werner 2003a, S. 48.
38
Jonas, P.V., S. 57f, 63, 392f.
39
Jonas, „Im Kampf um die Möglichkeit des Glaubens. Erinnerungen an Rudolf Bultmann und Betrachtungen
zum philosophischen Aspekt seines Werkes“, in: ders., Wissenschaft als persönliches Erlebnis, S. 75.
36
17
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
23.07.2007
erweitert er die Perspektive einer bloßen Bewahrung der Gattung, in deren Sinne sich die erste
Formel seines kategorischen Imperativs der Zukunftsverantwortung unter Umständen
verstehen läßt: „Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der
Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“40 Karl-Otto Apels Kritik hat Jonas
darauf festlegen wollen.41 Unangemessenerweise; denn sie überspringt den Kontext und den
Rekurs auf Menschenwürde, mit dem das Werk auch schließt: „Um die Hütung des
‚Ebenbildes’.“42
Allerdings ist zu fragen, was Jonas zum Begründungsproblem, d.h. zu einem
Verbindlichkeitserweis des Prinzips der Ethik beiträgt. Wenn ein Verantwortungsprinzip der
aussichtsreiche Kandidat für die Bestimmung des grundlegenden Moralprinzips sein sollte –
wo wäre dann ein solches Prinzip gleichsam zu lokalisieren: primär im Sein oder primär im
Dialog der Argumente bzw. im Diskurs, in welchem auch ein Seinsdenker, dadurch, daß er
denkend etwas geltend macht, sich je schon befindet?
Schließlich stellt sich die Frage, welche differenzierenden Kriterien bzw. normativen
Bedeutungsgehalte (etwa Gerechtigkeit, Öffentlichkeit und Kommunikationsfreiheit) intern
mit dem Verantwortungsprinzip verbunden werden müßten – besser: als mit ihm verwoben
aufzuweisen sind. Müßte Jonas, wenn er diese Frage ernstnimmt, nicht die „doppelte
Vereinfachung“ zurücknehmen, die in den Kollektivierungen der vielerlei Beteiligten zu der
jetzt lebenden Menschheit und den sehr unterschiedlichen Betroffenen zu der künftigen
Menschheit steckt? Micha Werner hat darauf mit Recht hingewiesen43. Die hier nötigen
Differenzierungen sind ja Diskursdifferenzierungen. Sie ergeben sich als solche mit innerer
Logik, wenn man das Verantwortungsprinzip aus dem Dialogprinzip entwickelt: durch
Rückgang auf das Sich-im-Diskurs-Verantworten. Eben das ist der komplementäre, nichtmetaphysische Prinzipienansatz der Berliner Diskurspragmatik und Dialogpragmatik: eine
sokratische Ethikbegründung durch rationale sinnkritische Beweisführung im Dialog mit dem
Skeptiker. Deren Ergebnis müßte jeder aus stichhaltigen Gründen zustimmen können – auch
der ex professo Ungläubige, der skeptische Diskursteilnehmer, dem wir mit keiner bloßen
Glaubensannahme kommen können.
40
Jonas, P.V., S. 36.
Apel, „Verantwortung heute...“ in: ders., Diskurs und Verantwortung, S. 179ff, vgl. auch das Gespräch mit
Apel in: Apel und Burckhart (Hg.), Prinzip M.V., S. 97ff.
42
Jonas, P.V., S. 392f.
43
Werner 2003b, S. 227ff, hier S. 234 und 240.
41
18
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
3.
23.07.2007
Metaphysische versus reflexiv dialogische Begründung des Prinzips
Mitverantwortung?
Seinen metaphysisch ontologischen Begründungsweg fortsetzend, entwarf Jonas 1985,
überarbeitet
1992,
den
„Versuch
einer
‚metaphysischen
Deduktion’
der
Verantwortungsethik“.44 Bemerkenswerterweise geht er hier in einer sokratisch kantischen
Manier zurück auf das, was Menschen als ethische Fähigkeit mitbringen und was sie als
normative Verpflichtung nicht bezweifeln können: „Der Mensch ist das einzige uns bekannte
Wesen, das Verantwortung haben kann. Indem er sie haben kann, hat er sie. Die Fähigkeit zur
Verantwortung bedeutet schon das Unterstelltsein unter ihr Gebot: das Können selbst führt
mit sich das Sollen. Die Fähigkeit aber zur Verantwortung – eine ethische Fähigkeit – beruht
in der ontologischen Befähigung des Menschen, zwischen Alternativen des Handelns mit
Wissen und Wollen zu wählen. Verantwortung ist also komplementär zu Freiheit.“45
Das Manuskript hatte Jonas Hans-Georg Gadamer mit der Bitte um dessen Urteil zugesandt.
Dieser hebt in seiner Antwort hervor46, daß Jonas seine Deduktion einer Pflicht zur (Mit-)
Verantwortung für „die Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden“ eigentlich durch
Rückgang auf ein moralisches Grundfaktum der Vernunft gewinne. „Im Grunde folgen ja
auch Sie Kant, wenn Sie von der Gegebenheit der Verantwortung reden: das ist das
Vernunftfaktum der Freiheit.“47
Gadamer übergeht allerdings, daß der Rückgang auf die Verantwortungsfähigkeit als
„ursprüngliches Erfahrungsdatum“ in einen naturalistischen Fehlschluß48 führt oder gar in
einen, wie Jonas selbst erörtert, „logischen Zirkeltrug“ nach Art des ontologischen
Gottesbeweises. Letzterem will Jonas dadurch entgehen, daß er aus der begrifflichen ‚Essenz‘
eines ursprünglichen Erfahrungsdatums (nämlich aus dem Begriff der Menschheit) allein die
Pflicht zur Fortsetzung von deren Existenz ableitet. Das sei dann „zwar ein Schluß von Essenz
zu geforderter Existenz, doch kein Zirkelschluß von Essenz zu gegebener Existenz. Also ist
unser Argument kein leeres. Aber es ist auch kein Beweis. Es ist an gewisse unbewiesene,
axiomatische Voraussetzungen gebunden: nämlich, daß Verantwortungsfähigkeit an sich ein
44
Jonas, Brief an H.-G. Gadamer, 9. Nov. 1985, in: Böhler/Brune, 2004, S. 480.
Jonas, Philosophische Untersuchungen, S. 130f.
46
H.-G. Gadamer, Brief an H. Jonas, 21. April 1986 in Antwort auf das Schreiben von Jonas vom 9. November
1985, in: Böhler/Brune, 2004, S. 471-482, hier: 481f.
47
H.-G. Gadamer, Brief an H. Jonas, vom 21. April 1986, a.a.O., S. 481. Gadamer pointiert also die Analogie zu
Kants These einer Verwobenheit der moralischen Autonomie mit der Einsicht in das Sittengesetz als dem
„Faktum der reinen Vernunft“, nach: Kritik der praktischen Vernunft, 1787, S. 55ff.
48
So Karl-Heinz Ilting, „Der naturalistische Fehlschluß bei Kant“, in: M. Riedel (Hg.), Rehabilitierung der
praktischen Philosophie, Freiburg i.Br. (Rombach) 1972, Bd.1, S. 113-130. Wiederum in: K.-H. Ilting,
Grundfragen der praktischen Philosophie, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1994, S. 277-295.
45
19
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
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Gut ist, also etwas, dessen Anwesenheit seiner Abwesenheit überlegen ist; und daß es
überhaupt ‚Werte an sich‘ gibt, die im Sein verankert sind – daß letzteres also objektiv
werthaltig ist.“49 Als ein Philosoph, dem die, von Kant als Selbstverpflichtung der Vernunft
geltend gemachte, Tugend der Wahrhaftigkeit eingeschrieben ist, zieht Jonas daraus die
Konsequenz: „Letztlich kann mein Argument nicht mehr tun, als vernünftig eine Option
begründen [...]. Besseres habe ich leider nicht zu bieten.“50
In seinem Brief an Gadamer schließt er damit, daß er glaube, über dieses „Wagestück“ nicht
mehr „hinauszukommen (was zwar nötig wäre).“51 Einerseits räumt Jonas damit ein, die
Komplementarität des modernen westlichen Geistes nicht überwunden zu haben – eine bloße
Option gehört auf die subjektiv existenzielle Seite der Komplementarität. Sein
Begründungsziel, die Subjektivität in Wert- und Normenfragen aufzuheben, hat er demnach
verfehlt. Andererseits transzendiert – darauf weist Gadamer hin – seine sokratisch kantische
Denkweise hier sein metaphysisches Selbstverständnis.
Gehen wir das Problem noch einmal durch:
Ohne Zirkel im Beweis und ohne naturalistischen Fehlschluß – d.h. ohne Erschleichung des
zu erweisenden normativen Gehalts, man solle verantwortungswillig sein (moralisches
Sollen), durch dessen stillschweigende Einbeziehung in das empirische Faktum, daß
Menschen die Fähigkeit besitzen, Verantwortung zu übernehmen (Seins-Faktum, bloße
Tatsache ohne eingeschlossene Anerkennung einer Norm) – können wir Jonas’ Intuition
aufnehmen und zwingend neu denken, wenn wir dreierlei tun:
0
präzisieren, daß es (in moralischer Hinsicht) nicht bloß um Verantwortungsfähigkeit,
sondern zumal um Verantwortungswilligkeit bzw. -bereitschaft geht; die Pflicht dazu
wäre als allgemeinverbindlich zu erweisen, wozu es zunächst einer klaren Bestimmung
des moralischen Beweisziels bedarf;
1
entwickeln,
daß
Verantwortungsbereitschaft
zu
den
Voraussetzungen
des
argumentativen Dialogs gehöre, also eine kohärente Rekonstruktion dieser
durchführen;
2
sodann durch eine sokratische Dialogreflexion einem Skeptiker im Dialog der
Argumente
andemonstrieren,
daß
auch
er
(tu
quoque)
eine
Pflicht
zur
Verantwortungsbereitschaft implizit dadurch anerkannt hat, daß er in einen
argumentativen Dialog mit anderen/mit uns eingetreten ist.
49
Jonas, Philosophische Untersuchungen, S. 139.
Ebd., S. 140.
51
Jonas in: Böhler/Brune, 2004, S. 480.
50
20
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
Erläutern
wir
noch
einmal
den
ersten,
bloß
23.07.2007
vorbereitenden
Beweisschritt,
die
diskurspragmatische Rekonstruktion. Diese entwickelt, daß kommunikative Freiheit, die wir
in Anspruch nehmen, indem wir etwas Eigenes, das wir geltend machen wollen, vorbringen
(etwa ‚meinen‘ Gedanken über Freiheit jetzt), und Verantwortung im Dialog, die wir
anerkennen, indem wir Anderen gegenüber etwas zur Geltung bringen, von vornherein an
dem ebensowohl logischen wie ontologischen Ort verwoben sind, an dem wir beide
voraussetzen und ins Spiel bringen. Dieser Ort ist der Dialog. Denn im Dialog machen wir
von unserer Freiheit Gebrauch, indem wir Ansprüche auf Geltung für das, was wir
vorbringen, erheben. Diese kommunikative Freiheit können wir jedoch nur in dem Maße
verwirklichen, als wir auch zur Verantwortung bereit sind gegenüber den Anderen, die am
Dialog teilnehmen, und gegenüber denen, über die wir reden bzw. um deren Ansprüche es
geht. Gleichursprünglich mit ‚meiner‘ Freiheit ist im Dialog ‚meine‘ Anerkennung dessen,
daß ‚ich‘ anderen Rede und Antwort stehen können muß. In der Dialogsituation ist meine
Freiheit gleichursprünglich mit meiner Bereitschaft, mich zu verantworten für das, was ‚ich‘
frei äußere. Diese Bereitschaft betrifft unmittelbar meine Selbstverantwortung in dem gerade
geführten Diskurs. Mittelbar betrifft sie mein Engagement für die Realisierbarkeit und die
konkrete Realisierung des argumentativen Diskurses als Institution der gemeinschaftlichen
Wahrheits- und Richtigkeitssuche: Meine Mitverantwortung.
Was ‚meine’ mit ‚meiner’ kommunikativen Freiheit gleichursprüngliche Mitverantwortung
anbelangt, so erstreckt sie sich sowohl auf den Dialog als Verfahren und Institution, wie auch
auf die Subjekte als Träger von Ansprüchen, die im Dialog zu berücksichtigen sind. Sie
bezieht sich thematisch darauf, daß ‚wir’ dafür sorgen, die zu untersuchenden Probleme
hinreichend zu explizieren etc., institutionell aber darauf, daß wir uns um angemessene
Randbedingungen für die Untersuchung bemühen. Insbesondere um,
(a) Diskursgerechtigkeit nicht allein unter den Teilnehmern, sondern schon bei deren Auswahl
(welche Ansprüche sollten, direkt oder advokatorisch, in diesem Diskurs vertreten werden?),
(b) praktisches Engagement dafür, daß eine Revision fehlerhafter Diskursergebnisse möglich
ist und gegebenenfalls durchgeführt wird: Fallibilitätskontrolle,
(c) praktisches Engagement dafür, daß die Diskursergebnisse möglichst in die soziale
Wirklichkeit gebracht und in die Tat umgesetzt werden: praktische Diskursrelevanz,
(d) praktisches Engagement dafür, daß die politischen und sozialen Realisierungsbedingungen
für öffentliche argumentative Diskurse überall (weltweit) verbessert oder erst geschaffen
21
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
23.07.2007
werden: globale Diskursmöglichkeit. Wozu? Damit in allen Kontexten und für alle
Problemsituationen wahrheitsfähige und rechtfertigungsfähige Lösungen möglich sind.
Der erste Begründungsschritt, die rekonstruktive Pragmatik des Diskurses, hätte also (unter
anderem) die Aufgabe, die Verantwortungsbereitschaft in ihrer Verwobenheit mit der
kommunikativen Freiheit als unbezweifelbarer Begleitphänomene und Voraussetzungen der
Kommunikation aufzudecken. Die eine ist eine konstitutive Daseinseigenschaft, die andere eine
ebenso konstitutive soziale Erwartung. Jeder Mensch hat beide schon in Anspruch genommen,
wenn er überhaupt – sich bzw. anderen – etwas zu verstehen gibt und etwas geltend macht.
In einem zweiten Begründungsschritt würde dann die rekonstruierte Argumentations- und
Kommunikationsvoraussetzung hinsichtlich ihrer Allgemeingültigkeit bezweifelt, damit nun –
im reflexiven Dialog mit dem Zweifler – die Möglichkeit dieses Bezweifelns sokratisch
sinnkritisch getestet werden kann. Wenn sich in dieser Prüfung herausstellt, daß der
angemeldete Geltungszweifel für die konkreten Dialogpartner des Skeptikers nicht als
prüfbarer Dialogbeitrag verstehbar ist, dann kann er nicht triftig sein, dann trifft der Zweifel
nicht das Sein des Zweifelsgegenstandes. D.h.: dann gehört dieses Sein zum Sein des Dialogs,
es ist also ein Stück des Geltungsbodens und des Seinsbodens, auf dem der Zweifelnde als
Etwas-Denkender und Kommunizierender selber steht. Dann zeigt sich in dem reflexiv
sokratischen Dialog mit dem Skeptiker: Eine Bezweiflung der These, daß Freiheit und
Verantwortung
gleichursprünglich
sind,
so
daß
‚ich‘
prinzipiell
zur
Verantwortungsbereitschaft für den Dialog verpflichtet bin, wäre sinnlos, wäre ein
performativer Widerspruch. Einen solchen Zweifel kann ‚ich‘ zwar probeweise und for the
sake of argument vorbringen, doch kann ich ihn meinen Dialogpartnern gegenüber nicht
aufrechterhalten.
Warum kann ich das nicht? Weil ‚meine‘ Diskurspartner nur einen solchen Zweifler als
Argumentationspartner ernstnehmen und hinsichtlich seiner Dialogbeiträge verstehen können,
der zugleich seine kommunikative Freiheit (z.B. die Freiheit, jetzt eine Zweifelsthese zu
vertreten) und seine Bereitschaft zur Verantwortung in das dialogische Verhältnis einbringt
und der beide darin auch aufrechterhält. Im Dialog muß er verantwortlich dafür sein, daß er
den Anderen sinnvolle, diskutierbare Diskursbeiträge vorlegt: Beiträge, für die er als
glaubwürdiger Diskurspartner, d.h. ohne Selbstwiderspruch, Rede und Antwort stehen kann.
Eben das tut er nicht, wenn er dasjenige in Zweifel zieht, was er (im Verhältnis zu Anderen
und zu sich selbst) notwendigerweise als gemeinsame Sinnbasis beansprucht und
22
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
vorausgesetzt
hat
–
im
Sinne
eines
apriorischen
23.07.2007
Perfekts,
welches
mit
einer
Diskurspartnerrolle gegeben ist.
Freilich bringt auch Jürgen Habermas solche Zweifel vor. Z.B. weist er es als
„überschwenglich“
und
„fundamentalistisch“
zurück,
den
„allgemeinen
Argumentationsvoraussetzungen“ eine deontologisch verpflichtende Relevanz zuzuerkennen
– etwa im Sinne der oben unter „(d)“ postulierten Mitverantwortung für die „realen
Bedingungen einer freien, weltöffentlichen Durchführung von kritischen Diskursen (zumal
über Menschenrechtsfragen)“.52 Habermas denkt dabei allein in theoretischer Einstellung; er
geht nicht sokratisch auf sich selbst als Diskurspartner zurück. Konfrontierte er hingegen
diese seine diskurstheoretische Position mit der Rolle des Diskurspartners, die er praktisch
eingenommen hat, indem er diese Position (als Diskursbeitrag) uns gegenüber vertritt, dann
stünde er vor kruzialen sinnkritischen Fragen seiner Diskurspartner. Zum Beispiel: ‚Wie
sollen wir uns auf Sie als Kooperationspartner im Diskurs verlassen können, wenn Sie eine
Mitverantwortung für die Realisierungsbedingungen von Diskursen – hier und weltweit –
bezweifeln oder gar bestreiten? Und das, wo wir, auch Sie, doch beides wissen: Erstens, daß
die Mitverantwortung für solche Realisierungsbedingungen schon in diesem unseren Diskurs
beginnt – hermeneutisch als Bemühung, die kritische Position zu verstehen, praktisch etwa als
Engagement für eine gute Geschäftsordnung bzw. Diskussionsform. Zweitens, daß die
Erhebung und Prüfung von Geltungsansprüchen wie Verständlichkeit, mögliche Wahrheit und
Richtigkeit bzw. Legitimität nicht allein auf freie, weltöffentliche Diskurse zielt, sondern
geradezu auf dieses universelle Medium angewiesen ist. Warum? Weil diese logisch
universellen Ansprüche nur glaubwürdig erhoben und konsequent epistemisch geprüft werden
können, wenn man die regulative Idee der Universalität als verbindlich anerkennt und ihr
wirklich nachstrebt. D.h. wenn man sich auch darum bemüht, alle möglichen guten
Gegengründe in der Welt zur Sprache zu bringen.’
So etwa würde die reflexiv sokratische Prüfung des vom Diskurstheoretiker behaupteten Non
sequitur beginnen.53 Und sie wäre fortzusetzen hinsichtlich der, vom Diskurstheoretiker erst
recht bestrittenen, doch vom sokratischen Diskurspragmatiker behaupteten, regulativen Idee,
‚wir’ seien als Diskurspartner auch dazu verpflichtet, Mitverantwortung dafür zu übernehmen,
daß die Ergebnisse argumentativer Diskurse, zumal solcher über Menschheitsfragen, nicht
folgenlos bleiben, sondern – siehe oben Postulat „(c)“ – möglichst politisch, ökonomisch und
52
J. Habermas, „Zur Architektonik der Diskursdifferenzierung“. In: Festschrift Apel 2003, S. 64 u. 62 mit Fn.
22.
53
Auf die Sache – die Universalität der Geltungsgegenseitigkeit, ihre Verwobenheit mit einer
Verständigungsgegenseitigkeit (zwischen Diskursteilnehmern und Betroffenen), schließlich die dazu nötige
(Welt-)Öffentlichkeit – komme ich in der Auseinandersetzung mit Jonas zurück: hier Kapitel 3.
23
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
23.07.2007
ökologisch umgesetzt werden. Wer bezweifelt, daß dieses regulative Pflichtpostulat allgemein
verbindlich sei, müßte zeigen, daß er mit diesem Zweifel als Diskurspartner glaubwürdig
bleiben kann. Der Sokratiker würde ihn z.B. fragen: ‚Wie sollen deine Diskurspartner sich auf
deine Ernsthaftigkeit und Kooperationsbereitschaft (im Diskurs) verlassen können, wenn du
bezweifelst, daß ihr euch unbedingt (gemeinsam) bemühen sollt, die zusammen erarbeiteten
Diskursresultate auch in die gesellschaftliche Praxis zu bringen?’
Erst dann, wenn diese Begründungsfrage geklärt ist, ergibt es Sinn, die konkrete Frage zu
erörtern: ‚Auf welche Weise sollte diese Bemühung realisiert werden? Wie können wir die
Resultate eines argumentativen Diskurses in die Praxis bringen, wie sie durchsetzen etc.?’
Das ist ein Anwendungsproblem, und zwar das einer moralstrategischen Durchsetzung dessen,
was schon als im Prinzip richtig und geboten erkannt ist. Die Antwort darauf kann im
Anschluß an Habermas gegeben werden: Die Richtung der praktischen Umsetzung läge in
einer Verbesserung des nationalen und internationalen Rechts. In diesen Institutionen erblickt
Habermas den „einzig gangbaren Weg zu einer moralischen Reformierung unseres
Verhaltens“.54
Ein solcher sinnkritischer elenchos bildet, mit Gunnar Skirbekk zu sprechen, den
praxeologischen Kern von Kants Lehre eines Faktums der Vernunft, die Hans Jonas von
Gadamer offeriert worden ist. Denn Kants Idee läßt sich überführen in eine Lehre des
Beanspruchthabens
von
Freiheit
und
des
einsehbaren
Anerkannthabens
von
Verantwortlichkeit auf dem gemeinschaftlichen Seinsboden und Geltungsboden des Dialogs.
Problemgeschichtlich gesehen, wäre das eine dialogreflexive Aufhebung Kants, nämlich
seines eigenen, mißlungenen Aufhebungsversuchs der metaphysischen Vernunftlehre, durch
Rekonstruktion eines moralisch gehaltvollen „Faktums“ der dialogischen Vernunft. Den
Anstoß dazu hatte Apel 1967/1973 gegeben, als er Kants Rede vom „Faktum der Vernunft“
als
„Ergebnis
transzendentaler
Selbstbesinnung“
interpretierte
und
vorschlug,
sie
transzendentalpragmatisch zu „dechiffrieren“.55 1990 präzisierte er gegenüber Karl-Heinz
Ilting und dem Dezisionismus, daß eine Besinnung auf die diskurs- und damit
vernunfttragenden Verpflichtungen nicht etwa ein kontingentes Faktum zutage fördere,
sondern „ein einsehbares in Freiheit Anerkannthaben, das für die Selbstreflexion der
Vernunft immer schon ein ‚Faktum der Vernunft‘ (apriorisches Perfekt!) ist“.56 Der reflexive
Rückgang darauf sei weder ein naturalistischer Fehlschluß noch eine petitio principii, denn er
54
Jürgen Habermas, in: Festschrift Apel 2003, S. 64 und S. 62 mit Fn. 22.
Apel, Transformation II, S. 418.
56
Ders., Auseinandersetzungen, S. 231.
55
24
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
23.07.2007
besage: „Wer mit dem Willen zur Selbstkonsistenz argumentiert – und dies kann man als
nichthintergehbar unterstellen –, der hat insofern nicht mehr die Wahlfreiheit, sich auch gegen
das Sittengesetz zu entscheiden; denn dieses hat er ineins mit dem Willen zur
selbstkonsistenten Argumentation – d.h. ineins mit dem Adressieren einer idealen
Argumentationsgemeinschaft – schon notwendigerweise anerkannt“.57
Nunmehr können wir Jonas’ metaphysische Deduktion des Zugleich von Freiheit und
Verantwortlichkeit in zwei Schritten ohne Metaphysik einholen: (1) durch Rekonstruktion von
Diskurspräsuppositionen, dann (2) durch eine Reflexion darauf, ob jeweils ‚ich’ als
Diskursteilnehmer das Rekonstruktionsergebnis sinnvoll bezweifeln kann – hier also das von
Jonas angenommene Zugleich.
Das Zugleich von Freiheit und Verantwortlichkeit – diskurspragmatisch eingeholt durch
Diskursrekonstruktion (1) und aktuelle Diskursreflexion (2)
(1)
Der argumentative Dialog ist mit allem menschlichen Verhalten verwoben: als Apriori
eines (möglichen) Begleitdiskurses.
Der Dialog ist der Ort, an dem wir frei etwas zur Geltung bringen wollen.
Unsere Ansprüche auf Geltung können wir nur einlösen, indem wir mit den anderen
als verantwortungsbereite Diskurspartner kooperieren.
Im
Dialog
zeigt
sich,
daß
kommunikative
Freiheit
in
wechselseitigem
Voraussetzungsverhältnis nicht bloß zum Faktum der Verantwortungsfähigkeit steht
(so Jonas),sondern zugleich zur moralischen Norm der Verantwortlichkeit.
(2)
Dieses
Sich-Zeigen
kann
nicht
als
fallibles
Ergebnis
einer
theoretischen
Rekonstruktion relativiert werden, weil beides, was im Dialog in Erscheinung tritt,
kommunikative Freiheit und Verantwortungsbereitschaft, auch von denen, die kritisch
über die Rekonstruktion reden, durch diese Rede bereits notwendig in Anspruch
genommen worden ist.
Daher läßt sich im Dialog – durch aktuelle Reflexion auf Diskursvoraussetzungen,
welche die Rekonstruktion aufdecken will – auch erweisen, daß jeder von vornherein
den zwiefachen Anspruch erheben muß, er besitze bzw. realisiere kommunikative
Freiheit, und er sei bereit, Verantwortung zu übernehmen. Wofür? Für die
57
Ebd.
25
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
Wahrheitssuche
und
Richtigkeitssuche
23.07.2007
im
Dialog,
zudem
für
die
Realisierungsbedingungen freier argumentativer Diskurse.
Denn wer das in Zweifel zöge, beginge einen diskurspragmatischen Widerspruch. Die
Erkenntnis dieses (drohenden) Widerspruchs ergibt sich durch sokratische
Dialogreflexion: Besinnung in dem aktuell geführten Dialog auf vorausgesetzte
Sinnbedingungen eines argumentativen Diskurses.
So läßt sich die Unbezweifelbarkeit von kommunikativer Freiheit und moralischer
Verantwortungsbereitschaft (im argumentativen Dialog), von Jonas metaphysisch und von
Apel transzendentalpragmatisch angenommen, demonstrieren: in einem realen Dialog der
Argumente mit einem Zweifler als leibhaftem Dialogpartner, kann ‚ich‘ diesem ‚meinem‘
Partner jederzeit beweisen, daß er aus dem Dialogverhältnis ausbrechen müßte und von ‚mir‘
(und anderen möglichen Partnern) nicht mehr als glaubwürdiger Diskurspartner anerkannt
werden
könnte,
wenn
er
das
Verwobensein
seiner
Freiheit
mit
seinem
Verantwortlichseinwollen und damit die Verbindlichkeit des Moralprinzips bzw. des
Sittengesetzes in Zweifel zöge. Geht nämlich ein solcher Dialogtest für den Zweifler negativ
aus, dann ist dialogevident, daß die bezweifelte Annahme eines Prinzips in der Tat eine
Sinnbedingung argumentativer Diskurse ist – also ein wahrhaft verbindliches Prinzip.
Die reflexiv sokratische Dialog- und Diskurspragmatik kann auf der Ebene allgemeingültiger
Kriterien zweierlei nachkantische Errungenschaften in das Gespräch mit Jonas einbringen.
Erstens bietet sie eine dialogische Gültigkeitsprüfung der ethischen Intuitionen, die wir aus
der Lebenswelt mitbringen: Enthalten sie einen normativen Kern, der sich so präzisieren läßt,
daß er als dialogevident gelten kann?
Mit Recht legt Jonas auf die Erschließung lebensweltlicher Intuitionen großen Wert. Und es
ist der Rückgang auf allgemein einsichtsfähige Moralintuitionen, der seinem normen- und
wertphänomenologischen
Ansatz
–
im
Unterschied
etwa
zu
dem
transzendentalphilosophischen Diskursansatz Apels und zu Habermas’ verfahrensförmigem
Diskursansatz – eine attraktive Konkretheit und starke Motivationskraft verleiht. Beides kann
eine Vernunftethik wie die Diskursethik m. E. nur gewinnen, wenn sie – im Anschluß an
Jonas – transformiert wird zu einer sokratischen Ethik des Sich-im-Dialog-Verantwortens. Sie
würde dann die sinnkritische Verbindlichkeitsfrage direkt dialogisch ins Spiel bringen und sie
26
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
23.07.2007
auf den ersten beiden Stufen der reflexiven Prinzipienbegründung (A1 und A2) als
Verbindlichkeitsprüfung etablieren:
>Welche lebensweltlichen moralischen Intuitionen hast du – der du ein glaubwürdiger
Diskurspartner sein willst – eigentlich schon anerkannt und solltest sie unbedingt zu befolgen
versuchen? Denn anderenfalls müßtest du dich in einen performativen Selbstwiderspruch
verwickeln und die von dir beanspruchte Glaubwürdigkeit des Diskurspartners verlieren.<
Zweitens kann die sokratisch reflektierende Diskurspragmatik Jonas’ Begründungsdefizit
beheben. Denn sie kann erweisen, daß Jonas’ kategorischer Imperativ unhintergehbar ist und
infolgedessen als verbindliches Prinzip zu gelten hat58 – unbeschadet möglicher Konkretionen
auf der Orientierungsebene idealer praktischer Diskurse (für die Jonas Gedankenexperimente
wie das von der Wette in allem Handeln einsetzt) und unbeschadet nötiger
erfolgsverantwortungsethischer Strategien auf der Handlungsebene. Damit ist, wie ich hoffe,
die innere Herausforderung der praktischen Vernunft durch die wissenschaftlich-technische
Zivilisation angenommen und die Komplementaritätsstruktur des modernen westlichen
Geistes wirklich aufgehoben.
Mit dem reflexiv philosophischen Begründungsdiskurs, der einen solchen Prinzipienerweis
erlaubt, haben wir den zweiten Namensgeber der strikten Diskursethik vor uns: im Sinne des
genitivus obiectivus. Die dialogpragmatische Form der Diskursethik – nicht zu verwechseln
mit Habermas’ „formalpragmatischer“ bzw. „diskurstheoretischer“ Schwundstufe von
Diskursethik – ist eine allgemeine Prinzipienethik. Ihre nicht metaphysische, sondern
dialogreflexive Begründung des Moralprinzips und der moralischen Grundnormen vollzieht
sich durch Diskurs und im Diskurs. An einem solchen Begründungsdiskurs kann jeder
teilhaben; seine Resultate sind allgemeingültig, insofern sie jederzeit intersubjektiv
nachprüfbar sind. Gemäß des Berliner Dialogdenkens bedeutet „Diskursethik“ in diesem
zweiten Sinn so viel wie: Prinzipienethik aufgrund von reflexiven Dialogen im Gespräch mit
einem Skeptiker, insofern er einen Zweifel an der Gültigkeit und Verbindlichkeit eines
Prinzips vorbringt, der als Argumentationsbeitrag für die Diskurspartner dialogpragmatisch
unverständlich ist, so daß sie sich darauf nicht eigentlich einlassen und auf Basis dieser
Zweifelsthese nicht mit ihm kooperieren können.
58
Böhler, „Idee und Verbindlichkeit der Zukunftsverantwortung“, in: EWD-3, S. 34ff. Ders., „Warum moralisch
sein?“ in: Prinzip M.V., S. 15ff. Ders., „Glaubwürdigkeit des Diskurspartners“, Abschn. 1.4.1 – 1.4.2, in:
Wirtschaft und Ethik. Strategien contra Moral?. EWD-Bd. 12, Müster (LIT) 2004.
27
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
23.07.2007
Der normative Gehalt der Diskursethik als Prinzipienethik erschließt sich, wenn wir dreierlei
tun: Wir erinnern uns zunächst an die moralischen Intuitionen, die wir aus unserer Lebenswelt
als Vorverständnis dessen mitbringen, wozu wir in einem ernsthaften Dialog verpflichtet sind.
Wir fragen uns also, was eigentlich zu der Rolle eines Partners in einem argumentativen
Dialog gehört, und sammeln unsere diesbezüglichen Annahmen. So gewinnen wir die
Kandidaten für normative Sinnbedingungen eines Dialogbeitrags und damit für die
konstitutiven Normen unserer Diskurspartnerrolle. Was wir auf diese Weise erhalten, ist
freilich nur ein Vorverständnis.
Dieses Vorverständnis müßte nun, zweitens, in eine logische Ordnung gebracht werden,
gewissermaßen in ein (vielleicht prinzipiell nur offenes) System. Und zudem müßten in
diesem ‚System’ die Arten der Sinnbedingungen unterschieden werden. Hierzu bietet es sich
an, zwischen Geltungsansprüchen und vorgängigen bzw. primordialen Dialogversprechen zu
differenzieren. Außerdem wäre nach dem internen Verhältnis zu fragen, das die
Geltungsansprüche sowohl untereinander als auch zu den Dialogversprechen haben. Dieselbe
Frage wäre im Blick auf die Dialogversprechen zu klären. Denn wenn es ein internes System
ist, müßte hier eine Verwobenheit bestehen. Gewissermaßen könnte kein Mosaikstein
herausgebrochen werden, ohne den inneren Zusammenhang des Ganzen zu zerstören. Ein
Kriterium für diese interne Verwobenheit haben wir in der Frage, ob sich diese einzelnen
Elemente zwanglos als solche des Diskursprinzips bzw. des argumentativen Dialogs
interpretieren lassen. Anders gefragt: Können wir im Blick auf diese Elemente ein bündiges
Prinzip formulieren, das den Kerngehalt dieser bildet. Der Kerngehalt ist die Anerkennung
der Pflicht, sich um Handlungsweisen und um Diskussionsbeiträge zu bemühen, die unter
idealen Bedingungen argumentativ zustimmungswürdig sind. Das ist es, worum wir uns zu
bemühen haben. Ob jedoch die jeweils vorgeschlagene Handlungsweise oder die je
vorgetragene Argumentation wirklich in einer reinen und unbegrenzten Gemeinschaft der
Argumentierenden finden würde, das entzieht sich unserem Wissen- und Tunkönnen. Darauf
können wir nur hoffen, dürfen aber auch darauf hoffen.
Die Fragen aber, wieviele einzelne Dialogversprechen zu unterscheiden sind, oder in welcher
Weise genau sie voneinander abzugrenzen sind, läßt sich nur in einem offenen Prozeß der
Problemfindung beantworten. Je nachdem, welche Probleme gestellt werden, je nachdem
auch, welche Kandidaten für Diskursnormen in Zweifel gezogen werden, können sich
teilweise differierende Formulierungen, Abgrenzungen oder Zusammenfassungen ergeben.
28
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
23.07.2007
Hier befinden wir uns in dem hermeneutischen Zirkel zwischen dem Vorgriff auf ein
mögliches System, den wir mit Hilfe des Diskursprinzips – als dem Kern der einzelnen
Sinnbedingungen – machen können, und dem ausgeführten System der möglichst vollzähligen
Diskursnormen. Wenn freilich der Methodenweg der hermeneutischen Ellipse unumgänglich
ist, dann muß für die Rekonstruktion wohl zugestanden werden, daß sie uns nur zu einem
offenen System führen kann.
Schließlich haben wir die Möglichkeit – das wäre der dritte und entscheidende Beweisschritt
–, einer reflexiven Vergewisserung und Prüfung, ob die einzelnen von der Rekonstruktion
angegebenen
Elemente
tatsächlich
im
strengen
Sinne
intersubjektiv
gültig
und
diskursverbindlich sind. Wir lassen, wie oben schon gezeigt, den Skeptiker zu Wort kommen
und diesen Geltungsstatus jeweils eines einzelnen Elementes anzweifeln. Dann erproben wir
mit ihm als einem argumentativen Diskurspartner, ob sich dieser Zweifel vereinbaren läßt mit
der von ihm selbst eingenommenen Dialogrolle. Das ist die sokratische aktuelle
Dialogreflexion. Sie prüft, ob der Kandidat einer Diskursnorm wirklich dialogevident ist.
Dialogevidenz im reflexiven Diskurs mit dem Skeptiker ist das entscheidende
Beweiskriterium.
So also geht die diskurspragmatische Prinzipienbegründung vonstatten. Wir können so –
zunächst im Sinne der Rekonstruktion – das folgende Schema aufbauen, um es dann in seinen
einzelnen Punkten Schritt für Schritt sokratisch zu validieren. Bitte versuchen Sie es selbst –
und verbessern Sie damit möglicherweise dieses (ja auch von mir schon einige Male
verbesserte) Schema. Jetzt sieht es folgendermaßen aus:
29
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
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Normative Sinnbedingungen eines Dialogbeitrags /
Normen der Diskurspartnerrolle / Elemente des Diskursprinzips
Diskurspragmatisch sinnvoll, d.h. diskutierbar als Beitrag zu einem
argumentativen Dialog, ist eine Rede, ein Gedanke als
Einlösungsversuch von:
vier Geltungsansprüchen (a)
einlösbar durch:
Selbstverantwortung
Selbst- und
Mitverantwortung
erfüllbar
durch:
Selbstverantwortung
Selbstund
Mitverantwortung
a1) Anspruch auf Verständlichkeit der Redehandlungen (R) als
Nachvollziehbarkeit ihres Sinns mit Widerspruchsfreiheit
des propositionalen Gehalts (P) als P, als Teil von R und von
R als Diskursbeitrag (Voraussetzung für Andere, mit dem
Sprecher (S) über R kommunizieren zu können),
a2) Anspruch auf Wahrhaftigkeit der Sprecherintention samt
Glaubwürdigkeit der Diskursbereitschaft (Voraussetzung
für Andere, mit S über R kommunizieren zu wollen, sich auf
R einlassen zu können),
a3) Anspruch auf Wahrheit bzw. Wahrheitsfähigkeit meiner
Proposition, so daß sie im Diskurs ernsthaft (s.o.: a2)
vorgebracht und intersubjektiv geprüft werden kann,
a4) Anspruch auf Legitimität bzw. Richtigkeit von Normen und
Handlungsweisen (auch ‚meiner’ in der Diskussion),
woraufhin sie im Diskurs geprüft werden können;
konstitutive
Bedingung für
Kommunikation
überhaupt
teils konstitutive
Bedingung, teils
regulative Idee
mit konstitutiver
Funktion für
Dialoge und
Kooperationen
und sechs vorgängigen Dialogversprechen (b)
b1) sich den Anderen mit prüfbaren Diskursbeiträgen als
autonomer Diskurspartner zur Verfügung zu stellen, also
sich um widerspruchsfreie und sachlich wahrheitsfähige
Dialogbeiträge zu bemühen,
b2) die nicht begrenzbare Gemeinschaft aller möglichen
Anspruchssubjekte, mithin das Universum der sinnvollen
Argumente bzw. der sinnvoll argumentierbaren
Lebensansprüche als letzte Sinn- und Gültigkeitsinstanz,
(selbst- und ergebniskritisch) zu berücksichtigen, also auch
nach möglichen besseren Argumenten zu suchen,
b3) allen Anderen gleiche Rechte als möglicher Dialogpartner
zuzuerkennen und ihre Würde zu achten:
Diskursgerechtigkeit (mit Fairneß) und Menschenwürde,
b4) mitverantwortlich zu sein für den Diskurs (als Möglichkeit
der Verantwortung, jetzt und in Zukunft,
also auch für die (in konkreten, falliblen Diskursen zu
ermittelnden) menschen-rechtlichen, ökologischen, sozialen
und kulturellen Realisierungsbedingungen öffentlicher
Diskurse,
b5) die Fallibilität von Situationsanalysen und
situationsbezogenen Diskursen zu berücksichtigen, also
deren Ergebnisse revisionsfähig zu halten und keine
irreversiblen Handlungsweisen zu empfehlen, deren Folgen
mit (b1) bis (b4) unverträglich sein können,
b6) auch in diesem Sinne (b5) mitverantwortlich zu sein für die
tendenzielle Umsetzung der Diskursergebnisse in die
alltagsweltlichen und gesellschaftlichen Praxisfelder.
Sinngeltung
diskursbezoge
ne regulative
Ideen mit
konstitutiver
Funktion für
Dialoge und
Kooperationen
30
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
23.07.2007
Allerdings ist das, was nach der Prinzipienbegründung – also nach geleistetem
Verbindlichkeitserweis des Prinzips der Mitverantwortung für den Fortbestand der
Menschengattung und für Fortschritte in Sachen Menschenwürde und Gerechtigkeit – noch zu
denken und immer wieder zu tun bleibt, mehr als genug: sowohl die Bewältigung der äußeren
bzw. materialen Herausforderungen der praktischen Vernunft durch die technologische
Zivilisation, also die Eindämmung der Menschheits- und Naturgefährdungen, als auch die
Erweiterung des Horizonts und Veränderung der Urteilsgewohnheiten, mit denen wir kraft
unseres Common sense und unserer Ethiktradition die neuartigen Gefahren verharmlosen,
dadurch aber nochmals zuspitzen. Die Hauptziele dieses Mitverantwortungsengagements
können wir mit Jonas als „Weiterwohnlichkeit der Welt“ und als „künftige Integrität des
‚Ebenbildes‘“59 umschreiben.
4. Absolute Pflicht zum Dasein der Menschheit. Hans Jonas’
transzendentaler Begründungshinweis und seine orientierenden
Gedankenexperimente.
In seinem Werk „Das Prinzip Verantwortung“ schlägt Jonas, um angesichts der Menschheitsund Naturgefährdungen moralische Handlungsorientierungen zu gewinnen, zwei Wege ein:
die transzendentalphänomenologische Herausarbeitung ethischer Intuitionen und die
Durchführung von Gedankenexperimenten zu deren Konkretion. Diese „Denkexperimente“
sollen die normativ-ethische Diskurs-Frage >Was sollen wir tun?< beantworten, und zwar vor
dem Hintergrund der unvermeidlichen Risikobeladenheit menschlichen Handelns im
allgemeinen und des technologievermittelten bzw. technologischen Handelns im besonderen.
Es geht also, moralintrinsisch, um die richtigen, moralisch legitimierbaren Maximen.
In dem Gedankenexperiment der „Heuristik der Furcht“ nimmt Jonas ethische Intuitionen auf.
Am Anfang steht die zukunftsethische Grundintuition, daß die Bewahrung des Menschen, so
wie er ist, nicht allein ein lohnendes Ziel sei60, sondern eine fundamentale Pflicht: die „Pflicht
59
60
Jonas, „Technik, Freiheit und Pflicht“, in ders.: Wissenschaft als persönliches Erlebnis, S. 46 und P.V., S. 393.
Jonas grenzt sich damit von dem metaphysischen bzw. anthropologischen Utopismus ab, wie er radikal von
Ernst Bloch, die Hoffnung auf ein „Sein wie Utopie“ zum Prinzip des Daseins erklärend, vertreten worden
ist. Vgl. Jonas: P.V., S. 340f,371-373,380-387. Ders., Technik, Medizin und Ethik, Frankfurt a.M. (Insel)
1985, S. 298ff (zit.: TME). Ders., Fatalismus wäre Todsünde. Gespräche über Ethik und Mitverantwortung
im dritten Jahrtausend, Münster (LIT) 2005 (zit.: Fatalismus), S. 110f, 76-80 und 95. Dazu: D. Böhler,
„Verstehen und Verantworten“, Einl. zu: Fatalismus, S. 15-18.
31
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
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zum Dasein künftiger Rechtssubjekte“, die uns „unter anderem allererst das Recht gibt,
Wesen wie uns ungefragt ins Dasein zu bringen. Das Recht im einzelnen folgt hier aus der
Pflicht im allgemeinen, und nicht umgekehrt.“61
Dieser pflichtethischen Intuition mißt Jonas einen unhintergehbaren transzendentalen
Stellenwert zu. Er stützt ihn durch eine transzendental-ontologische, von Edmund Husserl und
Max Scheler inspirierte, Besinnung darauf, was Menschen unumgänglich voraussetzen
müssen – sowohl in ihrer technologischen Praxis, die einer schöpferischen Schicksalslenkung
diene, und in ihrer Freiheit, die sie (auch dabei) in Anspruch nehmen, als auch in ihren
allgemeinen kognitiven Leistungen, also der Erkenntnis und der Bewertung von etwas. Leider
nur
durch
Begründungsskizzen
zur
Flankierung
seiner
technikethischen
Gedankenexperimente spricht Jonas moralisch relevante Voraussetzungen an, die wir
praktisch und kognitiv gewissermaßen im Rücken haben. So gewinnt er die moralische
Prinzipienperspektive seines neuen kategorischen Imperativs und der Gedankenexperimente,
die er anstellt, um uns für dessen Beherzigung zu motivieren. Es geht ihm, wie gesagt, um die
Begründung einer menschheitlichen Pflicht, das Dasein der Nachkommen als die
Existenzform von Rechtssubjekten mit legitimen Ansprüchen uns Heutigen gegenüber zu
gewährleisten. Sein unbedingter moralischer Imperativ fordert: „Handle so, daß die
Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens
auf Erden.“62
Die in diesem Imperativ eingeschlossene Pflicht, „das Erbe einer vorangegangenen Evolution
zu wahren“, begründet Jonas mit der transzendentalen Überlegung, daß wir gar nicht umhin
können, „eine wesenhafte Zulänglichkeit unseres innerweltlichen Gewordenseins als
Voraussetzung [sic!] aller Ermächtigung zu schöpferischer Schicksalslenkung zu postulieren.“
Er erläutert diese immer schon vorausgesetzte und notwendig vorauszusetzende
Zulänglichkeit als „die Zulänglichkeit für Wahrheit, Werturteil und Freiheit.“63
Was hat es mit dieser Voraussetzung auf sich?
Jonas zeichnet sie transzendental-ontologisch als natürliche Bedingung der Möglichkeit
unserer Fortsetzung der Evolution aus. Doch müßte hinzukommen, daß ‚wir’ uns in der Praxis
und damit in unseren Begleitdiskursen zutrauen, dabei Wahrheit, Werturteil und Freiheit
hinlänglich zu realisieren. Es wäre also zu zeigen, daß es sich hier um Ansprüche handelt, die
wir nicht etwa nicht erheben, sondern relativieren oder ignorieren könnten. Das liefe auf eine
61
Jonas, P.V., S. 89f.
Jonas, P.V., S. 36.
63
Ebd., S. 73f.
62
32
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diskurspragmatische Vertiefung von Jonas’ ontologischem Argument hinaus. Dadurch können
die Handelnden gleichsam bei ihren eigenen Ansprüchen gepackt werden, die sie in
Begleitdiskursen ihrer Praxis notwendig erheben müssen.
Lassen Sie uns zunächst beide Argumente in folgendem Schema unterscheiden. Dann führen
wir sie zusammen, indem wir Jonas sinnkritisch und diskurspragmatisch interpretieren.
Jonas’ transzendental-ontologischer Hinweis:
Voraussetzung
unserer Ermächtigung zu schöpferischer Schicksalslenkung ist
die Zulänglichkeit für Wahrheit, Werturteil und Freiheit.
Diskurspragmatische Ergänzung:
Voraussetzung
der begleitenden Diskurse
einer solchen verantwortlichen Lenkung ist es,
daß wir (in den Begleitdiskursen unserer Praxis)
uns die Zulänglichkeit für Wahrheit, Werturteil und Freiheit
zutrauen und in Anspruch nehmen müssen.
33
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
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Jene logisch notwendig zu postulierenden, sagen wir, Ansprüche auf logische Geltung und auf
Freiheit haben – das läßt sich durch eine aktuelle Dialogreflexion erweisen – in der Tat den
Status der Unbezweifelbarkeit. Zu Recht zählt sie Jonas zur „Vorbedingung alles
Revidierenkönnens“: Sie gehörten nicht ihrerseits zu dem, was wir revidieren können, seien
vielmehr „ein Absolutum, das als höchstes und verletzliches Treugut uns die höchste Pflicht
der Bewahrung auferlegt.“64
Hier blitzt ein transzendentales, sinnkritisches Argument gegen Skeptiker oder Fallibilisten
und gegen Technikutopisten auf, welche meinen mögen, es sei doch alles revidierbar oder
alles zur Veränderung in unsere technische Macht gegeben. Auch wenn das faktisch so sein
mag, – läßt sich für eine Revision von allem und jedem, auch der Ansprüche auf Wahrheit,
Werturteil und moralische Freiheit, welche die Anerkennung der Anderen als moralischer
Rechtssubjekte uns gegenüber einschließt, widerspruchsfrei argumentieren? Das ist die
quaestio juris der Vernunft. Kant hat sie als transzendentale Frage nach dem Rechtsgrund von
vernünftig sein wollenden Einlassungen und Ansprüchen ausgezeichnet.65 Einzig darum kann
es vor dem „Gerichtshof der Vernunft“ resp. in einem argumentativen Diskurs gehen. Es ist
dieser vernunftkritische und vernunftreflexive Hintergrund, vor dem Jonas – in der spürbaren
Atemlosigkeit eines alten penseur engagé, konfrontiert mit den ungeheuerlichen Folgelasten
der hochtechnologischen Wirtschaftsgesellschaft – die absolute Pflicht zum Dasein der
Menschheit einführt.
Die absolute Pflicht zum Dasein der Menschheit schließe, so argumentiert Jonas weiter, für
uns eine erste verantwortungsethische Pflicht ein, nämlich dafür zu sorgen, daß wir die
Fähigkeit der zukünftigen Menschheit, sich im Dasein zu halten und auf dem Planeten zu
leben, „nicht präjudizieren“, geschweige denn sie vereiteln. Unter dieser „Pflicht gegen das
Sosein der Nachkommen, die sich aus der Pflicht zu ihrem Dasein also erst ableitet, [...]
stehen dann auch die anderen [scil: verantwortungsethischen] Pflichten gegen sie, zum
Beispiel gegen ihre Glücksmöglichkeiten.“66
Zu den Glücksmöglichkeiten unserer Nachkommen zählt, so hebt die Diskursethik hervor, in
erster Linie die kommunikative, mithin auch politisch ethische Freiheit, sich über die eigenen
Werte und Lebensziele zu verständigen, sie zu wählen und legitim zu realisieren. Deswegen
64
Ebd., S. 74.
I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 116 ff., vgl. A XI f.
66
Ebd., S. 90.
65
34
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23.07.2007
sei es ein Verfahrensgebot, die Standpunkte der Betroffenen möglichst zur Sprache kommen
zu lassen, damit ihre konkreten Lebensansprüche entfaltet und, soweit nötig, in konkreten
Diskursen geprüft werden können. Dazu bedarf es, wie wir (kritisch gegenüber Jonas)
bemerken werden, rechtsstaatlicher Verhältnisse einer freien Öffentlichkeit und der
Anerkennung des Prinzips einer Verständigungsgegenseitigkeit.
Versuchen
wir,
Jonas’
Unterstellung
bzw.
Teilskizze
eines
transzendentalen
Verbindlichkeitserweises der Pflicht zum Dasein einer zukünftigen Menschheit in
transzendentalpragmatischer Sicht und im Blick auf eine aktuelle Dialogreflexion, die hier
aber nicht ausführbar ist, auszuarbeiten, dann eröffnet sich der folgende Begründungsweg..
Proponent:
Die Frage ist, ob es moralische Verbindlichkeiten gibt, die jeder implizit
vorausgesetzt und anerkannt hat.
Opponent:
Welche sollten das sein?
Pro.:
Nun, genau diejenigen,die enthalten sind in deinem Beanspruchen
von Wahrheit, Werturteil und Freiheit
Opp.:
Warum denn das?
Pro.:
Warum? Diese Ansprüche sind in einem argumentativen Diskurs, also vor dem
Gerichtshof der Vernunft, nicht revidierbar, weil sie „zur Vorbedingung alles
[scil: argumentativen (D.B.)] Revidierenkönnens“ zählen, wie Jonas mit Recht
sagt.
Opp.:
Aber sind denn darin auch makroethische Verbindlichkeiten eingeschlossen?
Darum geht es doch in einer Zukunftsethik.
Pro.:
Ja, die Pflicht zur Achtung der Nachkommen als Rechtssubjekte ist in diesen
deinen Ansprüchen impliziert.
Opp.:
Warum? Jonas schweigt hier wohl, oder?
35
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
Pro.:
23.07.2007
Jonas ist hier schweigsam, aber die Transzendental- bzw.
Diskurspragmatiker denken auf seiner Spur.67 Denke mit:
Du selbst hast als Diskursteilnehmer universale Wahrheitsansprüche
vorausgesetzt. Deren Sinn (Wahrheit) und logische Reichweite (Universalität)
würdest du zerstören, mithin dich als Diskurspartner unglaubwürdig machen
und aus der Argumentationsgemeinschaft ausscheiden, wenn du nicht zweierlei
tätest. Erstens mußt du allen möglichen anderen Diskursteilnehmern das Recht
auf Dasein und freie Diskursteilnahme zuerkennen, und zweitens mußt du
selbst Mitverantwortung dafür übernehmen, daß auch den Nachkommen die
objektiv reale Möglichkeit zuteil wird zwei moralische Urrechte
wahrzunehmen: das Recht auf Leben und das Recht auf freie Diskursteilnahme
(samt politischen, sozialen u. a. Realisierungsbedingungen).
Zurück zu Jonas’ Ausgangspunkt, seiner Grundintuition, es bestehe die Pflicht zum Dasein
der Menschheit. Dieser Ansatz macht seine Zukunftsethik zunächst zu einer Ethik der
Menschheitsbewahrung und gibt deren normativen Rahmen ab: Jedes technologische Risiko
müßte verträglich sein mit der Permanenz moralfähigen Lebens auf Erden. Im Hintergrund
steht eine „moralische Furcht“, die „Furcht um den Menschen“ in der hochtechnologischen
Zivilisation68. Wachsen die kumulativen Folgen der industriegesellschaftlich normalen
Konsumpraxis und ihres Fortschritts- und „Wachstums“-Gangs den sittlichen Fähigkeiten des
Menschen über den Kopf? Werden sie am Ende die moralfähige und menschenwürdige
Fortexistenz der Gattung unmöglich machen?
Zu jener, vor allem ökologisch ethischen Furcht zugunsten möglicher Betroffener tritt eine
andere,
eine
intern
moralische
Sorge.
Denn
nicht
allein
die
ökologische
Ausdehnungsdimension der hochtechnologisch vermittelten Lebenspraxis ist so gut wie
grenzenlos geworden, auch die Tiefendimension der hochtechnologischen Forschung
überschreitet
längst
jedes
Manipulationsmöglichkeiten
vertraute
und
ethische
Maß:
Die
Konstruktionsmöglichkeiten
molekularbiologischen
menschlichen
Lebens
67
Vgl. Apel, „Die ökologische Krise als Herausforderung für die Diskursethik“, in: D. Böhler u. J. P. Brune
(Hg.), Orientierung und Verantwortung Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, S: 223-258, bes. S. 239 ff.
D. Böhler, „Ethik der Zukunfts- und Lebensverantwortung. Erster Teil“, in: ebd., S. 97-160, bes. S. 115 ff., vgl.
S. 145 ff. Ders., „Dialogreflexive Sinnkritik als Kernstück der Transzendentalpragmatik“, in: Ders., M. Kettner
u. G. Skirbekk (Hg.), Reflexion und Verantwortung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 15-43, bes. S. 33 ff.
68
Jonas, Fatalismus, S. 137. Ders., P.V., S. 63-65.
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überrennen alle Grenzen, welche unsere ethischen Intuitionen und judäo-christlichen
Traditionen vom Menschen als dem unantastbaren Ebenbild Gottes gesetzt hatten.
Für die Risikobeurteilung bringt Jonas zunächst eine „Heuristik der Furcht“ ins Spiel: das
vorgestellte malum anderer, das mögliche „Unheil kommender Geschlechter“. Sich davon
„affizieren zu lassen“, sei die eine „>einleitende< Pflicht“ der gesuchten Zukunftsethik; die
allererste aber sei die Pflicht zur vorausdenkenden Beschaffung der Vorstellung jenes malum.
Welche Einstellung ist erforderlich, um diese einleitenden Pflichten erfüllen zu können?
Offenkundig ein idealer Rollentausch mit den möglichen Nachkommen. Dieses
dialogbezogene Konzept haben G. H. Mead und die Diskursethik eingeführt: In Fällen der
Abwesenheit bzw. Unerreichbarkeit der Betroffenen sollen die Akteure bzw. die aktuellen
Diskursteilnehmer einen argumentativen Dialog mit ihnen fingieren, indem sie oder ein
kompetenter Teil von ihnen als Anwälte die zu vermutenden Interessen, Werte und Ansprüche
der Betroffenen entwickeln und zur Geltung bringen.
Ähnlich nimmt Jonas hier den Standpunkt der Betroffenen ein, indem er seinen Lesern einen
negativen Wert-Test vor Augen führt: ‚Überlege zunächst, welche Folgen deiner Handlung
dir, dessen Wollen in die Richtung des Guten geht, aus dem Blickwinkel der Betroffenen
Furcht einflößen würden.’ Ein solches Denkexperiment provoziert zunächst – also im Sinne
der ersten einleitenden zukunftsethischen Pflicht – die „moralische Phantasie“ (Günther
Anders),69 indem es uns auf die Suche nach dem moralisch (nicht etwa privat und
lebensplanerisch) zu Fürchtenden schickt. Zur Begründung verweist Jonas auf eine bekannte
logische Asymmetrie in der ethischen Urteilsbildung: Dasjenige, „was wir nicht wollen,
wissen wir viel eher als was wir wollen. Darum muß die Moralphilosophie unser Fürchten vor
unserm Wünschen konsultieren, um zu ermitteln, was wir wirklich schätzen“.70 Vorsichtig
hebt er jedoch hervor, ein solches wertethisches Gedankenexperiment der vorgestellten
schlechten Fernwirkungen, gleichsam das worst-case-Szenario, sei kein hinlänglicher
Kompaß, sondern bloß eine erste Klärung. Ihm komme nur der Stellenwert einer Findekunst
bzw. eines brain storming zu, eben einer „Heuristik der Furcht“71 – im Sinne einer
moralischen Furcht vor der Zerstörung solcher Werte, an denen künftig Menschen hängen
können, elementar ihr Leben.
69
G. Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution,
München (C.H. Beck) 1956, bes. S. 15ff. und 267 ff.; dazu M. Werner, ››Kann Phantasie moralisch
werden?‹‹, in: J.P. Wils (Hg.), Anthropologie und Ethik, Tübingen (A. Francke) 1997, S. 41-63.
70
Jonas, P.V., S. 64.
71
Ebd., S. 63 ff.
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Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
23.07.2007
Berücksichtigen wir ihren moralischen Hintergrund, dann ergibt sich dieser Weg – aus der
Frage, was wir eigentlich schätzen und wollen, und aus zwei moralischen Prämissen folgt die
Pflicht zur Heuristik der moralischen Furcht:
a)
Es gilt, den Menschen, so wie er ist, als Gattungswesen zu bewahren.
b)
Man soll die Lebens- und Rechtsansprüche der möglichen Betroffenen zur Geltung
bringen.
c)
Also frage man sich zuallererst, welche Folgelasten eines (technologischen) Projektes
den
(künftigen) Betroffenen Furcht einflößen würden, um diese vermeiden zu
können...
Jonas’ zweites Gedankenexperiment geht von der realistischen Einsicht aus, die Hannah
Arendt im Sinne einer lebensweltlichen Anthropologie entwickelt hat72, die Einsicht, daß alles
Handeln des Menschen riskant und nach seinem Risiko schwer einschätzbar ist. Er pointiert
dieses intuitive Lebenswissen durch den Vergleich des Handelns mit einem Glücksspiel: „Das
Prinzip“ auch der neuartigen, der technologischen Handlungs- bzw. Auswirkungsdimensionen
könnten wir erfahren, „wenn wir auf das Element des Glücksspiels oder der Wette
reflektieren, das in allem menschlichen Handeln hinsichtlich des Ausgangs wie der
Nebenwirkungen enthalten ist, und uns fragen, um welchen Einsatz man, ethisch gesprochen,
wetten darf.“73 Das Gedankenexperiment der Wette ist ein zur Abhandlung stilisiertes
moralisches Selbstgespräch: Es ähnelt einem praktischen Diskurs, den ein moralisch orientierter und hinsichtlich der technologischen Folgendimension aufgeklärter Projektbefürworter –
ein Vernunft- und Moralfreund, der seinen Kant gelesen haben mag – mit sich selbst führt. Er
führt seinen Diskurs faktisch zwar allein mit sich – aber logisch geurteilt vor der
Geltungsinstanz einer unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft. Auf diese Instanz beruft
sich Jonas implizit, indem er stillschweigend das Universalisierungsprinzip Kants zum
Leitfaden nimmt und seinen Vernunftfreund vermittels Selbsteinwänden nach dem besten
Argument suchen läßt.
Komplementär zum vorausgegangenen Denkexperiment setzt dieses mit der Perspektive eines
Handelnden in der technologischen Zivilisation ein, welcher bereits weiß, daß seine
Handlungen eine kaum begrenzbare Auswirkungsdimension haben können, und auch, daß
eine Prognose ihrer Auswirkungen prinzipiell unsicher bleibt.74 In die, von Jonas angespielte,
Form
des
moralischen
Selbstgesprächs
gebracht,
können
wir
sein
Diskurs-
72
H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München (Piper) 71994, §§ 26-34.
Jonas, P.V., S. 77.
74
Ebd., S. 76.
73
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Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
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Gedankenexperiment folgendermaßen beginnen lassen: „Du, der du Interesse an einer
technischen Innovation hast, überlege dir, welchen Einsatz deine technologische Wette haben
darf und stelle dir die Frage: ‚Darf ich die Interessen Anderer in meiner Wette einsetzen?‘“
Die erste Antwort ergibt sich aus der moralischen Intuition, daß „man, streng genommen, um
nichts wetten darf, was einem nicht gehört“75.
Doch damit kann es nicht sein Bewenden haben. Denn wenn ‚du’ weiter argumentierst,
erkennst ‚du‘ alsbald, daß sich jene Antwort nicht absolut nehmen läßt, weil all dein Handeln
„das Schicksal Anderer in Mitleidenschaft zieht“, so daß du, wenn du daraus ein direktes
Handlungsprinzip machtest, gar nicht mehr handeln dürftest. Ein gewisses Risiko gehört zu
den Anfangsbedingungen menschlichen Handelns in der vielfach verflochtenen und nicht (mit
Sicherheit) prognostizierbaren Welt. Hierin trifft sich Jonas ebenso mit Hannah Arendt wie
mit Popper, Skirbekk76 und der Diskurspragmatik.
Daß die erste Antwort gleichwohl eine gewisse Berechtigung hat, zeigt sich erst, wenn eine
Qualifizierung des Wettverbots vorgenommen wird. „Der Einsatz darf nie das Ganze der
Interessen der betroffenen Anderen sein, vor allem nicht ihr Leben“77. Nun kann man
hiergegen wiederum einwenden, es gebe doch Krisensituationen, in denen sich das drohende
größte Übel nur durch einen höchsten Einsatz, etwa des Lebens Vieler (z.B. vieler Soldaten
im Fall eines Angriffskriegs), abwenden lasse. Demnach ist also auch das neue Prinzip, das
die Unverfügbarkeit des Gesamtinteresses der Betroffenen geltend macht, nicht unbedingt
gültig, nämlich nicht in der Alternative Sein oder Nichtsein, welche zur Notwehr und zum
höchsten Noteinsatz berechtigt, sondern gleichsam nur in mittleren Problemlagen.
Nun fragt es sich ohnehin, ob das eingewandte Extrembeispiel überhaupt auf denjenigen
zutrifft, der das Interesse eines technologischen Fortschritts geltend macht. Die heutigen
„großen Wagnisse der Technologie“ werden doch nicht, so setzt Jonas das diskursive
Gedankenexperiment fort, „zur Rettung des Bestehenden oder Behebung des Unerträglichen
unternommen, sondern zur stetigen Verbesserung des je Erreichten, das heißt für den
Fortschritt. [...] Also gewinnt hier, wohin der Schutz des Proviso nicht reicht, der Satz, daß
mein Handeln nicht ›das ganze‹ Interesse der mitbetroffenen Anderen (die hier die
Zukünftigen sind) aufs Spiel setzten darf, wieder Kraft.“78
75
76
77
78
Ebd., S. 77.
G. Skirbekk, Une Praxéologie de la Modernité, Paris (Harmattan) 1999, chap. III, V, VIII. Ders.,
Praxeologie der Moderne, Weilerswist (Velbrück) 2002.
Jonas, P.V., S. 78.
Ebd., S. 79.
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Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
23.07.2007
H. Jonas’ Gedankenexperiment des Elements der Wette im Handeln
– rekonstruiert als argumentativer und reflexiver Diskurs
Proponent:
Du darfst um nichts wetten, was dir nicht gehört.
Opponent:
Dann müßtest du das Handeln verbieten, weil dieses immer die Interessen
Anderer in Mitleidenschaft ziehen kann bzw. dürfte.
Pro.:
Gut. Aber der Einsatz bzw. die Folgenträchtigkeit deines Handelns darf nie
„das Ganze der Interessen der betroffenen Anderen sein“ [bzw. aufs Spiel
setzen], „vor allem nicht ihr Leben.“
Opp.:
Halt. Das gilt keinesfalls immer und unbedingt: Es gibt Krisensituationen (z. B.
Angriffskrieg), in denen sich das drohende größte Übel nur durch höchsten
Einsatz (z. B. den des Lebens vieler Soldaten) abwenden läßt. Und das ist
dann moralisch legitim, ja verantwortungsethisch geboten.
Pro.:
Ja. Doch kann diese Ausnahme-Norm nur für Extremsituationen gelten, in
denen es um Sein oder Nichtsein geht. Von der Art sind die technologischen
Abwägungslagen jedoch nicht. Denn es gibt keine einzelne Technologie, von
deren Wahl oder Verwerfung entweder die Existenz der Gattung Mensch
abhinge oder ihre Möglichkeit, moralisch zu handeln, sei es, um der Idee
universaler Gerechtigkeit zu entsprechen, sei es, um das Prinzip
Menschenwürde zu befolgen.
Opp.:
Wieso denn das?
Pro.:
Wenn du für eine neue Technologie plädierst, dann geht es stets bloß um einen
Fortschritt, d.h. um eine Verbesserung des schon Erreichten bzw. des
Bestehenden. Ein solcher kann jedoch zumeist durch mehrere
Handlungsmöglichkeiten bzw. Projekte erzielt werden.
Opp.:
Daraus würde folgen, daß wir dann, wenn eine bestehende Situation technisch
verbessert werden soll stets in Alternativen denken und diskutieren sollten.
Pro.:
Ja gewiß. Aber der moralische Hauptpunkt ist doch der: Es geht dann nicht um
eine moralische Pflicht, sondern lediglicht um eine Glücksmöglichkeit, um
bessere Lebensbedingungen – und das ist bloß ein vorletztes Ziel. Und immer,
wenn es um solche mittleren Ziele geht, gilt unser Imperativ, man solle „das
Ganze der Interessen der betroffenen Anderen“ nicht aufs Spiel setzen, wenn
das irgend vermeidbar ist. Und hier ist es nicht nur vermeidbar, sondern hier ist
diese Vermeidung geboten.
Opp.:
Das klingt zwar einleuchtend, aber ist das wirklich absolut gültig?
Pro.:
Bedenke doch, was du als Diskurspartner jetzt gegenüber anderen möglichen
Diskurspartnern, wie zum Beispiel mir, in Anspruch genommen hast. Hast du
nicht in Anspruch genommen, die Anderen bzw. mich hinsichtlich unserer
Interessen als gleichberechtigte Subjekte zu achten?
40
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
23.07.2007
Opp.:
Ja schon, aber was hat das damit zu tun?
Pro.:
Alles. Frage dich doch nur: Kannst du zugleich ein glaubwürdiger Partner im
Diskurs mit uns sein und in Zweifel ziehen, daß du verpflichtet seiest, das
Ganze unserer Interessen zu berücksichtigen und, sofern es irgend möglich ist,
auch zu achten?
Opp.:
Vielleicht nicht.
Pro.:
Absolut nicht.
Bemerkenswerterweise geht Jonas mit diesem Gedankenexperiment über eine kontemplative,
phänomenologische und ontologische Perspektive hinaus, indem er eigentlich in der
Dialogform eines argumentativen Selbstgesprächs denkt. Wenngleich er nicht aus dem Dialog
denkt und sich selbst keineswegs diskursethisch versteht, arbeitet er hier (wie auch
anderwärts) im Sinne einer Grundforderung des diskursethischen Prinzips ‚D‘. Ist sein
Moralfreund doch sorgsam darauf bedacht, die Diskursnorm der gleichberechtigten Berücksichtigung der Interessen aller Anderen zu befolgen, soweit gute Gründe für sie geltend
gemacht werden können. Damit entspricht er ‚D’. Denn diesem regulativen Geltungs- und
Orientierungsprinzip zufolge soll man sich um eine Handlungsweise bemühen, die universal
zustimmungswürdig ist, so daß sie unter reinen Argumentations- und Dialogbedingungen den
Konsens der Argumente erzielen würde.
Allerdings leistet Jonas’ Denkexperiment der Wette dreierlei nicht: einmal gibt es nichts für
die Begründung her, daß jeder und jede überhaupt unabweisbare moralische Verpflichtungen
habe. Zudem fehlt eine moralstrategische Fortsetzung zur Lösung von Max Webers Problem
einer Verantwortung für den Erfolg des Moralischen in der realen, nicht moralischen Welt.
Ähnlich wie Kants Gedankenexperiment des Kategorischen Imperativs oder Habermas’
Verfahren des praktischen Diskurses bleibt auch Jonas’ Diskursexperiment der Wette
gleichsam auf einer idealisierenden Begründungsstufe A 2 stehen. Drittens entwickelt es kein
Kriterium für die Zuerkennung moralischer Ansprüche. Es bleibt stumm, wenn es um die
„Inklusionsfrage“ geht, welche Wesen wir als gleichberechtigte virtuelle Diskurspartner
anerkennen und in den Kreis der moralisch Anspruchsberechtigten einbeziehen sollen. Eben
das ist etwa bei der Diskussion über die In-vitro-Fertilisation und die Forschung an
embryonalen menschlichen Stammzellen umstritten.
Auch ein Rückgriff auf das Menschenwürdeprinzip, den Jonas vornimmt, fruchtet hier nicht,
weil ja gerade strittig ist, von welchem Entwicklungsstadium an Embryonen der
Menschenwürdestatus und der volle Menschenwürdeschutz zukomme.
41
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
23.07.2007
Angesichts der weltgeschichtlich neuen Situation unbegrenzter, die Gattung gefährdender
Handlungsfolgen klärt und rekonstruiert das Gedankenexperiment jedoch den Gehalt einer
schon
mitgebrachten
Verpflichtungsintuition.
Indem
Jonas
solche
allgemeinen
lebensweltlichen Moralintuitionen rekonstruiert und diese direkt auf die neuartige
technologische
Problem-
bzw.
Handlungssituation
bezieht,
gewinnt
seine
Verantwortungsethik eine zugleich motivierende und orientierende Kraft. Daran hat es der
Diskursethik bislang gefehlt.79 Kommt es aber nicht darauf an, bereits in der Logik der
verantwortungsethischen
Beratungen
und
Erörterungen
die
sozialanthropologisch
tiefliegenden Fürsorgeintuitionen zu berücksichtigen, die an den lebensweltlichen
Verantwortungsinstitutionen der Elternschaft und der Regierung haften? Muß hier nicht die
Diskursethik der verantwortungsethischen Bewahrungsaufgabe besonderen Nachdruck
verleihen?
So wäre m. E. das erste der erfolgsverantwortlichen Kriterien (B1) folgendermaßen zu
präzisieren: ›Prüft, welche Institutionen, Traditionen und ethischen Intuitionen dem
Moralprinzip (D) gerecht werden, schützt und entfaltet sie sorgsam!‹80
Wenn wir nunmehr zurückblicken, um Jonas’ und Apels Ansätze als Antworten auf die
technologische westliche Moderne zu interpretieren, wenn wir außerdem Apels Ansatz
transformieren in ein sokratisches und intuitionssensibles Denken aus dem Dialog, dann
dürfte sich das folgende Schema ergeben.
79
80
Vgl. W. Kuhlmann, „‘Prinzip Verantwortung‘ versus Diskursethik“ in: E.Z., S. 277-302. Erstaunlicherweise
hat K.-O. Apel, wiewohl er stets den teleologischen Verpflichtungssinn des Moralprinzips auf der
moralstrategischen Ebene B betont und dabei nicht nur die Herstellung fehlender Bedingungen für
moralisches Handeln, sondern auch die Bewahrung der bereits geschichtlich gegebenen ins Auge fassen
konnte, an dieser Stelle kein Kooperationsverhältnis zu Jonas erkannt. Das mag auch daher rühren, daß Apel
auf der Ebene B keine eigenständige Fragestellung, was denn das zu Bewahrende sei, und also keinen
eigenen Diskursschritt B 1 vorgesehen hat.
Dazu die Entfaltung der verantwortungsethischen Diskurse auf der moralstrategischen „Ebene B“ in: D.
Böhler, „Ethik der Zukunfts- und Lebensverantwortung. Erster Teil“, in: Böhler/Brune, 2004, hier S. 137 ff,
147 f.
42
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
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Herausforderungen
der technologischen, liberalen Zivilisation
Jonas
Von Apel zum Dialog-Denken
Verantwortungsprobleme durch
Handlungs- und Wirkungsdivergenzen:
Paralyse des Verantwortungsdenkens
durch das „Komplementaritätssystem“
der westlichen Moderne:
(1) technologische Wirkmacht
– Ohnmacht des Folgen-Wissens,
(2) Macht der Naturwissenschaften
– Verunsicherung (u. Bezweiflung)
religiös-ethischen Normwissens.
Behebungsversuch:
(Moral.) Motivation durch Sensibilisierung für
moral. Ansprüche zukünftiger Generationen:
– „Heuristik der Furcht“
– Um was darfst du (nicht) wetten?
– „Prinzip Verantwortung!“
Unklar: Unter welchen Voraussetzungen können
moralische Ansprüche Künftiger
mißachtet werden?
Offen:
Verbindlichkeitserweis der Pflicht, sie zu
berücksichtigen
(a) zweck-rationalistisch verengt auf das
moralfrei Analysierbare/Kalkulierbare,
(b) Moral privatisiert und irrationalisiert als Sache
existentieller bzw. religiöser Entscheidungen.
Aufhebungsversuch:
Sokratisch-sinnkritischer Rückgang auf das, was du
als Dialogpartner nicht sinnvoll bezweifeln kannst,
wenn du (a) und (b) im Dialog vertrittst, z.B. die
Pflicht, alle sinnvoll im Dialog vertretbaren
Ansprüche zu berücksichtigen
Dialogreflexive Begründung von und Motivation
zu universaler und Zukunfts-Verantwortung
→ Einsicht in meine Ansprüche/Pflichten als
Dialogpartner: Prinzip D
43
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
23.07.2007
5. Was heißt moralische ‚Verantwortung’ für die Zukunft? Keine Fürsorge
ohne Rechtfertigung, kein praktischer Diskurs ohne Verständigungsgegenseitigkeit und Öffentlichkeit.
Auch wenn Hans Jonas eine Begründungsarchitektonik fehlt, die bei der moralstrategischen
Urteilsbildung eine differenzierte Orientierung für moralrestriktive Verhältnisse vorsieht –
wie Apels „Teil B der Ethik“, so sieht er sich doch einem moralstrategischen Dilemma
gegenüber. Vereinfacht lautet es: ökologische Zukunftsverantwortung oder demokratische
Wahrnehmung
von
Nahinteressen.
Im
Hintergrund
steht
sein
Gedanke,
Verantwortungsfreiheit setze ein Sein voraus, das der Verantwortung Sinn gibt. Insofern bestehe die unbedingte Pflicht, dieses Sein, nämlich die Existenz der Gattung als Teil der Natur
und die moralische Idee der Menschheit samt ihrem Kernbegriff ›Menschenwürde‹ zu
bewahren. Um diesen Bewahrungspflichten gerecht zu werden, hat er unter bestimmten
Umständen einen zeitweiligen Dispens der Demokratie und die Errichtung einer Ökodiktatur
für sinnvoll gehalten. Dabei ist gleich mitzuverstehen, daß er aus US-amerikanischer
Perspektive, gemäß des US-amerikanischen Sprachgebrauchs über Demokratie nachdenkt und
dabei die Mehrheitsregel in den Mittelpunkt rückt. Das ist freilich etwas anderes als ein
demokratischer Rechtsstaat, dessen Verfassung starke moralische Normen und Regularien
enthält, welche sich zwanglos zukunftsethisch auslegen und ergänzen lassen. Eine solche
umweltethische sowie tierethische Ergänzung hat das Deutsche Grundgesetz am 27. Oktober
1994 durch Einfügung von Artikel 20a und dessen Erweiterung am 26. Juli 2002 erfahren81,
nach dem Tode von Hans Jonas also. Freilich hat diese Ergänzung nicht die justiziable Form
und Kraft eines eigenen Grundrechts, d.h. bindend für die Gesetzgebung, vollziehende Gewalt
und Rechtsprechung, sondern nur den Stellenwert einer Staatszielbestimmung und ist
hineingestellt in das geltende Gesetz und Recht. Insofern löst sie das von Jonas erkannte
Dilemma von Nahinteressen versus Zukunftsverantwortung nicht eigentlich auf.
Wenn sich, wie etwa bei drohender Klimakatastrophe, das Dilemma zwischen
Zukunftsverantwortung und demokratischer Politik, die zum Interessenopportunismus
zwischen Wähler und Parteien neige, dramatisch zuspitze, müsse der Philosoph „durchaus den
81
Der Artikel 20a des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland lautet: „Der Staat schützt auch in
Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der
verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die
vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.“
44
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Mut haben, zu sagen, Demokratie ist höchst wünschbar, aber kann nicht selber die unabdingbare Bedingung dafür sein, daß ein menschliches Leben auf Erden sich lohnt.“82
Läßt sich dieser Not-Vorbehalt als erfolgsverantwortungsethische Konter-Strategie
rechtfertigen? Jonas hat dafür heftige Kritik hinnehmen müssen, besonders massiv von Karl
R. Popper83. Doch ist hier Vorsicht geboten. Zunächst einmal müßte man, wie es Jonas
voraussetzt,
strikt
unterscheiden
zwischen
faktischer
öffentlicher
Meinung
bzw.
Mehrheitsentscheidung und normativer Rechtfertigung. Denn eine Ethik, der es um normative
Legitimität und eine unbedingte Verpflichtung geht, steht und fällt damit, daß sie keinerlei
faktische Übereinkunft, weder einen empirischen Konsens von Beteiligten noch gar einen
Mehrheitsentscheid
von
Interessenten,
als
Geltungsgrund
für
die
gesuchte
Verantwortungspflicht von Akteuren oder für die gesuchte Richtigkeit eines Verhaltens
akzeptieren darf. Das liefe auf einen naturalistischen bzw. faktizistischen Fehlschluß hinaus,
der allein aus dem Faktum einer Übereinkunft auf deren Sollensgeltung schlösse. Erforderlich
ist ein nichtrelativierbarer Maßstab, damit sich ein irgendwie zustandegekommener Konsens
und erst recht eine Mehrheitsentscheidung jeweils auf die moralische Zustimmungswürdigkeit
hin überprüfen läßt.
Die Suche nach einem Verbindlichkeitskriterium jenseits von Subjektivismus und
Relativismus verbindet
Jonas’ ontologische und intuitionistische Wertethik mit letztlich
dialogreflexiv normativer Diskursethik. Beide Ansätze kommen darin überein, daß der
gesuchte Maßstab in dem Umkreis zu finden sein müßte, der sich mit den normativ geladenen
Begriffen „Idee der Menschenwürde und des moralfähigen Menschen“ und „Verantwortung
dafür, daß künftige Generationen diesen Ideen noch gerecht werden können, indem sie sich
ihrerseits verantwortlich und moralisch verhalten“ beschreiben läßt.
Diese Konzepte enthalten unbedingte, doch regulative Geltungskriterien für die moralische
Richtigkeit des Verhaltens, denen immer nachzustreben sei.
Wenn aber die Durchsetzung kurzfristiger Nahinteressen mittels Demokratie jener Richtungspflicht gefährlich zuwiderläuft, dann gehört – genau insoweit – auch eine Demokratie
auf den Prüfstand; entweder müßte sie verändert werden, oder es stünde, falls die
Veränderung scheitert, als ultima ratio ein zeitweiliger Dispens der Demokratie an. „Was ich
mit der potentiellen Möglichkeit einer Tyrannei als äußerster Rettungsmaßnahme gemeint
habe, ist einzig dem vergleichbar, was sein wird, wenn ein Haus brennt oder ein Schiff
untergeht. Dann nämlich kann man keine Abstimmung mehr machen, und dann kann man
nicht die normalen Gesetzesverfahren laufen lassen, sondern es müssen gewisse
82
83
Gespräch mit E. Gebhardt, in: E.Z., S. 210, 211. Vgl. Jonas, P.V., S. 254 f., 259-270, 302-305.
Vgl. das Interview mit K. R. Popper in: DIE WELT, 8. Juli 1987.
45
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
23.07.2007
Notmaßnahmen ergriffen werden ...“ Freilich würde Jonas die Demokratie „mit großem
Kummer verschwinden sehen und würde ausschließlich akzeptieren, daß sie zeitweilig, sagen
wir mal, suspendiert würde.“84
Um
für
die
Überwindung
von
Moralrestriktionen
und
–Gefährdungen
der
Zukunftsverantwortung klare Kriterien zu erarbeiten, ergänzen die Diskursethiker Jonas’ Ansatz durch die moralstrategische B-Perspektive einer Verantwortung für die Möglichkeit der
Verantwortung. Anders gesagt: Es geht um die Verantwortung für den (tendenziellen) Erfolg
des Moralischen in der Demokratie, in der globalisierten Markt- und Geldgesellschaft und in
der globalisierten High-tech-Zivilisation.85 Mit anderen Worten: ‚Wie ist in nonmoralanalogen oder gar moralwiderständigen Verhältnissen eine moralförderliche Praxis
möglich, die selbst als moralisch gelten kann?’. Es ist diese grundsätzliche Frage, die sich im
Anschluß an Apel als Begründungsproblem einer verantwortungsethischen Orientierung
stellen läßt: als das B-Problem der legitimen Durchsetzung dessen, was das Moralprinzip zu
tun fordert, wenn die Verhältnisse dem entgegenstehen.
Bemerkenswerterweise zeigt sich, gerade im Licht dieser moralstrategischen bzw.
erfolgsverantwortungsethischen Begründungsfrage, daß hinreichend viel für eine Kritik an
Jonas’ Relativierung der Demokratie spricht. Inwiefern? Ein Grund liegt darin, daß Jonas die
begründungslogisch zuerst anstehende verantwortungsethische Frage dessen, der eine
moralische Maxime gegen Widerständigkeiten durchsetzen will, überhaupt nicht stellt: die
Frage, welche Institutionen und Traditionen im jeweiligen Veränderungsfeld (also hier:
innerhalb der demokratischen Staats- und Regierungsform) dem Moralprinzip gerecht werden
oder doch entgegenkommen, so daß sie bewahrt und möglichst weiterentwickelt werden
sollten. Dieser erste Prüfauftrag der verantwortungsethischer Diskurse, gewissermaßen die
Diskurse Stufe B 1, fehlt bei Jonas. Er bezieht sein Verantwortungsprinzip unmittelbar auf
mögliche Widerstände, die aus der Demokratie entstehen können. Hier fehlt eine
Diskursdifferenzierung, die nötig ist, damit die Anwendung des Verantwortungsprinzips nicht
rigoristisch wird, sondern damit sie sich ihrerseits verantworten läßt; so nämlich, daß nach
Maßgabe verantwortungsethischer Kriterien Rechenschaft über die möglichen Folgen
abgelegt wird, die ein moralisch sein wollendes Handeln unter gegebenen non-moralanalogen
Verhältnissen haben kann. Sowohl bloßer guter Wille als auch rigorose Vorsorgemaßnahmen
können moralisch illegitime Folgen zeitigen.
84
85
E.Z., S. 210, 211.
Dazu D. Böhler, „Idee und Verbindlichkeit der Zukunftsverantwortung“, in: EWD-3, hier bes. S. 63 ff.
46
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
23.07.2007
Ein zweiter Grund ergibt sich direkt daraus: Weil die Frage nach der moralischen
Bewahrungswürdigkeit bzw. Entwicklungswürdigkeit geschichtlicher Institutionen von ihm
nicht als eigenständige verantwortungsethische Stufe berücksichtigt wird, nimmt Jonas
unmittelbar die Demokratie als Mehrheitsherrschaft ins Visier, ohne den (moralisch hoch
relevanten) rechtsstaatlichen Rahmen der Demokratie, den modernen Verfassungsstaat mit
den menschenrechtlichen Ideen der französischen und der amerikanischen Revolution, eigens
zu berücksichtigen. Beziehen wir die moralische Bewahrungsfrage hingegen auf den
modernen Verfassungsstaat, so leuchtet ein, daß eine Demokratiekritik weithin als immanente
Kritik zu üben ist: geleitet von Grundsätzen des demokratischen Rechtsstaats selbst. Dazu
gehören solche, deren normativer Kerngehalt reflexiv letztbegründbar ist, so daß sie als
Momente bzw. Konkretionen des Diskurs-Moralprinzips erwiesen werden können. Wenn das
der Fall ist, dann ist bei der Entwicklung einer moralischen Konter-Strategie äußerste
Vorsicht geboten. Deren Grenze ist dann sofort in Sicht: die Strategie darf nicht pauschal
‚Dispens der Demokratie‘ heißen.
Läßt sich aber ein Moralitätserweis tragender normativer Gehalte und prozeduraler Regeln der
rechtsstaatlichen Demokratie antreten? Ja, auf indirekte Weise: durch den sokratischen
Rückgang der Diskurspragmatik auf die dialogförmige Argumentationssituation86, in der man
sich auch befindet, wenn man die universale Gültigkeit einer Norm, mithin auch deren
moralische Verbindlichkeit bezweifelt. Dieser Rückgang führt über eine dialogische
Sinnprüfung des Zweifels – als eines Beitrags im argumentativen Dialog – zum Erweis der
Verbindlichkeit oder Nichtverbindlichkeit des bezweifelten normativen Gehalts oder
Verfahrens. Denn dasjenige, was sich in einer aktuellen Argumentation unter Diskurspartnern
nicht sinnvoll bezweifeln läßt, das ist prinzipiell gültig, so daß seine normative Forderung als
verbindlich, als universal einsehbare Pflicht, zu gelten hat und daher befolgungswürdig ist.
Kann die Dialog- bzw. Diskurspragmatik auf diese Weise zeigen, daß alle, welche überhaupt
die Rolle eines Denkenden als Argumentationspartner einnehmen können – einzig auf die
Potentialität kommt es in Geltungsfragen an –, daß also wir alle bereits gewisse
demokratisch-rechtsstaatliche Grundwerte und Grundnormen von vornherein dadurch als
befolgungswürdig vorausgesetzt haben, daß wir ernsthafte Diskurspartner sein wollen? Haben
86
Der aktuelle Forschungsstand der Diskurspragmatik spiegelt sich zumal in den Büchern Prinzip
Mitverantwortung, 2001 (s. o. Anm. 6); sowie Philosophieren aus dem Diskurs. Beiträge zur
Diskurspragmatik, hrsg. v. H. Burckhart u. H. Gronke, Würzburg (Königshausen & Neumann) 2002; in den
Studien Böhlers, Brunes, Gronkes, Rähmes und Werners in: Böhler, Kettner, Skirbekk (Hg.), Reflexion und
Verantwortung. Auseinandersetzungen mit Karl-Otto Apel. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2003; ferner in:
Böhler u. Brune (Hg.), Orientierung und Verantwortung, 2004 (s. o. Anm. 1).
In Vorbereitung: D. Böhler, Verbindlichkeit aus dem Diskurs, Freiburg i.Br. (Alber) 2006/7.
47
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
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wir als solche gewisse rechtsstaatliche Prinzipien (notwendigerweise) für uns selbst in
Anspruch genommen – also impliziert?
Welche Prinzipien können das sein? Einmal ist es m. E. das rechtsethische Prinzip, die
Würde, nämlich sowohl die Unverletzlichkeit allen menschlichen Lebens als auch die
moralischen
Rechtsansprüche
einer
87
Kommunikationsfreiheit zu achten.
Person
auf
Selbstbestimmung
und
auf
Sodann ist, wie mir scheint, es das Prinzip, keine
Beschlüsse und Maßnahmen in Kraft zu setzen oder anzuerkennen, die ganz auf das
Zustandekommen im Geheimen angewiesen, nicht der öffentlichen Kritik ausgesetzt und
nicht der öffentlichen Zustimmungsfähigkeit unterworfen sind; also das Prinzip der
Öffentlichkeit.88 Verbunden mit dem Grundrecht der Kommunikationsfreiheit, enthält es
nämlich m. E. den dritten unabweisbaren Grund einer Metakritik an Jonas’ Bewertung und
Suspenserwägung der Demokratie; wohlgemerkt: sofern es um eine rechtsstaatliche
Demokratie mit (möglichst verfassungsrechtlichen) Garantien von Menschenwürde,
Öffentlichkeitsprinzip und Menschen- samt Bürgerrechten zu tun ist.
Warum? Das Öffentlichkeitsprinzip wie auch das Menschenwürdeprinzip, insoweit es die
Achtung der Selbstbestimmung und als deren Elemente die Gewährleistung der
Informations-, Meinungs- und Koalitionsfreiheit gebietet, bezeichnet eine Bedingung der
Möglichkeit
moralischer
Rechtfertigung.
Dann
jedenfalls,
wenn
das
transzendentalhermeneutische Argument der Diskurspragmatik gilt, welches besagt: eine
zureichende Beurteilung der Handlungen Anderer ebenso wie eine wahrheitsfähige
Einschätzung der Interessen Anderer ist nur in dem Maße möglich, als man sich dabei auf die
freie Artikulation ihrer Handlungsorientierungen und Interessen stützen kann. Wahrheitsfähig,
nämlich situationserkennend, und (darauf aufbauend) legitim, also durch gute Gründe
gerechtfertigt und in diesem Sinne ›gerecht‹, können moralische Urteile, Maximen oder
Normen einzig dann sein, wenn sie nicht bloß auf der subjektiven Vermutung eines einsamen
Gedankenexperimentators oder einer Experten-Elite beruhen, sondern wenn sie die wirkliche
Situation der Betroffenen berücksichtigen – ausgehend von deren Selbstverständnis.
Aus dieser erkenntnistheoretischen Überlegung hatte ich in der Entstehungszeit der
Diskursethik, bei Gelegenheit einer kontroversen Diskussion des „Funkkollegs Praktische
87
88
D. Böhler: „Diskursethik und Menschenwürdegrundsatz zwischen Idealisierung und Erfolgsverantwortung“,
in: K.-O. Apel und M. Kettner (Hg.), Zur Anwendung der Diskursethik in Politik, Recht, Wissenschaft,
Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1992, S. 201-231. Ders., „Menschenwürde und Diskursethik“, Nachwort zu:
Thomas Rusche, Aspekte einer dialogbezogenen Unternehmensethik, EWD-4, hier S. 247 ff.
Vgl. D. Böhler, „Kritische Moral oder pragmatische Sittlichkeit“, in: ders. u. K.-O. Apel, Funkkolleg:
Studientexte, Bd. 3, Weinheim und Basel (Beltz) 1984, S. 845-886.
48
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
23.07.2007
Philosophie/Ethik“ im Jahre 1980, die geltungslogische Folgerung abgeleitet:89 Keine
Gültigkeit ohne argumentative Geltungsgegenseitigkeit, keine Geltungsgegenseitigkeit ohne
Verständigungsgegenseitigkeit. Anders pointiert: Ohne „Verständigungs-Gegenseitigkeit“
über die Bedeutung der Situation und der situationskonstitutiven Interessen keine Wahrheit
und Gerechtigkeit, also keine „Geltungs-Gegenseitigkeit“ für moralische Urteile und für
moralische Normen bzw. Handlungsorientierungen. Diese Einsicht ist es, die Jonas
selbstwidersprüchlich – nämlich in Widerspruch zu seiner moralischen Absicht einer
Einbeziehung der Interessen der mitbetroffenen Anderen90 – überspringt, indem er als
traditioneller Phänomenologe und als Gedankenexperimentator denkt. Denn das sind
Denkweisen, die sich gut mit einem methodischen Solipsismus vereinbaren lassen, nicht aber
kommunikative Verfahren der Situationserkenntnis eröffnen. Hingegen führt jene Einsicht zu
g einer „phänomenologisch-hermeneutischen Maxime“ der Situationserkenntnis.91
Ist eine Verständigungsgegenseitigkeit unabdingbar, so folgt eine tiefgreifende Kritik des, von
Jonas noch ein gutes Stück geteilten, Selbstverständnisses der traditionellen Philosophie als
theoria.92 Die theoria-Tradition dachte zugleich objektivistisch und methodisch solipsistisch;
und sie konnte das Eine tun, weil sie das Andere tat. So nahm sie an ihrem Ursprung an oder
setze späterhin voraus, daß die Seinsstrukturen (Platons Ideen) und die Kriterien richtigen
Handelns (z.B. Platons Paradigmen) durch eine geistige Schau (theoria) erkennbar seien, zu
der es einer Kommunikation mit Anderen eigentlich nicht bedürfe: Erkenntnis des Wahren
unabhängig von Verständigung und Sprache, jenseits einer Kommunikationsgemeinschaft.
Eine grundsätzliche Kritik an dem seither wirksamen methodischen bzw. transzendentalen
Solipsismus der Philosophie, ja des abendländischen und westlichen Geistes insgesamt, hat
89
90
91
92
Ich beziehe mich auf die aufschlußreiche Kontroverse zwischen dem Personalismus Manfred Riedels mitsamt
dem Quasi-Kantianismus Otfried Höffes auf der einen Seite und dem transzendentalpragmatischen Ansatz bei
der realen Kommunikationsgemeinschaft und deren kontrafaktischen Normen auf der anderen Seite: Apel,
Böhler, Rebel (Hg.), Funkkolleg: Studientexte, Bd. 1, S. 269-277. Hier konnte das Hintergrundsproblem der
traditionellen Philosophie, der methodische Solipsismus, kontrovers herausgearbeitet werden.
Vor diesem Hintergrund ließ sich dann eine kommunikativ hermeneutische Vorstufe für praktische Diskurse
als unabweisbar begründen: D. Böhler, „Transzendentalpragmatik und kritische Moral“, in W. Kuhlmann
und D. Böhler (Hg.), Kommunikation und Reflexion. Zur Diskussion der Transzendentalpragmatik, Frankfurt
am Main (Suhrkamp) 1982, hier S. 108ff, S. 206 und 243f. Dazu: Jon Hellesnes, „Ethischer Konkretismus
und Kommunikationsethik“, in: D. Böhler, T. Nordenstam und G. Skirbekk (Hg.), Die pragmatische Wende,
Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1986, bes. S. 183f.
Jonas, P.V., S. 78f. Dazu hier: Kap. 4.
D. Böhler, Rekonstruktive Pragmatik, S. 123ff.
Jonas überschreitet dieses klassisch theoretische Selbstverständnis der Philosophie jedoch mit Argumenten,
die auf ein „Leib-Apriori“ (M. Merleau-Ponty) der Erkenntnis und auf eine Sinnkritik hinzielen, indem sie –
gegenüber Descartes und Husserl – das Sinnkriterium einer, wie Gronke formuliert, leibpragmatischen
Widerspruchsfreiheit geltend machen. Vgl. Jonas, Organismus und Freiheit, Göttingen (Vandenhoeck &
Ruprecht) 1973, S. 32ff – Das Prinzip Leben, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1994, S. 38f. Dazu Gronke, Das
Denken des Anderen, Würzburg (Königshausen & Neumann) 1999, S. 161f. Vgl. in diesem Zusammenhang
die differenzierte diskursethische Kritik an Jonas von M. Werner: „Dimensionen der Verantwortung“, in:
E.Z., S. 303-340, bes. S. 324ff.
49
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
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als erster Apel sprachphilosophisch und problemgeschichtlich vorgetragen93. Habermas hat
sie in seinem Ansatz einer „Theorie des kommunikativen Handelns“ fruchtbar gemacht.94 Ich
selbst hatte in den 68er Jahren aus der theoria-Kritik die Konsequenz einer Sinnkritik des
reduktionistischen Historischen Materialismus und seiner unhermeneutischen, objektivistisch
monologischen Ideologiekritik gezogen95.
Jene kommunikativ hermeneutische Einsicht und die daraus folgende Traditionskritik der
theoria-Tradition (von Platon und Aristoteles zu Hegel und Marx, von Kant zum modernen
Szientismus und zur analytischen Philosophie wie auch zur Phänomenologie) gab einen
wichtigen Anstoß für die Entwicklung einer neuen, einer kommunikativen Ethikform – eben
der Diskursethik. Diese erkennt erstmals an, daß die Gültigkeit moralischer Sätze von der
Kommunikation mit den betroffenen Interessensubjekten abhängt; infolgedessen verpflichtet
sie die moralisch Urteilenden dazu, sich um eine solche Kommunikation zu bemühen. In
diesem Sinne haben Habermas und Apel, Kuhlmann und ich seinerzeit die Diskursethik
pointiert als Ethik der Kommunikation eingeführt – etwa gegenüber Kants und Rawls
Moralfindung durch pure Gedankenexperimente, die vermeintlich ein einsames Subjekt
anstellen könne; demgemäß auch in Opposition zu Kohlbergs universalistischer Moralstufe
6,96 in Opposition zum ethischen Kantianismus und Personalismus, schließlich in Opposition
zum Naturrecht und zur objektiven Wertethik.
Praktisch politisch führt dieser kommunikative Ansatz, wie schon erwähnt, zur Opposition
gegen jede Expertokratie: von Platons Philosophenherrschaft bis zur modernen Technokratie.
Glücklicherweise hat sich die zugrundeliegende kommunikativ hermeneutische Einsicht in
Politik und Recht der Bundesrepublik Deutschland soweit durchgesetzt, daß – bis hin zur
Ermöglichung von Verbandsklagen der Umweltverbände – Anhörungsprozeduren und andere
Verfahren der Verständigung mit Betroffenen institutionalisiert worden sind. Leider Gottes
hat es nach der deutschen Vereinigung zum Zwecke einer beschleunigten Modernisierung im
Rahmen des „Aufbaus Ost“ zahlreiche Rücknahmen und Einschränkungen dieser
Partizipationsrechte gegeben, die sogenannten „Beschleunigungsgesetze“.97
93
94
95
96
97
Apel, Transformation II, daraus die Studien „Sprache als Thema und Medium der transzendentalen
Reflexion“, a.a.O., S. 311-329; sowie „Der transzendentalhermeneutische Begriff der Sprache“, a.a.O., S.
330-357.
Habermas, Theorie des Kommunikativen Handelns. 2 Bde, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1981; ders.,
Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1973, bes. S. 96 ff.
Böhler, Metakritik der Marxschen Ideologiekritik. Prolegomenon zu einer reflektierten Ideologiekritik und
‚Theorie-Praxis-Vermittlung‘, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1971, ders., „Kritische Theorie – kritisch
reflektiert“, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Vol. LVI/4, 1970, S. 511-525.
Vgl. J. Habermas, „Moralentwicklung und Ich-Identität“, in: ders., Zur Rekonstruktion des historischen
Materialismus, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1976, S. 63-91, bes. S. 84 f.
Dazu: W. Erbguth u. B. Wiegand-Hoffmeister, „Umweltrecht im Gegenwind? Ein ethisch orientiertes
Umweltrecht ist nötig“, in: EWD-3, S. 411 ff, bes. 422 ff.
50
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
23.07.2007
Was die Ethikbegründung anbelangt, haben wir hier einen dritten Bedeutungsaspekt von
‚Diskursethik‘: Ethik, die zur Kommunikation verpflichtet – und das bereits, um die
Erkenntnis
der
Situation
zu
gewährleisten.
Keine
Situationserkenntnis
ohne
Sinnverständigung mit den Menschen. Für den diskursethischen Begründungsweg habe ich
daraus eine architektonische Konsequenz gezogen, die auch die Differenz zu Jonas
augenfällig macht: Direkt auf die dialogreflexive Letztbegründung des Moralprinzips und
seiner, aus den normativen Sinnbedingungen der Diskurspartnerrolle erwachsenen, einzelnen
Verpflichtungsgehalte – das ist die transzendentalpragmatischen Begründungsstufe (A 1) müsse als erster Konkretionsschritt die öffentliche Verständigung (oder ersatzweise ein
hermeneutisches Verfahren zum Zweck einer möglichen Verständigung) über den konkreten
Sinn der Interessen möglichst aller Betroffenen folgen. Die Sinnverständigung mit den
möglichen Betroffenen wäre also eine Diskursstufe eigenen Rechts (A 2).98 Erst nach einer
solchen Verständigungsbemühung fänden – als dritte Begründungsstufe – situationsbezogene
Diskurse einen logischen Ort. Zunächst wären in interpretativen, mehr oder weniger
theoretischen empirischen Diskursen die Erschließungsfrage ‚Wie ist die Situation
beschaffen, welche moralisch relevanten Ansprüche sind hier zu berücksichtigen?‘ zu
beantworten (A3). Doch sei diese sogleich durch die selbstkritische Kontrollfrage zu
ergänzen: ‚Ist die zugrundeliegende Situationsinterpretation zutreffend?‘ (A3.1).
Erst daran kann sich m. E. die Aufgabe anschließen, für die so bestimmte Situation eine
moralische Maxime zu bilden: eine ideale Situationsnorm als Anwendung des Moralprinzips
auf die hier zu berücksichtigenden moralischen Ansprüche. Dabei ist kontrafaktisch zu
unterstellen – darin besteht die Idealisierung eines reinen praktischen Diskurses –, es stünden
dieser Maxime keine moralischen Restriktionen wie partikuläre Interessen, eigensinnige
Institutionen und Machtkonstellationen im Wege, und es würden sich alle betroffenen
Anspruchssubjekte wie dialogisch gesonnene Argumentationspartner verhalten. Die hier zu
stellende Frage (A4) mag lauten: ‚Was wäre unter ganz und gar moralgemäßen bzw.
dialogischen Handlungsbedingungen (die freilich kaum anzutreffen sein dürften) moralisch
richtig?’ Praxisbezogen gefragt: ‚Welche Handlungsweise sollen wir, wenn sie schon nicht
direkt realisierbar sondern eher ein Ideal ist, unbedingt als Muster anerkennen und als
Wegweiser nehmen, dessen Richtung es zu folgen gilt?’ Oder: ‚Was sollten wir angesichts der
zu berücksichtigenden Ansprüche eigentlich tun?’ In striktem Bezug auf das Moralprinzip
98
D. Böhler, „Kritische Moral oder pragmatische Sittlichkeit?“, in: Funkkolleg Studientexte, Bd. 3, bes. S. 855870.
51
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
23.07.2007
wird so geprüft, ob eine vorgeschlagene Situationsnorm legitim ist, ob ihr argumentative
„Geltungs-Gegenseitigkeit“ unter reinen Diskursbedingungen zukommt.
Insofern der demokratische Rechtsstaat das Prinzip der Öffentlichkeit etabliert und praktiziert,
ist er eine Realisierungsbedingung für moralische Diskurse. Stellt er doch den institutionellen
Rahmen für eine freie Sinnverständigung mit den Adressaten moralischer Normen und den
Gegenständen moralischer Urteile bereit. Aus diesem Grunde und in dieser Hinsicht läßt sich
ein
Dispens
der
Demokratie
nicht
rechtfertigen.
Wohl
aber
kann
–
auf
der
verantwortungsethischen Ebene B – in Form einer moralischen Konter-Strategie Widerstand
gegen einzelne Mehrheitsbeschlüsse und Regierungsmaßnahmen in einer Demokratie
legitimiert werden.
Jonas’ kontemplativ eingestellte, an die antike theoria angelehnte Phänomenologie kann dem
Prinzip der Öffentlichkeit eine solche grundlegende Rolle nicht einräumen. Sein
Selbstverständnis und seine Methode stehen dem entgegen, weil er „die universale
Verantwortung gegenüber allem lebendigen Sein ‚monologisch‘ aus dessen werthafter
Struktur selbst“ gleichsam abliest bzw. intuitiv abschaut.99 „Sieh hin und Du weißt“100, wofür
Du verantwortlich bist, nämlich für das schutzbedürftige, werthafte, organische Leben um
Dich herum – sagt Jonas intuitionistisch: Du weißt es, so wie Eltern, die ihren
schutzbedürftigen Kindern gegenüberstehen, ‚normalerweise‘ (!) wissen, daß sie ihnen Fürsorge und Vorsorge zu gewähren haben. Handlungs- und gefühlsphänomenologisch
ansetzend, nimmt Jonas allein das asymmetrische Verhältnis der Ausgangs- und
Handlungsbedingungen eines Verantwortlichen in den Blick. Einzig diese praktische und
intuitive Asymmetrie sei es, die den Verantwortungsbegriff konstituiere.
Trifft das zu? Recht hat Jonas als Phänomenologe, insoweit er zeigt, worin die Ausgangslage
und die direkte praktische Aufgabe der Verantwortung besteht – nämlich stellvertretend,
mithin fürsorgend für ein wertvolles, um seiner selbst willen schutzbedürftiges Wesen zu
handeln. Diesen Verantwortungsaspekt stellt die rechte Seite der folgenden Abbildung dar,
während ihre linke Hälfte den dialogförmigen, logisch symmetrischen Rechtfertigungsaspekt
veranschaulicht:
99
100
Vgl. Micha Werner: „Dimensionen der Verantwortung“, in: E.Z., S. 332, vgl. 314-318.
Jonas, P.V., S. 235.
52
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
23.07.2007
Verantwortungsaspekte
Rechtfertigungsbezug
Fürsorgebezug
logisch symmetrisch:
Sich-Verantworten im argumentativen Dialog
faktisch asymmetrisch:
Handlungsbedingungen und
fürsorgendes Handeln
S1 mit
GeltungsAnspruch
S2 mit
EinlösungsErwartung
machtvolles
Subjekt S1
ohnmächtiges,
wertvolles
Gegenüber
Logisch und diskurspragmatisch gesehen, ist Jonas im Unrecht. Denn logisch hat sowohl die
Situation der Prinzipienbegründung, in der einer dem anderen im argumentativen Dialog
demonstriert, daß man prinzipiell zur Mitverantwortung für schutzbedürftige Wesen
verpflichtet sei, eine symmetrische Form, als auch die konkrete Rechtfertigungssituation einer
oder eines Verantwortlichen, die bzw. der über seine Praxis befragt wird oder sich selbst
Fragen stellt. So befragt, muß sie bzw. er in einem symmetrischen Dialog mit Argumenten
begründen können, daß die im Sinne der Fürsorge praktizierten Handlungsweisen den
legitimen Ansprüchen gerecht werden bzw. gerecht geworden sind, die man im Namen seines
Betreuten geltend machen kann oder die jener – später einmal – selbst gegenüber den
Verantwortlichen vorbringen kann, etwa das herangewachsene Kind gegenüber den Eltern.
Dann sind die Verantwortlichen gefordert, die Asymmetrie des fürsorgenden Handelns zu
verlassen und sich auf die Symmetrie des argumentativen Dialogs einzulassen.
Es ergeben sich dann zweierlei Diskurs-Symmetrien: sowohl die im engen Sinne logische
oder semantisch syntaktische Symmetrie zwischen Rede und Gegenrede, als Aussagen
betrachtet, wie auch die dialogpragmatische bzw. kommunikationsethische zwischen Frage
und Antwort, Gründefordern und Gründegeben, Anerkennungserwartung und Anerkenntnis,
wie sie sich in der Interaktion gleichberechtigter Diskurspartner einstellen. Das ist die Form
53
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
der
Verantwortung
als
Rechtfertigung:
das
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Sich-im-Dialog-Verantworten.
Keine
Verantwortung ohne mögliche Rechenschaft.
:
Verantwortung:
Verwobenheit von Fürsorge und Rechtfertigung
rechtfertigt sich
Subjekt 2
Diskurssymmetrie
im Dialog
anerkennt GeltungsanSubjekt 1
sprüche von bzw. für
Fürsorgegegenstand
als mögl.
Subjekt
Handlungsasymmetrie
behandelt
Fürsorgegegenstand
Beide Aspekte, das Rede-und-Antwort-Stehen und das stellvertretende Handeln des
Fürsorglichen sind miteinander verwoben. Das eine verlöre ohne Bezug auf das andere seinen
Sinn. Das Verwobensein der Fürsorgebeziehung mit der Rechtfertigungsbeziehung zeigt sich
schon daran, daß ‚ich’, der Fürsorgende, bei Fragen nach dem Warum meiner
Handlungsweise sowohl zum ‚Gegenstand’ meiner Fürsorge als auch zu dem Fragenden die
symmetrische Stellung eines Diskurspartners werde einnehmen müssen. ‚Ich’ komme dabei
nämlich nicht umhin, sowohl dem Frager Geltungsansprüche für seine Frage (als
ernstgemeint, verständlich und wahrheitsdienlich bzw. legitimitätsförderlich) zuzubilligen und
ernsthaft, verständlich mit guten Gründen wahrheitsbemüht darauf einzugehen, als auch
meinen
Fürsorgegegenstand
als
virtuellen
gleichberechtigten
Argumentationspartner
anzuerkennen und mich seinen möglichen Geltungsansprüchen zu stellen. ‚Ich’ darf nicht
bloß fürsorgend agieren – das liefe auf einen bloßen, nicht diskursiv kontrollierten und
gegenseitig gerechtfertigten Paternalismus hinaus. Vielmehr soll ‚ich’ die Diskurspartnerrolle
übernehmen und als Diskurspartner zur Rechtfertigung, zum Geltungsdiskurs über meine
Fürsorge bereit sein.
54
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
23.07.2007
Warum? Ich bin einerseits Handelnder, ein faktisches Subjekt (Ich I), aber ‚ich’ bin zugleich
virtueller Diskurspartner, der zu seinen Handlungen Stellung nehmen kann (Ich II). Daher
kann ‚ich’ als Diskurspartner nicht einerseits (in der Fürsorgerelation) einem Menschen, für
den ich sorge, jenen Wert beimessen resp. unterstellt haben, den etwa das Grundgesetz der
Bundesrepublik Deutschland verfassungsrechtlich zur staatspolitischen Richtschnur erhoben
hat: Menschenwürde, aber andererseits (in der Rechtfertigungsbeziehung) bezweifeln oder gar
bestreiten, daß ich ihn als mögliches Subjekt von Geltungsansprüchen anerkennen soll,
mithin als möglichen gleichberechtigten Diskurspartner ernstnehmen soll. Wie? So, daß sich
meine Fürsorgehandlungen ihm (oder seinen bestmöglichen Anwälten) gegenüber als
angemessen, als mit seiner (möglichen) Selbstbestimmung vereinbar und somit als
zustimmungswürdig rechtfertigen lassen. Wer sich allein auf einen Fürsorgestandpunkt stellte
und die Verpflichtung zur argumentativen Rechtfertigung in diesem strengen Sinne in Zweifel
zöge oder sie mißachtete, der verstrickte sich in einen performativen Widerspruch.
Hinsichtlich einer solchen Zweifelsbehauptung oder einer solchen Mißachtung der
Menschenwürde seines Schützlings verlöre er seine Glaubwürdigkeit als Diskurspartner.
Der von Jonas verabsolutierte Fürsorgeaspekt bezieht sich auf die appellative wertethische
Ausgangssituation eines Handlungsmächtigen im Verhältnis zu einem wertvollen,
vergleichsweise ohnmächtigen Gegenüber, während sich der Geltungsaspekt aus der, damit
von vornherein verbundenen, dialogethischen Rechtfertigungssituation ergibt. Erst beide
Aspekte, miteinander und ineinander, machen den eigentlich moralischen,
metakonventionellen, weil auf das Moralprinzip bezogenen Sinn von ‚Verantwortung’ im
allgemeinen und von ‚Zukunftsverantwortung’ im besonderen aus. Zur Verantwortung gehört
das Sich-Verantworten, die Rechtfertigung ggf. des Warum und des Wie, der Mittel und
Wege: der fürsorgende Akteur muß sich handlungs- und folgenbezogen verantworten können
gegenüber anderen bzw. gegenüber den Ansprüchen der Adressaten seiner Fürsorge, den
faktischen Ansprüchen eines Schützlings oder den virtuellen Ansprüchen zukünftiger
Betroffener – im Falle der Zukunftsverantwortung.
55
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
6.
23.07.2007
Das Prinzip Achtung der Menschenwürde – eine Verbindlichkeit des
Argumentationspartners? Wozu und wem gegenüber verpflichtet es?
Nun liegt hier der Einwand nahe, ob jene starke, nämlich unbedingte und letztlich
diskursideale, Verpflichtung zur Rechtfertigung einer Fürsorgepraxis nicht einzig dann gilt,
wenn der hier vorausgesetzte Menschenwürdegrundsatz nicht bloß in Anspruch genommen
sondern seinerseits als ein unbezweifelbar verbindliches Prinzip erwiesen worden ist? Hans
Jonas greift die Pflicht zur Achtung der menschlichen Würde aus der biblischen Tradition auf,
geht also zurück auf die erste Quelle eines moralisch elaborierten Verfassungsrechts und der
„Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ der Vereinten Nationen von 1948 wie schon
der UN-Charta von 1945. Allein, das Zitieren religiöser oder rechtspolitischer Urkunden ist
keine Begründung. Wer so zitiert, der beweist damit ja nicht, daß dem zitierten normativen
Gehalt strikte intersubjektive Verbindlichkeit zukommt – Verbindlichkeit aus Gründen, die
sich nicht sinnvoll bezweifeln oder außer Geltung setzen lassen. Hier ist eine philosophische
Prinzipienbegründung gefragt.
Doch wenn wir uns anheischig machen, einen solchen Verbindlichkeitserweis zu versuchen,
sehen wir uns wieder dem Begründungsskeptizismus der szientifisch gesonnenen westlichen
Moderne und der radikal vernunftkritischen, relativistischen Postmoderne gegenüber. Auf
dem schlüpfrigen Grunde dieses tiefsitzenden Skeptizismus ist es fast Common sense
geworden, daß man zwar ethische Werte und Normen wie Menschenwürde brauche, daß sich
diese jedoch nicht allgemein einsichtig machen ließen: Rationale Verbindlichkeit sei nicht
möglich, praktische bzw. moralische Vernunft sei nicht zu haben; moralische bzw.
rechtsethische Prinzipien hätten bloß den schwachen non-rationalen Status einer
Entscheidung.
In diesem Tenor bestreiten heute sowohl die Relativismen von Existentialismus und
Postmoderne als auch die moderne Entleerung der Vernunft zur Zweckrationalität die
(rational erweisbare) Allgemeinverbindlichkeit moralischer Normen und ebenso die eines
Moralprinzips. Angesichts dieser zeitgeistigen Bestreitung, grundsätzlich aber, weil wir als
Denkende alle Geltungsansprüche vor dem "Gerichtshof der Vernunft" (Kant) sollten
rechtfertigen können, ist es uns auferlegt, die Gültigkeit und die einsehbare Verbindlichkeit
auch der Menschenwürdenorm rational zu erweisen, – selbst dann, wenn wir sie aus uralter
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Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
23.07.2007
Glaubenstradition und aus der Aufklärungstradition bzw. der des Vernunftrechts schon
'haben'.
6.1
Zu Genese und Gehalt des Prinzips der Menschenwürde: Urrecht auf
Leben und Selbstbestimmung.
Entstanden ist das Unversehrtheitsgebot der Menschenwürde bekanntlich aus der biblischen
Überzeugung, daß Gott den Menschen nach seinem Bilde geschaffen habe (1. Mose 1, 26f),
woraus sich das sechste der Zehn Gebote "Du sollst nicht morden" (2. Mose 20, 13 und 5.
Mose 5, 17, präzisiert im Noah-Bund: 1. Mose 9, 6) ableiten läßt. Und wie gesagt: der
rechtsethische Impetus, der sich heute in Menschenrechtsdeklarationen und etwa in der
deutschen
bundesrepublikanischen
Verfassung
objektiviert
hat,
steht
in
der
Wirkungsgeschichte dieses biblischen Bekenntnisses. So haben sich die Mütter und Väter des
deutschen Grundgesetzes bei der Formulierung von dessen Erstem Artikel teils direkt von
diesem schöpfungstheologischen und bundestheologischen Hintergrund leiten lassen, teils von
Kants säkularer Einholung und Erweiterung des normativ ethischen Gehalts der
‚Gottesebenbildlichkeit’.
Samuel von Pufendorfs Einführung der dignitas humana als naturrechtlicher Zentralnorm,
nämlich als Ur-Rechtstitel jedes Menschen,101 nicht nur aufgreifend sondern sie
vernunftethisch pointierend, hatte Kant die Selbstzweckformel des Kategorischen Imperativs
entwickelt. Er erhob es zur Vernunftpflicht, man solle ein menschliches Wesen niemals bloß
als Mittel sondern stets zugleich als Zweck brauchen, so daß der absolute Wert der
Menschheit als vernunftfähiger, mithin moralfähiger Natur in jedem einzelnen Menschen
geachtet werde.102 Damit erweitert er die primär leibbezügliche Unversehrtheitsverpflichtung
des Buches Genesis um die Anerkennungspflicht, es gelte die Autonomie der Anderen als
Personen und vernunftfähiger Wesen zu wahren. Das Recht auf Leben und das Recht freier
Selbstbestimmung (in den moralischen Grenzen, die die Achtung der Freiheit des
Nebenmenschen bzw. der möglichen Betroffenen setzt) – das sind die Eckpfeiler des
Menschenwürdeprinzips.
101
Vgl. Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, Göttingen 41962, S. 139 ff. K.-H. Ilting,
Naturrecht, in: Geschichtliche Grundbegriffe, hg. v. O. Brunner, W. Conze u. R. Koselleck, Stuttgart 1978, Bd.
4, S. 287 ff.
102
Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe, S. 429ff.
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Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
Von
der
biblischen
und
kantischen
Tradition
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motiviert,
haben
die
deutschen
Verfassungsmütter und -väter 1948 einen Beschluß gefaßt: sie haben das erweiterte Gebot der
Menschenwürde als oberste Richtschnur allen staatlichen Handelns gesetzt. Nunmehr gilt es
faktisch kraft förmlicher, verfassungsgebender Entscheidung und deren staatlich-rechtlicher
Anerkennung. Einzig und allein den Standpunkt des Geltens kraft faktischer Entscheidung,
einer Art Glaubensentscheidung, vertritt gegenwärtig die große politisch ethische Koalition
des modernen Pluralismus und des postmodernen Relativismus.
Eben auf diese innere Herausforderung der Vernunft antwortet die Begründungsreflexion der
Diskursethik, die sokratische Diskurspragmatik. Läßt sich die Entscheidung für die
Grundnorm der Menschenwürde – ja möglicherweise darüber hinaus die Intuition einer
Achtung der belebten Natur (im Sinne von Albert Schweitzer oder Hans Jonas) – auch so
begründen, daß ihr Verpflichtungsgehalt als verbindlich erkannt wird103? Und zwar so, daß
jede Person, die allein Argumente, nicht schon eine Glaubensentscheidung, gelten läßt, zu
dieser Erkenntnis gelangen kann? Um das zu klären, begeben wir uns in einen Diskurs mit
einem Skeptiker, der auch die Diskursethik und ihre diskurspragmatische Begründung in das
Schema des herrschenden Rationalitätsverständnisses zwängen will, so daß er die These
vertritt: ‚Da die Diskursethik ein rationaler Ansatz ist, kann sie keine gehaltvollen Werte bzw.
Normen begründen; rationalitätstheoretisch ist sie ein Dialog-Verfahren und kann allenfalls
zu einer Verfahrensregel gelangen, die besagt: das Ergebnis oder der Vorschlag ist
vorzuziehen, dem man aufgrund gemeinsamer (Ober-) Interessen zustimmen kann. Und diese
Regel gilt nur für diejenigen, die sich auf der nonrationalen Basis ihrer Willenentscheidung zu
einem solchen Dialogverfahren bereitgefunden haben.‘ Prüfen wir diese Position in einem
gewissermaßen sokratischen Dialog, der zum Teil eine aktuelle Besinnung der
Dialogteilnehmer auf ihre Diskursrolle, eine Reflexion im Dialog auf den Diskurs darstellt.
103
In diesem Zusammenhang skizziere ich zwar nur die Begründung der Menschenwürdenorm, weise aber
darauf hin, daß die aktuell dialogreflexive Begründungsreflexion der Diskursethik weiterreicht. So zeigt sie, daß
Diskurspartner, indem sie auf Wahrhaftigkeit verpflichtet sind, auch zum ernsthaften Umgang mit ihren
naturethischen Intuitionen verpflichtet sind. Außerdem zeigt sie, im Dialog auf Sinnbedingungen des Diskurses
(bzw. des Argumentierens) reflektierend, daß zu diesen die Bereitschaft zählt, alle sinnvollen Argumente zu
berücksichtigen und daß die Annahme moralischer Rechte der Natur als ein solches gelten muß. So zuletzt:
Horst Gronke, Natur.
58
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
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6.2 Selbsteinholung des Diskurspartners (II). Moralische Orientierung
durch sokratisch sinnkritische Reflexion auf den Diskurs in dem jeweiligen
Streitgespräch: Die Achtung der Würde jedes Menschen ist eine
unbestreitbare Pflicht.
Zweifler:
Ich behaupte erstens, daß die Diskursethik, weil sie zur Begründung
moralischer Normen und Werturteile nichts als den Rückgang auf den Diskurs zu
bieten hat, keine prinzipielle moralische Orientierung ermöglicht, wie sie der
Grundsatz, die Würde jedes Menschen sei unbedingt zu achten, enthält.
Der
Ansatz
bei
dem
Diskurs
kann
–
zweitens
–
bloß
zu
einem
Konsensbildungsverfahren gelangen, dem das Kriterium einer interessegeleiteten
Zustimmung zugrundeliegt. Das ermöglicht selbstredend keine unbedingte
Verpflichtung und Verbindlichkeit.
Diskursethiker:
Mit Blick auf eine strikte, diskurspragmatische Begründungsreflexion –
nicht im Blick auf Habermas, der ja bereits die Situation des praktischen Diskurses
voraussetzt, auf die aber ein Skeptiker sich nicht einlassen muß, weil er deren
Zumutung mit der Frage kontern kann "Warum soll es vernünftig sein, sich als
praktischer Diskurs-Teilnehmer (statt z. B. rein zweckrational bzw. strategisch als
homo oeconomicus) zu verhalten?" – werde ich dir durch Reflexion auf den
Diskurs im Dialog zu zeigen versuchen, daß deine Ausgangsthese (1) nicht zutrifft
und daß deine Kriterienannahme (2) nicht folgt.
Zweifler:
Wie das?
Diskursethiker:
Bedenke, was du als gültig und für dich als meinem Partner im Diskurs
– jetzt zunächst in dieser realen Kommunikationsgemeinschaft – voraussetzen und
als verbindlich anerkennen mußt,
-
damit deine Rede von mir (und anderen) als Argument mit kritisierbarem
Geltungsanspruch behandelt werden kann, mußt du voraussetzen, daß sie als
argumentativer Beitrag im Dialog mit anderen verständlich ist (Sinnbedingung);
-
damit du von mir (und ggf. anderen) jetzt als Argumentationspartner im Dialog
über Wahrheit und Richtigkeit ernst genommen werden kannst, mußt du den
Anspruch auf Wahrhaftigkeit voraussetzen.
59
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
Zweifler:
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Was soll das heißen?
Diskursethiker: Du mußt bereit sein, den Anspruch auf Ernsthaftigkeit deiner
Partnerintention einzulösen. Du mußt ernsthaft bereit sein, mit mir als
Dialogpartner zusammenzuarbeiten, und diese Bereitschaft verbindlich
in den Diskurs einbringen (Moralbedingung).
-
Denn wie anders sollten wir deine und meine Beiträge hinsichtlich ihrer
Ansprüche, allein kraft ihrer Begründbarkeit und freien Einsehbarkeit zu gelten,
hier in einem Diskurs prüfen, ggf. verbessern und zur Geltung bringen können?
Dazu müssen wir alle erreichbaren Argumente zur Sache in unserem Dialog
berücksichtigen (Geltungsbedingung).
Du stimmst mir doch sicher bei: Wir können wissen, daß der argumentative Dialog
eine verbindliche (Meta-)Institution für dich, mich und für alle möglichen
Anspruchssubjekte ist, so daß er als Diskursuniversum etwas Ideales an sich hat,
da er alle performativ und propositional widerspruchsfreien Argumente und deren
mögliche Vertreter, und zwar als Gleichberechtigte, einschließt.
Zweifler:
Das ist geschenkt. Aber daraus folgt doch nicht, daß die Diskursethik
die Verbindlichkeit der Menschenwürde (1) und damit auch – im Unterschied zur
interessierten Zustimmung – ein ethisch gehaltvolles Kriterium für Gültigkeit (2)
begründen kann.
Diskursethiker:
Nicht eigentlich die Diskursethik, wohl aber die argumentative
Dialogreflexion, auf die sie aufbaut und deren Resultate sie als normative Gehalte
der Ethik präsentiert.
Zweifler:
Und wie soll die Begründung vor sich gehen?
Diskursethiker:
In
drei Schritten. Zunächst erinnert man sein intuitives und
wissenschaftsvermitteltes Vorverständnis von Dialog. Dieses systematisierend,
rekonstruiert man notwendige interne Bedingungen, die bei der Durchführung
eines Dialogs, in dem allein nach Wahrheit und Richtigkeit gesucht wird, erfüllt
werden müssen. Man stellt also Sinnbedingungen eines argumentativen Diskurses
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Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
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auf. Drittens bezweifelt man den Status einer dieser rekonstruierten Bedingungen:
Ist X wirklich schlechthin konstitutiv und allgemeingültig? Dieser Zweifel leitet
die eigentliche Gültigkeitsprüfung ein, den Verbindlichkeitserweis.
Zweifler:
Ein solcher Zweifel ist allerdings angebracht. Denn dein Ausgang von
einem Vorverständnis und dein „Rekonstruieren“ bzw. „Aufstellen“ von
Sinnbedingungen kann äußerst kontextabhängig, interpretationsabhängig und
daher fehlerhaft sein.
Diskursethiker:
Jedenfalls muß man mit solchen Fehlerquellen immer rechnen. Aus
diesem Grunde zeichnet die Diskurspragmatik die Prüfung des Zweifels als den
entscheidenden Begründungsschritt aus. Hier wird im Sinne einer sokratischen
Prüfung, eines reflexiven Elenchos, geklärt, ob sich der jeweilige skeptische
Einwand überhaupt als sinnvolle Argumentation in einem Dialog durchhalten läßt.
Für einen solchen Elenchos ist vor allem zweierlei erforderlich104: Erstens dürfen
die Dialog-Teilnehmer nicht nur ihre Aussagen, sondern müssen ihre ganze
performativ-propositionale Rede betrachten; und sie müssen diese wiederum
(hinsichtlich ihrer Geltungsansprüche) als Beiträge zu einem jetzt stattfindenden
Dialog in Augenschein nehmen.
Zweitens ist zu klären, ob sich diese Thesen von anderen Diskurspartnern als
argumentative Dialogbeiträge verstehen und mithin prüfen lassen oder aber nicht.
Zweifler:
Aber was hast du als Kriterium für Unverständlichkeit im Diskurs zu
bieten? Wann tritt der dialogische Unverständlichkeitsfall ein?
Diskursethiker:
Er tritt genau dann ein, wenn jemand eine skeptische Behauptung
vorbringt, die etwas bezweifelt, was sie selbst in Anspruch nehmen muß, um als
Diskursbeitrag für Partner in der Diskussion jetzt verständlich und prüfbar zu sein.
Wollen wir so verfahren? Läßt du dich auf eine solche dialog-praktische Prüfung ein?
Zweifler:
Ja. Probieren wir einmal, was dabei herauskommt.
104
Das Verhältnis von 'Vorverständnis', 'Rekonstruktion' und 'Dialogreflexion' wird näher bestimmt in: Böhler,
Strategik, S. 143 ff.
61
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Diskursethiker:
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Gut. Das Verfahren bedeutet freilich eine mögliche Letztbegründung.
Das heißt: Wenn eine solche Skeptikerwiderlegung durch Reflexion auf Sinn- und
Geltungsbedingungen des Diskurses im Diskurs gelingt, dann ist das Bezweifelte
als letztgültig bzw. als uneingeschränkt verbindlich erwiesen.
Zweifler:
Einverstanden.
Prüfen
wir
zunächst
meine
These
(2),
die
Kriterienannahme. Ich präzisiere und ergänze sie jetzt, indem ich behaupte:
(2a) Durch argumentationsreflexiven Rückgang auf den Diskurs kommt man nicht
zu einer verbindlichen Orientierung, sondern nur zum Kriterium einer
interessegeleiteten Zustimmung. Und diese ist (3) nur verbindlich für den
jeweiligen Teilnehmerkreis, der sich faktisch zur Beteiligung an diesem Diskurs
entschlossen hat.
Diskursethiker:
Laß
uns
untersuchen,
ob
dies
ein
sinnvoller
argumentativer
Dialogbeitrag ist. Schließlich bringst du diese These in einem Diskurs (nämlich
gerade jetzt im Dialog mit mir) und mit Anspruch auf Geltungsfähigkeit vor. Im
zweiten Teil deiner These sprichst du von dem „Kriterium einer interessegeleiteten
Zustimmung“, auf welches allein die Diskursreflexion führen könne. Ich
konzentriere mich zunächst auf diesen Punkt: Bist du der Ansicht, daß in einem
Diskurs
nicht
nur
Argumente,
sondern
auch
schon
Interessen
als
Gültigkeitsinstanzen zählen?
Zweifler:
Laß mich diese Ansicht hier einmal vertreten.
Diskursethiker:
Gut. Dann wollen wir prüfen, ob sie sich in einem Diskurs vertreten
läßt. Um nun den Beweisgang abzukürzen, stelle ich dir eine Frage, die auf die
vorhin getroffene Unterscheidung von Sinnbedingungen der Rede (a) und
Glaubwürdigkeitsbedingungen der Partnerintention (b) zurückgreift.
Zweifler:
Nur zu!
Diskursethiker:
Ist es eine sinnvolle Rede (a) und bist du für mich (bzw. deine Partner
im Dialog – wer immer sie sein mögen) ein glaubwürdiger, ernstzunehmender
Diskurspartner (b), wenn du behauptest: ‚Nicht nur Argumente gelten im Diskurs,
62
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
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sondern auch bloße Interessen. Daher kann eine Zustimmung, die aus Interessen
erfolgt, ein Kriterium für Gültigkeit sein‘?
Kannst du selbst als wahrhaftiger Diskurspartner, der nach Wahrheit und
Richtigkeit sucht und der als solcher von mir (bzw. deinen Partnern) ernst
genommen sein will (b), diese ‚Interessen-Kriterien-These‘ als These mit
kritisierbarem Geltungsanspruch (a) verstehen und in einem argumentativen
Dialog vertreten?
Zweifler:
Das ist in der Tat heikel.
Diskursethiker:
Es ist vielmehr unmöglich. Bedenke doch: Wenn du (und wann immer
du) wirklich nach Wahrheit bzw. Richtigkeit suchst, kannst du im Diskurs
Interessen nicht einfach gelten lassen und gegeneinander abwägen, nur weil sie
halt vorliegen, also zufälligerweise empirisch gegeben sind. Vielmehr kannst du,
der du dich in einer Argumentation befindest, solche Interessen lediglich als
Kandidaten für gute Gründe, als Ansprüche auf mögliche Geltung nehmen. Diese
Ansprüche müßten jedoch erst eingelöst werden, nämlich durch triftige,
allgemeine Zustimmung verdienende Argumente, welche bestimmte Interessen
hinreichend begründen können. Andernfalls wärest du nicht, wie du vorgibst, ein
nach
Gültigkeit
suchender
Diskurspartner,
sondern
ein
raffinierter
Interessendurchsetzer, der sich einer Diskursveranstaltung bloß als Mittel zum
Zweck seiner Interessenlegitimation bedient und der damit die Würde seiner
Partner verletzt, indem er sie nur scheinbar als gleichberechtigte Partner eines
Dialogs der Argumente ernstnimmt. Und...
Zweifler:
Du spielst offenbar auf die Menschenwürde an.
Diskursethiker:
Ja. Denn die nimmst du, jetzt im Dialog mir gegenüber, für dich in
Anspruch, und ebenso nehme ich sie für mich in Anspruch.
Zweifler:
Und inwiefern verletze ich sie?
Diskursethiker:
Wenn du letztlich nicht nach dem besten Argument suchst, nach
Gründen,
die
gelten
können,
dann
nimmst
du
mich
nicht
als
63
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Argumentationspartner ernst, sondern machst mich zum Mittel deines Kalküls. Du
achtest mich nicht in meiner Würde als gleichberechtigtes Vernunftsubjekt. Du
beziehst mich gar nicht als gleichberechtigten und in gleicher Weise
mitverantwortlichen Wahrheits- und Richtigkeitssucher ein. Es geht dir nicht
darum, zu erfahren, ob ich neue Argumente zum Problem habe; du willst mich
vielmehr dazu bringen, daß ich deine Interessen legitimiere. Damit erniedrigst du
mich. Du würdigst mich herab zum Mittel deiner eigenen partikularen Zwecke, du
manipulierst mich.
Zweifler:
Wohl wahr.
Diskursethiker:
Langsam. Gibst du damit zu, daß die Suche nach Gültigkeit, also nach
Wahrheit
(von
Sachverhaltsbehauptungen)
und
Richtigkeit
(von
Normbehauptungen bzw. von Normen und Handlungsweisen) an die Achtung der
Würde all jener (als Argumentationspartner) gebunden ist, die an der
Gültigkeitssuche teilnehmen?
Zweifler: Das folgt offensichtlich. Aber diese Achtung bezieht sich ausschließlich auf die
Diskursteilnehmer, nicht auf die da draußen "und nicht auf 'meine' Praxis
außerhalb von" Diskursen. Dazu bin ich als Diskursteilnehmer nicht verpflichtet.
Diskursethiker:
Diesen Einwand, den zuerst Karl-Heinz Ilting und dann Habermas
vorgebracht haben, müssen wir eigens diskutieren. Laß uns zunächst festhalten,
was wir geklärt haben und worin wir inzwischen übereinkommen.
Zweifler: Gut, mein Herr Pedant.
Diskursethiker:
Wir müssen einräumen, daß sich sowohl ein theoretischer Diskurs (über
die Wahrheit von Sachverhaltsaussagen, etwa von Situationsbeschreibungen) als
auch ein praktischer Diskurs (über die Richtigkeit eines normativen Urteils, die
Legitimität einer Norm oder die Berechtigung zu einer bestimmten Handlung) nur
dann führen läßt und daß ein Diskursergebnis nur dann gültig sein kann, wenn die
Teilnehmer ausschließlich nach guten Gründen suchen, wenn sie einander als
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gleichberechtigte Partner mit gleicher Würde achten und wenn sie aus freier
Einsicht das Verfahren als rational erkennen können. Stimmst du dem zu?
Zweifler:
Insoweit bin ich einverstanden. Denn wahr oder richtig kann
schlechterdings nur etwas sein, das alle, die sich sachkundig machen und
ausschließlich Argumente gelten lassen, prüfen und dem sie frei, aus Einsicht,
zustimmen können.
Diskursethiker:
Eben; genau darauf kommt es an. In diesem Sinne können wir jetzt das
Kriterium der Zustimmung näher bestimmen und deine Vermutung prüfen, die
Diskursethik könne bloß eine interessegeleitete Zustimmung ins Auge fassen, da
sie von rationalen Einigungsverfahren ausgehe. Offenbar so, wie man sie aus
wohlgeordneten realen Diskursveranstaltungen, etwa Verhandlungen, kennt. Und
in solchen sogenannten Diskursen machen die Leute natürlich ihre Interessen
geltend.
Nun frage ich dich, der du jetzt mein Argumentationspartner bist, als ein solcher
allein Argumente gelten lassen willst und darfst, und der du allein nach dem
besten, eben dem wahren (theoretischen) bzw. dem richtigen (praktischen)
Argument suchst: Könntest du eigentlich einverstanden und in deiner Sache
zufriedengestellt
sein,
wenn
man
dir
sagte:
'Deine
Wahrheits-
und
Richtigkeitssuche ist mit Sicherheit dann am Ziel, wenn deine Gesprächspartner
deiner Argumentation deshalb zustimmen, weil diese mit ihren zufälligen
Interessen übereinkommt, so daß sie dazu motiviert werden, dir ihre Zustimmung
zu
geben.’
Könnte
dieser
faktische,
interessenbasierte
Konsens
dein
Gültigkeitskriterium sein?
Zweifler:
Das wohl nicht.
Diskursethiker:
Bestimmt nicht. Denn wenn du dich darauf einließest, müßtest du
immer argwöhnen, dich selbst zu betrügen bzw. von Interessenten, vielleicht auch
liebedienerisch oder sonst korrumpierend, fehlgeleitet zu werden. Du könntest
nicht im Einklang – in "Homologie", sagt Sokrates – mit dir als ernsthaftem
Argumentationssubjekt und als Diskurspartner (b) sein. Du nähmest einen
Widerspruch in Kauf zwischen dem Anspruch auf argumentative Gültigkeit, den
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du mit deiner Behauptung oder einem anderen Beitrag im Diskurs erhoben hast
und einem Gültigkeitskriterium, das dich mit zufälligen Interessen abspeist bzw.
mit einer faktischen Zustimmung aufgrund solcher.
Zweifler:
Damit hast du wohl Recht. Doch inwiefern soll damit meine These
widerlegt sein?
Diskursethiker:
Als sinnlos erwiesen, mithin restlos widerlegt ist deine Annahme, daß
sich in einem Rückgang auf den argumentativen Diskurs, durch den sich die
Diskursethik begründet, keine verbindliche Orientierung gewinnen lasse, sondern
nur das Kriterium – sagen wir jetzt besser: das Scheinkriterium – der
interessegeleiteten Zustimmung. Und ...
Zweifler:
Ja, eine Besinnung im Dialog auf den argumentativen Diskurs führt
nicht zu dem schwachen Kriterium einer ‚interessegeleiteten Zustimmung’. Das
sehe ich ein. Aber...
Diskursethiker:
Gemach. Schritt für Schritt. Unsere Klärung dessen, was du als
Argumentationspartner in diesem unseren Streitgespräch selbst in Anspruch
genommen hast und daher nicht sinnvoll bezweifeln oder bestreiten kannst, – diese
Klärung zwischen uns ist noch nicht zum Schluß gebracht.
Zweifler:
So laß sie uns denn zu Ende bringen.
Diskursethiker:
Durch die Widerlegung deiner Kritik der Diskursethik ist auch die
transzendentalpragmatische bzw. diskurspragmatische Generalthese der Ethik aus
dem Dialog als wahr erwiesen. Denn an der Unhaltbarkeit deiner Kritik – jetzt
können wir präziser sagen: an ihrer Unvertretbarkeit in einem Dialog der
Argumente – zeigt sich, daß genau das zutrifft, was sie bestreitet.
Zweifler:
Und das wäre?
Diskursethiker:
Das ist zweierlei. Erstens, daß es für materiale Normen wie das
Menschenwürdegebot sehr wohl eine intersubjektive rationale Gültigkeit und
66
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einsehbare Verbindlichkeit gibt – eine Gültigkeit und Verbindlichkeit aus
allgemein einsichtigen Gründen; nämlich aus jenen Gründen, die wir alle haben
bzw. erkennen, wenn wir uns besinnen auf die vorgängige (primordiale) Rolle
eines Dialogpartners, die wir mit jeder ernsthaften Behauptung und mit jeder
ernstgemeinten Frage bereits übernommen haben. Anders gesagt, eine rationale
Letztbegründung moralischer Grundnormen ist möglich. Rationalität ist folglich
nicht, wie die herrschende Meinung will, auf Zweckrationalität beschränkt, die
sich erschöpfe im Kalkül gegebener Daten oder Interessen und daher moralische
Normen nicht aus sich begründen könne.
Zweifler:
Es gibt also so etwas wie praktische Vernunft, die moralisch
orientierungsfähig ist: Moralische Prinzipienorientierung aus dem argumentativen
Diskurs. Ja, das setze ich als Diskurspartner offenbar voraus.
Diskursethiker:
Zweitens hast du implizit auch die diskursethische Generalthese
anerkannt. Sie besagt: Die Suche nach bzw. die Bemühung um einen rein
argumentativen Konsens, damit einhergehend die Geltungseinklammerung von
bloßen Interessen und der Geltungsvorbehalt gegenüber einer faktischen
Zustimmung, schließlich die (dazu logisch erforderliche) gleichberechtigte
Berücksichtigung aller sinnvollen Argumente zur Sache, die irgend jemand
vorbringen könnte, ist die (nicht sinnvoll bestreitbare) Orientierung jedes
argumentativen Diskurses. Mithin ist sie eine wahrlich verbindliche Orientierung
für alle, die sich nicht in die Tasche lügen, sondern nach dem fragen, was
erkennbarerweise
zählt.
Alle
diese
nennen
wir
Vernunftsubjekte
oder
Diskursteilnehmer oder Erkenntniswillige im strengen Sinne.
Zweifler:
So ist es wohl.
Diskursethiker:
Du stimmst mir bei?
Zweifler:
Ja. Dieser Letztbegründung aus dem Diskurs muß ich zustimmen. Doch
was haben wir damit an moralischem Gehalt gewonnen?
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Diskursethiker:
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Wir besitzen eine Letztbegründung des argumentativen Dialogprinzips
oder des Diskursprinzips als dem Prinzip, dem elementaren Grundsatz der Moral:
Bemühe dich um die Argumentation und um diejenige Handlungsweise, die die
begründete Zustimmung aller als Diskurspartner verdient.
Zweifler:
Aber das ist doch formal und schließt nicht die Pflicht zur Achtung der
Würde jedes menschlichen Wesens ein.
Diskursethiker:
O
doch.
Genau
diese
Pflicht
schließt
das
letztbegründbare
Diskursprinzip ein.
Zweifler:
Weshalb und inwiefern?
Diskursethiker:
Weil das Diskursprinzip begründeterweise verlangt, sich um die
gleichberechtigte Berücksichtigung aller sinnvollen Argumente zu bemühen, die
von irgend jemandem für irgend etwas vorgebracht werden könnten, schließt es in
erster Linie die Verpflichtung ein, das Leben und darüber hinaus das
Selbstbestimmungsrecht, genauer: die kommunikative Freiheit (die Denk- und
Dialogchancen) all derer zu achten und zu schützen, die Ansprüche haben könnten.
Zweifler:
Darin wäre in der Tat ein Gutteil des materialen normativen Gehalts des
Menschenwürdegrundsatzes eingeschlossen, der das ursprüngliche moralische
Recht aller möglichen Mitglieder der Menschengattung gleichsam wertethisch
zum Ausdruck bringt. Aber ich bin mir dessen noch nicht recht gewiß und
überlege weiter.
Diskursethiker:
Allerdings mögen noch Skeptiker auftreten und tun es in postmodernen
Zeiten bzw. kulturrelativistischen Stimmungen auch, welche bezweifeln, daß die
Pflicht, den so verstandenen Menschenwürdegrundsatz nach Kräften zu befolgen,
absolut gültig und universal verbindlich ist. Doch ließe sich darüber wiederum ein
Skeptikerdialog führen, in dem sinnkritisch gezeigt würde, daß sich die
prinzipielle Verpflichtung zur Achtung der Menschenwürde, mithin zum Schutz
der kommunikativen Freiheit bzw. der Dialogmöglichkeiten und natürlich der
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Lebensmöglichkeiten von Anspruchssubjekten gar nicht sinnvoll bestreiten läßt, so
daß diese Pflicht als absolut verbindlicher Grundsatz gelten muß.
Zweifler:
Doch wie steht es mit meinem vorhin (in Anlehnung an Ilting und
Habermas) gebrachten Einwand, daß sich ein Begründungsversuch der
Menschenwürdenorm aus dem Diskurs auch bloß auf die Teilnehmer an einem
Diskurs (und strenggenommen nur solange, wie der Diskurs dauert) erstrecken
könne? Dann wäre ja der universale und uneingeschränkte Geltungsanspruch des
Menschenwürdegebots gerade verfehlt. Denn "Menschenwürde" ist unteilbar und
immer relevant – oder sie ist nichts.
Diskursethiker:
Richtig. Laß uns also deinen Einwand prüfen. Bringe ihn nochmals vor!
Zweifler:
Ja: Ich bezweifle, daß ich oder jeder x-beliebige ernsthafte
Diskurspartner dazu verpflichtet ist, auch außerhalb von Diskursen die Würde
aller Menschen zu achten.
Diskursethiker:
Meinst du das ernst?
Zweifler:
Ja; das sage ich dir als dein ernsthafter Diskurspartner. Ich treibe kein
Spiel mit dir sondern achte, auch indem ich diese These vorbringe, deine Würde
als Diskurspartner. Und ich selbst halte meinen Anspruch hoch, dir ein
wahrhaftiger Diskurspartner zu sein.
Diskursethiker:
Letzteres kannst du aber nicht, wenn du zugleich diese These mir
gegenüber behauptest.
Zweifler:
Das verstehe ich nicht. Ich werde doch noch zweifeln dürfen.
Diskursethiker:
Gewiß. Doch es gibt sinnvolle und sinnlose Zweifel. Und der deine ist
zwar in gewisser Weise nützlich, weil wir etwas an ihm lernen können; aber als
Diskursbeitrag zwischen Dialogpartnern ist er sinnlos, weil er sich nicht mit dem
Anspruch vereinbaren läßt, ihr Vertreter sei ein wahrhaftiger, ein glaubwürdiger
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Diskurspartner und achte (als ein solcher) unbedingt die Würde seiner
Gesprächspartner.
Zweifler:
Wieso? Ich kann doch praktisch dir ein glaubwürdiger Diskurspartner
sein und theoretisch Zweifelsexperimente anstellen.
Diskursethiker:
Zieh dich nicht aufs Theoretische zurück; denn deine Theorien mußt du
mit deiner aktuellen Praxis als Dialogpartner vereinbaren können. Eben daran
bemißt sich deine Wahrhaftigkeit bzw. Glaubwürdigkeit als Partner im
argumentativen Diskurs. Sinnvoll ist einzig der Gedanke und derjenige Zweifel,
den du als glaubwürdiger Diskurspartner vertreten kannst; die Anderen müssen
dich hinsichtlich deiner Meinung als ihren Partner – jetzt im Diskurs mit dir –
ernstnehmen können. Eine vermeintlich radikale Theorie oder Skepsis, die mit
glaubwürdiger Dialogpraxis nicht vereinbar ist, erweist sich im Dialog als sinnlos.
Zweifler:
Langsam, langsam! Warum soll eine radikale theoretische Perspektive nicht
mit ernsthafter Praxis vereinbar sein? Betreibst du nicht eine unerlaubte
Vermengung von Theorie und Praxis? Springst du nicht aus dem Diskurs in die
Welt der Praxis?
Diskursethiker:
Nein; ich demonstriere, daß eine dialogbezogene, rechtfertigungsfähige
Vermittlung von Theorie und Praxis besteht. Dieser weichst du aus. Du entziehst
dich gewissen Dialognormen, gewissen Verbindlichkeiten einer – und jetzt –
deiner Diskurspartnerrolle, indem du unverbindliche theoretische Spekulationen,
freischwebende Zweifel, anstellst. Das ist sinnlos. Laß die Spielerei!
Zweifler:
Du gehst zu weit. Wie kommst Du dazu?
Diskursethiker:
Ich komme dazu, weil du mich als deinen Diskurspartner in Anspruch
nimmst Daher will auch dich als meinen Diskurspartner bei den – jetzt deinen –
Verbindlichkeiten
der
Diskurspartnerrolle
nehmen.
Komm
aus
deiner
Verschanzung hinter einer bloß theoretischen Perspektive hervor; vergiß nicht bei
deinem Theoretisieren, daß du jetzt mit mir im Diskurs bist!
70
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
23.07.2007
Zweifler:
For the sake of argument. Was soll ich tun?
Diskursethiker:
Steh Rede und Antwort; verantworte dich jetzt im Diskurs! Laß dich als
meinen Diskurspartner direkt befragen: Wie ist es um deine Glaubwürdigkeit als
Diskurspartner bestellt, wenn du mir diese zwar ebenso versicherst wie deine
Bereitschaft, meine Würde im Diskurs zu achten, aber hier jetzt ein
Transferproblem zwischen Theorie (Diskurs) und Praxis (verhalten außerhalb des
Diskurses) etablierst? Wenn du das tätest, würdest du behaupten, du seiest nicht
verpflichtet, meine Würde wie die anderer auch außerhalb des Diskurses zu
achten.
Zweifler: Und warum darf man das Transferproblem nicht so scharf stellen?
Diskursethiker: Sieh doch: Dann ist es um deine Glaubwürdigkeit geschehen. Denn wenn du
das bezweifelst, sagst du mir damit, du wissest nicht und könnest nicht wissen, daß
du verpflichtet seiest, die Menschenwürde auch außerhalb des Diskurses zu
achten. Eine nicht gewußte, eine nicht frei einsehbare Verpflichtung ist freilich
keine – jedenfalls keine moralische, keine verbindliche, auf die man bauen kann.
Also kann ich außerhalb des Diskurses nicht auf dich als moralische Person
zählen. Und da soll ich im Diskurs auf dich zählen?
Zweifler:
Genauer bitte. Warum denn nicht?
Diskursethiker:
Versetze dich in meine Situation, in die dein Zweifel mich als deinen
Diskurspartner bringt. Und nun laß dich fragen: Wenn dir jemand so käme –
gleichsam am Sonntag, im Diskurs, und er sagte dir zu, die Menschenwürde der
anderen Sonntägler, der Diskursteilnehmer, zu achten; doch darüber hinaus, im
Alltag, wisse er sich nicht auf das Menschenwürdegebot verpflichtet, – könntest du
ihn aufgrund dieser Rede als glaubwürdigen, als wahrhaftigen Partner im Diskurs
anerkennen?
Zweifler:
Wohl eher nicht.
71
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
Diskursethiker:
23.07.2007
Mit Sicherheit nicht. Bedenke nur zweierlei: Einmal die Verwobenheit
von Diskursen und Alltagswelt. Denn Diskurse finden ja nicht auf einem anderen
Stern statt, sondern müssen in der realen Welt geplant, organisiert, durchgeführt
und ihre Ergebnisse auf diese angewandt bzw. in dieser realisiert werden. Überall
da ist die Glaubwürdigkeit und die Menschenwürde der Diskurspartner als
Menschen in der Praxis gefragt. Und genau das weißt du als Diskurspartner
ebensogut wie ich.
Zweifler:
Da muß ich dir zustimmen.
Diskursethiker:
Bedenke zum anderen, daß sich die Grenze zwischen den Teilnehmern
und den Nicht-Teilnehmern an einem Diskurs der Argumente nicht empirisch
festlegen läßt: Eine solche Grenze wäre immer zufällig und willkürlich. Denn sie
läßt sich nur von außen bzw. durch zufällige Umstände festsetzen und bleibt dem
argumentativen Diskurs äußerlich. So könntest du Teilnehmer aber auch
Außenstehender sein, Beteiligter oder Zaungast oder Betroffener. Doch diese
empirische Zufälligkeit tut nichts zur Sache.
Zweifler:
Was ist denn hier die "Sache"?
Diskursethiker:
Die Sache des Diskurses sind die Argumente und die Suche nach
möglicher Wahrheit bzw. Richtigkeit, also die Suche nach den besten, d. h.
universal
geltungsfähigen
Argumenten.
Solche
Argumente
müßten
alle
berechtigten Ansprüche und die Gründe, die für diese sprechen können,
berücksichtigen
und
einschließen.
Folglich
müssen
die
jeweiligen
Diskursteilnehmer auch die Würde aller achten, die an diesem faktischen Diskurs
nicht teilnehmen, die aber Diskursteilnehmer sein könnten, werden könnten oder
gewesen sein könnten.
Zweifler:
Das würde allerdings heißen, daß ich meine Eingangsvermutung (3),
aus einem Diskurs ergäben sich nur Verpflichtungen für den faktischen
Teilnehmerkreis, mithin keinerlei universale Verbindlichkeit, zurücknehmen
müßte.
72
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
Diskursethiker:
23.07.2007
In der Tat. Du hast ihr nämlich schon zuwidergehandelt, hast sie
dialogpraktisch widerlegt.
Zweifler:
Wodurch? Dadurch, daß ich für meine These Wahrheit bzw.
Wahrheitsfähigkeit beansprucht habe?
Diskursethiker:
Genau. Denn durch den Geltungsanspruch auf Wahrheit für dein
Argument hast du dich an einen unbegrenzten Teilnehmerkreis gerichtet und hast
alle möglichen Argumentationssubjekte als Wesen anerkannt, welche das Recht
haben, zu leben und frei ihre Auffassung vorzubringen bzw. vorbringen zu lassen.
Zweifler:
Das wären freilich alle Menschen.
Diskursethiker:
Ja, zumindest alle Menschen. Denn von diesen Wesen wissen wir, daß
ihnen die Möglichkeit, Diskursteilnehmer zu werden, von Natur mitgegeben ist.
Zweifler:
Das ist ein anthropologisches Faktum.
Diskursethiker:
Ja, eine Fähigkeit, die zumindest unserer Gattung zukommt, die
Fähigkeit, Ansprüche zu haben oder auch geltend machen zu können.
Zweifler:
Aber auch diese Fähigkeit ist ein natürliches Faktum. Schließt du dann
nicht von einer bloßen Tatsache auf eine Norm, von einem Sein auf ein Sollen?
Diskursethiker:
Ein solcher Fehlschluß, der „naturalistische Fehlschluß“, läge dann vor,
wenn wir allein aus kontingenten Fakten eine Norm ableiten würden. Das tun wir
hier jedoch nicht.
Zweifler:
Wieso nicht? Du setzt doch das Faktum voraus, daß ein Wesen die
Potentialität besitzt, Ansprüche haben oder anmelden zu können.
Diskursethiker:
Gewiß. Aber das ist weder die einzige noch die ausschlaggebende
Voraussetzung. Und als ein – vielleicht sogar irrtumsfähiges interpretierbares –
Faktum darf es das auch nicht sein.
73
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
Zweifler:
23.07.2007
Allerdings nicht; denn was wir benötigen, ist der Grund für eine
Verbindlichkeit, wie Kant sagt, also für eine prinzipielle Verpflichtung.
Diskursethiker:
Genau. Und den haben wir auch.
Zweifler:
Nur, woher nehmen wir solche starken Gründe?
Diskursethiker:
Die allgemein einsehbaren, daher allgemein verbindlichen Gründe für
eine unbedingte Verpflichtung kommen aus unserem praktischen Vorwissen, das
wir als Diskurspartner mitbringen und dessen wir uns durch Reflexion auf interne
Voraussetzungen des Diskurses, dessen normative Sinnbedingungen, vergewissern
können.
Zweifler:
Und eine dieser Sinnbedingungen, dieser Diskursnormen, ist die
Verpflichtung, die Würde aller anderen möglichen Diskursteilnehmer zu achten,
also zumindest die Würde aller menschlichen Wesen?
Diskursethiker:
Ja. Und weil das eine Diskursnorm ist, ist es zugleich eine Norm, die
für die Praxis verpflichtend ist. Das gehört zu unserem Verpflichtungswissen als
Diskursteilnehmer.
Zweifler:
Diskurspartner jedoch, die dieses Verpflichtungswissen bezweifeln,
bringen einen sinnlosen Diskursbeitrag vor, weil sie sich dadurch zu dem
grundlegenden Wahrhaftigkeitsanspruch ihrer Diskurspartnerrolle in Widerspruch
setzen. Das heißt, daß sie durch diesen Zweifel ihre eigene Glaubwürdigkeit als
Diskurspartner erschüttern? Verhält es sich so?
Diskursethiker:
So ist es.
Zweifler:
Dann habe ich verstanden. Der Menschenwürdegrundsatz läßt sich als
verbindlich erweisen, läßt sich letztbegründen durch Reflexion auf den
argumentativen Diskurs im Dialog mit dem Zweifler.
74
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
23.07.2007
Moral aus Einsicht. Die sokratische Motivation des Diskurspartners.
Reflexive Dialoge sind und leisten zunächst eine Begründungsreflexion. Indem sie uns einer
Wahrheit bzw. einer Verbindlichkeit oder einer Unhaltbarkeit vergewissern, bringen sie uns in
den Besitz einer Einsicht. Eine Einsicht ist stets auch "Quelle von Orientierungskraft"105,
welche motiviert. Ja sie ist die stärkste Motivation überhaupt, weil sie 'mich' von innen zu
einem Verhalten bewegt – autonom. Doch ist sie nicht allein autonom, sondern auch
übersubjektiv, nämlich verallgemeinerungsfähig, weil sie auf Gründen beruht, die jeder
prüfen und nachvollziehen kann, indem er sich auf das besinnt, was er selbst im Dialog mit
sich oder mit anderen als die eigene und gemeinsame Basis in Anspruch nimmt, in Anspruch
nehmen muß. Eben deshalb ist eine Begründung durch Reflexion auf den Diskurs im Dialog
mit anderen zugleich die überzeugendste Motivation, die sich denken läßt.
Die von der aktuellen Reflexion im Dialog, erschlossene Motivationsquelle bleibt stets erneut
fruchtbar zu machen. Das läßt sich nicht allein philosophierend tun, sondern vor allem
praktisch – von uns allen...
Durch Besinnung auf unsere Rolle als Diskurspartner können nicht allein Konflikte rational
gelöst, sondern ebenso Mißstimmungen überwunden werden. Beides erschließt Hoffnung und
bestärkt Tatkraft. Zudem läßt sich durch diese Besinnung sowohl die Einsicht in die
wechselseitige Mitverantwortung für Dialoge und ihre praktische Wirksamkeit erwerben als
auch die Bereitschaft zur solidarischen Mitverantwortlichkeit fördern. So kann auch die,
angesichts mancher Menschheitsaufgaben naheliegende, ja in der monologischen Perspektive
des Einzelnen unvermeidliche Resignationslähmung überwunden – und Hoffnung geschöpft
werden.
Denk also auf dich zurück: auf die persona, die Rolle, die du jetzt mit deiner Frage oder
Behauptung etc. im Diskurs anderen gegenüber eingenommen hast. Was hast du durch die
Übernahme einer Diskurspartnerrolle als wahr, was als verbindlich vorausgesetzt? Mit
welchen Erwartungen begegnen dir infolgedessen die anderen in dem jetzt geführten Diskurs?
Aus dieser Besinnung erwächst die Diskursethik. Denn ihre Begründung ist vor allem
Erinnerung und Er-innerung. Der erste Schritt jener Ethikbegründung ist eine Erinnerung.
105
Gronke, Management, S. 323
75
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
23.07.2007
Woran? An deine Rolle als Diskurspartner, die du, indem du ernsthaft über etwas nachdenkst,
im vorhinein schon eingenommen und anderen gegenüber in Anspruch genommen hast:
Sammle die Erinnerungen an alle Verbindlichkeiten, die du in einem Dialog, in dem allein das
sinnvolle Argument zählt, nicht mit einem solchen bezweifeln kannst; und eigne sie dir an,
indem du – im Dialog mit anderen darauf achtest, ob dein Versuch, eine davon in Abrede zu
stellen, den argumentativen Dialog zerstört oder dich als Diskurspartner unglaubwürdig
macht.
So kannst du sie er-innern, d.h. reflexiv vergewissern, indem du sinnkritisch erweist, daß die
jeweils von dir erinnerte Diskursnorm wirklich gültig ist. Denn das, was du nicht mit einem
sinnvollen Argument bezweifeln kannst, genau das ist logisch gültig. Handelt es sich dabei
um eine moralische Norm, dann ist diese unbedingt verbindlich. Wer sich das vor Augen
führt, gewinnt die moralische Prinzipieneinsicht; in eins damit motiviert er sich auf
sokratische Weise. Er motiviert sich, eben das zu praktizieren und zu sein, was er im Diskurs
bereits beansprucht: ein glaubwürdiger Diskurspartner, dessen Theorie kohärent zu seiner
Praxis steht, dessen Geltungsanspruch mit seiner Handlungsweise zusammenklingt.
76
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
6.3
Menschenwürde
für
Embryonen?
23.07.2007
Verantwortungspflicht
bei
Nichtwissen und Diskursdissens: Selbsteinholung des Diskurspartners
Zum Beschluß dieser Vorlesung möchte ich die umstrittene Frage diskutieren: Sind wir
einsehbar verpflichtet, Embryonen den Anspruch und die Rechte der Menschenwürde
zuzuerkennen? Es ist m.E. fruchtbar, dieses Problem im Anschluß an Hans Jonas zu
behandeln. Ist er es doch, der die von der Gentechnologie und der Reproduktionstechnik
aufgeworfenen bioethischen Herausforderungen so frühzeitig wie kein anderer Philosoph
erkannt – und sogleich im Lichte des Menschenwürdeprinzips erörtert hat.106
Lassen Sie mich mit dem Auszug aus einem Podiumsbeitrag von Jonas beginnen. Im
Rückblick auf seine, damals gut zwei Jahrzehnte währende, Beschäftigung mit bioethischen
Problemen vermittelt er hier das Staunen und das moralische Zittern, das den Denkenden
überkommen kann, wenn er sich dahinein vertieft. Hinsichtlich der Gentechnik am Menschen
fragt er sich: „Wo wird einem unheimlich?“ Und er antwortet: „An zwei Punkten: der eine ist,
daß wir nicht recht wissen können, was wir tun, wenn wir in den subtilen, komplexen, von
uns in keiner Weise voll überschaubaren molekularen Bauplan eines künftigen Menschen
eingreifen. Damit zu experimentieren, ist verboten. Denn wenn es schiefgeht, existiert
gleichwohl ein Individuum, das wir verantworten müssen. Das ist der Punkt.
Noch unheimlicher wird es, wenn das ganze nicht an einem Individuum geschieht, sondern
wenn man eine ganz neue Erbreihe begründet. Da ließen wir uns auf ein biologisches
Abenteuer ein, zu dem wir beim Menschen einfach nicht das Recht haben. Irgendwelche
Monstrositäten in der Pflanzen- oder Kleintierwelt zu erzeugen, mag auch das
Ehrfurchtsgefühl vieler Menschen verletzen, aber damit läßt sich ethisch eventuell fertig
werden. Wenn es jedoch darum geht, daß wir auch nur auf dem Versuchswege in einem
individuellen Fall etwas ausprobieren und etwas Schreckliches dabei herauskommt:
„Menschenwesen“, die niemand wollen kann, die wir aber auch nicht wie bei einer
mißglückten Automobilkonstruktion einfach verschrotten können, wird die Sache nicht nur
bedenklich, sondern es faßt einen das Grauen.
Uns graut davor, daß wir, die wir nach der Imago Dei, nach dem Bilde Gottes geschaffen
wurden, dies korrigieren und verbessern wollen, daß wir vielleicht sogar etwas konzipieren
können, was in eine andere Evolutionsrichtung führt. Dazu fehlt uns das Recht! Es fehlen uns
die Weisheit, das Wissen, das Übersehenkönnen der Folgen, und es fehlt uns vor allen Dingen
das Recht dazu, grauenvolle und unglückliche Wesen bewußt oder um des Experiments willen
106
H. Jonas, Technik, Medizin und Ethik. Zur Praxis des Prinzips Verantwortung. Frankfurt a. M. (Insel) 1985.
77
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
23.07.2007
in die Welt zu setzen. Die Gentechnologie ist ein Gebiet, wo schon der Versuch ein
Verbrechen sein kann.“107
Wie in seinen medizinethischen Veröffentlichungen denkt Jonas auch in dieser
Stellungnahme aus dem Zusammenhang seines „Prinzips Verantwortung“ mit der
Menschenwürde, deren Wahrung bzw. Ermöglichung jenem Prinzip den Richtungssinn gibt.
Wie leicht und wie radikal wir - dank der Gentechnologie -
von dieser Orientierung
abweichen, ja ihr zuwiderhandeln können, sei Grund genug zum Gruseln. Können Menschen
nunmehr auch den Menschen - metaphysisch gesagt, das Ebenbild Gottes – genetisch
umkonstruieren?
Wenn
dann
aber
etwas
Schreckliches
dabei
herauskomme,
„Menschenwesen, die niemand wollen kann“, dann dürften wir sie nicht etwa einfach
verschrotten. Jonas fragt sich weiter, was wir eigentlich biotechnisch dürfen – vielleicht gar
„eine andere Evolutionsrichtung“ produzieren?
Seine direkte Antwort ist die eines metaphysischen Glaubens – ernsthaft, aber nicht
zwingend: „Mein Nein dazu ist sehr emphatisch, aber es liegt nicht in der Sphäre des
Beweisbaren und des Argumentierbaren.“108
Eher implizit findet sich in Jonas’ Gedankengängen auch eine indirekte, eine
vernunftmethodische Antwort. Ihre Geltungskraft scheint mir weitaus größer zu sein, da sie
ersichtlich in der Sphäre des Argumentierbaren, ja des Beweisbaren liegt. Und zwar so, daß
sie sich als Orientierung für unlösbar erscheinende Streitfragen anbietet. Denn sie kann die
über den Umgang mit Embryonen streitenden Parteien aus ihrem Sachstreit herausholen und
in eine Reflexion über die Sinnvoraussetzungen des Sich-über-etwas-Streitens hineinstellen.
Jedenfalls ist sie dazu angetan, wenn man sie explizit macht. Das sei hier versucht – im Blick
auf die von Jonas äußerst geistesgegenwärtig und problemsensibel, nämlich seit den sechziger
Jahren des 20. Jahrhunderts, aufgedeckte bioethische Problematik.
Gelegentlich deutet Jonas, der Schüler Edmund Husserls, einen Reflexionsweg an, der auch
unabhängig von dem soeben angesprochenen Beispiel einer genetischen Veränderung der
Menschengattung (zum Zweck ihrer vermeinten Verbesserung) hochbedeutsam ist für die
allgemeine bioethische Diskussion. Ich denke an sinnkritische Argumente, wie er sie in der
Berliner Ansprache „Fatalismus wäre Todsünde“, mehr noch in den bioethischen
107
H. Jonas’ Votum zur „Diskussion“, in: B. Engholm/W. Röhrich (Hrsg.), Ethik und Politik heute. Karl-Otto
Apel, Hans Jonas, Hans Küng im Gespräch, Opladen (Leske & Budrich) 1990, S. 78.
108
H. Jonas, Vom Profit zur Ethik und zurück, in: Fatalismus wäre Todsünde, Münster 2005, S. 123.
78
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
23.07.2007
Abhandlungen „Gehirntod und menschliche Organbank: Zur pragmatischen Umdefinierung
des Todes“ und „Laßt uns einen Menschen klonieren: Von der Eugenik zur Gentechnologie“
vorgebracht hat.109 Der dabei von ihm teils beschrittene, teils implizierte Argumentationsweg
läßt sich als sinnkritischer Rückgang auf Verpflichtungen erläutern, die ‚wir‘ als
Diskursteilnehmer auch mit den skeptischsten Argumenten nicht mehr sinnvoll bezweifeln
bzw. hintergehen können – nämlich genau dann nicht, wenn wir uns bewußt machen, welche
moralisch geladenen Sinnbedingungen ‚wir‘ in Anspruch nehmen – und auch erfüllen müssen
–, sofern ‚wir‘ als leibhafte Diskurspartner glaubwürdig bleiben wollen; das heißt, sofern
‚wir‘ uns, nämlich uns als Argumentationspartner, nicht selbst widersprechen und damit die
Geltungsfähigkeit unserer Beiträge zerstören wollen. Insoweit trifft sich Jonas hier mit dem
diskurspragmatischen Königsargument des performativen Selbstwiderspruchs als einer
dialog-pragmatischen Inkonsistenz, also des zu vermeidenden Widerspruchs zwischen der
besonderen
These
eines
Diskursteilnehmers
und
seiner
allgemeinen
Rolle
als
Diskurspartner.110
Nun ist Jonas’ philosophischer Hintergrund nicht der einer sinnkritischen Reflexion im
(jeweils geführten) Dialog auf die internen Bedingungen eines argumentativen Dialogs,
sondern Edmund Husserls postcartesische Zweifelsmethode, sein Verfahren einer
fortschreitenden Einklammerung des (in der Lebenswelt oder in einem wissenschaftlichen
Diskurs) üblicherweise für gültig Gehaltenen: die Reflexionsmethode der Epoché. Obschon
Jonas die Reflexionsphilosophie seines Lehrers weniger würdigt als vielmehr kritisiert111 –
und das zu Recht, wenn es um deren solipsistisch bewußtseinsidealistischen Rahmen geht –,
lehnt er sich, wie Gronke zeigt, an deren Einklammerungsmethode an.112
Bemerkenswerterweise
kommen
der
transzendentalphänomenologische
und
der
transzendental- bzw. diskurspragmatische Reflexionsansatz darin überein, daß der
Geltungsboden einer Pro-und-contra-Argumentation selbst in einem Seinsboden gründet, der
zugleich eine normative Basis ist. Denn der Sinn und die Wahrheitsgeltung einer Pro-und109
H. Jonas, Technik, Medizin und Ethik (zit. TME), Frankfurt a. M. 1985, S. 219 ff., S. 116 ff.
Vgl. die Einführung dieses sinnkritischen Arguments in: D. Böhler, „Philosophischer Diskurs im
Spannungsfeld von Theorie und Praxis“, in: Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik, hg. v. K.-O. Apel, D.
Böhler und K. Rebel, Weinheim und Basel (Beltz) 1984, (zit. Funkkolleg Studientexte), Bd. II, S. 313-355, hier
S. 328 f., 348-352.
111
Vgl. H. Jonas, „Husserl und Heidegger“, in: D. Böhler, J. P. Brune (Hg.), Orientierung und Verantwortung
(zit. Orientierung), Würzburg 2004, S. 24 ff. Zuletzt in: H. Jonas, Philosophie. Rückschau und Vorschau am
Ende des Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1993, S. 11-13, 17 f. Dazu: D. Böhler, „Ethik der Zukunfts- und
Lebensverantwortung. Erster Teil“, in: D. Böhler, J. P. Brune (Hg.), Orientierung, 2004, S. 110 ff.
112
Zu dieser Rekonstruktion: H. Gronke, „Das Prinzip Verantwortung und seine Denkanstöße für die Zukunft.
Das Beispiel Bioethik“, in: D. Böhler, J. P. Brune (Hg.), Orientierung, 2004, S. 298 ff., hier: S. 314, vgl. 309 ff.
110
79
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
23.07.2007
contra-Argumentation ist abhängig von den zugleich ontologischen und normativen
Grundlagen
der
Institution
eines
argumentativen
Dialogs
und
der
Rolle
eines
Diskurspartners.
Da es zur kommunikativen Freiheit eines Diskurspartners gehört und es dessen gutes Recht
als Argumentationspartner ist, jedenfalls versuchsweise die Gültigkeit eines moralisch
verpflichtenden Prinzips in Frage zu stellen oder dessen Anwendbarkeit auf den jeweiligen
Streitgegenstand zu bezweifeln, kann man in grundlegenden Streitfragen auf direktem Wege
keinen begründeten Konsens erwarten – wohl aber auf dem indirekten Weg einer
methodischen Rückbesinnung. Diesen indirekten Weg hat Jonas an entscheidenden Stellen
gesucht und auch (mehr oder weniger konsequent) beschritten. Ein solches Verfahren schlage
ich nun für eine strikt argumentative Auseinandersetzung über die politisch und rechtlich
umstrittene Frage vor: Soll Embryonen Menschenwürde und der daraus resultierende
Schutzanspruch zugesprochen werden oder aber nicht?
Auch unter denen, die dem Prinzip der zu achtenden Menschenwürde generell beipflichten
und dessen Geltung anerkennen, kann es ja faktisch strittig sein, ob sich dieses Prinzip auf
sämtliche Formen menschlichen Lebens, etwa auf seine Früheststadien oder auch auf alle
Stadien des Sterbeprozesses, anwenden läßt.113 Und eben das ist zur Zeit strittig – ersteres
auch im deutschen „Nationalen Ethikrat“, den Kanzler Schröder berufen hat. Ist die Vernunft
in solchem Streit am Ende?
Hans Jonas hat die Anwendbarkeit des Menschenwürdegrundsatzes auf ein Späteststadium
untersucht. Im Blick auf solche Menschen, deren Herz-Kreislaufsystem mitsamt den davon
abhängigen Organen zwar noch in Funktion ist (weshalb sie bisher allgemein als lebendige
Menschen erachtet worden waren), deren Hirnfunktionen aber offenbar abgestorben sind, hat
er ein Nichtwissenkönnen geltend gemacht und daraus ein „Im Zweifel für das Leben“
abgeleitet. Auf diesem reflexionsmethodischen Wege erklärte er eine Organentnahme zu
diesem Zeitpunkt für nicht legitimationsfähig, mithin für illegitim.114
Hingegen beziehe ich mich hier auf den Streit um das Frühststadium menschlichen Lebens;
im Blick auf den Streit um PID, um das Forschungsklonen und um die Forschung an
113
Vgl. zuletzt: Stellungnahme des nationalen Ethikrates, Januar 2003, Genetische Diagnostik vor und während
der Schwangerschaft, Berlin 2003. Ferner: Norbert Copray (Hg.), Ethik Jahrbuch 2004, Frankfurt/M. (Fairness
Stiftung) 2004.
114
Vgl. die oben genannte Studie in: TME, 1985, S. 219 ff. Dazu Gronke, a.a.O.
80
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
23.07.2007
menschlichen embryonalen Stammzellen stelle ich die indirekte Frage: Ist eine
allgemeinverbindliche Orientierung, eine nicht mehr sinnvoll bezweifelbare Einsicht in
moralische Pflichten, auch dann möglich, wenn es (noch) nicht gelingt, den faktischen
Dissens über das Vorliegen moralischer Rechte des Gegenstands der Diskussion mit
gegenstandsbezogenen Argumenten eindeutig aufzulösen? Gibt es nicht auch im Sachstreit
Verantwortungspflichten der Diskurspartner als solcher, die für den Umgang mit dem
Gegenstand des Diskurses ausschlaggebend sein könnten?
Das ist der in meinen Augen entscheidende Ausgangspunkt für eine rein argumentative
Lösung des Streits über die moralische Anspruchsberechtigung menschlicher Embryonen im
Frühstadium und in vitro. Erstaunlich genug, daß diese naheliegende Frage meines Wissens
noch kaum gestellt worden ist... In Deutschland ist das um so erstaunlicher, als hierzulande
Mehrheits-Voten des "Nationalen Ethikrates" und erst recht Aufsätze seines Mitglieds Volker
Gerhardt
geradezu
vor
Augen
führen115,
was
dabei
herauskommt,
wenn
man
drauflosargumentiert, um bloß eine Meinung bzw. ein Interesse zu vertreten.116 Dazu bedürfte
es keines wissenschaftlichen Rates und keiner Philosophen in einem solchen. Das tun wir im
Alltag und z.B. im Parlament allesamt überdrüssig genug.
Zum Schluß versuche ich, diese Frage zu beantworten, indem ich Argumente, die Jonas
zumindest andeutet, sokratisch weiterentwickele. Die Argumentationsstrategie besteht darin,
den Streitgegenstand –‚ kommt Embryonen Menschenwürde zu?‘ – noch dahingestellt sein zu
lassen, indem man sich eines Urteils in dieser Sache strikt enthält, um stattdessen die
Streitpraxis, den Diskurs, verbindlich zu klären.
Wenn wir uns noch einmal die hier einschlägigen Grundgedanken von Jonas‘
Verantwortungsethik in Erinnerung rufen, dann zeigt sich bald der kritische Punkt eines
ontologischen und intuitionsgestützten Denkens – jener Punkt, an dem ein argumentativer
Skeptiker dem intuitiven Metaphysiker nicht mehr folgen kann. Es ist dieser tote Punkt, der
allein den angedeuteten Reflexionsweg noch offenläßt: die dialogreflexive Rückwendung auf
‚uns‘
als
Diskutanten.
Die
Rückwendung
hat
die
Form
eines
sokratischen
115
Vgl. V. Gerhardt, "Über die Verkehrung der moralischen Fronten in der deutschen Biopolitik", in Ethik
Jahrbuch, 2004, S. 56-62.
116
Ein Paradebeispiel ist die Stellungnahme des deutschen "Nationalen Ethikrates" zum Klonen vom
13.09.2004. Dazu: Christian Schwägerl, "Nicht Fisch, nicht Fleisch. Erfolglose Gruppentherapie: Der Ethikrat
zum Klonen", in: FAZ, 14.09.2004, S. 35.
81
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
23.07.2007
Reflexionsgesprächs mit dem Skeptiker und ist insofern analog zu Jonas’ stillschweigender
Anknüpfung an Husserls Epoché und an das sokratische Wissen des Nichtwissens.
Wir erinnern uns: Dem Wissen um das Nichtwissen angesichts der – legt man den strengen
wissenschaftslogischen Begriff der bedingten Prognose zugrunde – einzuräumenden
Nichtprognostizierbarkeit technologischer Handlungsfolgen in der Ökosphäre, mißt Jonas mit
Recht verantwortungsethische Bedeutung zu: „Die Kluft zwischen Kraft des Vorherwissens
und Macht des Tuns erzeugt ein neues ethisches Problem. Anerkennung der Unwissenheit
wird dann die Kehrseite der Pflicht des Wissens und damit ein Teil der Ethik, welche die
immer nötiger werdende Selbstbeaufsichtigung unserer übermäßigen Macht unterrichten
muß.“117 Ich frage nun, ob sich diese Einsicht grundsätzlicher verstehen und weitreichender
anwenden läßt, als es im „Prinzip Verantwortung“ der Fall ist. Ist sie nicht auch für die
Bioethik wichtig, vielleicht gar ausschlaggebend?118
Das zeigt sich, wenn wir uns noch einmal das Resultat von Jonas‘ Gedankenexperiment der
Wette vor Augen führen: Ein Risiko, welches entweder das Ganze der möglichen Interessen
der betroffenen Anderen, vor allem ihr Leben, umfaßt, oder aber sogar das Ganze der
Menschheit, nämlich Gattungsexistenz und Menschenwürde samt Verantwortungsfähigkeit,
dürfe man mit keiner Technologie eingehen. Schließlich würden die großen Wagnisse der
Technologie bloß für einen Fortschritt unternommen und nicht etwa „zur Rettung des
Bestehenden oder zur Behebung des Unerträglichen“. Dafür allein jedoch ließe sich ein
höchster Noteinsatz, auch der des Lebens von Menschen, u. U. rechtfertigen – so unter
bestimmten Bedingungen in einem Krieg119, sofern dieser nicht die Menschheit aufs Spiel
setze usw.
Auf diese Weise bestärkt Jonas die, von einem gewissenhaften Diskursteilnehmer schon als
moralische Intuition mitgebrachte und in diesem Gedankenexperiment vorausgesetzte,
Motivation zur Zukunftsverantwortlichkeit. Fazit des Denkexperiments ist also die Einsicht in
die Verbindlichkeit des Jonasschen Imperativs: „Handle so, daß die Wirkungen deiner
Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden“120 –
wohlgemerkt des „echten menschlichen Lebens“, worunter Jonas im Unterschied zum
117
H. Jonas, PV, 1978, S. 28.
Eine Übersicht über Jonas’ Beiträge zur bioethischen Diskussion gibt M. Werner, „Hans Jonas’ Prinzip
Verantwortung“, in: M. Düwell, K. Steigleder, Bioethik. Eine Einführung. Frankfurt am Main (Suhrkamp),
S. 41-56.
119
H. Jonas, PV, 1978, S. 79.
120
Ebenda, S. 36.
118
82
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Utilitarismus etc. eine Existenzweise versteht, die der Würde des Menschen und seiner
ontologischen Verantwortung für die „Idee des Menschen“ gerecht wird.121
Bezieht man nun das Gedankenexperiment der Wette und damit Jonas’ Zukunftsimperativ auf
den
Streit
über
die
Legitimität
der
Präimplantationsdiagnostik
(PID)
und
der
‚verbrauchenden‘ Forschung an embryonalen menschlichen Stammzellen, z. B. dem
Forschungsklonen, so zeigt sich auf den ersten Blick offenbar: Wenn gilt, daß die genannten
Technologien bzw. Forschungstätigkeiten das Ganze der möglichen künftigen Interessen der
von ihnen betroffenen Embryonen aufs Spiel setzen, ohne daß sie zur Rettung der Menschheit
beitragen, dann sind sie moralisch nicht zu rechtfertigen.
Freilich drängt sich hier der Einwand auf, daß eine umstandslose Anwendung des
Gedankenexperiments zum Zweck der Überprüfung von PID und ‚verbrauchender
Embryonenforschung‘ das eigentliche Problem überspringe: ob nämlich das Ganze der
künftigen Interessen von Embryonen, auch von Embryonen „in vitro“, moralisch zu
berücksichtigen ist, ob also Embryonen ein moralischer Status mit Anspruch auf
Menschenwürde etc. zukomme, das sei doch gerade eine offene Frage – jedenfalls umstritten.
Und das umso mehr, als bereits über die Frage nach dem Anfang menschlichen Lebens im
öffentlichen Diskurs faktisch Dissens herrsche.122
Es ist demnach strittig, wofür wir unbedingt moralische Verantwortung tragen. Wenn aber
mit guten Gründen Uneinigkeit über den Gegenstandsbereich der Verantwortung besteht,
dann hilft Jonas’ Verantwortungsbegriff, der sich auf den Gegenstand der Verantwortung
beschränkt und sich mit der schwachen Argumentationskraft eines metaphysischen Glaubens
auf dessen motivationsfähigen Seinswert verläßt, nicht weiter. Eine metaphysische Theorie,
die dem Leben, zuhöchst dem menschlichen Leben, Seinswürde und Schutzanspruch
zuschreibt, also an eine „Ehrfurcht vor dem Leben“ appelliert, begründet hier letztlich nichts.
Sie artikuliert nur den eigenen Wert- und Normen-Standpunkt, eine individuell schon
mitgebrachte Motivation. Auch eine Differenzierung der Motivation durch Entfaltung
ethischer Intuitionen führt kaum weiter, da der Skeptiker deren universale Verbindlichkeit
(für diesen Fall) in Zweifel ziehen dürfte.
121
Ebenda, S. 91 ff. und 84 ff. ders., Technologisches Zeitalter und Ethik., in: Fatalismus wäre Todsünde, S. 86
und a.a.O., S. 137, 138.
122
Ich danke Herrn Peter Brune, M. A., für seine Mitarbeit bei der Ausarbeitung der folgenden Argumentation.
83
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An diesem Dissenspunkt ist offenkundig ein Verbindlichkeitserweis erforderlich, der auch
den argumentationsbereiten Skeptiker oder den Andersmeinenden einbezieht bzw. das
skeptische Argument entkräftet. Für die Begründungsarbeit würde das bedeuten: erforderlich
ist ein nicht-metaphysischer und nicht-intuitionistischer Weg. Schließlich kann jede
metaphysische und intuitionistische Theorie vom Skeptiker mit Recht als fallibel
gekennzeichnet und bezweifelt werden, weil sie, wie Jonas zuletzt selbst einräumte, bloß
„eine Option [...] zur Wahl stellt“.123 Zudem darf dieser Argumentationsweg nicht deduktiv
sein, weil sich alle Ableitungen einer moralischen, also verbindlichen Sollensvorschrift in der
Ausweglosigkeit eines Begründungstrilemmas verlieren, wie Karl R. Popper bzw. Hans
Albert nachdrücklich in Erinnerung gebracht haben.124 Gibt es hier dann überhaupt einen
orientierungsfähigen Vernunftweg, oder muß die Vernunft kapitulieren und einer
Letztentscheidung, einer plausiblen Option, das Feld überlassen?
Offen bleibt der sokratische Weg der Besinnung darauf, daß man auch als Skeptiker mit
seinem Etwas-Bezweifeln jeweils schon in einem argumentativen Dialog mit Anderen ist und
daß man in diesem Dialog die eigene Zweifelsthese müßte verantworten können. Hier kommt,
wie wir entwickelt haben, der von Jonas übersprungene Tätigkeitsbegriff der Verantwortung
ins Spiel: Verantwortung als ein Sich für die eigene These bzw. Zweifelsbehauptung
Verantworten. Dieser responsorische Begriff findet sich mehr oder weniger deutlich bei
Sokrates, bei Wilhelm von Humboldt und dem frühen Löwith. Obzwar auch Jonas an
wichtigen Stellen von ihm zehrt125, holt er ihn nicht in seinen primär gegenstandsorientierten
phänomenologischen
Denkansatz
ein.
Wenn
nicht
die
postkantianische
Transzendentalpragmatik, so doch deren Transformation in eine sokratische Dialogpragmatik
bietet hingegen eine solche reflexive Begründungsmöglichkeit. Worin besteht diese?
Erinnern wir uns:
Sokratisch bei sich selbst als jetzt Denkendem, als Diskursteilnehmer ansetzend, besinnt man
sich darauf, daß man selbst – auch als Skeptiker – mit seinem Zweifel einen Dialogbeitrag
gegenüber Anderen als Partner im argumentativen Dialog geltend macht bzw. gemacht hat.
123
H. Jonas, „Zur ontologischen Grundlegung einer Zukunftsethik“, in: Ders., Philosophische Untersuchungen
und metaphysische Vermutungen, Frankfurt a. M. 1992, S. 140. Vgl. Jonas’ selbstkritische Äußerung in:
Fatalismus wäre Todsünde, S. 96 f.
124
Vgl. H. Albert, Traktat über kritische Vernunft, Tübingen (Mohr/Siebeck) 1968. S. 11-15; W. Kuhlmann, „Ist
eine philosophische Letztbegründung moralischer Normen möglich?“, in: Funkkolleg Studientexte, Bd. 2, S.
572-605.
125
Z.B. TME, 1985, S. 200. Ferner: H. Jonas, Macht oder Ohnmacht der Subjektivität? Das Leib-Seele-Problem
im Vorfeld des Prinzips Verantwortung. Frankfurt a. M. (Insel) 1981, Einleitung, S. 13-18. Dazu Böhler, „Ethik
der Zukunfts- und Lebensverantwortung“, in: D. Böhler, J. P. Brune (Hg.), Orientierung, 2004, S. 97-160.
84
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Man geht reflexiv auf das zurück, was beide Seiten, Opponent und Proponent, die ja beide als
Diskurspartner ernst genommen sein wollen, vorweg in Anspruch nehmen müssen – nämlich,
daß sie sich als irrtumsfähige Menschen für ihr Projekt im Dialog der Argumente
verantworten können. Durch eine solche Besinnung auf den Diskurs sowie auf ‚mich‘ resp.
‚dich‘ als Partner in einem Diskurs kann die Diskurspragmatik dem Metaphysiker Jonas
beispringen. Wie? Sie macht mit der von ihm eingeklagten „Anerkennung der Unwissenheit“
im Diskurs ernst. Sie bezieht diese Anerkennung so auf die offene Frage nach dem
moralischen Status von Embryonen, daß die Antwort mit ihrer (nun anerkannten) Fallibilität
von Situationseinschätzungen und konkreten Diskursen moralisch vereinbar ist.
Denn wer immer etwas behauptet oder bezweifelt und sich damit Anderen gegenüber für
einen Gedanken rechtfertigen will, ist einsehbar dazu verpflichtet, die „Möglichkeit der
Verantwortung“ als Möglichkeit der Rechtfertigung zu bewahren: die Möglichkeit, sich
dialogförmig für ein Projekt oder eine These zu verantworten. Das aber heißt, der
Behauptende bzw. Bezweifelnde ist zunächst gehalten, „das Ganze der Interessen“ (Hans
Jonas) möglicher Anspruchssubjekte nicht aufs Spiel zu setzen, sondern deren Rechte zu
berücksichtigen. Und letztlich ist er verpflichtet, die zugleich normative und ontologische
Idee des Menschen, welche nicht allein die Bewahrung der Gattungsexistenz, sondern auch
die Hütung von Menschenwürde und Moralfähigkeit einschließt, in seinen Entscheidungen
zur Geltung zu bringen.
Negativ ausgedrückt besagt das: Solange nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann,
daß gravierende Einwände gegen eine Handlungsweise möglich sind – etwa aus der
Perspektive von Embryonen, deren moralischer Status jetzt faktisch noch offen sein mag –,
solange besteht die grundsätzliche Verpflichtung, den Rechtfertigungsdialog und das
Irrenkönnen in concreto ernst zu nehmen, statt in eine folgenirreversible Handlungsweise, die
nicht irren dürfte, überzugehen.
Welche (fehlbaren) Handlungsweisen dürfen wir nicht wählen? Gewißlich solche, durch die
wir (im Falle des Irrtums) ein unwiederbringliches höchstes Moralgut zerstören würden –
zumal menschliches Leben und Menschenwürde. Mithin gilt: Im Zweifel für die
Verantwortung (als ein Sich-im-Dialog-Verantworten-Können), also auch für das Leben und
die Menschenwürde.
85
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Diese Pflicht zur Vorsicht erstreckt sich auch auf den faktisch noch umstrittenen moralischen
Status menschlicher Embryonen. Wenn ‚wir’ uns darauf besinnen, was es heißt, ein
glaubwürdiger Partner im Diskurs der Argumente zu sein, dann ergibt sich – im Einklang mit
Hans Jonas’ Gedankenexperiment über „das Element der Wette im [technologischen]
Handeln“126 – dieser Verbindlichkeitserweis:
-
Eine Technologie, deren Einsatz mit dem Risiko verbunden ist, das Ganze der
möglichen Interessen moralisch anspruchsberechtigter Wesen aufs Spiel zu setzen,
ohne dadurch zur Rettung der Menschheit beizutragen, ist moralisch nicht zu
verantworten.
-
Sowohl PID als auch ‚verbrauchende Embryonenforschung‘, letztere gerne getarnt als
„therapeutisches Klonen“, setzen das Leben von Menschen-Embryonen aufs Spiel,
ohne zur Rettung der Menschheit beizutragen.
-
Ob Embryonen moralisch anspruchsberechtigte Wesen sind, ist noch nicht eindeutig
geklärt und faktisch umstritten (faktischer Dissens, faktisches Unwissen).
-
Solange aber nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann, daß gravierende
moralische Einwände – wie: „Mißachtung der Menschenwürde!“ – gegen eine
Handlungsweise möglich sind, bleibt die grundsätzliche Pflicht bestehen, die Instanz
des argumentativen Dialogs und die Irrtumsfähigkeit in konkreten Fragen ernst zu
nehmen, statt eine folgenirreversible, nicht irren dürfende Handlungsweise zu wählen.
Also gilt: Im Zweifel für das Leben und für die Nichtverfügbarkeit von Embryonen.
Indem ‚wir‘ zwar die Streitsache selbst offen lassen, uns aber auf unsere Rollenpflichten
im Diskurs besinnen, erkennen ‚wir‘ Diskurspartner das, was ‚wir‘ absolut nicht dürfen –
absolut nicht, solange ein Sachstreit besteht, in dem das menschliche Ganze auf dem
Spiele steht bzw. stehen kann. Denn die Achtung der Menschenwürde ist ein unbedingtes
Prinzip. Es gebietet, menschliches Leben als „Zweck an sich selbst“ (Kant) zu achten,
mithin jegliche Instrumentalisierung dessen zu unterlassen.
126
H. Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 76ff.
86
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Eine solche hat man freilich schon begonnen, wenn man hier bloß, wie es zeitgeist- und
politiküblich geworden ist, im landläufigen Sinne ‚pragmatisch‘ verfährt: statt streng zu
argumentieren,
verdrängt
man
die
argumentationstragende
Reflexion
auf
die
Verantwortungsbedingungen von Argumentationspartnern ohne Skrupel durch eine
Kalkulation von Nutzen und Nachteil hinsichtlich besonderer Interessen. Für Klarheit und
Strenge, für Selbstverantwortung und Diskursverantwortung einzustehen, ist jedoch des
Denkens sokratische Pflicht. Ohne eine Wachsamkeit über jene Prinzipien, die das Denken als
Dialog der Argumente tragen, verkäme es selbst – und damit die Menschenwürde, welche die
Denkenden je schon selbst in Anspruch genommen haben. Heute gilt es mehr denn je, sie als
Prinzip zu hüten und in ihrer Unbedingtheit zu achten. Darin erblicke ich auch das
Vermächtnis von Hans Jonas, der sich von der Philosophie dieses Jahrhunderts gewünscht
hat, sie sie möge „ihrer Wächterrolle über das Unverzichtbare ... im Neudenken der Idee der
Verantwortung“ treu sein – „unbeirrt durch allen berechtigten Zweifel, ob sie damit etwas
ausrichtet.“127
Im Anschluß an den Skeptikerdialog haben Diskussionen mit den
Teilnehmern stattgefunden, in denen diese aktuelle Fragen
gestellt und Einwände vorgebracht haben. Zudem haben zwei
Teilnehmer einen schriftlichen Beitrag geliefert. Eine der
Diskussionen hat Frau Bernadette Herrmann, M.A.,
vorstrukturiert und geleitet. Eine weitere systematische
Diskussion zu Problemen der Moralbegründung und zur Anwendung
der Diskursethik hat Herr Dr. Horst Gronke vorbereitet und
moderiert. Diese beiden Arbeitsphasen waren sehr fruchtbar.
Dafür sei Herrn Dr. Gronke und Frau Herrmann herzlich gedankt.
127
H. Jonas, Philosophie. Rückschau und Vorschau am Ende des Jahrhunderts, Ffm. 1993, S. 42 f.
87
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
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7. Wie sollen wir urteilen? Urteilskriterien aus dem Diskurs oder aus dem
Gewissen?
Der Diskursgrundsatz ‚D’ ist Erkenntnis- und Handlungsprinzip zugleich. Er lautet kurz:
Bemühe Dich um Handlungen und um Thesen, deren Begründung auch alle anderen –
als Diskurspartner – zustimmen könnten.
Welche weiteren Maßstäbe gibt es, die sich an diesen Kernmaßstab anschließen? So fragend,
richte ich den Blick auf die Ethik- und Geistesgeschichte. In ihr hat es seit Sokrates und Jesus
Innovationen und Regressionen gegeben, Annäherungen an das metakonventionelle.
universalistische Urteilsniveau im Sinne des Diskurs-Moralprinzips und erhebliche
Regressionen auf konventionelle und sogar vorkonventionelle Stufen.
Durch diese geschichtsbezogene ‚Sicht‘ möchte ich nicht allein klären, welche
metakonventionellen bzw. postkonventionellen Errungenschaften des Geistes tatsächlich in
das moralische Urteilen eingeflossen sind, sondern zumal, inwiefern diese als Urteilskriterien
unverzichtbar, weil unhintergehbar sind. Denn solche müßten wir dann in unserer
Urteilspraxis auch bewußt befolgen und sorgsam anwenden. Die Leitfrage ist also: Wie sollen
wir urteilen? Woran können und sollen wir uns orientieren, wenn wir Diskurse führen? Dazu
wähle ich die Form eines Erörterungsdialogs zwischen einem Fragenden und mir. Es geht um
verbindliche rationale Kriterien für unsere Diskurse.
7.1 Urteilskriterien aus dem Diskurs und Aufstufung der Diskurse?
Fragender: In welchem Sinne sollen die Kriterien rational sein? Im Sinne eines reflexiven
Aufweises von internen Diskursvoraussetzungen, so daß sie den Status von unhintergehbaren
Bedingungen des Argumentierens haben, und zwar jeder Art des Argumentierens – gleich, ob
es sich um theoretische oder praktische oder meinetwegen auch um ästhetische
Argumentationen handelt?
Böhler: Ja – sofern wir sie, worauf wir uns im folgenden freilich msit beschränken, nicht bloß
aus unserem Vorverständnis vom argumentativen Dalog rekonstruieren, sondern insofern wir
die Rekonstruktionsergebnisse auch im Diskurs mit einem Skeptiker als unhintergehbar
erweisen können.
88
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
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Fragender: Wie denn?
Böhler: So daß wir, erlaube die Wiederholung, uns als Diskurspartner fragen, ob unsere
Zweifel an der, durch die Rekonstruktion gewissermaßen plausibel gemachten
Diskursvoraussetzung X sich von uns als ein sinnvolles Argument im Diskurs durchhalten
läßt. Anders gesagt: ob wir an der Verbindlichkeit von X wirklich zweifeln können, wenn wir
als Diskurspartner glaubwürdig bleiben wollen. Wir fragen also diskursreflexiv: ›Müssen wir
die Verbindlichkeit von X voraussetzen und anerkennen, wenn wir glaubwürdige,
selbstwiderspruchsfreie Diskurspartner sein und bleiben wollen?‹ Wenn das für ein
Rekonstruktionsergebnis zutrifft, dann handelt es sich um ein Ergebnis auf der höchsten
Reflexionsstufe des Philosophierens, um Ergebnisse eines reflexiven Diskurses, der nach
notwendigen Bedingungen des Argumentierens als der reinen Form kommunikativer Praxis
fragt. Solche Bedingungen müßten zugleich für das Philosophieren selbst gelten. Deshalb
können wir den Diskurs, der danach fragt, den philosophischen Diskurs im engeren Sinne
nennen und näher bestimmen, daß er zwei Ebenen hat: die anfängliche einer Rekonstruktion
unseres Vorverständnisses davon, was für einen argumentativen Dialog intrinsisch
erforderlich ist, und die begründende bzw. vergewissernde Ebene einer sinnkritischen
Reflexion auf den Zweifel an einem rekonstruiertem.
Fragender: Die in einem solchen höchststufigen Diskurs aufgewiesenen
Argumentationsbedingungen hätten also den Status einer universalen Letztbegründung,
insofern sie für alles sinnvolle Argumentieren gelten würden?
Böhler: Ja. Und der andere Teil meiner leitenden Gesichtspunkte soll auf der zweithöchsten
Reflexionsstufe gewonnen werden, nämlich durch Besinnung auf die notwendigen
Bedingungen eines sinnvollen praktischen Argumentierens. Diese Besinnung führen wir in
einem praktisch-philosophischen Diskurs durch.
Fragender: Hier möchte ich Sie unterbrechen und von den höchsten Reflexionsstufen bzw.
Diskursstufen noch einmal heruntersteigen und noch einmal nachfragen: Was verstehen Sie
unter »Diskurs«?
Böhler: Ich verstehe darunter eine Argumentation, die man zur Prüfung einer aufgestellten
Behauptung durchführt, die sowohl einen idealen dialogischen Anspruch erhebt, als auch eine
rein dialogische Form hat. Sie erhebt nämlich den Anspruch, eine Prüfung zu sein, die
eigentlich jederzeit und mit jedermann, sofern er sich sachkundig macht und sich auf das
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Argumentieren einläßt, als gleichberechtigtem Dialogpartner durchgeführt werden kann, und
zu demselben Ergebnis führen würde. Freilich kann man eine solche Prüfung, empirisch
gesehen, auch alleine, z. B. einsam am Schreibtisch sitzend, durchführen. Aber auch dann
erhebt man diesen Anspruch auf Wiederholbarkeit des Diskurses mit prinzipiell jedem, der
vernünftig fragt. Man beansprucht eben, das Ergebnis eines solchen Diskurses, gegenüber
jedem, der vernünftig fragt und sich aufs Argumentieren einläßt, verteidigen und es so als das
richtige Ergebnis beweisen zu können. Wer einen solchen Anspruch erhebt, ...
Fragender: Pardon, wenn ich Sie erneut unterbreche: aber geht nicht letztlich jeder, der
Argumente vorbringt, davon aus, diese auch mit Gründen – also argumentativ – verteidigen
zu können – und zwar potentiell jedem gegenüber? Das nimmt doch z. B. jeder
Naturwissenschaftler für seine Hypothesen in Anspruch.
Böhler: Ja, Sie haben recht. Denn jeder, der eine theoretische Behauptung aufstellt, also eine
Behauptung darüber, ob ein bestimmter Sachverhalt besteht oder aber ob er nicht besteht, der
erhebt den Anspruch auf Wahrheit seiner Aussage. Diesen theoretischen Geltungsanspruch
müßte er gegenüber allen, die ihn begründeterweise bezweifeln, rechtfertigen können.
Fragender: Ja, aber das gilt zunächst ja nur für theoretische, sagen wir:
naturwissenschaftliche Aussagen. Uns interessiert hier aber vorrangig der Status moralischer
Aussagen, z.B. in alltäglichen Konfliktsituationen. Und da scheint die Situation doch anders
zu sein. Berufen wir uns nicht in praktischen Fragen letztlich auf unser eigenes Gewissen und
geben damit zu erkennen, daß wir über das, was uns als >das Richtige< , erscheint, keinen
weiteren Dialog führen wollen? Jedenfalls lassen wir es doch oft bei einer privaten Gewißheit
bewenden.
Böhler: Hier sprechen Sie eine wesentliche Frage der philosophischen Ethik an. Die These,
daß das Letzte, worauf man sich jeweils beruft, sein eigenes Gewissen ist – diese These hat
sich in der neuzeitlichen Ethik entwickelt und hat in dem gegenwärtigen ethischen
Selbstverständnis der westlichen Welt eine privilegierte Stellung. Insofern sie die Leugnung
einer intersubjektiven verbindlichen praktischen Vernunft einschließt, hat diese These zu
einer abstrakten Entgegensetzung von irrationaler ethischer Privatheit bzw. Entscheidung
einerseits und von ethisch neutraler, technischer bzw. strategischer Rationalität andererseits,
geführt.
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Fragender: Dann dürfte es zur Klärung des Selbstverständnisses unserer Gesellschaft bzw.
der Sittlichkeit unserer Gesellschaft darauf ankommen, die Gültigkeit der Gewissensthese zu
prüfen. Sollten wir also nicht einen praktischen Diskurs über den Geltungsanspruch der
Gewissensthese führen?
Böhler: Ja. Aber dazu bedarf es mehr als eines einfachen praktischen Diskurses. Dazu bedarf
es eines praktisch philosophischen Diskurses. Denn die Gewissensthese enthält eine
Behauptung über den Grund der Geltung praktischer Behauptungen bzw. Orientierungen. Und
eben damit, mit der Frage nach dem Grund für die Geltung praktischer Behauptungen, hat es
der praktisch philosophische Diskurs zu tun. Denn während wir in einem einfachen
praktischen Diskurs nur fragen, ob eine konkrete praktische Behauptung Ihrem Anspruch
gerecht wird, geht es in einem praktisch philosophischen Diskurs zugleich um Allgemeineres
und Grundsätzlicheres. Denn hier argumentieren wir nicht mehr nur sachkonzentriert, sondern
besinnen wir uns zugleich auf Möglichkeiten und Grenzen des Aufstellens praktischer
Behauptungen schlechthin. Die Leitfrage des praktisch philosophischen Diskurses lautet:
Welche Bedingungen müssen praktische Argumentationen, insbesondere praktische
Behauptungen, erfüllen, damit sie überhaupt Sinn geben und als Argumentationshandlungen
gelingen können?
Fragender: Dann wäre also der praktisch philosophische Diskurs gewissermaßen ein Diskurs
über konkrete praktische Diskurse und über jeweilige konkrete praktische Behauptungen. So
weit, so gut. Aber wir sollten nicht meine Eingangsfrage nach dem Stellenwert der gesuchten
Kriterien für Diskurse, etwa Letztgültigkeit, vergessen. Und auch meine spezielle Frage nach
dem Verhältnis von praktischem Diskurs und Gewissen bitte ich, nicht aus dem Auge zu
verlieren.
7.2 Diskursbezogene Moral und ihre innere kritische Spannung zu faktischen
‚Diskursen’ oder: Die kontrafaktische Voraussetzung einer idealen
Argumentationsgemeinschaft in der realen.
Böhler: Ein erstes leitendes Kriterium für die Beurteilung gegenwärtiger oder historischer
ethischer Positionen ist die These von der Unhintergehbarkeit einer reflektierenden, mithin
diskursbezogenen Moral, die eigentlich jeder, der über ethische Fragen nachdenkt, durch
dieses Nachdenken schon unterstellt. Ich meine eine Ethik, die sich begründeter – und
91
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einsichtiger - nicht bloß auf die Autorität etablierter Normen stützt, sondern eben diese
Normen an der Vernunft prüft und die unter dem letztlich Guten dasjenige versteht, was wir
vernünftigerweise tun sollen, so daß sie die etablierten Normen gegebenenfalls verwirft und
verändert.
Fragender: Das ist doch die herausragende moralische Errungenschaft der »Achsenzeit«, die
Jaspers in den Zeitraum zwischen 800 und 200 v. Chr. datiert. Greifen Sie das auf?
Böhler: O ja, nur würde ich die Achsenzeit lieber mit Jesus beschließen wollen. Denn Jesus
hat die Infragestellung der blinden Autorität von Institutionen m. E. zum Höhepunkt geführt –
z. B. dadurch, daß er die heiligste Institution seines Volkes, den Sabbat, dem Menschen
unterordnete. Damit hat er den ethisch revolutionären Anstoß gegeben, das
Geltungsverhältnis von Institutionen und Mensch umzukehren. Denn in archaischen Kulturen
und Mythen sind es die heiligen Institutionen, die als solche Gültigkeit haben und die
ihrerseits den Menschen eine bloß abgeleitete Würde und Geltungsfähigkeit vermitteln.
Demgegenüber betont Jesus am Beispiel des heiligen Sabbat, daß diese von Gott eingesetzte
und durch das dritte Gebot als Teil der göttlichen Schöpfungsordnung verbindlich gemachte
Institution nicht etwa als solche und daher absolut gelte, sondern als Institution für den
Menschen. Infolgedessen sei sie auch dem menschlichen Urteil unterstellt. Ein solches
Beurteilen der Institutionen nimmt Jesus für seine Jünger und sich selbst in Anspruch, wenn
er das Kornsammeln der Jünger am Sabbat und das Heilen chronischer Krankheiten am
Sabbat rechtfertigt – also sogar Dinge, die man ebensogut an anderen Tagen hätte tun können.
Diesen in der Ethikgeschichte ungeheuren Vorgang hat uns der Evangelist Markus am Schluß
des zweiten Kapitels überliefert :
Zitator: »Und es begab sich, daß Jesus am Sabbat durch die Saaten dahinwanderte; und seine
Jünger fingen an, auf dem Weg Ähren abzureißen. Und die Pharisäer sagten zu ihm: Siehe,
warum tun sie am Sabbat, was nicht erlaubt ist? Da sprach er zu ihnen: Habt ihr niemals
gelesen, was David tat, als er Not litt und ihn und seine Begleiter hungerte? Wie er in das
Haus Gottes hineinging zur Zeit des Hohenpriesters Abjathar und die Schaubrote aß, die
niemand essen darf als nur die Priester und (die er) auch seinen Begleitern gab? Und er sprach
zu ihnen: Der Sabbat ist um der Menschen willen geschaffen worden und nicht der Mensch
um des Sabbats willen. Somit ist der Sohn des Menschen Herr auch über den Sabbat.«
Böhler: Zudem spitzt Jesus die Reich-Gottes-Hoffnung und die damit verbundene universal
menschheitliche Moral Israels im Sinne eines Evangeliums vom Reich Gottes und einer
Liebesmoral zu. Er selbst praktiziert diese Verkündigung in einer Weise, an der man geradezu
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exemplarisch erfahren kann, was nachkonventionelle Moral und kommunikative Ethik
bedeuten. Das Friedensreich, Liebesreich und Gerechtigkeitsreich Gottes bedeutete für Jesus
die eschatologische, noch in der Zukunft stehende und schon mit seiner Lebenspraxis
anbrechende Neue Welt. Diese >Neue Welt< war zugleich Gegenentwurf gegen herrschende
Ordnungen und Verhaltenszwänge, vor allem gegen selbstgenügsame Autoritäten und
Gesetzlichkeiten, die den Menschen zum Mittel machten.
Es ist kein Zufall, sondern folgerichtig im Sinne einer Entwicklungslogik der Ethik, daß das
abendländische Denken überall dort, wo es nicht auf eine selbstgenügsame konventionelle
Moral zurückfällt, sondern sich auf der Stufe kritischer Moral hält, diese ursprünglich
eschatologische, auf das kommende Reich bezogene Spannung zwischen den jeweils
etablierten Ordnungen und gesetzten Normen einerseits, und einer idealen moralischen Basis
der Prüfung und Rechtfertigung von Normen andererseits, in gewisser Weise festgehalten hat.
Fragender: Hat nicht Ernst Bloch in der Gegenwart ähnlich argumentiert?
Böhler: Ja, insofern als Blochs utopische Philosophie Elemente der jüdisch-christlichen
Philosophie aufgenommen und verarbeitet hat. Dabei handelt es sich um nichts weniger als
um theologische Fossilien in der Philosophie. Vielmehr ist jene Spannung zwischen der
jeweils gegebenen sittlichen Ordnung sowie Rechtsordnung und einer postulierten idealen
moralischen Gemeinschaft ein unentbehrliches Strukturmerkmal jeder reflektierenden Ethik.
Fragender: Würden Sie das als Ihren zweiten leitenden Gesichtspunkt bezeichnen?
Böhler: Ja. Dabei geht es um die Einsicht in die unaufhebbare Spannung zwischen dem Ethos
einer etablierten Sittlichkeit, die in einer jeweiligen realen Kultur und Gesellschaft, in einem
jeweiligen Staat, tatsächlich gilt, und den idealen Forderungen einer Vernunftethik, die in
einer reinen Argumentationsgemeinschaft allein aufgrund verallgemeinerbarer Argumente zur
Geltung gebracht werden bzw. wurden.128
128
Eine analoge Spannung ist auch für das theoretische Argumentieren grundlegend; vgl. Böhler, STE 11,2.1, in:
Apel, Böhler, Rebel, aaO., und ders. in: Kuhlmann u. Böhler, aaO., S.86f., 104 f. In gewisser Weise hat schon
Ch. S. Peirce für das theoretische Argumentieren, und zwar sowohl hinsichtlich der Wahrheit empirischer
Realitätsdefinitionen als auch hinsichtlich der Richtigkeit logischer Schlußfolgerungen, jene Spannung gedacht;
nämlich die Spannung zwischen dem, was in einer realen Wissenschaftsgemeinschaft jeweils als herrschende
Meinung etabliert ist, und dem, was in einer unbegrenzten Gemeinschaft aller Verstandeswesen aufgrund
hinreichender Erfahrung und korrekten Schlußfolgerns als das Wahre gelten würde. Insofern ist Peirce auch der
Klassiker einer gemeinschaftsbezogenen und daher kommunikationsbezogenen Wahrheitstheorie. Vgl. Peirce,
Schriften I, hrsg. v. K.-O. Apel, Frankfurt 1967, S. 257 ff. , 310 f. und 359 ff. Dazu die Einleitung Apels in
93
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Zu welchen bedenklichen Ergebnissen es führen kann, die Moral des status quo gegen
universale Prinzipien der Vernunftethik ins Feld zu führen, zeigte noch in der Endphase der
Apartheid ein Votum des liberalen Historikers Golo Mann. 1979 versuchte er, die
südafrikanische Rassenpolitik folgendermaßen zu rechtfertigen:
Zitator: »Es ist leicht, (. ..) gegen Rassendiskriminierung zu wettern. Was aus Südafrika
würde, wenn in der ganzen Republik mir nichts, dir nichts das Prinzip >one man one vote<
gelte, das weiß kein Mensch. Man muß aber doch denen, deren Ahnen seit 300 Jahren ein
blühendes Gemeinwesen aufbauten, wo vorher überhaupt nichts war (. ..), doch einräumen,
daß auch sie ein klein wenig von der Sache verstehen. ( ...) Grundsätze wie Gleichheit,
Selbstbestimmung der Nation, die dort taugen, wo sie erdacht wurden (. ..), müssen deshalb
noch nicht überall auf Erden taugen. Kurzum, hier sollte man sich eines eigenen Urteils
enthalten und von denen lernen, die reale Erfahrungen haben.«129
Böhler: Gegenüber dieser Betonung sog. >realer Erfahrungen<, die die Funktion haben kann,
eklatantem Unrecht den Schein der Berechtigung zu verschaffen, orientiert sich die
reflektierende Ethik nicht am faktisch Gegebenen, an einer jeweiligen Gesellschaft und ihrer
etablierten Sittlichkeit, sondern an etwas, das noch nicht ist, das aber schon »vorscheint«, wie
Ernst Bloch sagen konnte; und zwar an einer reinen kommunikativen Sittlichkeit, die sowohl
als schlechthin gut gelten könnte wie auch zunehmend institutionalisierbar sein müßte.
Fragender: So etwas wie ein langer Marsch der kommunikativen Vernunftethik bzw.
Diskursethik durch die Institutionen?
Böhler: Wohl eher ein langer Weg der Verkörperung der universalistischen und daher
diskursbezogenen Moral durch die Menschheitsgeschichte – der Verkörperung als
Institutionalisierung von weltweiter Öffentlichkeit und Freiheit, von weltweiter
Lebenssicherung und Naturbewahrung – sofern es überhaupt weitergehen soll mit der
Menschheit.
demselben Band, S.58ff., 106f. und 120ff. Zur Bedeutung jener Spannung für die Wissenschaftstheorie und für
die praktische Philosophie: D. Böhler, Rekonstruktive Pragmatik und Hermeneutik. Kap. II 2, V, VI, vgl. I 1 und
X.
129
G. Mann, Marxismus auf dem Vormarsch – in Europa und der Dritten Welt? Hrsg. vom Arbeitgeberverband
der Metallindustrie, Köln 1979, S. 29f.
94
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Fragender: Also hätte eine solche Perspektive keinen anarchistischen; aber doch wohl einen
grundsätzlich kritischen Sinn? Denn fordert die These von der Spannung zwischen gegebener
Sittlichkeit und vernünftiger Sittlichkeit nicht zur moralischen Kritik des Bestehenden, zu
praktischen Diskursen, heraus?
Böhler: Ja, sie verlangt der Vernunft gewissermaßen ab, praktisch zu werden, und sie
provoziert die jeweils herrschende Sittlichkeit, vernünftig zu werden, d.h. rechtfertigungsfähig
in argumentativen Diskursen. Die Einsicht in die grundsätzliche Spannung zwischen der
etablierten Sittlichkeit und einer einsehbaren Moral bzw. einer Vernunftethik ist eine
Bedingung dafür, daß praktische Diskurse überhaupt als sinnvolle Unternehmungen
angesehen und durchgeführt werden können: Wenn wir nämlich in ethischer
Selbstzufriedenheit und Selbstgenügsamkeit das jeweils etablierte Ethos als den Inbegriff der
Sittlichkeit unterstellen würden, dann gäbe es keinen Anlaß für praktische Diskurse...
Fragender: ...oder man würde diejenigen, die doch eine moralische Kritik vom Zaune
brächen, als Störenfriede oder Verhaltensgestörte, als Majestätsverbrecher bzw. Gotteslästerer
aus der Gemeinschaft ausschließen.
Böhler: Und das noch mit gutem Gewissen und dem Pathos, die wahrhaft guten Sitten zu
verteidigen. So hat man Jesus gekreuzigt und Sokrates hingerichtet.
Fragender: Jesus und Sokrates. Die beiden großen ethischen Gestalten der Achsenzeit – so
meinen Sie es doch wohl! Aber geraten Sie nicht in Schwierigkeiten, Sokrates zu begreifen,
wenn Sie an dem eben hervorgehobenen Strukturmerkmal einer reflektierenden,
diskursbezogenen Ethik festhalten? Denn eine solche Spannung kannte Sokrates wohl nicht.
Er war und blieb doch der treue Bürger der Polis Athen und unterwarf sich den Gesetzen und
Verfahrensregeln dieser Polis und ihrer Gerichtsbarkeit. Er hat diese Ordnung m. E. nicht im
Blick auf die Instanz einer idealen Gemeinschaft hin überschritten.
Böhler: Ja und nein. Die einschlägigen Abschnitte aus dem Dialog »Kriton« zeigen einerseits,
daß Sokrates sich den Gesetzen unterwirft, andererseits aber, daß er den Grund für die
Verbindlichkeit dieser Gesetze offenbar nicht im faktischen Gelten dieser Gesetze findet,
sondern in einem moralischen Grundsatz, an dem sich der sittliche Wille der Person Sokrates
bildet und orientiert. Insofern läßt sich sagen, daß sich die moralische Identität an einem
Grundsatz richtigen Verhaltens und nicht etwa bloß an den zufällig geltenden Gesetzen
95
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
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Athens, die noch dazu unrechtmäßige Todesurteile ermöglichen, orientiert und ausgebildet
hat.
Fragender: Ein positiver bei dem negativen Dialektiker Sokrates?
Böhler: Ja, und sogar zwei! Einmal ist es der Grundsatz, daß es für den Menschen besser sei,
unrecht zu leiden, als unrecht zu tun. Dieser Grundsatz überschreitet sogar den Horizont jeder
Rechtsordnung: Denn keine Rechtsordnung gebietet, Unrecht zu erleiden, vielmehr ist sie in
erster Linie ein System der Sicherung vor und Vermeidung von Unrecht. Hinzu kommt ein
kritisch dialogischer, ein diskursbezogener Grundsatz: der Logos-Grundsatz.
7.3 Der sokratische Logosgrundsatz und das traditionell ausgeblendete
zweifache Kommunikations-Apriori
Vor allem um diesen muß es gehen, wenn nach der Bedeutung des Sokrates für den
philosophischen Diskurs im Allgemeinen und den praktisch-philosophischen Diskurs im
Besonderen und ebenso, wenn nach Sokrates‘ Bedeutung für den Begriff der Vernunft und für
die Vernunftethik gefragt wird. Insofern Sokrates nämlich sagt bzw. durch seine kritisch
dialogische Lebenspraxis zu erkennen gibt, daß er nichts als letztlich richtig gelten lassen und
daher nichts befolgen wolle als dasjenige, was im kritischen Dialog, also in einem Diskurs,
standhält, insofern hat er selbst die Dialog-Gemeinschaft der Argumentierenden als die
Instanz und die Grundlage der " Verbindlichkeit von Normen vorausgesetzt. Und eben damit
hat er – so indirekt und lautlos wie radikal – die grundsätzliche, kritische Spannung zwischen
der jeweiligen realen rechtlich-politischen Regel-Gemeinschaft und einer idealen dialogischen
Argumentationsgemeinschaft eingeführt. Vorsichtiger gesagt: er hat sie zumindest in
Anspruch genommen.
Fragender: Dann wäre der sokratische Logos-Grundsatz Ihr dritter leitender Gesichtspunkt
bzw. Urteilsmaßstab?
Böhler: Ja; jedenfalls insofern er als eine gewisse Vorform unseres Diskurs-Moralprinzips
gelten kann.
96
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
23.07.2007
Fragender: Aber was heißt eigentlich »logos« ? Und worin besteht jener Logos-Grundsatz?
Böhler: »Logos« ist ein schwer übersetzbares Wort und ein schwer mit einem Wort
wiedergebbarer philosophischer Begriff. Im Blick auf den Sprachgebrauch in den
platonischen Dialogen können wir jedenfalls annäherungsweise sagen, daß dieser Begriff vor
allem für das Reden, für das Argumentieren und damit auch für das Denken steht. Und zwar
können diese Bedeutungen wieder in zwei verschiedenen Aspekten erscheinen, einmal
dynamisch-pragmatisch, also handlungsbezogen, ein anderes Mal statisch und semantisch,
nämlich auf das fertige Resultat bezogen. »Logos« kann sich sowohl auf die Tätigkeit des
Redens, Argumentierens und Denkens als auch auf deren Resultate beziehen, also auch auf
das Gesagte, das Argument und den Gedanken. Friedrich Schleiermacher war insofern nicht
im Unrecht, als er in seiner Übersetzung des Platonischen Dialogs »Kriton« den Ausdruck
»Logos« mit »Satz« wiedergab.
Fragender: Aber kommen Sie Schleiermacher damit nicht zu weit entgegen? Mir scheint
nämlich, daß die Übersetzung von »Logos« durch das Wort »Satz« bloß einen
Bedeutungsaspekt von »Logos« aufgreift, und daß er selbst diesen unzulässig einschränkt.
Denn ein Satz ist eine logisch syntaktische Größe, mit der es Logiker und Grammatiker zu tun
haben. Wenn wir den Teil einer – sei es mündlich vorgebrachten, sei es schriftlich fixierten –
Rede als Satz betrachten, dann sehen wir damit von dem dialogischen Charakter jenes
Redeteils doch ab. Wir nehmen ihn dann nicht mehr als das, was er ursprünglich ist und als
was er verstanden sein will, nämlich als Äußerung eines Sprechers, durch die dieser sowohl
eine Kommunikationssituation zu Adressaten herstellt, als auch diesen einen bestimmten
Inhalt zu verstehen gibt.130
Böhler: Sie haben recht. Und für uns kommt es eben darauf an, daß man einem Satz nicht
Folge leisten kann, wohl aber einer Äußerung, die entweder ein praktisches Argument
vorbringt oder eine Maxime, also einen praktischen Grundsatz, formuliert, oder die einfach
130
Vgl. die Analyse der Form einer Äußerung, die Habermas gegeben hat: Äußerungen haben eine
Doppelstruktur; sie sind »nämlich aus einem performativen Satz und einem davon abhängigen Satz
propositionalen Gehalts zusammengesetzt (. ..). Der dominierende Satz enthält ein Personalpronomen der ersten
Person als Subjektausdruck, ein Personalpronomen der zweiten Person als Objektausdruck und ein Prädikat, das
mit Hilfe eines performatorischen Ausdrucks in Präsensform gebildet wird (>Ich verspreche dir, daß ...<). Der
abhängige Satz enthält einen Namen oder eine Kennzeichnung als Subjektausdruck, der einen Gegenstand
bezeichnet, und einen Prädikatausdruck für die allgemeine Bestimmung, die dem Gegenstand zu- oder
abgesprochen wird. Der dominierende Satz wird in einer Äußerung verwendet, um einen Modus der
Kommunikation zwischen Sprechern/Hörern
herzustellen; der abhängige Satz wird in einer Äußerung verwendet, um über " Gegenstände zu
kommunizieren.« In: Habermas/Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie -Was leistet die
Systemforschung? , Frankfurt 1971, S.104f.
97
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
23.07.2007
eine Aufforderung enthält. Aber an eine bloße Aufforderung ist im »Kriton« nicht gedacht,
sondern an das Ergebnis einer Argumentation. In der griechischen Verbindung von Denken
und Reden durch das Begriffswort Logos steckt eine tiefe Wahrheit, die freilich erst in der
Gegenwart, in der die Philosophie Sprache und Kommunikation als Basis des Denkens und
Erkennens entdeckt, richtig zum Vorschein kommt.
Fragender: Welche Wahrheit meinen Sie?
Böhler: Ich meine eben die Untrennbarkeit von Reden und Denken. Sowohl hinsichtlich der
Sinnermöglichung als auch hinsichtlich der Geltungsermöglichung sind Reden und Denken
nicht voneinander abtrennbar. Denn ein Denken ohne leises Reden, nämlich ohne die lautlose
Verwendung von Begriffsworten und anderen Elementen einer geschichtlich entstandenen
Sprache, die dem Denkenden etwa durch die Begriffsworte immer schon Bedeutungen
vorgegeben hat, müßte völlig sinnleer bleiben. Ein Denken ohne Sprache hätte nichts mehr zu
denken, weil es buchstäblich bedeutungslos bliebe. Andererseits bliebe ein Reden, das nicht
zugleich dächte, blind, weil unkontrolliert und rechtfertigungsunfähig.
Fragender: Wäre das Ihr vierter leitender Gesichtspunkt oder Letztmaßstab?
Böhler: Ja; und zwar ist dieses ein allgemeines Kriterium dafür, ob eine Position Sinn macht
und daher auch Geltung beanspruchen darf, d.h. ob sie diskussionswürdig sein kann. Es läßt
sich als das zweifache Sprachapriori und Kommunikationsapriori des Denkens kennzeichnen.
Unter einem Apriori verstehen wir ja etwas Unhintergehbares, ein letztes Fundament, hinter
das man nicht zurück kann, weil man als Denkender schon selbst darauf steht. Von der
gesprochenen Sprache kann man das in doppelter Hinsicht sagen.
Fragender: Wie meinen Sie das?
Böhler: Nun, Sprache ist, wie ich schon sagte, ein zweifacher Möglichkeitsgrund des Denkens
und Argumentierens: Einmal ermöglicht Sprache Sinn und intersubjektive Verständlichkeit
bzw. Verstehbarkeit. Zum anderen kann nur eine sprachliche Kommunikationsgemeinschaft
ein Argument auch intersubjektiv zur Geltung bringen.
98
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
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Fragender: Wie kommen Sie zu dieser Behauptung?
Böhler: Zunächst durch ein Gedankenexperiment. Denn die Überlegung, ob Denken und
Argumentieren ohne Sprache möglich sind, führt uns zu zwei Thesen: Erstens – ohne eine
geschichtliche Sprache, z. B. ohne ihre Begriffsworte und ihr erfahrungsvermitteltes
Weltverständnis, bliebe alles Denken bedeutungsleer. Zweitens – ohne eine sprachlich
regulierte Kommunikationsgemeinschaft könnte kein Gedanke überhaupt verstanden und
beurteilt werden. Denn nur dank der besonderen Regeln des Wortgebrauchs und dank der von
allen Sprachen vorausgesetzten Regeln der Schlüssigkeit kann einer, der allein denkt, und
können prinzipiell alle anderen das Gedachte identifizieren und beurteilen.
Fragender: Aber was hat das mit dem Begriff »Logos« zu tun?
Böhler: Lassen Sie es mich noch einmal von den beiden Aspekten her sagen, die im
Begriffswort Logos stecken, insofern es Denken und Reden verbindet: Denken ohne Sprache
bliebe sinnleer, und ein Reden ohne Denken bliebe blind, ohne KontroIle nämlich und daher
begründungsunfähig. Argumentieren aber heißt, anderen gegenüber Gründe für das Gesagte
angeben und für das Gesagte mit Begründungen einstehen – jedenfalls immer dann, wenn
andere Zweifel anmelden. Wenn das aber so ist, dann ist das denkende Reden, das
Argumentieren, ein reflektiert dialogisches Verhalten.
Fragender: Könnte man demnach sagen, daß der Begriff Logos auch durch »Dialog« und
durch »Argument bzw. These im Dialog« erläutert werden kann? Ja, könnte man noch
weitergehen und dort, wo der frühe Platon logos sagt – etwa in der frühen Schrift »Kriton«, in
der Platon seinen Lehrer Sokrates ja noch recht unverfälscht zu Wort kommen läßt – nun auch
entsprechend übersetzen und behaupten, das sei die, richtige Übersetzung?
Böhler: Da sollte man vorsichtig sein. Das würde ich nicht so sehr als eine philologisch
richtige Übersetzung bezeichnen, wohl aber als eine philosophisch richtige Erläuterung von
logos. Und oft kann ja, wie Ernst Bloch zu sagen pflegte, philosophisch richtig sein, was
philologisch falsch ist.
Fragender: Das verstehe ich nicht.
99
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
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Böhler: Nun, Blochs Bemerkung meint nicht mehr und nicht weniger als dieses: Eine
immanent historische und eine immanent philologische Forschung kann uns – im Idealfall –
zu dem ursprünglich gemeinten Sinn des Autors oder dem Selbstverständnis der handelnden
Person zurückführen; aber wer sagt uns, daß die historischen Gestalten ein hinreichendes
Bewußtsein von dem, was sie taten und sagten, schon erworben hatten? Wer sagt uns, daß sie
dieses zureichende Bewußtsein dem geschichtlichen Kontext, in den sie als unmittelbar
Beteiligte gewissermaßen verstrickt waren, überhaupt ein solches zureichendes Bewußtsein
erwerben konnten ? Es ist dann die Aufgabe der Späteren, das herauszuholen, nämlich zu
erläutern, zu explizieren, was die historischen Gestalten nur unterstellt haben, ohne sich diese
Unterstellung klarzumachen oder auf dem Niveau ihrer Zeit klarmachen zu können.
Fragender: Das ist einsichtig. Wie lautet nun der Logos-Grundsatz des Sokrates?
Böhler: Das veranschaulicht uns der Anfang des Dialogs »Kriton«. Sokrates ist zum Tode
verurteilt und wartet in der Gefängniszelle auf seine Hinrichtung. Er hat noch eine
Galgenfrist, die er zur Flucht benutzen kann. Wer einflußreiche Freunde oder selbst genug
Geld hatte, pflegte sich durch Bestechung und Flucht der Hinrichtung zu entziehen. In dieser
Situation kommt sein alter Freund Kriton und berichtet ihm, daß alles zur Flucht vorbereitet
sei und auch in vielen anderen griechischen Städten genug Gastfreunde darauf warteten, ihm
Asyl zu geben. Zudem sei es, sagt Kriton, moralisch geboten, zu fliehen, damit er seine
Kinder aufziehen und ausbilden könne, statt sie zu Waisen zu machen.
Sokrates antwortet:
Zitator - Sokrates: »Deine Sorge um mich, lieber Kriton, ist viel wert, wenn sie nur
einigermaßen mit dem Richtigen bestehen könnte; wenn aber nicht, so ist sie um so
peinlicher, je dringlicher sie ist. Wir müssen also erwägen, ob dies wirklich tunlich ist oder
nicht. Denn nicht jetzt nur, sondern schon immer habe ich ja das an mir, daß ich nichts
anderem von mir gehorche als dem logos, der sich mir bei der Erwägung als der beste gezeigt
hat.
Das also, was ich schon früher in meinen Reden festgesetzt habe, kann ich ja nun nicht
verwerfen, weil mir dies Schicksal geworden ist; sondern jene Reden erscheinen mir noch als
ganz dieselben, und ich schätze und ehre sie noch ebenso wie vorher. Wenn wir also jetzt
nicht bessere vorzubringen haben, so wisse nur, daß ich dir nicht nachgeben werde, mag auch
die Macht der Menge noch mehr, als es schon geschieht, um uns wie Kinder einzuschüchtern,
Gefangenschaft, Tod und Verlust des Vermögens auf uns loslassen. Wie können wir also dies
100
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recht zu unserer Befriedigung untersuchen? Wenn wir zunächst jene Thesen wieder
aufnehmen, die du über die Meinungen der Leute aufstellst, und fragen, ob es wohl für jeden
Fall richtig sei oder nicht, daß man auf einige Meinungen zwar achten müsse, auf andere aber
nicht, oder ob es zwar, bevor ich sterben sollte, richtig war, während nun offenbar geworden
ist, daß es nur so obenhin der Unterhaltung wegen gesagt und in Wahrheit nichts war als ein
Scherz und müßiges Geschwätz. Ich meinesteils habe Lust, Kriton, dies mit dir
gemeinschaftlich zu untersuchen: ob mir diese These jetzt wohl anders erscheinen wird, nun
es so mit mir steht, oder noch ebenso; und demgemäß wollen wir sie entweder beiseite lassen
oder ihr folgen. So aber, glaube ich, wurde sonst immer von denen behauptet, die etwas
Rechtes zu sagen meinten, wie ich jetzt eben sagte, daß von den Meinungen, welche die
Menschen hegen, man einige zwar sehr hoch achten müsse, andere aber nicht. Sprich nun,
Kriton, bei den Göttern, dünkt dich dies nicht gut gesagt zu sein? Denn du hast doch
menschlichen Ermessens nach nicht damit zu rechnen, morgen sterben zu müssen, und das
vorliegende Mißgeschick sollte dich nicht irreleiten. Erwäge also: Scheint dir die These nicht
richtig, daß man nicht alle Meinungen der Menschen beachten muß, sondern nur einige,
andere aber nicht? Was meinst du? Ist das nicht gut gesagt?
Zitator - Kriton: O ja.
Sokrates: Und nicht wahr, die guten Meinungen soll man beachten, die schlechten nicht?
Kriton: Ja.
Sokrates: Und die guten, sind das nicht die der Vernünftigen, die schlechten aber die der
Unvernünftigen?
Kriton: Wie anders?«131
7.4 Wechselseitige Voraussetzung von Gewissen und unbegrenzter
Argumentationsgemeinschaft
Fragender: Das ist eine eindrucksvolle Argumentation. Hier zeigt sich Sokrates von einer
anderen Seite – jedenfalls von einer anderen Seite, als man ihn oft kennenlernt.
Böhler: So? Wie meinen Sie das?
131
Platon, Kriton, 46b-47a (Hervorhebungen D. B.)
101
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
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Fragender: Oft wird doch Sokrates in den Kontext –nämlich vor allem im Zusammenhang
einer Gesinnungsethik als Ethik der Gewissensentscheidung gestellt. So hat Karl-Otto Apel
die These vertreten, »daß Sokrates sich gegenüber allen institutionellen Autoritäten der
konventionellen Moral auf die innere Stimme des > Daimonion< als letzte
Entscheidungsinstanz beruft« und daß er daher als »einer der ersten Vertreter von Kohlbergs
Stufe 6 des moralischen Bewußtseins«, und zwar hinsichtlich der »Orientierung am
Gewissen«, angesehen werden könne. Verstehen Sie Sokrates nicht als Gewissensethiker?
Böhler: Die neuzeitliche Gewissensethik, die vor allem auf der christlichen Aneignung des
stoischen Gewissensbegriffs beruht, ist eine Individualethik, eine Ethik der moralisch
autonomen Person. Sie bezieht sich, wie Hegel sagte, »auf die Innerlichkeit des Gewissens«.
In diesem Sinne können wir Sokrates noch nicht einen Gewissensethiker nennen. Sein
Daimonion ist nicht das, was wir in der christlichen Tradition als die personale Instanz des
Gewissens verstehen. Freilich konnte Sokrates innerhalb der christlichen Tradition, vor allem
im Humanismus und im Deutschen Idealismus, in diesem Sinne aktualisiert werden, und hat
dann auch als Vorbild einer Gewissensethik gewirkt. Und die Wirkungsgeschichte läßt sich
von einem Denken nicht abtrennen, weil ein vergangenes Denken nur durch das
Aktualisierungsinteresse der Späteren zur Sprache gebracht werden kann. Aber gewiß ist
diese, gleichsam im kantischen Geist der Gesinnungsethik gehaltene, Sokrates-Deutung
historisch fragwürdig.
Fragender: Liegt in dieser neuzeitlichen Vorstellung des >personalen Gewissens< nicht
genau jenes Problem verborgen, von dem wir bereits zu Beginn sprachen: Gilt die Berufung
auf das Gewissen als Anrufung einer letzten, nicht mehr hintergehbaren Instanz, dann
entzieht man sich dadurch ja rationaler, und d. h. intersubjektiver Kritik und Prüfung.
Böhler: In der Tat. Und es sind – von der Romantik bis zum Existentialismus und dessen
politischen Wirkung, etwa in der deutschen Diskussion und Gesetzgebung über das Recht
einer Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen – sind immer wieder Stimmen laut
geworden, die das Gewissen offenbar als ein heiliges dunkles Wesen verstehen, in das man
nicht hineinleuchten könne und dürfe. Noch am 25. Juni 1980, in einer besonders wichtigen
Debatte um eine Reform der westdeutschen Prüfungsinstitution von Amtsträgern auf
102
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Anerkennung als Wehrdienstverweigerer132, begründete der sozialdemokratische
Bundestagsabgeordnete Egon Lutz \ seine Bedenken gegen eine Gewissensprüfung der
Kriegsdienstverweigerer mit dem Argument, das Gewissen eines Menschen sei überhaupt
nicht prüfbar. Im Protokoll des Deutschen Bundestages lesen wir:
Zitator I: »Vizepräsident Frau Renger: Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lutz.‹‹
Zitatator II: MdB Egon Lutz: »Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute ist über ein
Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Kriegsdienstverweigerung zu befinden. Die Mehrheit
meiner Fraktion und die FDP versprechen sich von der Verabschiedung dieses Gesetzes
spürbare Verbesserungen für den jungen Menschen. Einige Freunde und ich können diese
Auffassung nicht teilen. ... Hauptpunkt unserer Kritik ist die Tatsache, daß auch weiterhin an
dem unmöglichen Institut der Gewissensprüfung festgehalten wird. Dabei wissen wir alle –
und dies nicht nur aus dem Anhörungsverfahren -, daß man ein Gewissen nicht prüfen kann.
... Die Vertreter beider Kirchen haben uns in eindringlichen Worten klargemacht, daß man ein
Gewissen nicht prüfen kann. Allenfalls, so meinten sie, könne man die Ernsthaftigkeit einer
Gewissensentscheidung erkennen. Selbst dies erscheint mir fraglich.«133
Böhler: Nun sind wir mit einem Salto morale in die politische Zeitgeschichte gesprungen –
aber nicht ohne sachliche Berechtigung. Denn die Privatisierung der Moral, die das
moralische Urteil als nicht rational prüfbar ansieht, ist eine zweischneidige Angelegenheit.
Schon Hegel hat das bedacht. In der »Rechtsphilosophie« betont er, daß das Gewissen immer
dann, wenn es nur eine »formelle Subjektivität« sei, sich auf dem Sprunge befinde, »ins Böse
umzuschlagen« – nämlich in eine bloße selbstgenügsame Behauptung des Ich- Willens, die
den moralischen Dialog abbricht. Schärfer noch kritisiert Hegel den Abbruch der moralischen
Argumentation durch Berufung auf die innere Stimme des Gewissens in der Vorrede zur
»Phänomenologie des Geistes«: Dort sagt er, daß in der Moderne der gesunde
Menschenverstand sich naiv auf sein Inneres, auf das Gewissen, berufe und meine, dagegen
könne keine Einrede stattfinden.
132
Nach dem sogenannten Postkartenurteil des Bundesverfassungsgerichts vom # wann?## hat diese Reform,
die zur Abschaffung der bisherigen Verhandlungen zur Gewissensprüfung führte, ## wann? # ihren Abschluß
gefunden.
133
Deutscher Bundestag, 229. Sitzung 3. Juli 1980. Plenarprotokoll 8/229, S.18673.
103
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Zitator: Indem der gemeine Menschenverstand »sich auf das Gefühl, sein inwendiges Orakel,
beruft, ist er gegen den, der nicht übereinstimmt, fertig; er muß erklären, daß er dem weiter
nichts zu sagen habe, der nicht dasselbe in sich finde und fühle; mit anderen Worten, er tritt
die Wurzel der Humanität mit Füßen. Denn die Natur dieser ist, auf die Übereinkunft mit
anderen zu dringen, und ihre Existenz (ist) nur in der zustande gebrachten Gemeinsamkeit der
Bewußtsein(e). Das Widermenschliche besteht darin, im Gefühle stehen zu bleiben und nur
durch dieses sich mitteilen zu können.«134
Fragender: Wenn es aber die Natur der Humanität ist, auf Übereinkunft mit anderen zu
dringen, müßte man dann nicht die Idee und den Begriff des Gewissens letztlich fallen lassen
und durch die Idee der, auf Übereinkunft und also auf Verständigung bezogenen,
Argumentationsgemeinschaft ersetzen?
Böhler: Soweit würde ich auf keinen Fall gehen. Und diesen Vorschlag können auch Sie,
insofern Sie argumentieren und sich Ihre Rolle als argumentierender Diskurspartner bewußt
machen, nicht ohne Selbstwiderspruch durchhalten. Denn einerseits plädieren Sie für die
Anerkennung der Instanz einer unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft, andererseits aber
zielt
Ihr Vorschlag darauf ab, die Träger dieser Gemeinschaft, nämlich die moralischen Personen,
die als moralische Personen für sich ein Gewissen beanspruchen, von vornherein dieses
Anspruchs zu berauben. Dadurch würden Sie jeden Menschen, insofern er moralisch
argumentiert und insofern er sich als moralisch Argumentierender eben Urteilsfähigkeit und
damit Gewissen unterstellt, von vornherein Lügen strafen und ihn moralisch entmündigen.
Wenn Sie aber den Anspruch des Einzelnen auf Gewissen und damit auf moralische
Urteilsfähigkeit nicht anerkennen, wenn Sie also nicht zugestehen, daß sich jedermann die
moralische Urteilsfähigkeit zutrauen darf, dann – das wäre die Konsequenz – berauben Sie die
Idee der Argumentationsgemeinschaft ihrer Basis. Ja, Sie können einen moralisch
argumentierenden Dialog überhaupt nicht mehr denken. Denn ein solcher Dialog kann ja erst
zustande kommen, wenn Menschen jenen Anspruch auf Gewissen und moralische
Urteilsfähigkeit erheben, wenn ferner andere Menschen diesen Anspruch anerkennen und
134
G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes. In: Werke in zwanzig Bänden, hrsg. von E. Moldenhauer und
K. M. Michael, Frankfurt 1970 Bd. 3, S. 64f.
104
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
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wenn sich schließlich beide Seiten daran begeben, die Berechtigung dieses Anspruchs in
einem konkreten Fall zu prüfen.
Fragender: Das leuchtet ein. Aber nun bin ich ganz verwirrt. Wollen Sie etwa den Sokrates
mit mir spielen, der seine Gesprächspartner, die das Gute und die Tugenden zu wissen
meinen, so verwirrt, daß sie am Ende nicht mehr ein und aus wissen ?
Böhler: Nein, wir sind ja als Gleichberechtigte in einen verständigungsorientierten Dialog
eingetreten. Keiner will hier den anderen sprachlos machen oder gar verwirren. Das
entspräche nicht einem philosophischen Diskurs, der in Hegels Sinne die ideale Humanität zur
Existenz bringen will. Außerdem scheint mir, daß wir einer Lösung ziemlich nahe sind. Denn
es geht gar nicht darum, die vernünftige Argumentationsgemeinschaft gegen das Gewissen
und damit gegen die moralische Person auszuspielen. Das würde, wie wir gesehen haben, zur
Zerstörung der Basis der Argumentationsgemeinschaft selbst führen.
Fragender: Gut, das würde ich Ihnen ja jetzt zugestehen. Aber ist es nicht umgekehrt auch so,
daß es selbstwidersprüchlich wäre, die Idee der moralischen Person oder des Gewissens gegen
die Idee der vernünftigen Argumentationsgemeinschaft auszuspielen ?
Böhler: In der Tat. Die beiden Begriffe bzw. Ideen setzen sich wechselseitig voraus. Und sie
sind jeweils ohne den anderen nicht schlüssig denkbar. Wer den einen ohne den anderen
denkt, der verwickelt sich in Widersprüche. Deshalb heißt mein fünfter Letztmaßstab bzw.
leitender Gesichtspunkt: Eine Bedingung für den Sinn und das Gelingen praktischer
Behauptungen ist es, daß man die wechselseitige Voraussetzung von Gewissen und
vernünftiger, letztlich idealer, Dialog – und Argumentationsgemeinschaft anerkennt und
beachtet.
7.5 Sinnkriterium der pragmatischen Widerspruchsfreiheit versus
moralischer Subjektivismus oder Institutionalismus
Fragender: Aber müßte man nicht noch hinzufügen: Außerdem ist zu beachten, daß die Idee
der vernünftigen Argumentationsgemeinschaft der letzte Geltungsmaßstab ist und nicht etwa
eine private Gewißheit? Und lassen Sie mich noch einen Schritt weitergehen und behaupten:
dieser Zusatz gilt auch für theoretische Behauptungen und für die individuellen Gewißheiten
eines Forschers bei theoretischen Problemen.
105
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
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Böhler: So ist es. Als eigentlicher Geltungsmaßstab, als Kriterium für die Geltung aus
Gründen, kommt letztlich weder mein Gewissen noch meine theoretische Gewißheit in Frage,
sondern nur die Idee der unbegrenzten Gemeinschaft aller vernunftfähigen
Argumentierenden. Dann aber ist auch der Gewissensentscheid eines Einzelnen
geltungsmäßig nicht das Letzte, sondern durchaus hintergehbar. Wie sehr man in einer
persönlichen Entscheidungssituation oder im Falle des einsamen Entschlusses eines
Staatsmannes mit sich selber allein sein mag und mit sich alleine einen Gewissensdiskurs
durchführen muß, so erhebt man doch, wenn man sich auf das Gewissen beruft, den
Anspruch, das Gute zu suchen und zu finden bzw. das richtige Urteil über eine eigene schon
vollzogene Handlung gefällt zu haben. Dieser Anspruch auf das Gute und Richtige weist aber
immer über den Einzelnen hinaus. Er läßt sich nämlich überhaupt nur als eine Behauptung
verstehen, eine Behauptung aber ist eine dialogische Argumentationshandlung. Diese
Argumentationshandlung hat folgende Form:
Zitator: »Ich behaupte hiermit gegenüber dir oder mir und letztlich gegenüber allen
möglichen Argumentierenden, daß dasjenige, was ich jetzt inhaltlich sagen werde, gilt.« Mit
anderen Worten: »Ich behaupte, gegenüber der Argumentationsgemeinschaft, daß die
Aussage, die ich jetzt machen werde, so beschaffen ist, daß sie der Prüfung durch alle
sachkundigen Zweifler, die sich an die Argumentationsregeln halten, standhalten und daher in
der unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft als gültig anerkannt werden würde.«
Böhler: Nun gibt es viele Sätze und ganze Abhandlungen, ja, ganze philosophische Werke,
die mit diesem Geltungsanspruch, den sie, zumeist unausdrücklich, selber erheben, in
Widerspruch geraten, weil sie, auf der inhaltlichen Ebene der Aussagen, Thesen vertreten, die
mit jenem Anspruch unverträglich sind. Wenn das der Fall ist, haben wir, wie ich sagen
möchte, eine pragmatische Inkonsistenz vor uns:
Fragender: Weshalb sprechen Sie von einer pragmatischen Inkonsistenz? Ich kenne nur
logische Inkonsistenzen, nämlich Widersprüche zwischen zwei oder mehreren Sätzen,
zwischen Aussagen also. Das aber ist das Thema der formalen Logik.
Böhler: Ja, es geht mir aber nicht um formallogische Widersprüche, um Widersprüche in
einem Ableitungszusammenhange von Sätzen aus Obersätzen. Mir geht es hier um eine
philosophische Pragmatik, eine transzendentale Pragmatik des Diskurses, wenn Sie so
wollen. Nämlich um eine Besinnung darauf, was man beachten muß und was man schon als
gültig bzw. verbindlich voraussetzt, wenn man argumentiert.
106
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
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Fragender: Und was wäre zu beachten?
Böhler: Was man zuerst beachten muß, ist, daß eine Entsprechung zwischen dem eigentlichen
Behauptungsakt und der als gültig behaupteten Aussage hergestellt wird. Diese Entsprechung
nenne ich pragmatische Konsistenz oder Widerspruchsfreiheit. Ist sie aber nicht gegeben,
dann liegt eine pragmatische Inkonsistenz vor. In diesem pragmatischen Kriterium sehe ich
übrigens den sechsten leitenden Gesichtspunkt einer philosophischen Geltungsprüfung von
Behauptungen und damit auch von jenen Behauptungen, die in der Ethikgeschichte aufgestellt
worden
sind.
Fragender: Ist dieser sechste Maßstab, also die Forderung nach pragmatischer Konsistenz
bzw. Widerspruchsfreiheit, nicht eine Antwort auf die Leitfrage des praktischphilosophischen Diskurses? Auf die Frage also „Welche Bedingungen müssen praktische
Behauptungen erfüllen, damit sie überhaupt Sinn geben und als Argumentationshandlungen
gelingen können?“
Böhler: Ja, die Argumentationsnorm der pragmatischen Konsistenz oder performativen
Widerspruchsfreiheit ist eine Antwort auf diese Frage. Aber sie gilt nicht nur für praktische
Behauptungen, sondern für alle Behauptungen – auch für theoretische.
Fragender: Ich möchte auf das Thema »Gewissen« zurückkommen, um mir diese Überlegung
ganz klarzumachen. Wenden wir doch unser Kriterium der pragmatischen Konsistenz auf die
Gewissensthese an! Was folgte daraus für eine Behauptung wie: »Mein je eigenes Gewissen
ist die letzte moralische Instanz?« Oder was folgte daraus für die These, daß die
gewissensmäßige Selbstaufforderung »praktisch unhintergehbar« ist, wie viele meinen?
Böhler: Wenn »letzte moralische Instanz« soviel bedeuten soll wie »letzte Instanz für die
Geltung einer Handlung oder eines Vorschlags als praktisch verbindlich bzw. verpflichtend«,
dann würden wir ja folgende Behauptung vor uns haben:
Zitator: »Ich behaupte und erhebe damit als Argumentierender gegenüber allen möglichen
anderen Argumentierenden den Anspruch, daß die folgende These einer Prüfung in der
unendlichen Argumentationsgemeinschaft standhalten kann – nämlich die These >Mein je
eigenes Gewissen ist die letzte Instanz für die Geltung moralischer Urteile<.«
107
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
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Böhler: >...und also nicht die ideale Argumentationsgemeinschaft< – so ließe sich die These
fortsetzen. Im Behauptungsakt selbst wendet sich unser Gewissensethiker an die ideale
Argumentationsgemeinschaft und erkennt sie eben damit als letzte Instanz für die
Geltungsprüfung seiner These an. Aber in der behaupteten Aussage, in der These »mein
eigenes Gewissen ist die letzte moralische Instanz«, bestreitet er ja implizit, daß die ideale
Argumentationsgemeinschaft die letzte Geltungsinstanz sei.
Fragender: Der pragmatische Widerspruch liegt hier also darin, daß der Gewissensethiker mit
seiner These gerade den Gegenstand seiner Behauptung, nämlich den Maßstab für
»moralisch« bzw. »unmoralisch«, der Prüfung durch die unbegrenzte
Argumentationsgemeinschaft entzieht, weil er sich auf sein je eigenes Gewissen zurückzieht
und damit aus der Kommunikation ausscheidet.
Böhler: Und dasselbe würde für die These der praktischen Unhintergehbarkeit meiner je
eigenen gewissensmäßigen Selbstaufforderung gelten. Denn wenn ich diese These als
Argumentierender vertrete, dann habe ich ja bereits meine . eigene Selbstaufforderung
insofern überschritten, als ich mich an die ideale Argumentationsgemeinschaft gewandt habe.
Diese Besinnung auf die notwendigen Voraussetzungen des Argumentierens erinnert an die
dialektischen Analysen Hegels in der Rechtsphilosophie. Dort heißt es:
Zitator: »Das wahrhafte Gewissen ist die Gesinnung: das, was an und für sich gut ist, zu
wollen. (...) Ob aber das Gewissen eines bestimmten Individuums dieser Idee des Gewissens
gemäß ist, ob das, was es für gut hält oder ausgibt, auch : wirklich gut ist, dies erkennt sich
allein aus dem Inhalt dieses Gutseinsollenden. ( ...) Das Gewissen ist daher (...dem) Urteil
unterworfen, ob es wahrhaft ist oder nicht, und seine Berufung nur auf sein Selbst ist
unmittelbar dem entgegen, was es sein will, (nämlich) die Regel einer vernünftigen, an und
für sich gültigen allgemeinen Handlungsweise.«
Böhler: So weit, so gut. Aber hieran schließt Hegel, in Form einer Folgerung einen Gedanken
an, den er nicht als, Folgerung aus seiner Erörterung des Verhältnisses von allgemeinem
Anspruch und besonderer Realität des Gewissens, ableiten kann. Er fährt nämlich unvermittelt
fort:
108
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
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Zitator: »Der Staat kann deswegen das Gewissen in seiner eigentümlichen Form, das ist als
subjektives Wissen, nicht anerkennen, so wenig als in der Wissenschaft die subjektive:
Meinung, die Versicherung und Berufung auf eine subjektive, Meinung, eine Gültigkeit
hat.«135
Fragender: Ist diese Folgerung nicht typisch für Hegel als preußischer Staatsphilosophen?
Allgemein gefragt: Kann man sie wirklich als Philosoph ziehen und als Diskurspartner
verteidigen? Müßten die Philosophierenden als solche nicht streng unterscheiden zwischen
der realen politischen Gemeinschaft von Menschen in einem, auf positivem Recht
gegründeten, Staatswesen und einer idealen Vernunftgemeischaft von Menschen als praktisch
Argumentierender, die sich allein auf dialogische Normen gründet?
Böhler: Genau. Mit dieser Unterscheidung steht und fällt eine praktische Philosophie. Durch
diese wird sie kritisch. Ohne diese verfällt sie nicht allein der Kritikunfähigkeit und dem
Konformismus, sondern öffnet einer Staats- bzw. Machtmetaphysik Tor und Tür.
Unversehens erhebt man dann, wie Hegel es in seiner Rechtsphilosophie tatsächlich getan hat,
den Staat selbst zur moralischen Instanz, und zwar zur letzten moralischen Instanz; dann aber
erkennt man nichts mehr an, worauf man sich berufen" kann, um an der politischen
Gemeinschaft und Rechtsgemeinschaft eines jeweils geschichtlich gegebenen Staates
überhaupt noch Kritik zu üben. Der Staat wird dann zum Vertreter Gottes oder jedenfalls der
Sittlichkeit schlechthin.
Fragender: Mir scheint, daß Hegel damit in gefährliche Nähe zum absolutistischen
Ordnungs- und Friedensstaat des Thomas Hobbes kommt, der um des Bürgerfriedens willen,
um der Vermeidung von konfessionellen und weltanschaulichen Bürgerkriegen willen, dem
Staat die Weihe des sterblichen Gottes verlieh, gegenüber dem man sich nicht auf sein
Gewissen berufen dürfe. Nun hat aber der moderne politische Staat, der bürgerlich
revolutionierte Staat, gerade diese Gewissensfreiheit als Menschenrecht anerkannt.
Böhler: Ja. Und er hat damit auch die praktische Vernunft des Diskurses freigegeben und hat
sie als die höhere Instanz anerkannt. Denn der bürgerlich-demokratische Staat behauptet ja
nicht »die praktische Vernunft – das bin ich«. Vielmehr legt er sich darauf fest, daß er nur
anerkennungswürdig ist, insofern er politischen Ansprüchen der praktischen Vernunft gerecht
135
G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, aaO. Bd. 7, S. 254 f.
(§ 137).
109
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
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wird – insofern er etwa einerseits die freie Öffentlichkeit und damit die Freiheit der
Kommunikation und andererseits die Gewissensfreiheit des Einzelnen als Menschenrecht
bzw. Grundrecht anerkennt. So heißt es im fünften Artikel des »Grundgesetzes für die
Bundesrepublik Deutschland«
Zitator: »Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu
verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten.
Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden
gewährleistet.«
Böhler: Und der Artikel 4 des Grundgesetzes lautet:
Zitator: »(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und
weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. (2) Die ungestörte Religionsausübung
wird gewährleistet. (3) Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe
gezwungen werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.«
Fragender: Da sind wir wieder bei der Gewissensprüfung der Kriegsdienstverweigerer
angelangt. Würden Sie diese am Ende ebenso ablehnen wie seinerzeit der Abgeordnete Egon
Lutz und die Hälfte seiner Fraktion?
Böhler: Wenn man staatliche Behörden und vom Staat eingesetzte Untersuchungsausschüsse
nicht mit der freien und letztlich sowohl zeitlich als auch personal unbegrenzten
Argumentationsgemeinschaft, also mit der idealen Vernunftgemeinschaft, verwechselt, dann
gibt es keine praktisch vernünftige Begründung für eine Gewissensprüfung der
Kriegsdienstverweigerer. Bedenken Sie nur, daß ein Ausschuß zur Prüfung der Anträge auf
Anerkennung der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen unter Zeitdruck seine
Entscheidung fällen muß und daß er keineswegs eine reine Argumentationssituation unter
gleichberechtigten Dialogpartnern, die alle nichts als das beste argument suchten, ermöglicht,
geschweige denn sicherstellt. Bedenken Sie nur, wie unterschiedlich einerseits die
Fähigkeiten der Betroffenen sind, ihre Gründe als Argumente vorzubringen, und wie
unterschiedlich andererseits die Maßstäbe der Prüfer dafür sein können, was sie als
Gewissensgründe anerkennen und was nicht. Bedenken Sie nicht zuletzt die Gefahr einer
110
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Gesinnungsschnüffelei im Lebenslauf der zu Prüfenden – und das könnte ja bis zu Anfragen
an den Verfassungsschutz gehen. So pointierte der Abgeordnete Lutz mit Recht:
Zitator: »Wir alle wissen aus der täglichen Spruchpraxis der Prüfungsausschüsse, daß es
immer wieder zu unerträglichen Entscheidungen kommt. Ja, wir wissen, daß es ein pures
Spiel mit dem Zufall ist, ob die Gewissensentscheidung des jungen Menschen nun die
Billigung des Ausschusses findet oder nicht.«136
Böhler: Zudem hat eben eine staatliche Behörde als staatliche Behörde keineswegs die
Geltungskraft und die sittliche Würde, die wir in Anspruch nehmen und uns unterstellen,
wenn wir uns auf unser Gewissen berufen, und die der idealen Vernunftgemeinschaft aller
moralisch Argumentierenden wahrhaft zukommt.
Es ist interessant, daß viele Kriegsdienstverweigerer und in gewisser Weise auch der zitierte
Abgeordnete Lutz letztlich in diesem Sinne gegen die Institution der Prüfungsausschüsse
protestiert haben. Jedenfalls können ihre Argumente in diesem Sinne philosophisch begründet
werden.
Fragender: Wenn ich mir nun Ihre Antwort auf meine Frage nach den leitenden
Gesichtspunkten bzw. Maßstäben, an denen Sie die Entwicklung der Ethik beurteilen wollen,
noch einmal vor Augen führe, dann scheint es mir, daß sie jetzt vor allem Ihren zweiten
leitenden Gesichtspunkt begründet und auf ein praktisches Beispiel, nämlich die
Kriegsdienstverweigerung, angewandt hatten.
Böhler: Sie meinen die Anerkennung der kritischen Spannung zwischen einer realen
politischen und rechtlichen Gemeinschaft einerseits und der idealen Argumentations- und
Vernunftgemeinschaft andererseits?
Fragender: Ja.
136
A.a.O., S. 18674. Vgl. E. Lutz, aaO., S.18674: »Die Ausschüsse sind bei Vorrang des schriftlichen
Verfahrens gehalten, alle ihnen notwendig erscheinenden Beweise zu erheben. Es ist nicht auszuschließen, daß
wildgewordene Prüfungsausschüsse künftig fröhlich Beweis erheben: beim Jugendamt, in den Schulen, bei der
Polizei, beim Verfassungsschutz und sonstwo. Der Bund könnte eine solche exzessive Erhebungsmethode nicht
einmal stoppen, denn die Ausschüsse sind an Weisungen nicht gebunden. Ich weiß nicht, ob wir eine solche neue
Möglichkeit der Gesinnungsschnüffelei auch nur andeutungsweise zulassen dürfen.«
111
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Böhler: Gut. Aber unsere Argumentation konnten wir nur durchführen, weil wir zugleich
auch von den anderen leitenden Gesichtspunkten Gebrauch gemacht haben. Nämlich von dem
Logos- bzw. Diskurs-Grundsatz, ferner von der zwiefachen Sprachlichkeit des Denkens, also
auch der einsamen Gewissensentscheidung, sodann von dem wechselseitigen Verhältnis
zwischen Gewissen und Argumentationsgemeinschaft als letztem Geltungsmaßstab, und
schließlich von der Norm der pragmatischen Konsistenz einer Argumentationshandlung. So
sind wir zu dem Ergebnis gekommen, daß das Gewissen nicht institutionell bzw. politisch
hintergangen werden darf, daß es aber hinsichtlich der Geltung von praktischen Urteilen sehr
wohl überschritten werden darf, ja, daß es gewissermaßen selbst über sich hinausverweist auf
die Geltungsinstanz der idealen Vernunftgemeinschaft oder Argumentationsgemeinschaft. Im
Prinzip ist das Gewissen prüfbar. Eine solche Prüfung nimmt das Gewissen nur bei seinem
Anspruch, »das, was an und für sich gut ist, zu wollen«, wie Hegel sagt. Aber eine rationale
Prüfung dieses Anspruchs ist nicht unter Entscheidungszwang, unter Zeitdruck und den
anderen fehlerproduzierenden Bedingungen möglich, die in einem staatlichen Verfahren nun
einmal unvermeidbar sind. Eine strikt rationale Prüfung ist nur in einem rein argumentativen
Dialog möglich, in dem nichts zählt als – wie Habermas sagt – der eigentümlich zwanglose
Zwang des besten Arguments.
8 Sind Allgemeingültigkeit und Verbindlichkeit nach der pragmatischhermeneutischen Wende möglich? Karl-Otto Apels Ansatz
diskurspragmatisch und dialogreflexiv rekonstruiert
Gewöhnlich nehmen wir in der Alltagskommunikation, aber auch in der Forschung, eine
sachbezogene und inhaltskonzentrierte Perspektive ein, indem über etwas gesprochen wird.
Ob man etwas nun betrachtet oder beschreibt, analysiert oder erörtert, stets macht man in der
dritten grammatischen Person („er“, „sie“, „es“) Aussagen über ein Thema. Diese
Konzentration auf das in Rede stehende Thema, auf das Worüber der Rede und den
Aussagegehalt ihrer Sätze, läßt sich mit einem Terminus der pragmatisch linguistischen
Wende, die Karl-Otto Apel in Form einer „Transformation“ der (Transzendental-) Philosophie
112
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
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vollzieht, als semantische Beziehung zwischen einem Verwender sprachlicher Zeichen und
den davon bezeichneten bzw. besprochenen Themen charakterisieren.
8.1 Das Apriori der realen Kommunikationsgemeinschaft
So sehr es im Zeichen einer sprachpragmatischen Transformation der Philosophie naheliegt,
die semantische Beziehung als getragen von sprachlicher Kommunikation oder direkt als ein
Stück dieser zu beschreiben, so ferne lag das dem
Selbstverständnis und dem
methodologischen Ausgangspunkt der philosophischen Tradition, bis hoch in das zwanzigste
Jahrhundert. Gleich, ob empiristisch oder rationalistisch oder transzendentalphilosophisch
orientiert, die Philosophen unterstellten oder konzipierten die wahrheitsfähige „Aussage“ als
eine im Prinzip kommunikationsunabhängige, im Grunde einsam wahrnehmbare, Beziehung:
ein ‚Ich‘ denkt über die Welt nach, es versteht und erkennt die Welt, ohne dabei auf
Kommunikation mit anderen angewiesen zu sein. Unterstellt oder auch behauptet wird von
Descartes über Kant bis Husserl einerseits, von Hume, Locke und der empiristischen Linie
andererseits, daß einer schon für sich alleine Sinn und Bedeutung haben, Wahrheit und
Richtigkeit finden kann. Ja, vielfach wurde diese transzendentale Einsamkeit und Autarkie
logisch und emanzipatorisch überhöht, indem man in ihr eine notwendige Bedingung für die
Freiheit von Vorurteilen, von Autoritätsabhängigkeit usw. sah: transzendentale Einsamkeit
oder methodischer Solipsismus als Basis des autonomen Urteils. Der von dem „Man“
emanzipierte, der mündige Wissenschaftler, der redliche Selbstdenker sei der methodisch
einsame Denker.
Dem hält Karl-Otto Apel ein zweifaches „Apriori der Kommunikationsgemeinschaft“
entgegen. Erstens gelte: Damit sich einer auch nur auf etwas als etwas Bestimmtes, als etwas
mit Sinn und Bedeutung, beziehen könne, sei er auf eine Sprach- und Erfahrungsgemeinschaft
angewiesen, die ihm Wortgebrauch und grammatische Regeln vorgibt. Die römischitalienisch-humboldtsche Linie des Sprachhumanismus auf den Begriff bringend,137 zudem
Argumente von Ch. S. Peirce, Wittgenstein und Heidegger ausarbeitend,138 führt Apel
zunächst das Apriori der realen Sprach- und Kommunikationsgemeinschaft
als
Voraussetzung für Sinn und Bedeutung ein. Einer allein würde nichts verstehen, könnte sich
auf gar nichts beziehen – auch nicht auf sich selbst. Nur weil ‚ich’ immer schon eine
Kommunikationsgemeinschaft im Rücken habe, kann ‚ich’ Sinn und Sinnhorizont haben.
137
Apel, Sprache. Dazu: Apel, Transformation II, S. 330 ff. und 9 ff.
Apel, Peirce; ders., Transformation II, S. 157 ff., S. 178 ff. Zu Wittgenstein: ebenda 28 ff. und ders.,
Transformation I, S. 225 ff., S. 335 ff.; ders., Sprache, S. 22 ff. Zu Heidegger: Apel, Sprache, S. 52-68; ders.,
Transformation I, S. 276 ff. und S. 22-52.
138
113
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
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Hinzu komme ein Zweites: Distanz zu Vorurteilen, Unabhängigkeit von ihrer Macht und ein
freies, begründetes Urteil, das Anspruch auf Geltung erheben kann, lassen sich nur erarbeiten;
und zwar indem man sich auf den Diskurs mit anderen einlasse, anderen Gründe gebe, sich
den Fragen und Einwänden anderer aussetze und so in die Gemeinschaft der
Argumentierenden eintrete. Und daß wir dazu bereit sind, setzen wir, so Apel, mit jedem Satz
voraus. Erheben wir doch mit jedem Satz implizit die Ansprüche auf dessen Verständlichkeit
und Geltungsfähigkeit als eines tendenziell öffentlichen, für alle verständlichen und prüfbaren
Satzes. Damit überschritten wir den engen geschichtlichen Kontext eines besonderen
Auditoriums und einer bestimmten Nationalsprache und träten in das unbegrenzte Universum
sinnvoller Rede und prüfbarer Gründe ein. Das aber sei von normativ ethischer Bedeutung.
Denn das redende Beanspruchen von Geltung lasse sich nicht etwa (gemäß der Linie
Descartes – Kant – Husserl) auf die Selbstidentität des „Ich denke, das alle meine
Vorstellungen muß begleiten können“ zurückführen, also auf ein einsames, in
transzendentalem Singular angesiedeltes Vernunftsubjekt, sondern es setze den Plural
leibhafter und verschiedenartiger Sprecher bzw. Sprecherinnen mit ihren leiblich sinnlich
vermittelten Situationsbezügen, Erfahrungen usw. voraus; deshalb kann der frühe Apel (mit
Anklängen an Feuerbach, den jungen Marx, an Plessner, Rothacker und Merleau-Ponty) von
einem „Leibapriori“ des Verstehens und Erkennens sprechen.139 Auch lasse sich die
Pragmatik der Rede, etwa das Geltungbeanspruchen, keinesfalls als pure zweckrationale
Angelegenheit verstehen, als ethisch neutrales commercium zwischen Sprechern bzw.
Diskursteilnehmern, die zwar als „Inter-Subjekte“ (Niquet)140 eine Kommunikationsfunktion,
aber
damit
keine
Verpflichtung
untereinander
und
gar
gegenüber
abwesenden
141
Anspruchssubjekten eines Diskursuniversums hätten.
In einer sich über Jahrzehnte zuspitzenden Kritik jener, nur zu gut mit dem methodischen
Solipsismus harmonierenden, Common-sense-Auffassung von Kommunikation und Diskurs,
wie sie von Hobbes bis Ilting und immer wieder vertreten wird,142 argumentiert Apel dafür,
daß die sprachliche Verständigung und das in sie hineingewobene Denken-Reden a priori
ethisch aufgeladen sei. So setze das Erheben eines Geltungsanspruchs die Anerkennung der
Anderen als möglicher Versteher und Kritiker je ,meiner‛ Geltungsansprüche voraus, ja – die
Anerkennung letztlich aller möglichen Anderen als gleichberechtigter Diskursteilnehmer. Im
139
Apel, Transformation I, S. 25; ders., Transformation II, S. 16 f., S. 96-100, passim; ders. 1963 a.
M. Niquet, 1993, S. 148-166.
141
Die neutrale Charakteristik von möglichen Diskursteilnehmern als „Intersubjekten“ statt als
Dialogpartnern legt eine solche zweckrationalistische Verkürzung nahe; dazu Böhler 2001b, bes. S. 162-171.
142
Apel, Transformation II, 330 ff., 220 ff.; Ilting 1982, S. 621-648 ; dazu Apels Antwort: Apel,
Auseinandersetzungen, S. 221-280.
140
114
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
Zuge
einer
solchen
transzendentalpragmatischen
23.07.2007
Rekonstruktion
der
Sinn-
und
Geltungsbedingungen von Diskursen – ich kann hier nur ihre Richtung angeben – lasse sich
das
Apriori
der
Argumentation
bzw.
der
unbegrenzbaren
oder
idealen
Argumentationsgemeinschaft als Geltungsbasis und Geltungsinstanz des Denkens bzw. des
Diskurses über ein Thema einsehen.
Mit dieser Überlegung haben wir bereits die zweite Erkenntnis- und Diskursebene betreten.
Wenn man nach Voraussetzungen eines Diskurses fragt, hat man selbst eine höherstufige
Einstellung eingenommen: die zum konkreten, themagebundenen Diskurs komplementäre
Perspektive einer Erörterung des Diskurses selbst. Es ist die gewissermaßen transzendentale
Perspektive dessen, der die internen, pragmatischen Voraussetzungen des Redens im
allgemeinen, des Argumentierens im besonderen aufdecken will; ihm geht es um eine
pragmatische Rekonstruktion, eine reflexive und explikative Analyse des etwas Denkens und
Sagens als eines Vermittelns von Sinn und Beanspruchens von Geltung in bezug auf andere
und sich selbst.143
Reflexiv ist die Rekonstruktion nur mittelbar, insofern sie Voraussetzungen aufdeckt, die der
Rekonstrukteur bei seiner Arbeit selber in Anspruch nimmt; analytisch verfährt dieser, indem
er
etwa
den
Kommunikationszusammenhang
„argumentativer
Diskurs“
auf
seine
Präsuppositionen hin analysiert. Explikativ ist dieses Geschäft, weil aufgrund der Analyse
eine Praxis in Begriffen erläutert werden kann, die man ohne Analyse nur eingeübterweise –
„abgerichtet“
sagt
der
ehemalige
Grundschullehrer
Wittgenstein
sogar
–
und
gewohnheitsmäßig vollzogen hätte. Man konnte eben sprechen; nun kennt man eine Sprache;
zum knowing how kommt ein knowing that hinzu. Indem wir erläutern, was wir tun, wird
unsere Praxis bewußter. Wir können nunmehr verstehen, was wir tun, indem wir sagen, wie
wir es tun bzw. auch, warum wir es so und nicht anders tun. Insofern kann die Rekonstruktion
von der Praxis selbst eingeholt werden. Die Praxis wird reflexiv; genauer: Sie wird in einem
höheren Maße reflexiv, als sie es bereits gewesen ist. Denn auf elementare Weise ist jede
menschliche
Praxis
von
vornherein
reflexiv,
weil
144
umgangssprachlichen Verständigung getragen wird.
und
insofern
sie
von
der
Jede gesprochene Sprache aber sei –
das arbeitet Apel gegenüber dem logischen Positivismus des frühen Wittgenstein, Russells
und Carnaps wie auch gegenüber der undialektischen, nicht bei der Reflexivität der Sprache
ansetzenden, Sprachspielpragmatik des späten Wittgenstein heraus145 – in ihrer Struktur
143
Zu Begriff und Verfahren einer (transzendental-)pragmatischen Rekonstruktion: Böhler 1985, bes. S. 19
ff., S. 175 f., Kap. V und VI.
144
Ebenda, Kap. IV und V.
145
Apel, Sprache, S. 31 ff. Ders., Transformation I, S. 247, S. 365-377; ders., Auseinandersetzungen, S.
482 ff.; vgl. Böhler 1985, S. 195 ff.
115
Prof. Dr. D. Böhler, Skript zur Vorlesung Sommer 2007
reflexiv.
Die
Grammatik
der
Rede
sei
geradezu
23.07.2007
ihre
performativ-propositionale
Selbstbezüglichkeit: etwas sagend bezögen sich die Sprecher auf die Geltungsansprüche ihrer
Rede und insofern auf sich selbst, andererseits auf die anderen, zu denen sie sprechen, und
indirekt auf alle anderen, mit denen sie eine Sprache teilen können (Apriori der realen
Kommunikationsgemeinschaft), bzw. auf all jene, mit denen sie Sinngeltung teilen könnten
(Apriori der idealen Argumentationsgemeinschaft).
Von dieser elementaren Reflexivität der Sprache geht die transzendentalpragmatische
Rekonstruktion der Rede im allgemeinen und der Argumentation im besonderen aus. Indem
sie diese hinsichtlich ihrer Voraussetzungen, ihrer sprachlogischen und dialogischen
Präsuppositionen, rekonstruiert, macht sie die Diskurspraxis sich selbst durchsichtig,
kultiviert deren logisches und ethisches Niveau. Nun können die Teilnehmer an einem
Diskurs ihre Rolle besser verstehen und können beispielsweise wissen, was es heißt,
Dialogpartner in der Argumentationsgemeinschaft zu sein.
Es ereignet sich eine reflexive Bildung und Aufstufung der Praxis als Folge ihrer
Rekonstruktion. Der Habilitand Apel spricht mit dem Neuhegelianer Theodor Litt von einer
„Selbstaufstufung der Sprache“ und des „Geistes“ (im Hegelschen Sinne). Allerdings kommt
die reflexive Selbstaufstufung der Sprache durch eine Rekonstruktion nicht zum Abschluß.
Denn diese erfolgt in theoretischer Einstellung, so daß sich hier noch keine reflexive
Selbsteinholung des Sprechers in seiner augenblicklichen Rede ergeben kann. Das ist erst auf
der dritten Diskurs- und Erkenntnisebene, der einer aktualen sinnkritischen Dialogreflexion,
möglich. Doch bevor ich darauf eingehe, erlaube ich mir, auf der zweiten Ebene verharrend,
eine Abschweifung in Apels Wissenschaftstheorie.
[…]
Wir brechen die Internet-Präsentation an dieser Stelle ab.
Wenn Sie hier
weiterlesen und weiter mitdenken möchten, wechseln Sie bitte
das Medium
und schlagen folgendes Buch auf:
D. Böhler: Dialogreflexive Sinnkritik als Kernstück der
Transzendentalpragmatik. Karl-Otto Apels Athene im Rücken. In:
D. Böhler, M. Kettner und G. Skirbekk (Hg.): Reflexion und
Verantwortung. Auseinandersetzungen mit Karl-Otto Apel.
Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002, S. 15-43.
116
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