Stephan Lessenich Soziale Subjektivität Die neue Regierung der Gesellschaft Mittelweg 36 4/ 2003 Suchte das akademisch-intellektuelle Deutschland derzeit seinen Superstar, er hieße wohl Michel Foucault. Dieser nämlich schrieb, wie wir mittlerweile wissen, bereits vor einem Vierteljahrhundert das – allerdings unvollendete – Buch zum Film, dem Film unserer Gegenwart, des Titels »Neoliberalismus». In seinen sagenumwobenen Vorlesungsreihen der späten 1970er Jahre am Collège de France nahm Foucault unter der programmatischen Formel der »gouvernementalité« eine grundlegende Weiterentwicklung seiner frühen Machtanalytik vor.1 »Gouvernementalität«: schon der Begriff klingt nach geistiger Anstrengung. Das hat seiner sozialwissenschaftlichen Popularisierung allerdings keinen Abbruch getan. Die »Gouvernementalitäts«- (oder sagen wir der Einfachheit halber doch lieber gleich: die »Regierungs«-) Problematik wurde zunächst von französischen Schülern des Meisters aufgenommen und empirisch-forschungsstrategisch gewendet. Seit Beginn der 1990er Jahre ist sie zur kategorialen Grundlage sogenannter »governmentality studies« im englischsprachigen Raum – und erst damit auch zum Allgemeingut der internationalen Sozialwissenschaft – geworden. Die angelsächsischen Studien widmen sich im Kern der Anwendung des spätfoucaultianischen Analyseinstrumentariums auf die gesellschaftlichen Transformationsprozesse der Gegenwart.2 Sie zielen auf die Untersuchung der Strukturen und Prozesse jener nach dem Zweiten Weltkrieg – und verstärkt seit den 1970er Jahren – sich formierenden, »neoliberalen Gouvernementalität«, deren Analyse auch Foucault selbst zuletzt beschäftigt hatte. Am Beispiel des deutschen Ordoliberalismus und der marktradikalen »Chicago School« verfolgte Foucault die wirtschaftsdogmatische Universalisierung des Marktmechanismus zum umfassenden regulativen Prinzip staatlicher Intervention und gesellschaftlicher Beziehungen (vgl. Lemke 2001a, b). Die jüngere Phänomenologie der neoliberalen Wende hingegen – die politischen Triumphzüge Ronald Reagans in den USA und Margaret Thatchers in Großbritannien, die fortschreitende Ökonomisierung des Sozialen im Zeichen der postkommunistischen Globalisierung – konnte von ihm selbst nicht mehr analysiert werden. Dabei 1 Vgl. Foucault 2000 [1978] für die erste deutsche Übersetzung einer Vorlesung aus der Vorlesungsreihe 1977/78. 2 Programmatisch vgl. Burchell et al. 1991. Für einen ersten Überblick vgl. Lemke 2000 bzw. Lemke et al. 2000. 80 Soziale Subjektivität ist Foucaults Ansatz gerade mit Blick auf jene Transformation der wohlfahrtsstaatlichen Nachkriegsformation, die durch die »neokonservative Revolution« der 1970er und 1980er Jahre angestoßen wurde und die sich im vergangenen Jahrzehnt, nach dem Ende des Systemwettbewerbs, beschleunigt fortgesetzt hat, von erheblichem analytischem Wert. Die Verschiebung der sozialregulativen Programmatik des Wohlfahrtsstaates von der versicherungsförmigen Vergesellschaftung individueller Risiken zur sozialpolitischen Konstruktion eigenverantwortlicher Subjekte, zur »unternehmerische(n) Entsicherung des Individuums« (Bröckling 2002: 21), läßt sich – wie im folgenden gezeigt werden soll – mit Foucault als Ausdruck einer neuen politischen Rationalität, als Wandel in den Techniken der Regierung, als Übergang zu einer Logik der sozialverpflichteten Selbstführung interpretieren. Zweifelhaft erscheint dabei allerdings, ob diese neue Gestalt wohlfahrtsstaatlicher Politik – wie auch in deutschsprachigen Studien zur »Gouvernementalität der Gegenwart« (Bröckling et al. 2000) allgemein üblich – mit dem Begriff des »Neoliberalismus« angemessen bezeichnet ist. Während die Rede von einer »neoliberalen« Gouvernementalität Vorstellungen vom Rückzug des Staates und von der Autonomie des Individuums evoziert, beinhalten die veränderten sozialpolitischen Regulierungsformen tatsächlich weder das eine noch das andere. Ihrem regulativen Gehalt angemessener wäre es insofern, nicht von einer »neoliberalen«, sondern von einer »neosozialen« Form der Regierung zu sprechen: von einer – im Doppelsinne – neuen Regierung der Gesellschaft. Mittelweg 36 4/ 2003 Regierung Der weite Begriff von »Regierung« bei Foucault und dessen Adepten ermöglicht die Analyse von Machtverhältnissen, die sich historisch in Gestalt des Staates materialisiert haben, ohne jedoch in diesem aufzugehen, sich in ihm zu erschöpfen. Foucaults Spätwerk begreift »Regierung nicht als eine Technik, die vom Staat angewendet oder eingesetzt wird, sondern fasst den Staat selbst als eine Regierungstechnik, als eine dynamische Form und historische Fixierung von gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen« (Lemke et al. 2000: 27). Politische Regierung, die Regierung des Staates, ist somit nur ein Teil jener komplexen Gesamtheit von Prozeduren, Techniken und Methoden der Regierung, die auf die Lenkung, Kontrolle und Leitung von Menschen – Individuen und Kollektiven – in potentiell allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens zielen. Foucaults Geschichte der Gouvernementalität von der griechischen Antike bis zum zeitgenössischen Neoliberalismus (vgl. Lemke 1997: 126–256) bemüht sich um den Nachweis einer gemeinsamen Genealogie moderner Staatlichkeit und Subjektivität, »einer Ko-Formierung von modernem souveränen Staat und modernem autonomen Subjekt« (Lemke 2000: 33). Der »Regierungs«-Begriff dient aber nicht nur als Scharnier 81 Soziale Subjektivität 4/ 2003 Mittelweg 36 der Vermittlung von Herrschaftspraktiken und Subjektivierungsprozessen. Mit dem Konzept der »Regierung« gerät zugleich die wechselseitige Konstitution und systematische Kopplung von spezifischen Machttechnologien und bestimmten Wissensformen in den Blick. »Regierung« im Foucaultschen Sinne meint somit immer zweierlei zugleich: ein System von Machtpraktiken und eine Ordnung des Wissens. Zum einen bezeichnet sie die Kunst der Führung bzw., als reflexiver Modus – unter Berücksichtigung des Doppelsinns dieses Begriffs –, die Technik der »Führung der Führungen«, also der Anleitung von Verhaltensweisen. Diese umfaßt das gesamte Spektrum von der Fremdführung oder »Regierung der anderen« bis hin zur Selbstführung oder »Regierung des Selbst« (wobei, wie bereits erwähnt, unser heutiges Verständnis von Regierung als politischer Führung einen Sonderfall der »Regierung der anderen« darstellt). Andererseits definiert »Regierung« ein diskursives Feld der Rationalisierung dieser Führungspraktiken, eine Form der gedanklichen und kommunikativen Strukturierung von Realität, die es erst erlaubt, bestimmte Machttechnologien zur Anwendung zu bringen. Konkreten Machtpraktiken ist somit stets eine bestimmte Rationalität eingeschrieben, ein »politisches Wissen«, das zum konstitutiven Element und strategischen »Einsatz« der Regierung wird. In Foucaults Begriff der »Gouvernementalität« sind diese beiden Dimensionen – Regierungsweise (»gouvernement«) und Denkweise (»mentalité«) – schon semantisch verschmolzen: als »Regierungs(denk)stil« gewissermaßen. Im Rahmen seiner (fragmentarisch gebliebenen) »Geschichte der Gouvernementalität« untersucht Foucault insbesondere drei historische Formen der Regierung, der Führung von Menschen: Staatsräson, »Policey« und Liberalismus (vgl. Lemke 1997: 151–194). Staatsräson gilt ihm als die erste politische Rationalität, die ihre Prinzipien in sich selbst finden muß: nicht (mehr) in göttlichen oder natürlichen Gesetzen, sondern in jenen des Staates selbst. Entsprechend gibt es hier keine Ziele außerhalb des Staates und seiner Machtsteigerung, keine Finalität jenseits seiner Souveränität und der Aufrechterhaltung der äußeren Ordnung (gegenüber anderen souveränen Staaten). Polizei bzw. »Policey« (in der deutschen Diktion der Zeit) ist dann die Antwort auf die Frage, wie die innere Ordnung – im »Körper« des Souveräns – zu gewährleisten sei. Und die Antwort lautet: Zurichtung der Individuen und der Bevölkerung zum Wohle des Staates, seines Überlebens und seiner Stärke. »Policey« bedeutet die Regelung und Disziplinierung, Aufsicht und Überwachung der individuellen und kollektiven Körper (bzw. Körperschaften), die Multiplizierung der Interventionen und Interventionsformen, den Zugriff auf sämtliche Lebensbedingungen des Volkes, auf den gesamten »Verkehr« der Menschen. Hiergegen wendet sich die liberale Regierung, die – in überaus paradoxer Weise – eine als existierend (»natürlich«) behauptete und beschriebene, doch zuallererst 82 Soziale Subjektivität 4/ 2003 Mittelweg 36 politisch herzustellende Freiheit zu dem zentralen Prinzip erhebt, welches wiederum und zugleich (als kritisches Prinzip) die Grenzen des eigenen Regierungshandelns angibt. Erklärtes Ziel ist eine »ökonomische Regierung«, verstanden als Regierung eines von wirtschaftlichen Subjekten bevölkerten gesellschaftlichen Raums, der als eine vom Staat unabhängige Totalität gedacht wird und dementsprechend nach seinen eigenen Regeln zu regieren ist. Ökonomische Regierung bedeutet somit, die Regeln der Ökonomie zu achten und zu wahren – und dabei dem »Prinzip der Weniger-Regierung« (Lemke 1997: 184) zu folgen. Widersinnigerweise folgt hieraus jedoch keineswegs unmittelbar eine Reduktion staatlicher Macht, denn die Gleichursprünglichkeit von Freiheit bzw. Freiheitsproduktion und Freiheitsbedrohung macht die Etablierung von Dispositiven der Sicherheit notwendig, die den Schutz der Freiheit bzw. einen bestimmten Gebrauch derselben gewährleisten sollen. Freiheit kann allenfalls über den Wolken grenzenlos sein – in der liberalen Regierung hingegen wird sie der Rationalität des Sicherheitskalküls unterstellt. Die Machttechnologien und Operationsmodi der drei historischen (sich logisch durchaus nicht ausschließenden) Regierungsformen sind somit höchst unterschiedlich. Die Regierung des Souveräns bedient sich der rechtlichen Norm bzw. ihrer Kodifizierung über Gesetze, deren Einhaltung hoheitlich überwacht wird. Die Regierung der »Policey« hingegen arbeitet mit Disziplinarpraktiken, die auf Normierungen beruhen, von denen ausgehend das Normale und das Anormale, Normkonformität und Abnormität geschieden werden, wobei letztere repressive Behandlung erfährt. Die liberale Sicherheitstechnologie dagegen geht nicht von präskriptiven Normierungen, sondern vom empirisch Normalen, nicht von der gesetzten Regel, sondern von der vorgefundenen Regelmäßigkeit aus und macht diese selbst zum Ausgangspunkt koordinierender, standardisierender, normalisierender Interventionen. Die liberale Regierung trug auf diese Weise gleichsam den Keim jener Entwicklung zur Sicherheitsgesellschaft bzw. zum Sozialstaat des 19. und 20. Jahrhunderts in sich, die von François Ewald – Foucaults Assistenten – als Übergang zur »Versicherungsgesellschaft« (Ewald 1989) bzw. zum »Vorsorgestaat« (Ewald 1986) bezeichnet worden ist. Doch Vorsicht! Die gängige Vorstellung, daß sich in diesem Prozeß die liberale Grenzziehung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten, zwischen der Domäne des Staates und jener der (Zivil-)Gesellschaft – zugunsten von »mehr Staat« – verschoben habe, verliert im Lichte der Gouvernementalitätstheorie rasch an Plausibilität. Die Vorstellung solch klarer Grenzziehungen selbst ist nämlich eine »liberale«, das heißt, schon die Trennung von »Markt« und »Staat«, von »privatem« und »öffentlichem« Raum, von einer Sphäre der »Subjektivität« und einer Sphäre der »Macht«, ist Ausdruck eines Wissens, das immer schon Teil der Machtverhältnisse, 83 Soziale Subjektivität Element (und politischer »Einsatz«) von Regierung ist. »Diese Differenzierungen werden innerhalb der Regierungsproblematik nicht mehr als Grundlage und Grenze, sondern als Instrument und Effekt von Regierungspraktiken behandelt.« (Lemke 2000: 37) Die liberalen Polaritäten sind der (aus der Perspektive der »governmentality studies« durchsichtige) Versuch einer Naturalisierung durchweg politischer Grenzziehungen: denn auch der »liberale« Markt existiert nicht unabhängig vom Staat, auch die »Privatheit« von Familie ist Produkt sozialer Regulierung, auch – und gerade – die neoliberale Macht durchdringt die Subjektivität der Individuen, stellt Formen der Selbstführung in den Dienst ihrer Regierung. Mittelweg 36 4/ 2003 Wohlfahrtsstaat Die Durchsetzung der Sicherheitsrationalität im Liberalismus, den Übergang zur Versicherungsgesellschaft und den Siegeszug der Sozialversicherung als politische Technologie des Risikos hat François Ewald in seinem Buch »L’État providence« (Ewald 1986) eindrucksvoll beschrieben. In den Begriffen des »Risikos« und der »Versicherung« offenbart sich für Ewald eine spezifische, neue Art des Denkens der Gesellschaft über sich selbst – mit dem Ziel, diese so konzipierte Realität regierbar zu machen oder unter veränderten Umständen regierbar zu halten. »Risiken« sind soziale Problematisierungen individueller Gefährdungspotentiale, und die »Versicherung« ist eine neue Form sozialer, später auch politischer Regierung: der Regierung der Gefahren (die vorhersehbar und beherrschbar gemacht werden) wie auch der Menschen (die sich potentiell in Gefahr befinden und denen tatsächlich gefährdende Ereignisse widerfahren). Durch die Ausbreitung der Versicherungstechnologie wird die liberale Gesellschaft zu einer Versicherungsanstalt. Nicht mehr das Individuum mit seiner Verantwortung steht im Brennpunkt der Regierungspraktiken, sondern die Gesellschaft in ihren Verpflichtungen wird zum Bezugspunkt einer neuen, sozialen Logik. Die Grammatik der Versicherung wird zum Modell sozialer Beziehungen. Die Gesellschaft stiftet Sicherheit und wird zum Subjekt ihrer Selbstregierung. Mit der Übernahme der Versicherung als Technologie des Risikos durch den Staat seit Mitte des 19. Jahrhunderts – getrieben durch die sozialen Konsequenzen des liberalen Kapitalismus – entdeckt dieser gleichursprünglich auch die Gesellschaft (vgl. Evers/Nowotny 1987) als Objekt seiner Regierung. Der Staat steht nun nicht mehr einer »autonomen« Gesellschaft als Hüter der sozialen Verkehrsregeln gegenüber, sondern mit der Politisierung der Versicherung wird er zum Staat der Gesellschaft, zum »Vorsorgestaat« (Ewald 1986), zum »Sozial-Staat« (Lemke 1997: 195; vgl. ebda.: 195 – 238). Dieser beschränkt sich nicht länger auf die Gewährung individueller Freiheitsrechte, das heißt auf die staatliche Garantie von Abwehr- und Schutzrechten der Bürger gegen den und vor dem Staat 84 Soziale Subjektivität 4/ 2003 Mittelweg 36 selbst. Vielmehr setzt er ein genuin soziales Recht (vgl. Marshall 1992 [1949]), »das den Begriff der individuellen Verantwortung und rechtlichen Zurechnung suspendiert und an ihre Stelle eine ›gesellschaftliche‹ Verantwortung treten läßt« (Lemke 1997: 212). Dazu kommt es, weil der neuen politischen Rationalität entsprechend individuelle Schadensereignisse als gesellschaftliche Risiken rekonstruiert werden, die nur als solche auch regulierbar – kalkulierbar und kapitalisierbar – sind. Die bemerkenswerte Leistungsfähigkeit der (zur Sozialversicherung erweiterten) Versicherungstechnologie im Hinblick auf die Regierung des Sozialen ergibt sich aus einem Zusammenspiel mehrerer Elemente. Die Versicherung macht aus einem antagonistischen, potentiell konfrontativen sozialen Anspruch des Einzelnen gegen den Staat ein System von Wechselseitigkeitsverhältnissen, das alle Bürger und Bürgerinnen – als Risikoträger und Mitglieder einer Versichertengemeinschaft – miteinander verbindet. Das soziale Band nimmt die Gestalt eines auf der Reziprozität der Individuen gründenden Versicherungsvertrags an, durch welchen der von jedem jederzeit zu gewärtigende Risiko- bzw. Schadenseintritt entindividualisiert und entmoralisiert wird. An die Stelle etwa traditioneller Formen der Arbeitersolidarität tritt somit ein anonymer Ausgleichsmechanismus, der die Arbeiter nicht mehr in Hilfe untereinander, sondern mit der Gesellschaft und deren Vorsorgetätigkeit verbindet. Und mehr noch: Die Sozialversicherung stiftet auch friedliche Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit, indem sie beide Seiten in ihren Interessen und Bedürfnissen bedient. Der Sozialstaat ist auf diese Weise zwar durchaus auch das Ergebnis sozialer Kämpfe, »seine strategische Bedeutung besteht jedoch gerade umgekehrt in einer ›Depolitisierungspolitik‹, die Kämpfe überflüssig machen soll« (Lemke 1997: 223). Soziale Kämpfe werden in der durchgesetzten Sicherheitsgesellschaft des Wohlfahrtsstaats an anderen Fronten ausgetragen. In dem Maße, wie die Gesellschaft zum Objekt politischer Regierung avanciert und damit zugleich zum Subjekt der Sicherheitsproduktion erhoben wird, sieht sie sich in dieser Funktion selbst Bedrohungen ihrer Sicherheit ausgesetzt. Die »Verteidigung der Gesellschaft« (vgl. Lemke 1997: 222 – 238) gegen solche Bedrohungen, die aus ihr selbst heraus entstehen und immer wieder neu produziert werden – gegen »gefährliche« Klassen, Gruppen und Individuen –, ist »die Kehrseite der ›Versicherungsgesellschaft‹« (Lemke 1997: 224). Soziale Selbstverteidigung im Wohlfahrtsstaat operiert dabei mit einer Vielzahl von Mechanismen, mit unterschiedlichsten Formen der Spaltung und Fragmentierung der Bevölkerung, der Marginalisierung und Exklusion gesellschaftlicher Gruppen (vgl. Kronauer 2002). Insofern handelt es sich bei der Regierung der Gesellschaft mit dem Dispositiv der Sozialversicherung nicht einfach um einen Zugewinn an sozialen Rechten, sondern zugleich um die Institutionalisierung einer neuen Struktur sozialer Ungleichheit. 85 Soziale Subjektivität Wenn daher im folgenden die neue, zu Beginn des 21. Jahrhunderts sich abzeichnende Regierung des Sozialen einer kritischen Analyse unterzogen wird, so geht es dabei keineswegs im Umkehrschluß um die unkritische Überhöhung der sozialen Programmatik des überkommenen »Vorsorgestaats«. Über die strukturellen Selektivitäten, die peinlichen Geheimnisse und die konstitutive Dialektik dieser politisch-sozialen Formation ist hinlänglich viel gesagt und geschrieben worden (vgl. klassisch: Offe 1984) als daß eine bloße Apologie des Wohlfahrtsstaats in Betracht kommen könnte. Und dennoch: Wenn in Zukunft, so meine hier zu vertretende These, das – immer schon existente – »Andere« der »Versicherungsgesellschaft« dominant zu werden droht; wenn sich die »Verteidigung der Gesellschaft« radikalisiert und die Defensivreaktionen auslösenden sozialen Gefährdungs-, Bedrohungs- und Mißbrauchstatbestände eine beständige Ausweitung erfahren; wenn die Herstellung der Konformität individuellen Verhaltens mit den selbstbezüglichen, diskursiv objektivierten Zwecken der Gesellschaft zur neuen Rationalität politischer Regierung aufsteigt – dann dürfte die sich darin ankündigende neue Sozial-Politik wohl kaum eine Wende zum (wie auch immer verstandenen) »Besseren« darstellen. Mittelweg 36 4/ 2003 Sozial-Politik Die Phänomenologie der »Krise des Sozialstaats« ist hinlänglich bekannt. Wir haben uns an die für gewöhnlich – und auch von Foucault und der Gouvernementalitätsliteratur – als Ausweis eines »neoliberalen« Zeitalters gewertete Problematisierung sozialer Sicherheiten und wohlfahrtsstaatlicher Garantien gewöhnt. Ihre Entwertung gehört zum politischen Alltagsgeschäft, ihre Obsoleszenz ist zum konstitutiven Bestandteil politischen Wissens geworden. Der »Versorgungsstaat« alter Schule gilt nicht nur unter funktionalen Gesichtspunkten, sondern mehr noch in normativer Hinsicht als Problem. Sein Rückbau ist dementsprechend ein Gebot nicht nur (im oben genannten Sinne) »ökonomischer«, sondern auch »moralischer« Regierung – Ausdruck einer neuen, doppeldeutigen Form der Sozial-Politik, der Regierung des Sozialen. Was macht diese neue Regierungsform aus? Im Zentrum des neuen Regierungsmodus steht der tendenzielle Übergang von der öffentlichen zur privaten Sicherheit, vom gesellschaftlichen zum individuellen Risikomanagement, von der Sozialversicherung zur Eigenverantwortung, von der Staatsversorgung zur Selbstsorge. Ziel dieser veränderten Programmatik ist die sozialpolitische Konstruktion verantwortungsbewußter, und das bedeutet: sich selbst wie auch der Gesellschaft gegenüber verantwortlicher, zugleich »ökonomischer« und »moralischer« Subjekte (vgl. Lemke 2000: 38). Verantwortungsbewußte Subjekte – Menschen, die um ihre Verantwortung wissen – kalkulieren die individuellen ebenso wie die gesellschaftlichen Kosten und Nutzen eines be86 Soziale Subjektivität Mittelweg 36 4/ 2003 stimmten Handelns im Vergleich zu anderen möglichen Handlungsoptionen. In ihnen gehen ökonomisch-rationale und moralisch-soziale Handlungsorientierungen eine glückliche Verbindung ein – freilich nicht von selbst. Vielmehr bedarf diese Selbstführung der politischen Führung. Und genau auf dieser Abhängigkeit beruht ein Regierungsprogramm, das seinen regulativen Bezugspunkt in der »Subjektivierungsfigur« (Bröckling 2002: 8) des »unternehmerischen Selbst« findet (vgl. ebda.: 6 –10). Es handelt sich um eine politische Logistik, die »eine neue (autonome) Subjektivität ›erfindet‹ und darauf zielt, diese Subjektivität mit politischen Imperativen auszustatten« (Lemke 1997: 256). Eigenverantwortung, private Vorsorge, selbsttätige Prävention – sämtliche Varianten der Optimierung der eigenen Sicherheit sind im Rahmen dieser Programmatik zugleich Zeichen persönlicher Autonomie und Ausweis sozialer Verantwortlichkeit, gehorchen gleichermaßen einer individuellen wie einer gesellschaftlichen Rationalität, Geboten der Klugheit und der Moralität. Umgekehrt muß unter solchen Auspizien die unterlassene Hilfeleistung der Individuen gegenüber sich selbst als nicht nur irrationaler, sondern zudem auch unmoralischer Akt erscheinen: Mangelnde oder fehlende Eigenverantwortung steht nicht nur für die Unfähigkeit des einzelnen, von seiner Freiheit rationalen Gebrauch zu machen, sondern darüber hinaus für die Weigerung, gesellschaftlichen Bedürfnissen gerecht zu werden, sozialen Imperativen zu gehorchen. So oder so zeugt entsprechendes Verhalten von offensichtlich unzureichender Selbstführung, die ebenso offensichtlich nach Fremdführung verlangt. »Führung zur Selbstführung« bzw., in vollendeter Form, »Führung durch Selbstführung« heißt demzufolge die neue politische Rationalität wohlfahrtsstaatlicher Regierung.3 Der Topos des »unternehmerischen Selbst« bezeichnet »die mikropolitische Ratio, auf welche die zeitgenössischen Technologien der Selbst- und Fremdführung zulaufen« (Bröckling 2002: 9). Damit ist nun nicht behauptet, das gesamte Instrumentarium sozialpolitischer Intervention werde in einem Schlag auf die Logik der »indirekten« Führung umgestellt. Nach wie vor existieren klassische Programme und Institutionen autoritativer Bedarfszuweisung und direktiver Verhaltenssteuerung neben Techniken und Instanzen der Anleitung 3 Es ist ebendiese Schnittstelle zwischen Fremd- und Selbstführung, die »Führung der Führungen« – als »Artikulation der Beziehungen zwischen Herrschafts- und Selbsttechnologien« (Lemke et al. 2000: 29) –, die Foucault als Essenz von »Regierung« bestimmt: »Man muss die Punkte analysieren, an denen die Techniken der Herrschaft über Individuen sich der Prozesse bedienen, in denen das Individuum auf sich selbst einwirkt. Und umgekehrt muss man jene Punkte betrachten, in denen die Selbsttechnologien in Zwangs- und Herrschaftsstrukturen integriert werden. Der Kontaktpunkt, an dem die Form der Lenkung der Individuen durch andere mit der Weise ihrer Selbstführung verknüpft ist, kann nach meiner Auffassung Regierung genannt werden.« (Foucault 1993 [1980]: 203, Übersetzung nach Lemke et al. 2000: 29.) 87 Soziale Subjektivität 4/ 2003 Mittelweg 36 zum Selbstverantwortlichsein – und sie werden, jedenfalls in Teilen, auch in absehbarer Zukunft erhalten bleiben. Aber der Umbau der überkommenen wohlfahrtspolitischen Sicherungsinstitutionen zu Ermöglichungsagenturen gelebter Eigenverantwortung ist bereits in vollem Gange. Wer die jüngere Entwicklung im Bereich der Sozialpolitik (aber nicht nur dort) in Deutschland (und nicht nur dort) auch nur halbwegs aufmerksam beobachtet, wird nicht umhinkönnen, die Politik der Produktion »ökonomischer« und »moralischer«, wirtschaftlicher und sozialer, sich selbst und der Gesellschaft verantwortlicher Individuen zum gesellschaftspolitischen Makrotrend im globalisierten Kapitalismus zu erklären. Die gesteigerten Erwartungen und Anforderungen im Hinblick auf die eigenverantwortliche Selbststeuerung der Arbeitskräfte in der Erwerbsarbeit (vgl. Voß/Pongratz 1998); die sozialpolitischen Themenkarrieren von »Vollkaskomentalität« bis »moral hazard«, die politische Konstruktion der Sozialfiguren des »Faulenzers« und des »Sozialschmarotzers« (vgl. Oschmiansky 2003); die effektive Delegitimierung ausgleichender, kompensierender, subventionierender Sozialstaatlichkeit und die parallele Direktvermarktung (vgl. beispielhaft: Streeck 1998) einer aktivierenden, kompetitiven, investiven Sozialpolitik; die Forderung und Förderung von privater Altersvorsorge, individueller Gesundheitsprävention und eigenverantwortlicher Gefahrenverhütung (vgl. Schmidt-Semisch 2000) – die Symptome der (Re-)Ökonomisierung und Moralisierung des Sozialen sind schlechterdings unverkennbar. Nirgendwo werden diese Zeichen hierzulande so deutlich gesetzt wie in den Programmatiken »aktivierender« Arbeitsmarktpolitik (vgl. Lessenich 2003a). Vom Bundeskanzler persönlich auf die Suche geschickt nach »mehr Eigenverantwortung, die zu Gemeinwohl führt« (Schröder 2000: 201), hat die sogenannte Hartz-Kommission in kürzester Frist neue Leitlinien der Arbeitsförderung formuliert, die ebenso zügig gesetzestechnische Umsetzung gefunden haben. In der Diktion des Kommissionsberichts signalisiert der neue arbeitsmarktpolitische Grundsatz des »Förderns und Forderns« die legitime »Erwartungshaltung des Versicherers an den Versicherten, den materiellen und nichtmateriellen Leistungen des Arbeitsamtes im Sinne der Schadensminderungspflicht durch ein angemessenes, zielführendes Verhalten zu begegnen« (Hartz et al. 2002: 45). Das Prinzip der »Aktivierung« besteht darin, die erwerbsfähigen Nicht-Erwerbstätigen vermittels der Aufklärung über die für sie institutionell vorgehaltenen »Wahl- und Handlungsoptionen« dazu zu bewegen, »selbst im Sinne des Integrationszieles tätig zu werden« (ebda.). Eine dieser neuen Optionen – und gleichsam die semantische Chiffre des gesamten Programms sozialverpflichteter Selbsttätigkeit – ist das arbeitsförderungspolitische Instrument zur Selbstbeschäftigung Arbeitsloser namens »Ich-AG« (vgl. Lessenich 2003 b). Diese geradezu genialische begriffliche Kreation bietet die denkbar kürzeste Charakterisie88 Soziale Subjektivität 4/ 2003 Mittelweg 36 rung des neuen wohlfahrtsstaatlichen Vergesellschaftungsmodus. Das Kürzel »AG« steht dabei einerseits für das Ich als Aktiengesellschaft – für das ökonomische Individuum, für die selbstgesteuerte Verwertung der eigenen Arbeitskraft, für den Menschen als Unternehmer seiner selbst. Andererseits läßt sich »AG« auch als Formel für das Ich als Arbeitsgemeinschaft lesen, als Verweis auf das moralische Individuum, auf den Menschen als zu sozialer Kooperation und zur Erfüllung eines gesellschaftlichen Nutzens disponiertes Wesen. Diesen doppelten Subjektivierungsanspruch gemeinsinniger Eigenverantwortung vertritt im deutschen Kontext wohl keine politische Partei so offensiv und ehrlich wie Bündnis 90/Die Grünen. In einem aktuellen programmatischen Text der Bundestagsfraktion unter dem Titel »Solidarität in Bewegung: Chancen für alle« wird der »Sozialstaat der Zukunft« als institutionalisiertes »Bewegungsangebot« charakterisiert: »Es bietet die Chance, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Und es ist zugleich ein Angebot der Einzelnen an die Gesellschaft: Ich mache mit, ich bewege mich, ich entwickle mich für und mit dem Ganzen, denn jede und jeder, die und der kann, soll einen Beitrag für die Gesellschaft leisten.« (Göring-Eckardt/Dückert 2003: 1) So wie die sozialstaatlich gebotene Chance zur Selbstbestimmung genutzt werden muß, will sich der imaginierte Aktivbürger nicht seiner »Chance auf ein menschenwürdiges Leben« (ebda.) begeben, ist auch das individuelle Angebot an die Gesellschaft keineswegs freiwillig: »Ein Angebot für jeden meint Chance und Pflicht zugleich, Verantwortung für das eigene Leben wahrzunehmen und für die Gesellschaft.« (Ebda.) Unverblümter könnte man das veränderte Verhältnis von »Individuum« und »Gesellschaft« im neuen Sozialstaat kaum auf den Punkt bringen: Wo Schutz des Individuums gegen soziale Risiken war (oder neudeutsch: wo Menschen zu »unmündigen Empfängern von staatlichen Alimentationen« [ebda.] wurden), soll individuelle Risikovorsorge in gesellschaftlichem Interesse werden. Die Gesellschaft konstituiert sich als Subjekt, das gemeinwohlkompatibles Handeln der Subjekte einklagt – und das sich gegen jene Individuen schützen und verteidigen muß, deren Verhalten der Gesellschaft Risiken auferlegt. Die Gesellschaft wird zum Bezugspunkt des Sozialen – und die Subjekte am Grad ihrer Gesellschaftlichkeit, an der »individuellen Pflicht zum verantwortlichen Umgang mit den gemeinsamen Ressourcen« (Schmidt-Semisch 2000: 171) gemessen. Untersozialisierte, will sagen: arbeitsunwillige, präventionsverweigernde, aktivierungsresistente Subjekte verkörpern in diesem Kontext Bedrohungen des Sozialen – ökonomisch, als Investitionsruinen, und moralisch, als Solidaritätsgewinnler. Demgemäß gilt es, den Einzelnen als selbstverantwortliches, rationales, vorsorgendes Individuum der Gesellschaft zuzuführen – ein prinzipiell unabschließbares Programm, denn »unternehmerisches Selbst ist man nicht, man soll es werden« (Bröckling 2002: 9). 89 Soziale Subjektivität Neoliberalismaus Mittelweg 36 4/ 2003 Der gegenwärtige Umbau des Sozialstaats zum Staat der »Aktivgesellschaft« (Lessenich 2003a) erschöpft sich also nicht in der Reform seiner Institutionen, sondern zielt maßgeblich auch auf die Transformation seiner Bürgerinnen und Bürger. Soll man diese Bewegung zweiter Ordnung – die institutionelle Bewegung zur Bewegung der Individuen – nun aber »neoliberal« nennen? Die doppelte Ambivalenz der »neoliberalen« Programmatik – sowohl was ihren ostentativen Antietatismus angeht wie auch was ihren offensiven Individualismus anbelangt – läßt an der Angemessenheit (und gewissermaßen an der Unschuld) dieser Bezeichnung zweifeln. Ein Vorteil der Gouvernementalitäts-Perspektive ist darin zu sehen, daß sie uns gestattet, »das neoliberale Programm des ›Rückzugs des Staates‹ als eine Regierungstechnik zu dechiffrieren« (Lemke 2000: 39; vgl. ders. 1997: 239 – 256). Selbstbestimmung und Eigenverantwortung markieren im neuen Sozialstaat nämlich nicht die Grenze sozialpolitischer Intervention, vielmehr werden sie zu konstitutiven Elementen derselben. Sie treten nicht allein als Instrumente, sondern zuallererst als Produkt »neoliberaler« Regierung in Erscheinung. Das »unternehmerische Selbst« ist nämlich nicht die »natürliche« Form menschlicher Verhaltensdisposition. Vielmehr handelt es sich um eine imaginierte Sozialfigur, »um das heuristische Konstrukt einer Als-ob-Anthropologie« (Bröckling 2003: 17): Die Adressaten der »neoliberalen« Programmatik werden konsequent zu jenen selbsttätigen Subjekten stilisiert, zu denen sie erst werden – gemacht werden und sich selber machen – sollen (vgl. ebda.: 18).4 »Neoliberales« Regieren dreht sich somit nicht zuletzt darum, »eine soziale Realität herzustellen, die es zugleich als bereits existierend voraussetzt« (Lemke et al. 2000: 9) – eine soziale Realität herzustellen, indem diese den konkreten Regierungspraktiken als politisches Wissen zugrunde gelegt wird. Man wird solche Zurichtungen nicht ohne weiteres als »Entstaatlichung« begreifen können. Und ebensowenig läßt sich die »neoliberale« Überhöhung autonomer Subjektivität für bare Münze nehmen. Denn die im Zuge der Reorientierung sozialstaatlicher Politik betriebene Idealisierung individueller Selbstbestimmung und Eigenverantwortung unterliegt systematisch der »Herrschaft des sozialen Gesichtspunktes« (Simmel 1992 [1908]: 517; vgl. Lessenich 2003a). Private Vorsorge, lebenslanges Lernen, aktives Altern und was sonst noch alles an Parolen persönlichen Selbstmanagements und autonomen Wahlhandelns ausgegeben wird: Jede dieser Varianten autonomer Lebensführung von unternehmerischen 4 Bröckling entwickelt dieses Argument am Beispiel des von der Humankapitaltheorie vor- ausgesetzten Rational-choice-Akteurs (vgl. ders. 2003: 16 – 21). Es läßt sich aber strukturgleich auf unseren Argumentationszusammenhang übertragen. 90 Soziale Subjektivität 4/ 2003 Mittelweg 36 Individuen wird zugleich als gesellschaftlicher Anspruch postuliert, als soziale Pflicht, der die einzelnen Gesellschaftsmitglieder »im Interesse der Gesellschaftstotalität« (Simmel 1992 [1908]: 518) nachzukommen haben. Die »neoliberale« Regierung der Individuen folgt, so läßt sich dieser Zusammenhang mit einem Begriff Georg Simmels resümieren, einer »rein sozialen, zentralistischen Teleologie« (ebda.). »Neoliberale« Gouvernementalität ist folglich – aus der RegierungsPerspektive selbst gesehen – weniger durch das Absterben des Staates als durch eine »Transformation des Politischen« (Lemke et al. 2000: 26) charakterisiert, weniger durch einen vermeintlichen Triumph des Individuums denn durch die faktische Herrschaft des Sozialen gekennzeichnet. Insofern mag das »neoliberale« Programm auch als »neosozial« betitelt werden: Es kreist um einen reformierten Wohlfahrtskapitalismus, der das Soziale in und an der Marktwirtschaft neu definiert und die Idee der Sozialbindung des Eigentums reinterpretiert – als gemeinwohlorientierte Nutzung der Verfügungsrechte der Individuen über sich selbst. Die gängige Behauptung, der neue, schlanke Wohlfahrtsstaat überlasse das Feld regulativer Intervention der Selbststeuerung des Marktes und der Autonomie der Marktsubjekte, erweist sich in diesem Lichte als »neoliberale« Suggestion. Selbstregulierende Märkte sind ebensowenig Bestandteil gesellschaftlicher Realität und sozialer Praxis wie selbstbestimmte Individuen. Beide – freie Märkte und freie Individuen – sind vielmehr Abstraktionen der Realität, Formen des Denkens der Realität, »mit dem Ziel, sie ›regierbar‹ zu machen« (Lemke et al. 2000: 22). »Neoliberale« Regierung konstituiert, indem sie beides als existierend – als bloß verschüttete, schlicht wieder freizulegende Potentialität – behauptet, ein politisches Wissen, das seinerseits zum effektiven Element von Regierung wird. »Dieses Wissen stellt ... eine intellektuelle Bearbeitung der Realität dar, an der dann politische Technologien ansetzen können« (ebda.: 20 f.): Technologien der Herrschaft und Technologien des Selbst, der Fremdführung und der Selbstführung – und der Führung zur Selbstführung. Insofern der Begriff des »Neoliberalismus« also Vorstellungen von gesellschaftlicher und individueller Selbststeuerung evoziert, die selber zu Faktoren der Regierung werden, ist er als solcher schon Teil der Gouvernementalität, des »Regierungs(denk)stils« der Gegenwart – des Denkens der Realität und ihrer Regierbarkeit. Vielleicht sollte man sich schon deshalb der politischen und wissenschaftlichen Verwendung des Begriffs enthalten? Oder aber man sollte alternativ – und darin könnte der Sinn des vorliegenden Beitrags liegen – das Wissen um die inhärente Widersprüchlichkeit, um die doppelte Ambivalenz des »neoliberalen« Programms, um die Als-ob-Mechanik der selbstregulierenden Ökonomie und die Als-ob-Anthropologie des unternehmerischen Selbst, propagieren. Denn was an Foucault und seiner akademisch-intellektuellen Renaissance 91 Soziale Subjektivität in Gestalt der »governmentality studies« ein wenig stört, ist »der implizite Finalismus« (Lemke 2000: 41) – um nicht zu sagen: Fatalismus – dieser Schule, »der eine kontinuierliche Rationalisierung und Effektivierung der Führungsverhältnisse unterstellt« (ebda.) und für Momente der Widerständigkeit und dialektischer Bewegung wenig Raum läßt. Vielleicht trägt das Wissen um eine wohlfahrtsstaatliche Regierung, die das Individuum und dessen Subjektivität für die Zwecke und Bedürfnisse der »Gesellschaftstotalität« (Simmel) funktionalisiert, ja einen Keim von Subversivität in sich?5 Wir werden es mit Sicherheit – oder aber ohne sie – erleben. Literatur Mittelweg 36 4/ 2003 Bröckling, Ulrich (2002): Jeder könnte, aber nicht alle können. Konturen des unternehmerischen Selbst, in: Mittelweg 36, 11 (4), S. 6 – 26 Bröckling, Ulrich (2003): Menschenökonomie, Humankapital. 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Michel Foucault’s lecture at the Collège de France on neo-liberal governmentality, in: Economy and Society 30 (2), S. 190 – 207 5 Die Idee einer potentiell subversiven »Funktionalisierung als Akteurswissen« ist in Anlehnung an eine Gedankenfigur Georg Vobrubas (1992: 218 – 222) entstanden. 92 Soziale Subjektivität Lemke, Thomas; Krasmann, Susanne; Bröckling, Ulrich (2000): Gouvernementalität, Neoliberalismus und Selbsttechnologien. Eine Einführung, in: Ulrich Bröckling; Susanne Krasmann; Thomas Lemke (Hrsg.), o.c., S. 7 – 40 Lessenich, Stephan (2003 a): Der Arme in der Aktivgesellschaft. Zum sozialen Sinn des »Förderns und Forderns«, in: WSI Mitteilungen 56 (4), S. 214 – 220 Lessenich, Stephan (2003 b): Im Dienste des großen Ganzen. Die Ich-AG als Chiffre eines Umbruchs, in: Freitag, Nr. 7, vom 7.2.2003, S. 4 Marshall, Thomas H. (1992 [1949]): Staatsbürgerrechte und soziale Klassen, in: Ders., Bürgerrechte und soziale Klassen. 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The article seeks to identify the double ambivalence of the »neoliberal« agenda by analyzing the transformation of former welfarestate institutions into agencies disclosing a new »entrepreneurish self«. What appears to be an antietatistic and essentially individualistic agenda at first glance turns out to be a new mode of society governance. Consequently the notion of neoliberalism demands reconsideration as it forms itself a constitutive part of the present days governmentality understood as a genuine model for conceiving and governing reality. Mittelweg 36 4/ 2003 Summary 93 Soziale Subjektivität