York Höller Klangzeichen Komponist Studioleiter Lehrer Ausstellung im Forum Leverkusen 9.-17.4. und 25.4.-13.5.2005 Grußwort Er ist in Schlebusch geboren und aufgewachsen, ging in Opladen zur Schule und darf als der wohl bedeutendste musikalische Sohn der jungen Stadt Leverkusen betrachtet werden: York Höller. 1963 trat er, der Enkel des über die Stadtgrenzen hinaus bekannten Schlebuscher Gastwirts Johann Höller, erstmals öffentlich auf – als Pianist im Spiegelsaal von Schloss Morsbroich. Seither hat er sich als Komponist mit einer Vielzahl bedeutender Werke international einen Namen gemacht und wichtige Preise erhalten. Höller hat sich dabei weder von dogmatischen Kompositionstechniken noch von den Beliebigkeiten des aleatorischen oder neuromantischen „laisser faire“ vereinnahmen lassen. Stattdessen hat er die Spannungen zwischen diesen Polen in jedem seiner Werke neu ausgetragen, hat ihre Potentiale freigesetzt, ohne sich ihren Postulaten zu unterwerfen. So ist York Höllers Komponieren ein bis heute helles, waches, offenes – kurz: ungemein modernes geblieben. Stets hat er sich dabei – u.a. als Nachfolger Karlheinz Stockhausens am Elektronischen Studio des WDR – in den Zentren des zeitgenössischen Komponierens bewegt und im Austausch mit deren Hauptvertretern beeindruckende Gegenund Eigenpositionen entwickelt, die über ihre sorgsame intellektuelle Fundierung den Hörer nicht vergessen. Oder, mit den Worten Daniel Barenboims, der mehrere Werke Höllers (ur-)aufgeführt hat: „Ich schätze York Höller seit Jahren. Die Besonderheit seiner musikalischen Sprache liegt für mich in der Mischung aus Rationalität, was den strukturellen Aufbau betrifft, und einem stark entwickelten Sinn für Klang.“ Im Vorfeld von York Höllers 60. Geburtstag im Jahr 2004 widmete die Stadt Leverkusen ihm ein Porträtkonzert; zu ihrem eigenen, dem 75. Geburtstag, hat sie York Höller mit einer Ensemblekomposition beauftragt, die am 9. April 2005 in eben jenem Forum uraufgeführt wird, in dem auch seine richtungweisende „Sonate informelle“ 1969 ihre Uraufführung fand. Ähnlich wie „Feuerwerk“ – so der beziehungsreiche Titel dieses „Feierwerks“ – den hiesigen Jubiläumshimmel illuminieren wird, soll die Ausstellung „York Höller – Klangzeichen“ das Schaffen ihres Komponisten beleuchten. Zahlreiche Quellen, Materialien und Dokumente – „Klangzeichen“ allesamt – vermitteln einen faszinierenden Eindruck von seiner vielseitigen Kreativität und unbändigen Unabhängigkeit. Ich wünsche den Besucherinnen und Besuchern viele informative und anregende Einblicke! Ernst Küchler Oberbürgermeister der Stadt Leverkusen Zur Person York Höller zählt zu den bedeutendsten Vertretern der gegenwärtig mittleren Komponistengeneration. 1944 geboren, steht er zwischen den älteren Vertretern der seriellen Nachkriegsavantgarde, die in den 1920er Jahren geboren wurden, und den nach 1950 geborenen Komponisten. Wie andere Komponisten seiner Generation ist Höller bestrebt, die strukturellen Denkansätze seiner Lehrergeneration mit einer semantisch bedeutsamen und unmittelbar fasslichen Musik zu verbinden. Im Laufe seines inzwischen vierzigjährigen Schaffens fand er sehr individuelle Antworten auf dieses Problem. Zu seinen wichtigsten kompositorischen Leistungen gehören seit Tangens (1973) die Einbeziehung von Live-Elektronik, die systematische Integration instrumentaler und elektronischer Klänge sowie das Komponieren auf der Grundlage charakteristischer Klang- und Zeitgestalten. Seit Antiphon (1977) entfaltet er die Strukturen seiner Musikwerke aus einer einzigen Keimzelle, um die serielle Idee eines integralen Kunstwerks mit organischen, gestalt- und wahrnehmungspsychologischen Kriterien zu verbinden und seiner Musik ein hohes Maß an formaler, musiksprachlicher und emotionaler Deutlichkeit zu verleihen. Neben längeren Aufenthalten in Paris, Gastvorträgen, Konzertreisen und einer Professur für Komposition an der Musikhochschule Hanns Eisler in Berlin 1993-95 fand Höller seinen Wirkungskreis vor allem in Köln. 1963 begann er an der Hochschule zunächst ein Schulmusikstudium und dann ein Kompositionsstudium bei Bernd Alois Zimmermann, das mit dessen Freitod 1970 abrupt endete. Die Uraufführung seines Orchesterwerks Topic (1967) im großen Sendesaal des WDR brachte ihm den Durchbruch und fortan Aufführungen weit über Köln hinaus. Wichtige Förderer fand er in Karlheinz Stockhausen, Pierre Boulez, Daniel Barenboim und Hans Zender. Auf Einladung von Stockhausen realisierte er 1971/72 im Elektronischen Studio des WDR seine erste und einzige rein elektronische Komposition Horizont, der Versuche zur Vereinigung instrumentaler, elektronischer und computergenerierter Klängen folgten. 1990-2000 übernahm Höller die künstlerische Leitung des Elektronischen Studios, realisierte dort etliche eigene Stücke und ermöglichte Komponisten aus aller Welt längere Arbeitsaufenthalte. Auch als Lehrer war und ist Höller seit langem aktiv. Nach einem Lehrauftrag an der Rheinischen Musikschule 1971-75 gab er 1976-89 Kurse für Analyse und Musiktheorie und übernahm schließlich 1995 als Nachfolger von Hans Werner Henze eine Professur für Komposition an der Musikhochschule Köln. Einem größeren Publikum bekannt wurde Höller durch die deutsche Erstaufführung von Der Meister und Margarita (1984-89) an der Kölner Oper 1991 sowie durch Aufführungen wichtiger Werke in der Kölner Philharmonie. Darüber hinaus genießt er einen internationalen Ruf und seine Werke erfahren weltweit Aufführungen in den großen Musikmetropolen. Rainer Nonnenmann 3 Am 11. Januar 1944 in Leverkusen zeigte sich Höller von der Uraufführung von Zimmermanns geboren, wuchs Hans Georg Höller im idyllischen Vorort Hauptwerk Die Soldaten (1958-64) an der Kölner Oper Schlebusch auf. Den Vornamen York nahm er erst Ende 1965. Seine Eintragungen in die Partitur des Werks sind der 1960er Jahre während des Musikstudiums an, um seianalytische Anmerkungen zur Motivik, Instrumentation und ne Eigenständigkeit gegenüber Musikern gleichen oder ähnStilistik. Die dem Werk zugrunde liegende Zwölftonreihe lichen Namens zu betonen. Sein Vater Heinrich Höller samt Permutations- und Umkehrungsverfahren schlüsselte war Sohn des Wirts der Gaster in separaten Reihen-Tabellen auf. Neben Komstätte Zum Schützenhof in positionen seines Lehrers Zimmermann studierte Schlebusch, die Mitte der Höller damals vor allem Werke von Igor 1950er Jahre dem StraßenStrawinsky (u.a. Le Sacre du Printemps 1913). bau zum Opfer fiel. Über seine Mutter Margot (geb. Die Fünf Klavierstücke (1964) betrachtet York Asbach) kamen seine Höller als sein Opus 1. Sie entstanden während Schwester und ab dem zehndes Studiums als erstes gültiges Resultat seiner Beten Lebensjahr auch er selbst schäftigung mit Arnold Schönberg, Alban Berg, mit dem Klavier in BerühAnton Webern, Bernd Alois Zimmermann und der rung. Während der GymnaZwölftontechnik. Allen fünf Stücken, die Höller eisialzeit in Opladen erhielt er genhändig uraufführte, liegt ein und dieselbe ZwölfKlavierunterricht und – Haus der Familie Höller in den Dreißiger Jahren tonreihe in entsprechenden Umformungen als Umnachdem er von selbst zu kehrung, Krebs und Krebsumkehrung zugrunde. komponieren begonnen hatte – auch Unterweisungen in Zugleich wird die Dodekaphonie jedoch freier gehandhabt Harmonielehre und Tonsatz in den Stilen von Mozart, ohne strikte Verbote von Tonwiederholungen und OktavBeethoven, Brahms bis hin zu Hindemith und Bartók. In verdoppelungen. Frühere Klavierkompositionen, die vor dieSchulkonzerten trat Höller als Pianist und Komponist erssem Opus 1 in der Nachfolge von Igor Strawinsky, Béla Bartók ter eigener Werke auf (ein Capriccio und eine Klavierund Paul Hindemith entstanden, hat Höller Ende der 1960er sonate). Seine Erfolge bei Musiklehrern, Publikum und PresJahre vernichtet, weil sie ihm nicht mehr progressiv genug se bestärkten seine Absicht, die musikalische erschienen. Die weLaufbahn einzuschlagen. Den ersten Rezennigen erhaltenen sionen in der Lokalzeitung aus den Jahren Kompositionen aus 1959 bis zum Abitur 1963 folgten später zahldieser Zeit, beilose Kritiken in nationalen und internationaspielsweise die Kanlen Blättern, die inzwishen viele Ordner fültate Die Nacht len. (1968) nach Gedichten des expressionisAuf Anraten der Eltern begann York Höller tischen Dichters 1963 an der Kölner Musikhochschule ein Georg Heym, hat Schulmusikstudium. Neben den Hauptfächern Höller nicht veröfTheorie und Klavier (zuerst bei Else Schmitzfentlicht. Gohr, dann bei deren Nachfolger Alfons Kontarsky) erhielt er Unterricht in den Ne1965 nahm Höller benfächern Gesang (bei Franz Müller-Häu- Der junge Pianist, 1963 zum ersten und einser) und Violine. Parallel studierte er Komposition, zunächst zigen Mal an den Internationalen Ferienkurse für Neue Mubei dem Fortner-Schüler Joachim Blume, dann in der Meissik in Darmstadt teil. Er besuchte die Seminare von Pierre terklasse von Bernd Alois Zimmermann, sowie elektroniBoulez über Werke von Schönberg und Strawinsky und hörte sche Komposition bei Herbert Eimert. Besonders beeindruckt die Vorträge von Gottfried Michael König und Theodor W. 4 Nach der ersten Staatsprüfung nahm Höller an der Kölner Musikhochschule Unterricht in Orchesterleitung bei Wolfgang von der Nahmer, wo er sich die einschlägige Orchester- und Opernliteratur von Mozart bis Richard Strauss erarbeitete. Als ihn der damalige Chefdirigent Hans Zender 1968/69 als Korrepetitor an die Oper Bonn holte, schien ihm eine Laufbahn als Kapellmeister durchaus naheliegend. Wegen starker Kurzsichtigkeit und Nachtblindheit zerschlug sich dies jedoch. Gleichwohl wirkte Höller damals und auch später vereinzelt als Dirigent. Zum Beispiel bei der Uraufführung von Manfred Niehaus’ Rundfunkoper Die Badewanne (1970) unter Mitwirkung u.a. von Ludwig Thiesen, Brigitte Leban, Günther Reich und Joan Carrol. Ferner dirigierte Höller bei Konzerten der Gruppe 8 und bei einem PorträtStaatsarbeit Fortkonzert mit eigenen Werken schritt oder Sackgasse? – Kritische 1983 in der Comedia Betrachtungen zum frühen Colonia, bei welchem u.a. Serialismus legte Höller 1967 die ersJohannes Kalitzke, Othello te Staatsprüfung für das Lehramt ab. Im Gespräch mit Manfred Karallus, 1983 Liesmann und Hans-Ulrich Die Arbeit wurde – im Zeitalter vor Humpert mitwirkten. Aus diesem Anlass führte Höller auch dem Personal-Computer – selbstverständlich zuerst von Hand ein Podiumsgespräch mit Manfred Karallus. skizziert und dann mit Schreibmaschine ins Reine getippt. 1994 erschien sie als Buchausgabe in einem Saarbrücker Der 1. Dezember 1967 wurde für Höllers weitere Laufbahn Verlag. Auf der Grundlage detaillierter Analysen der als Komponist entscheidend. Im großen Sendesaal des WDR Prädispositionsverfahren von Karlheinz Stockhausens Zeitwurde sein erstes großes Orchesterwerk Topic (1967) vom maßen (1955/56) sowie der Zwölfton-, Dauern- und Hochschulorchester unter der Leitung des Studienkollegen Intensitäten-Reihen, die den Structures I (1952) von Pierre Stephen Gunzenhäuser uraufgeführt. Im Publikum saßen Boulez zugrunde liegen, kam Höller zu einem kritischen ein Vertreter des Mainzer Schott-Verlags, der den jungen Urteil über das serielle Komponieren. In der ArgumentatiKomponisten daraufhin unter Vertrag nahm, und der Reon folgte er den Schriften Theodor W. Adornos, die er nach dakteur für Neue Musik am WDR Otto Tomek. Trotz seinem Besuch der Darmstädter Ferienkurse 1965 zu lesen unperfekter Wiedergabe war Tomek von dem Stück angebegonnen hatte. Wie Adorno plädierte er für die Freiheit tan und veranlasste zwei Jahre später einwandfreie Aufdes kompositorischen Geistes von starren Schemata, Reführungen durch das WDR-Sinfonieorchester unter Michael geln und Verboten sowie für größere Zusammenhänge, Gielen bei den Darmstädter Ferienkursen 1970, beim Warnachvollziehbare Stringenz und individuelle Formen. Daschauer Herbst und in Köln. Durch diese Folgeaufführungen mit benannte er bereits zentrale Prinzipien seiner späteren wurde auch Karlheinz Stockhausen, damals Leiter des ElekArbeit mit charakteristischen Klanggestalten. Seit seiner Extronischen Studios des WDR, auf Höller aufmerksam und amensarbeit hat Höller sein Schaffen immer wieder schriftlud ihn 1971/72 ins Studio ein, um dort seine erste elektrolich, teils in privaten Notizheften, teils in öffentlichen Vornische Komposition Horizont (1971/72) zu realisieren. trägen und Aufsätzen reflektiert. Adorno über musikalische Form. Auf Adornos Musikschrifttum hatte sich die junge Nachkriegsavantgarde zunächst berufen, bevor sich der Frankfurter Philosoph von deren Serialismus (einer Übertragung der Zwölftontechnik auf alle Klangeigenschaften) distanzierte. In direkter Reaktion auf die Dodekaphonie der Zweiten Wiener Schule und den Darmstädter Serialismus komponierte Höller Diaphonie (1965) für zwei Klaviere. Das Stück ist eine „Hommage à Béla Bartók“ zu dessen 20. Todestag. Aber obwohl Höller das 10-tönige Einleitungsmotiv aus Bartóks Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug (1937) zu einer Zwölftonreihe ergänzte, hat das Stück stilistisch nichts mehr mit der Musik seines einstigen Idols zu tun, sondern folgt in der Organisation von Tonhöhen und Dauern seriellen Prinzipien. Mit der 5 Mit seiner ersten Klaviersonate, der Sonate informelle (1968), zog Höller Konsequenzen aus der Auseinandersetzung mit Theodor W. Adornos Vortrag Vers une musique informelle, den dieser bereits 1961 bei den Darmstädter Ferienkursen gehalten und dann in erweiterter Fassung in seinen Schriftenband Quasi una fantasia (1963) aufgenommen hatte. Adorno sprach sich darin gegen die Verabsolutierung des seriellen Punktualismus und für die tonale und formale Freiheit des Komponierens aus. Gewidmet hat Höller die dreisätzige Klaviersonate seinem Klavierlehrer Alfons Kontarsky, der sie im 1969 eingeweihten Forum zur Uraufführung brachte. Etwa zur Im Produktionsstudio des WDR gleichen Zeit, 1969, begründete Höller mit sieben weiteren befreundeten Kölner Musikstudenten die Gruppe 8. Der Zusammenschluss organisierte Konzerte mit eigenen Werken, unternahm Gemeinschaftskompositionen und trat mit Improvisationen auf. Als sich die ästhetischen Anschauungen der Beteiligten jedoch als zu verschieden erwiesen, löste sich die Gruppe 1974 wieder auf. Im Herbst 1971 realisierte Höller im Elektronischen Studio des WDR seine erste und einzige rein elektronische 4-Kanal-Tonbandkomposition Horizont (1971/72). Seine Klangvorstellungen versuchte er mit Hilfe der damaligen Studiomitarbeiter Peter Eötvös und Volker Müller in teils langwierigen Experimenten umzusetzen. Zur Verfügung standen ihm weitgehend dieselben Geräte, die schon Karlheinz Stockhausen zwanzig Jahre zuvor für seine ersten elektronischen Stücke genutzt hatte. Höller entwarf zunächst einen Zeitplan ohne musikalische Festlegungen, um im Studio möglichst frei „eine eigene, charakteristische, vielleicht sogar originäre Klangwelt zu erschaffen“. Während des Experimentierens notierte er mit graphischen Symbolen auf bunten Kompositions6 skizzen die jeweiligen Klänge und Raumbewegungen auf den vier Tonspuren längs der Zeitachse. In Notizheften und zahlreichen Skizzenblättern vermerkte er Klangideen, elektrische Schaltpläne, Frequenzen, Dauern und nötige Arbeits- und Korrekturvorgänge. Nach dem Abschluss der Arbeit schrieb er einen Bericht über die Realisation des Stücks und verzeichnete in einer Tabelle die charakteristischen Klangereignisse pro Abschnitt und die entsprechenden technischen Mittel. Anfang der 1970er Jahre beschäftigte sich Höller mit Möglichkeiten der musikalischen Einbeziehung des Zufalls. Dabei stieß er 1972 auf das Buch Zufall und Notwendigkeit (1970) von Jacques Monod. Der französische Molekularbiologe und Nobelpreisträger formulierte darin die Einsicht, dass der blinde Zufall die Grundlage des gesamten Gebäudes der Evolution bilde, aber ein zufällig entstandener Organismus dennoch als stimmig, planvoll und notwendig empfunden werde. Analog dazu wählte Höller in Horizont (1971/72) 30 Abschnitte mit 29 Knotenpunkten, an denen er nach Belieben neue Wege einschlagen konnte, die er nachträglich durch Verknüpfungen als sinnvoll, konsequent oder notwenig zu motivieren suchte. Die Hörpartitur von Horizont (1971/72) zeigt eine Passage aus dem zentralen 17. Abschnitt des Stücks, in welchem alle bisher erklungenen Ereignisse durch ein Zufallsverfahren in neue Reihenfolge, Dauer und Frequenz gebracht werden und das Stück von hier ab mit Umwegen wieder zum Anfang zurückläuft. Monods Buch weckte in Höller auch die Vorstellung eines lebendigen Kunst-Gebildes, dessen sämtliche Bestandteile nach dem Modell eines genetischen Codes sowohl in jeder einzelnen Zelle als auch in der Struktur des ganzen Organismus enthalten sind. Wenige Jahre später führte dieser Gedanke zum Komponieren auf der Grundlage fasslicher Klang- und Zeitgestalten. Inspiriert durch Stockhausens Kontakte (1959/60) für elektronische Klänge, Klavier und Schlagzeug und Mixtur (1964) für Orchester und Elektronik bemühte sich Höller in Tangens (1973) für Cello, E-Gitarre, Klavier, E-Orgel und zwei Analog-Synthesizer erstmals um die Integration von instrumentalen und elektronischen Klängen mittels Live-Elektronik, die auch viele seiner späteren Werke bestimmte. Er kaufte sich einen kleinen EMS-Synthesizer – Baujahr 1970 und bis heute voll funktionsfähig –, mit dem er herkömmliche Instrumentalklänge elektronisch transformieren konnte. Mit einem Steckfeld ließen sich verschiedene Transformationsarten herstellen, die Höller auf entsprechenden Vordrucken notierte. Die Arbeit war sehr aufwändig und trotz mehr als 14 Tagen Einstudierungszeit brachte die Aufführung nicht das gewünschte Ergebnis, weil die Instrumentalisten durch die gleichzeitige Steuerung der Elektronik überfordert waren. Wie Horizont und Tangens basiert auch Chroma (1972/74) für großes Orchester und Live-Elektronik auf Methoden von Zufall und Wahrscheinlichkeit. Wie in Tangens bemühte sich Höller auch hier um die Kombination von instrumentalen, elektronisch transformierten und neu generierten Klängen. E-Orgel und EMS-Synthesizer sind dazu aneinander gekoppelt und werden von einem einzigen Spieler bedient. York Höllers EMS-Synthesizer Auf Millimeterpapier skizzierte Höller exakte Zeitwerte, Einsätze und Taktarten. In einem Notizheft dagegen vermerkte er unterschiedliche Spieltechniken auf E- und EBass-Gitarre sowie eine Reihe mit Dauernwerten der tiefen Streicher. Gewidmet hat Höller die voluminöse Partitur dem Andenken seines Lehrers Bernd Alois Zimmermann, mit dessen Freitod 1970 sein Studium ein abruptes Ende fand. Im Rahmen einer vorübergehenden Lehrtätigkeit an der Rheinischen Musikschule gab Höller 1971/72 ein Seminar zu Gregorianik und Außereuropäischer Musik. Die Be- schäftigung mit mittelalterlichen Kirchentonarten und Psalmodien, mit arabischem Maqam und indischem Raga dokumentiert seine Suche nach Möglichkeiten eines Komponierens mit melodischen Keimzellen, aus deren Ton- und Intervallvorrat sich sowohl musikalische Details als auch Großformen entwickeln lassen sollten. Wenig später entwickelte er auf dieser Grundlage sein Konzept der „Gestaltkomposition“. Während eines halbjährigen Aufenthalts in der Cité Internationale des Arts in Paris 1974/ 75 hatte Höller ein Schlüsselerlebnis. Als er den Platz vor der Kathedrale Notre Dame überquerte, hörte er aus dem Kircheninneren gregorianische Gesänge und wurde ihm bewusst, dass die gesamte europäische Musiktradition auf diesen Gesängen beruht, aus denen auch die Gegenwart noch eine neue Art des Komponierens entwickeln könne. Das Komponieren auf der Grundlage individueller Klanggestalten, das er bereits lange zuvor angedacht hatte, wurde ihm jetzt endgültig klar. Bestätigung für sein Konzept der „Gestaltkomposition“ auf der Basis syntaktischer Kriterien, melodischer Eindeutigkeit, an der Sprache orientierter Gliederung, unregelmäßigem Phrasenbau und Zielgerichtetheit fand er im Buch Informationstheorie und ästhetische Wahrnehmung (franz. 1958, dt. 1969) von Abraham A. Moles. Die Vereinigung von Struktur- und Gestalttheorie auf der Grundlage ästhetischer und insbesondere akustischer Wahrnehmungsbedingungen des französischen Psychologen und Soziologen bestärkte Höller in seinem Ansatz, die einzelnen musikalischen Parameter den wahrnehmungspsychologischen Voraussetzungen anzupassen, so wie er es bereits in seiner Staatsexamensarbeit gefordert und am seriellen Komponieren vermisst hatte. 7 aufenthalt am Pariser IRCAM (Institut de Recherche et de Das erste einer langen Reihe von Werken, die Höller auf Coordination Acoustique-Musique). Das dortige Tonstudio der Basis einer individuellen Klanggestalt komponierte ist war bereits komplett digitalisiert und Höller hatte sich erst Antiphon (1977) für Streichquartett und Elektronik. In Ereinmal in die neue Cominnerung an sein Erlebnis mit dem putertechnik einzuarbeiten. gregorianischen Chorgesang in Durch Programmierung einNotre Dame de Paris legte er dem zelner TransformationsproStück eine 42-tönige (diatonische) zesse konnte er zuvor geKlanggestalt zugrunde und bezeichmachte Aufnahmen mit hernete sie als „Choral imaginé“. Sie kömmlichen Instrumentalbesteht aus einem Repertoire verklängen modifizieren. Mit schieden häufiger Töne, das nach Hilfe zahlreicher Skizzen und nach entfaltet, wiederholt, chrozum Form- und Schichtenmatisch modifiziert und gegliedert bau des Stücks sowie zum wird. Wie aufwändige UmEinsatz der elektronischen rechnungstabellen zeigen, prägt Klangspur (Synthesizer und diese Klanggestalt sowohl Melodik Tonband) realisierte er Arcus als auch Klanglichkeit, Harmonik, (1978) für 15 Instrumente, Rhythmik, Metrik und Verlaufsform Im Gespräch mit Irvine Arditti, 1998 Schlagzeug und 4-Kanaldes Stücks. Die Uraufführung erfolgTonband. Den Namen verdankt das Stück seiner „bogenförte 1977 anlässlich der Eröffnung des Centre Pompidou in migen“ Klanggestalt. Es wurde vom Ensemble InterContemParis. Das Arditti-Quartett spielte das Stück Ende der porain unter der Leitung von Peter Eötvös zur Eröffnung 1990er Jahre im Schönberg-Saal des Wiener Konzerthauses. des „Espace de Projection“ am IRCAM uraufgeführt und anschließend bei einigen internationalen Festivals gespielt (Donaueschinger Musiktage, Biennale Venedig, in Avignon, formulierte London, New York etc.). Es fand ein internationales PressHöller die Grundlagen seines neuen Ansatzes in einem Aufecho und erschien 1985 auf Schallplatte. Durch die Arsatz mit dem Titel Gestaltkomposition oder Die Konbeit am Pariser IRCAM kam Höller 1978 näher in Kontakt struktion des Organischen, der 1982 im zweiten Band mit Pierre Boulez, der sich in den folgenden Jahren als des vom Pianisten Herbert Henck herausgegebenen JahrDirigent und Organisator für einige seiner Werke einsetzte. buchs Neuland erschien. Später folgten weitere Publikationen und Vorträge, so auch der Vortrag Klanggestalt – ZeitAngeregt durch Richard Wagners Musikdramen und die Lekgestalt am 9. Januar 1998 im Rahmen der Reihe „Kompotüre der Dialektik der Aufklärung (1947) von Max sition und Musikwissenschaft im Dialog“ des MusikHorkheimer und Theodor W. Adorno beschäftigte sich Höller wissenschaftlichen Instituts der Universität zu Köln. AusEnde der 1970er Jahre mit Phänomenen des Mythos. Das drücklich zum Titel eines Werks machte er das Gestaltbelegen auch Eintragungen in seinem Notizbuch. Entscheikomponieren in Magische Klanggestalt (1984) für grodend war für ihn Horkheimer/Adornos Einsicht, dass jeder ßes Orchester. Das Stück wurde vom Komponisten und DiMythos bereits den Kern von Aufklärung in sich trägt und rigenten Hans Zender in Auftrag gegeben und uraufgeumgekehrt Aufklärung in Mythos umschlagen kann, wenn führt, dem es auch gewidmet ist. Zender gehört neben sie verabsolutiert wird. Ähnlich argumentierte später Karl Boulez und Stockhausen zu Höllers wichtigsten Förderern Heinz Bohrer in seinem Buch Mythos und Moderne und hat insgesamt fünf seiner Orchesterwerke uraufgeführt. (1983). Der Versuch beider Philosophen, die Homerische Odyssee als Urgeschichte der Subjektivität zu deuten, wurDurch Vermittlung des Posaunisten und Komponisten Vinko de zur treibenden Idee für Höllers Stück Mythos (1979) für Globokar, der eine Aufführung von Tangens gehört hatte, 13 Instrumente, Schlagzeug und 4-Kanal-Tonband. Mit über erhielt Höller 1978 die erste Einladung zu einem Arbeits- Erstmals theoretisch 8 50 Aufführungen weltweit ist es sein meistgespieltes Stück, das er auch am häufigsten von allen überarbeitet hat. Im selben Jahr erhielt Höller den Bernd Alois ZimmermannPreis der Stadt Köln und den Förderpreis des Landes Nordrhein-Westfalen, den er im Düsseldorfer Landtag vom damaligen Ministerpräsidenten Johannes Rau überreicht bekam. Weitere Ehrungen folgten: 1986 die Ernennung zum Chevalier dans l´Ordre des Arts et des Lettres de la Republique Française und der Preis des Internationalen Komponisten-Forums der UNESCO für das 1. Klavierkonzert sowie 1991 die Ernennung zum Mitglied der Berliner Akademie der Künste. Pierre Boulez (1984) für 15 Instrumente, wofür dieser in einem kurzen Brief dankte. Schwarze Halbinseln (1982) für großes Orchester, vokale und elektronische Klänge auf 16-Kanal-Tonband entstand ebenfalls auf der Grundlage einer Klanggestalt, aus der Höller mittels Zahlentabellen auch rhythmische und großformale Zeitstrukturen ableitete. Wie in anderen Werken verwendete er schmale Zeitleisten, deren unregelmäßige Markierungen sich auf eine Rhythmik und Einsatzfolge übertragen lassen, die frei ist von metrischen Bindungen und Quadraturen. In einem Notizbuch verzeichnete er Schaltschemata der benötigten elektronischen Geräte für In Résonance (1981) für kleines Orchester und Computerdie 16-Kanal-Tonbandaufnahme, deren breite Bandrollen klänge verwendete Höller neben herkömmlichen Instrumenmehrere Kilo wiegen und bis etwa 1990 im Elektronischen ten ausschließlich Studio des WDR in Gebrauch waren. Gecomputergenerierte widmet ist das Stück Karlheinz StockKlänge. Den Titel verhausen, der sich in einem Dankesschreidankt das Stück den ben einerseits beeindruckt zeigte von der Wechselwirkungen „satten Farbgestaltung“ und „weitzwischen den Medigespannten Zeitgestaltung“, andererseits en, die zu einem aber nicht unterlassen konnte, dem KomKlangfarbenkontinuponisten einige Lehrsätze seines eigenen um mit nahtlosen musikalischen Denkens mit auf den Weg Übergängen führen. zu geben. Damals las Höller das Buch Mit Hilfe des CompuWendezeit (1982) von Fritjof Capra. Der ters verwandelte Physiker hatte darin das lineare FortschrittsHöller beispielsweise denken kritisiert und stattdessen ein komeinen Flötenklang stuplexes, wissenschaftlich ganzheitliches fenlos in einen Denken in Netzen, Bögen und Oboenklang oder eiWertigkeiten gefordert. Begriffen wie Pierre Boulez, York Höller und Daniel Barenboim, 1988 nen ganz anderen „Ganzheitlichkeit“, „Organizität“, „OrgaKlang ohne jede Ähnlichkeiten mit herkömmlichen Instrunismus“ und „lebendes System“ folgt auch Höllers kompomentalklängen. In einer alphabetischen Liste notierte er sitorisches Denken. charakteristische Abschnitte und in einer Tabelle die Klanggestalt des Stücks samt ihrer Ableitungs- und UmEnde der 1970er Jahre formungstechnik: Umkehrung, intervallische Stauchung zunächst ein Oratorium Die Gesichter der Macht auf Texte und Spreizung. Darüber hinaus finden sich hier und in anvon Elias Canetti und Hannah Arendt geplant hatte, entderen Werken auch Transpositionen, Sequenzierungen, Abschied er sich später für die Komposition einer Oper und spaltungen, Permutationen und andere kontrapunktische nahm wegen des Librettos Verbindung zum damaligen ChefVerfahren. Eine Aufnahme von Résonance mit dem Endramaturgen der Kölner Oper Claus Henneberg auf. Dieser semble Modern erschien 1986 auf Schallplatte. Als Pierre Kontakt blieb jedoch ergebnislos und die Suche nach eiBoulez das Stück mehrmals auf einer USA-Tournee des Ennem geeigneten Stoff und Text hatte erst ein Ende, als Höller semble InterContemporain dirigierte, widmete ihm Höller durch Freunde auf den Roman Der Meister und Margarita zum 60. Geburtstag die Improvisation sur le nom de Nachdem Höller 9 (1930er Jahre) des russischen Dichters Michail Bulgakow stieß. Bereits nach einigen Seiten Lektüre stand für ihn fest, dass dieser Text die Grundlage für seine Oper bilden sollte. Die Eintragungen in der Taschenbuchausgabe zeigen, wie Höller durch Kürzungen, Texteingriffe und Szeneneinteilungen aus Bulgakows autobiographisch geprägtem Text das Libretto zu seiner gleichnamigen Oper formte. Als günstig erwies sich dabei der Umstand, dass der Roman über weite Strecken aus wörtlicher Rede besteht, die sich verhältnismäßig leicht den einzelnen Protagonisten und Gesangspartien zuordnen ließ. Während eines einjährigen Stipendiumaufenthalts in der Villa Massimo in Rom 1984/85 begann Höller mit der Komposition seiner Oper Der Meister und Margarita (1984-89). Gemäß seiner damaligen Arbeitsweise klebte er mehrere Notenbögen zu einem Endlospapier zusammen, um auf diese Weise den Zeitfluss der Musik möglichst ungebrochen übersehen zu können. Die Arbeit an der Komposition verschlang zahlreiche Bleistifte und nicht minder viele Radiergummis, deIn der Villa Massimo, 1985 ren Abrieb Höllers damalige Lebensgefährtin nach langen Arbeitsnächten allmorgendlich in ein Glas sammelte. Gleichzeitig zu Gast in der Villa Massimo war der rumänisch-deutsche Dichter Oskar Pastior, der sich in der russischen Literatur und Sprache sowie speziell bei Bulgakow gut auskannte und Höller wichtige Hinweise zum Libretto seiner Oper gab. Die Uraufführung der Oper war zunächst an der Hamburger Staatsoper geplant, wo Hans Zender 1984 Generalmusikdirektor geworden war. Als Zender jedoch schon 1987 von Hamburg auf den Chefdirigentenposten des Radiokamerorkest am Niederländi10 schen Rundfunk wechselte, stand die Uraufführung in Frage. Wie eine Erlösung erschien Höller in dieser Situation das Telegramm von Jean-Louis Martinoty, dem Intendanten der Pariser Oper Palais Garnier, in dem dieser mitteilte, er habe das Libretto von Der Meister und Margarita (1984-89) gelesen, sei davon begeistert und wolle das Stück in Paris herausbringen. Höller hatte Martinoty 1982 bei einer Aufführung von Arcus in Avignon kennen gelernt und ihm schon damals von seinem Opernprojekt erzählt. Nach über vierjähriger Arbeitszeit (zwei Jahre für die Ausarbeitung des Particells, zwei weitere Jahre für die Reinschrift und die Realisierung der elektronischen Zuspielbänder) kam es dann am 20. Mai 1989 tatsächlich zur Uraufführung im Pariser Palais Garnier (das Foto des Gebäudes machte Höller bereits 1962 auf einer Studienfahrt nach Paris). Die Leitung hatte Lothar Zagrosek, die Inszenierung stammte von Hans Neuenfels. Die Oper stieß auf lebhafte Resonanz, die Vorstellungen waren ausverkauft und das Echo in der internationalen Presse so groß, dass Höller für das Werk den Preis des Verbandes der französischen Theater- und Musikkritiker sowie den Rolf-Liebermann-Preis erhielt. Die zweiaktige Oper Der Meister und Margarita (1984-89) thematisiert allgemeine Fragen nach den Mechanismen der Macht, nach staatlichem Terror und Repressionen gegen Intellektuelle. Sie erzählt die Geschichte eines Schriftstellers („Der Meister“) in der stalinistischen Sowjetunion der 1930er Jahre, der als politisch unliebsam in eine Psychiatrische Klinik abgeschoben und dessen Literatur verboten wird. Für seine Befreiung und die Rettung seines Werks kämpft seine Geliebte („Margarita“). Die Parallelen zum Stoffkomplex von Doctor Faustus („Der Meister“), Mephistopheles („Voland“) und der GretchenTragödie („Margarita“) konkretisierte Höller auf musikalischer Ebene mit Zitaten aus Faust-Vertonungen von Hector Berlioz und Ferruccio Busoni. Eine der musikalisch-bildlich eindrücklichsten Szenen der Oper ist Der große Satansball, wo verschiedenste Stile wie bei einem Hexensabbat wild durcheinander klingen: Jazz, Rock-, Marsch- und Kaffee- haus-Musik, barocke Intraden, Stadtpfeifer und afrikanische Trommeln. Die deutsche Erstaufführung an der Kölner Oper erfolgte am 1. November 1991 unter der Intendanz von Michael Hampe und dem Dirigat von Lothar Zagrosek. Die Regie führte Friedrich MeyerOertel, die Bühnenbilder stammten von Gottfried Pilz. Die letzten beiden von insgesamt sechs Aufführungen wurden vom WDR mitgeschnitten und auf CD verBühnenbildentwurf von Gottfried Pilz öffentlicht. Neben Lyrik und Philosophie ließ sich Höller wiederholt auch durch Musik zu Kompositionen anregen. In der 2. Klaviersonate (1986) beispielsweise bezieht er sich auf den genialen Pianisten Franz Liszt, insbesondere auf eine kühne bitonale Figur aus dessen Etudes d´execution transcendante (1851), deren achttönige Konstellation er für sein Stück in korrespondierende Tondauern und acht unterschiedliche Formabschnitte übersetzte. Neben entsprechend achttönigen Figuren und Akkorden griff er aus Liszts Etüden auch rhythmische Motive auf, die er mit Bleistift in seinem Handexemplar der Partitur hervorhob. me und Programm-Aktualisierungen bezogen wurden (MAX und CHANT). Während seiner zehn Jahre als „künstlerischer Beauftragter“ des Elektronischen Studios des WDR 1990-2000 war es Höllers besonderes Anliegen, Komponisten einen Zugang zu diesem Medium zu öffnen, die bislang noch nicht oder kaum mit elektronischer Musik gearbeitet hatten. Statt das Studio auf eine bestimmte ästhetische Richtung festzulegen, war er um Vielseitigkeit bemüht. Die individuellen Wünsche und Ziele der jeweiligen Komponisten sollten im Mittelpunkt des Produktionsbetriebs stehen. So konnten unter seiner Leitung viele Komponisten verschiedensten Richtungen und Herkunft im Studio arbeiten, wie die Auswahlliste mit Komponistennamen zeigt. Zum 1. Januar 2000 gab Höller die Leitung auf, da er einen erneut bevorstehenden Umzug des Studios wegen seines Augenleidens nicht hätte bewältigen können und seit 1993 zusätzlich zuerst in Berlin und dann seit 1995 in Köln als Professor für Komposition beansprucht war. Aura (1991/93) für großes Orchester wurde von Daniel Barenboim in Auftrag gegeStockhausen wurde York Höller 1990 Leiter ben und von diesem mit dem des Elektronischen Studios des WDR in Köln. Chicago Symphony OrchesSeine langjährigen Erfahrungen im WDR-Stutra 1995 in Chicago uraufgedio und am IRCAM qualifizierten ihn bestens führt. 1997 dirigierte Barenfür diese Funktion, was auch der damalige Reboim auch die deutsche dakteur für Neue Musik am WDR Karsten Erstaufführung in der Becker erkannte, der Höller diese Position anIm Gespräch mit Karlheinz Stockhausen, 1990 Kölner Philharmonie. Den bot. Als Höller die Leitung übernahm, wurde Titel verdankt das Stück der griechischen Mythologie, naam Kölner Studio noch überwiegend mit analoger Technik mentlich der Luftnymphe Aura, die Dionysos Zwillinge gegearbeitet. Erst unter seiner Leitung wurde das Studio konbiert, wahnsinnig wird, eines der Kinder tötet und auffrisst, sequent auf Digitaltechnik umgestellt, die neueste sich in einen Fluss stürzt und von Zeus schließlich in eine Macintosh-Technologie installiert und das Studio in die User Quelle verwandelt wird. Höller stieß auf diesen Mythos durch Group des IRCAM aufgenommen, worüber weitere Program- Als Nachfolger von Karlheinz 11 die Schriften von Ernst Bloch. Durch Blochs Idee des Zusammenfalls von musikalischer Ausdruckswahrheit und Konstruktionswahrheit sah er sich erneut in seiner Konzeption der Gestaltkomposition bestärkt. Trotz der Dramatik des Aura-Mythos ist die Musik keine Programm-Musik, die diese Geschichte effektvoll nacherzählt. Höller entdeckte hier lediglich den Archetyp einer dualistischen Konstellation von Zartheit und Wildheit, mit dem er seiner Musik eine unverwechselbare Charakteristik geben wollte. Wie bei der Sonate Informelle (1968), bei Mythos (1979), Schwarze Halbinseln (1982), Traumspiel (1983) und Aura (1991/93) ließ sich Höller auch in anderen Fällen durch Literatur, Poesie und Philosophie zu Musik inspirieren: aus der Lektüre von Leonardo da Vincis Anhandlungen über die Schatten entstand Umbra (1979/80), aus der Lektüre der Pensées (1654-62) von Blaise Pascal das gleichnamige 2. Klavierkonzert Pensées (1990/92). Ähnliches gilt für die Tageszeitengedichte aus Georg Heyms Gedichtband Der ewige Tag (1911), die Höller erstmals als Student vertont hatte, bevor er in Schwarze Halbinseln (1982) und dem oratoriumsartigen Stück Der ewige Tag (1999/ 2000) für gemischten Chor und großes Orchester erneut darauf zurückgriff. Nach den ersten Versuchen mit Live-Elektronik in Tangens (1973) und Chroma (1972/74) wandte sich Höller der LiveElektronik erst wieder in seinem 2. Klavierkonzert Pensées (1990/92) zu. Uraufgeführt wurde das Stück 1993 von PiHsien Chen mit dem WDR-Sinfonie-Orchester unter der Leitung von Hans Zender in der Kölner Philharmonie. Im Ge12 gensatz zu den Interpreten der früheren Stücke brauchte sich die Pianistin um die Live-Elektronik überhaupt nicht zu kümmern. Sie konnte sich ganz auf ihr Klavierspiel konzentrieren und über dieses mit Hilfe eines leistungsfähigen Synthesizers SY 77 zugleich die elektronische Transformation der Klänge steuern. Neben einem Klavierkonzert ist das Stück auch ein Requiem auf den Tod von Höllers langjähriger Lebensgefährtin Gisela Sewing, die 1989 einem Asthma-Anfall erlag. Es enthält zahlreiche sprechende Zitate aus Wagners Tristan und Isolde (1866) und Alban Bergs Violinkonzert (1935) und eröffnet damit einen weiten inner- und außermusikalischen Kontext. Nachdem Höller schon frühzeitig mit Sehschwierigkeiten geplagt war (Nachtblindheit, Kurzsichtigkeit), wurde bei ihm Ende der 1980er Jahre ein Glaukom diagnostiziert, das durch erhöhten Augeninnendruck nach und nach die Netzhaut zerstört. Trotz wiederholter Operationen durch internationale Spezialisten konnte der Sehschwund nicht aufgehalten werden. 1993 kam es zu einem rapiden Verfall seiner Sehkraft und sah er sich gezwungen, das Komponieren vorübergehend aufzugeben. Die Partitur von Pensées (1990/92) war die letzte, die Höller von Hand schreiben konnte. Nahezu erblindet, konnte er fortan keine handschriftlichen Noten mehr lesen und musste seine Arbeitsweise auf ein Computer-Notenschreibprogramm umstellen, das vielfache Vergrößerungen und die Ansicht von weißer Schrift auf schwarzem Grund ermöglichte. Wegen der starken Vergrößerung erscheint auf dem Bildschirm nur ein kleiner Notenausschnitt, in diesem Fall Chorstimmen aus Der ewige Tag (1999/2000), die den Verlust des Augenlichts auto- biographisch reflektieren. Alle anderen Stimmen der umfangreichen Partitur lassen sich simultan als gesampelte Instrumentalklänge einspielen, so dass der Komponist bei der Arbeit die unsichtbaren Stimmen wenigstens hören kann. Mit Hilfe dieses Programms begann Höller Ende 1994 wieder zu komponieren, zuerst nur für kleine Besetzungen, dann auch wieder für großes Orchester. nische Musikmagazin „fermate“ ein Statement, in dem Höller die Auffassung vertrat, dass in gutem Kompositionsunterricht ästhetische Reflexion und Produktion, Theorie und Praxis, Analyse und Synthese möglichst eng ineinander greifen müssten. Eines seiner Hauptanliegen sei es, den Studenten klare Maximen und Anleitungen zu produktiver Selbstkritik zu geben. Anhand von Analysen stilistisch sehr verschiedener Musik sucht er wichtige Wertmaßstäbe zu vermitteln: Originalität (Individualität), Echtheit, Einheit in der Vielheit, Prägnanz, Konsequenz (stilistisch und formal), Verständlichkeit (Klarheit). Seine Vorlesungen und Seminare über die unterschiedlichsten Musikrichtungen vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis in die unmittelbare Gegenwart belegen die Unvoreingenommenheit und Bandbreite seines Unterrichts. Zum 60. Geburtstag am 11. Januar 2004 schenkten ihm seine Kölner Kompositionsschüler eine Gemeinschaftskomposition. Das erste Stück, das Höller ausschließlich mit Hilfe des Computers schrieb, sind die Tagträume. Sieben Klanggedichte (1994/95) für Violine, Violoncello und Klavier, die 1995 bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik uraufgeführt wurden. Jede der sieben kurzen „Tondichtungen“ ist eine zarte Miniatur und mit einem Gedicht aus Cees Nootebooms Zyklus Present Absent verknüpft. Der niederländische Autor thematisiert darin das Phänomen der Neben der Tätigkeit als LehrZeit, und zwar als „das beauftragter und Professor für schwarze Loch, das alles Komposition gab Höller immer schluckt“. In Anlehnung an Gottfried Pilz, York Höller und Rita Süssmuth, 2002 wieder auch Vorträge und Nooteboom ist für Höller der „Tagträumer“ derjenige, der Komposi-tionskurse an verschiedenen in- und ausländiversucht, „allen Gefühlen und Gedanken Substanz zu verschen Universitäten und Musikhochschulen: 1988 in Engleihen, die es verdient haben, ins helle Licht des Tages geland, 1992 im finnischen Viitasaari, 1995 in Madrid, 1996 zerrt zu werden“, was dem Komponisten zum Zeitpunkt in der Domaine Forget in Quebec (Kanada), 1998 in Wien des Verlusts seiner Sehkraft ein besonders großes Bedürfnis und 2002 in St. Petersburg, wo am Goethe-Institut in Angewesen sein dürfte. wesenheit von Bundesministerin a.D. Rita Süssmuth und des Bühnenbildners Gottfried Pilz eine Ausstellung mit den Bühnenentwürfen zur Kölner Inszenierung von Der Meister schon frühzeitig Musik unterrichtet. und Margarita (1984-89) eröffnet wurde. Bereits Anfang der 1970er Jahre hatte er einen Lehrauftrag an der Rheinischen Musikschule. Anschließend unterrichIm Auftrag des Deutschen Bundestages komponierte Höller tete er von 1976 bis 1989 Analyse und Musiktheorie an der das Orchesterwerk Aufbruch (1998/99), das anlässlich der Kölner Musikhochschule. 1993 wurde er zunächst Profesletzten Plenarsitzung in Bonn am 1. Juli 1999 von den sor für Komposition an der Hochschule für Musik Hanns Bamberger Symphonikern unter der Leitung von Hans Eisler in Berlin, bevor er 1995 aus familiären Gründen in Zender auf dem Bonner Marktplatz uraufgeführt wurde. derselben Funktion an die Kölner Musikhochschule wechUm der Musik einen sprechenden Assoziationsrahmen zu selte, wo er Nachfolger von Hans Werner Henze wurde. geben, bediente sich Höller klarer Klangsymbole bzw. ZitaAus Anlass seines Antritts in Köln veröffentlichte das Rheite von Komponisten mit einschlägigen Bezügen zum Rhein- Höller hat 13 land: 1) das bekannte Thema aus Robert Schumanns Rheinischer Sinfonie (1850) zu Beginn der Partitur, 2) ein Ländler aus Bernd Alois Zimmermanns Rheinischen Kirmestänzen (1952/60) und 3) ein charakteristisches Motiv aus dem langsamen Satz der Klaviersonate op. 81a von Ludwig van Beethoven, der bekanntlich 1770 in Bonn geboren wurde und seiner Sonate den Beinamen Les Adieux bzw. Das Lebewohl gab, da er sie seinem Gönner und Schüler Erzherzog Rudolph von Österreich widmete, als dieser 1809 vor heranrückenden französischen Truppen Wien verließ. Einerseits sind die Zitate deutlich zu erkennen und lenken damit auf den außermusikalischen Rahmen des Umzugs des Bundestages von Bonn nach Berlin. Andererseits wird aus ihnen eine komplexe Klang- und Zeitgestalt abgeleitet, die – wie in anderen Werken – nach dem Prinzip der permanenten Durchführung den Verlauf des gesamten Stücks bestimmt. Im Rahmen der Kölner MusikTriennale 2000 wurde Widerspiel (2000) für zwei Klaviere und großes Orchester und im September 2001, zum 15-jährigen Bestehen der Kölner Philharmonie, Der ewige Tag (1999/2000) für gemischten Chor und großes Orchester mit dem WDR-Sinfonie-Orchester Köln unter der Leitung von Semyon Bychkov uraufgeführt. Die Nummer 11 aus dem Klavierzyklus Monogramme (19952003) mit dem Titel Elegia giocosa für Klavier (2001) wurde bisher noch nicht öffentlich gespielt. Sie entstand zum 75. Geburtstag von Hans Werner Henze, der sich in einem kurzen Brief dafür bedankte. Am 25. Mai 2004 fand in der Kölner Philharmonie die deutsche Erstaufführung von Klangzeichen (2003) für Bläserquintett und Klavier mit dem Ensemble Wien-Berlin statt. Die Uraufführung des Stücks, das den israelischen und palästinensischen Kindern gewidmet ist, erfolgte 2003 in Jerusalem beim International Chamber Music Festival. Aus Anlass des 75-jährigen Bestehens der Stadt Leverkusen komponierte York Höller 2004 in deren Auftrag „Feuerwerk“ für 16 Instrumentalisten. Die Komposition wird am Tag der Ausstellungseröffnung (9. April 2005) von der musikFabrik unter Leitung von Zsolt Nagy im Forum Leverkusen uraufgeführt. 14 Vita York Höller 1944 am 11. Januar in Leverkusen geboren 1954 erster Klavier- und Harmonielehre-Unterricht, zugleich erste kompositorische Versuche 1963-67 Studium an der Kölner Musikhochschule: Klavier (A. Kontarsky), Komposition (B. A. Zimmermann, H. Eimert), Dirigieren, Schulmusik; Musikwissenschaft an der Kölner Universität 1965 Teilnahme an den Darmstädter Ferienkursen 1967 Staatsexamen in Schulmusik 1968/69 Solorepetitor an der Oper Bonn (unter Hans Zender) 1971/72 Auf Einladung von Karlheinz Stockhausen Arbeit im Studio für Elektronische Musik des WDR Köln; Lehrtätigkeit an der Rheinischen Musikschule Köln 1974/75 Aufenthalt in der Pariser „Cite internationale des Arts“. Entwicklung des Konzepts der „Gestaltkomposition“ 1976-89 Lehrbeauftragter für Analyse und Musiktheorie an der Kölner Musikhochschule 1978 erste Einladung zum Pariser IRCAM 1979 Kölner Bernd-Alois-Zimmermann-Preis; Förderpreis des Landes Nordrhein-Westfalen 1984 1. Klavierkonzert und „Magische Klanggestalt“ werden international u.a. von Pierre Boulez, Daniel Barenboim und Hans Zender (ur-)aufgeführt 1984/85 Aufenthalt in der Villa Massimo, Rom 1986 Ernennung zum Chevalier des Ordens „Des Arts et des lettres“ 1987 Preis des Internationalen Composer Forum der UNESCO 1988 Vorträge an englischen Universitäten; KompositionsSeminare an der Freiburger Musikhochschule 1989 Uraufführung von „Der Meister und Margarita“ in Paris. Preis des Verbandes französischer Musik- und Theaterkritiker und Hamburger Rolf-Liebermann-Preis 1990 Daniel Barenboim führt mehrfach „Magische Klanggestalt“ mit den Berliner Philharmonikern auf 1990-2000 Künstlerischer Leiter des Studios für Elektronische Musik am WDR Köln 1991 Ernennung zum Mitglied der Akademie der Künste Berlin 1993 Berufung zum Professor für Komposition an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ in Berlin 1994 Einjährige Schaffenspause, bedingt durch rapiden Verfall der Sehkraft 1995 „Aura“ (1992/93) wird mit dem Chicago Symphony Orchestra unter Daniel Barenboim uraufgeführt; Berufung zum Professor für Komposition an die Musikhochschule Köln als Nachfolger von Hans Werner Henze 1999 „Aufbruch“ für großes Orchester im Auftrag des Deutschen Bundestags 2001 „Der ewige Tag“ für Chor, großes Orchester und Live-Elektronik 2003 „Klangzeichen“ für Klavier und Bläserquintett 2004 „Feuerwerk“ für 16 Instrumentalisten Herausgeber: KulturStadtLev/FORUM Verantwortlich: Marion Grundmann Ausstellungskonzeption & Text: Dr. Rainer Nonnenmann Redaktion & Gestaltung: Horst A. Scholz Druck: Stadtdruckerei Abbildungsnachweise: Stadt Leverkusen (S. 2), Klaus Barisch (S. 3), Colette Masson (S. 9), Gottfried Pilz (S. 11), alle übrigen: Privatarchiv York Höller. (Katalogvorderseite: Ausschnitte aus den Werken „Chroma“ und „Horizont“) Wir danken York Höller, Ursula Höller-Heidemann, Gottfried Pilz, der KölnMusik GmbH (auf deren Ausstellung zum 60. Geburtstag Höllers die gegenwärtige Ausstellung basiert) und dem Verlag Boosey & Hawkes, Berlin. „York Höller – Klangzeichen“ ist eine Ausstellung der KulturStadtLev vom 9.-17.4. und 25.4.-13.5.2005 im Forum Leverkusen. Geöffnet täglich von 10.00 bis 18.00 Uhr und während der Veranstaltungen. Tel.: 0214-406 4141. „Was soll […] ich mit einem Musikstück anfangen, das – abgesehen davon, dass es sich als Novität präsentiert –, weder gestalten- noch spannungsreich, weder schlüssig noch expressiv komponiert ist, dem weder Poesie noch Dramatik, weder Witz noch Charme, weder Mystik noch Magie innewohnen? […] Es wird Zeit, dass in der Gegenwartsmusik wieder ‚Geschichten’ erzählt werden, Geschichten in Tönen, anstatt dass immer wieder über die (sattsam bekannte) ‚Geschichtlichkeit des Materials’ tönend räsonniert wird. […] Es lebe die Rebellion in den Weihrauchfässern!“ KulturStadtLev/FORUM Am Büchelter Hof 9 51373 Leverkusen www.kulturstadtlev.de