Thomas Bremer Kreuz und Kreml

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Der Raum – Territoriale Abgrenzung
1.2
Der Raum – Territoriale Abgrenzung
Die heutige Russländische Föderation (Rossijskaja Federacija)1
ist der größte Staat der Welt. Ihre Fläche umfasst etwa 17 Millionen km²; das entspricht 11,5 % der Erdoberfläche.2 Deutschland
hat eine Fläche von 357.000 km², passt also rechnerisch knapp
50 Mal in das Territorium Russlands. Das Land hat eine Ausdehnung von etwa 9.000 km in der Ost-West-Richtung, es reicht
von der Ostsee bis ans Japanische Meer. Die größte Ausdehnung
von Nord nach Süd beträgt 4.000 km. Wollte man Russland einmal entlang seiner Grenzen und Küsten umfahren, so müsste
man 61.000 km zurücklegen.
In Russland leben heute etwa 144 Millionen Einwohner, fast
drei Viertel von ihnen (74 %) in Städten und nur ein kleinerer Teil
auf dem Land; es gibt allein 15 Millionenstädte. Moskau hat zehn
Millionen Einwohner, St. Petersburg etwa vier Millionen. Wie der
Name des Staates sagt, ist Russland föderativ aufgebaut. Es gibt innerhalb Russlands insgesamt 83 verschiedene Föderationssubjekte
mit unterschiedlichem Status, und zwar 21 Republiken, neun Regionen, 46 Gebiete und zwei Hauptstädte (diesen Titel haben traditionell Moskau und St. Petersburg) mit Sonderstatus, dazu vier
„Autonome Kreise“ und ein „Autonomes Gebiet“. Die 2000 getroffene Entscheidung von Präsident Putin, das Land darüber hinaus
in sieben (inzwischen acht) riesige Regionen („Föderationskreise“)
einzuteilen, in denen er selber „Entsandte des Präsidenten“ als fak-
1
Die russische Sprache unterscheidet die Adjektive russkij = „russisch“
(in Bezug auf die Menschen, Sprache, Kultur etc.) und rossijskij = „russländisch“ (in Bezug auf den Staat Russland). Obgleich der Begriff im
Deutschen etwas holprig klingt, soll er um der Genauigkeit willen beibehalten werden.
2 Diese und die folgenden Angaben beziehen sich auf den russischen
Staat in seinen international anerkannten Grenzen, also ohne die Krim.
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tische Machthaber einsetzen kann, stärkt das zentralistische Element innerhalb der föderativen Struktur. Die größte Nation in der
Russländischen Föderation sind die Russen, deren Anteil an der
Gesamtbevölkerung 83 % beträgt. 3,8 % sind Tataren, 2,35 %
Ukrainer, und neben diesen gibt es noch zahlreiche andere Nationen, die in Russland leben, zum Teil kompakt in bestimmten Gebieten siedelnd, zum Teil aber über das Land verstreut.
In der Sowjetunion, die Ende 1991 zerfallen ist, gab es 15 Sowjetrepubliken, von denen die russische („Russische Sozialistische
Föderative Sowjetrepublik“ oder RSFSR) die größte war; sie umfasste 76 % der Fläche der gesamten UdSSR und ist der unmittelbare Vorgängerstaat des heutigen Russland. Diese enorme Größe
des Landes hat es stark geprägt. Geschichte ist immer an einen
konkreten Raum oder an konkrete Räume gebunden, und ein
Land mit derartigen Ausmaßen muss notwendig in vielen Bereichen andere Entwicklungen vollziehen als ein kleineres. Das beginnt mit sehr praktischen Dingen wie etwa den unterschiedlichen Zeitzonen (der Zeitunterschied zwischen Moskau und der
Halbinsel Kamtschatka ist um drei Stunden größer als der zwischen Deutschland und New York; wenn man also in Moskau die
21 Uhr-Nachrichten ansieht, dann ist im Osten schon der frühe
Morgen des nächsten Tages), den verschiedenen Klimazonen
und den damit verbundenen praktischen Problemen wie dem
Transport: Weite Gebiete Sibiriens sind praktisch unerschlossen,
und neben den Flüssen in der eisfreien Zeit sind dort, wo die
Transsibirische Eisenbahn nicht hinführt, Flugzeug und Hubschrauber die einzigen Verkehrsmittel. Ein Blick auf eine Karte
Sibiriens zeigt eindrücklich, wie über Hunderte von Kilometern
kaum eine Straße zu finden ist. Diese Umstände haben zur Folge,
dass es in jeder Hinsicht ein starkes Gefälle zwischen den im europäischen Teil gelegenen Städten und den anderen Gebieten
Russlands gibt. Der Versuch des sowjetischen Systems, dieses Gefälle durch eine beschleunigte Modernisierung zu beseitigen, ist
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Der Raum – Territoriale Abgrenzung
zwar gescheitert, hatte aber zur Folge, dass heute an einem Ort
sehr unterschiedliche Entwicklungs- bzw. Modernisierungsstufen
nebeneinander zu sehen sind.
Der Begriff „Territorium“ hat in den letzten Jahren in den ökumenischen Beziehungen eine wichtige Rolle gespielt, da die ROK
für sich ein „kanonisches Territorium“ beansprucht, ein Gebiet,
in dem sie die vorherrschende Kirche ist und allein evangelisieren
dürfe. Territorium bedeutet grundsätzlich, dass es ein festgelegtes
und deutlich abgeschlossenes Gebiet mit klaren Grenzen gibt.
Das ist in der Geschichte erst seit relativ kurzer Zeit der Fall, und
es gilt historisch fast nur dort, wo es feste natürliche Grenzen wie
Küsten oder Ufer gibt. Ansonsten ist es der Normalfall, dass die
Grenzen von Herrschaftsgebieten instabil sind und sich häufig
ändern. In den Anfangsphasen der russischen Kirchengeschichte
lässt sich nicht von einem festen Territorium sprechen. Die Gebilde, von denen in diesem Zusammenhang die Rede ist, waren
auch keine Staaten im modernen Sinne, sondern Herrschaftsformen, die eng an den konkreten Herrscher gebunden waren.
Durch Feldzüge konnten andere Stämme unterworfen, d. h. tributpflichtig gemacht werden. Doch auch so gewonnene „Territorien“ waren keinesfalls fest umrissen oder sicher; außer der Tributpflicht musste die Abhängigkeit keine konkreten Folgen
haben. Für die russische Geschichte ist es weiterhin bezeichnend,
dass es lange Zeit einen weiten und unergründeten Raum im Osten gab, der niemandem „gehörte“, nämlich Sibirien. Auseinandersetzungen um Grenzen entstanden vor allem im Westen, gegenüber Polen-Litauen und Schweden, zum Teil auch im Süden
gegenüber der Türkei, jedoch nicht im Norden, wo es bis zum
Nordmeer keine Macht gab, die sich der russischen Inbesitznahme dieses Raumes entgegengestellt hätte, und kaum im Osten,
der für Russland einen ähnlichen Charakter bekam wie der Westen für die Vereinigten Staaten, als angeblich herrenloser, unzivilisierter, zugesprochener weiter Raum.
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1 Abgrenzungen
Seit der frühen Neuzeit lässt sich zwar von festen Grenzen
Russlands sprechen (die jedoch durch Krieg und Frieden auch immer wieder wechselten), doch die Frage nach dem Territorium
stellt sich kirchlicherseits nun in anderer Hinsicht: Durch Grenzveränderungen gerieten Gläubige, die bislang zur russischen
Orthodoxie gehört hatten, in den Bereich anderer orthodoxer Kirchenorganisationen, oder Gebiete wurden der russischen kirchlichen Jurisdiktion entzogen, ohne dass es dafür zunächst Ersatz
gegeben hätte. Das Territorium der ROK war nun nicht mehr
mit dem Territorium identisch, auf dem ihre Gläubigen lebten.
Zwar fanden sich für solche Situationen immer faktische Lösungen, die bedeuten konnten, dass die entsprechenden Gebiete und
die dort lebenden Gläubigen der Orthodoxie verloren gingen, oder
dass sie zu einer anderen orthodoxen Kirche gehörten, oder dass
sie durch die Zeitläufte wieder in den Bereich der ROK gerieten,
doch entstand auch ein Bewusstsein für eine „eigentliche“ Zugehörigkeit dieser orthodoxen Bevölkerung zur ROK, das seinen
deutlichsten Ausdruck in der modernen Redeweise vom „kanonischen Territorium“ fand. Erstmals im Jahre 2000 legte die
ROK die Grenzen dieses Territoriums fest; heute umfasst es das
Gebiet der ehemaligen Sowjetunion, allerdings ohne Georgien
und Armenien (wo es eigene orthodoxe Kirchen gibt, wenn auch
die armenische als orientalisch-orthodoxe bzw. „altorientalische“
Kirche nicht in Kommuniongemeinschaft mit der ROK steht),
sowie China und Japan. Diese Festlegung auf ein kanonisches
Territorium und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen hatten, wie noch zu sehen sein wird, große Konsequenzen für die
ökumenischen Beziehungen. Festzuhalten ist jedoch, dass sich
der Raum, auf dem orthodoxe Gläubige der russischen Kirche leben, und das von ihr beanspruchte Territorium nicht immer
decken. Daraus ist eine Reihe von Problemen entstanden, die bis
heute noch nicht zufriedenstellend gelöst sind.
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Epochen
Auch die Einteilung der russischen Kirchengeschichte in Epochen kann sich wenigstens für die frühe Zeit an den Räumen
orientieren, in denen sie sich abgespielt hat: Für die Zeit der
Christianisierung war das Kiew, das Kiewer Reich oder die Kiewer Rus’. Dieser informelle Verband ostslawischer Stämme,
der kein Staat im neuzeitlichen Sinne war, verlagerte sich
nach der Jahrtausendwende im Zusammenhang mit den Angriffen asiatischer (mongolischer bzw. tatarischer) Stämme
nach Norden, wobei es zunächst, bis zum Aufstieg Moskaus,
keinen eindeutigen und beständigen Hauptort gab; zunächst
war die Stadt Vladimir (nordöstlich von Moskau) nach Kiew
der erste Sitz des Großfürsten, dann Moskau.
Das Moskauer Reich wuchs und wurde zu einem bedeutenden politischen Faktor in Osteuropa. Es hatte immer eine doppelte Beziehung zum Rest Europas: Zum einen gab es ein Bewusstsein der Zugehörigkeit zum Westen des Kontinents und
der Zusammengehörigkeit, das sich zu bestimmten Perioden
etwa in dynastischen Beziehungen ausdrückte, zum anderen
aber auch ein wechselseitiges Empfinden der Fremdheit und
des eigenen, besonderen Weges, das sehr stark mit der Religion
zusammenhing. Die orthodoxe Kirche war nicht die einzige mit
der Überzeugung, allein die wahre Kirche zu sein. Doch hatte
dieses Bewusstsein bei ihr auch aufgrund der räumlichen Isolierung zu einer besonderen Abschottung geführt. Diese erschwerte es einerseits, dass Einflüsse von außen schnell und tief rezipiert wurden, und sie schuf andererseits ein Gefühl, dass die
Russen eben nicht einfach als eine von vielen zu den anderen
europäischen Nationen gehören. Es wird sich zeigen, dass die
Auseinandersetzung um die Beziehung Russlands zum Westen
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