Prävention sexueller Ausbeutung in Spitälern und Kinderkliniken Referat anlässlich der Fachtagung der Fachgruppe Kinderschutz der schweizerischen Kinderkliniken am 19. November 2002 an der Universitäts-Kinderklinik Bern (gekürzte Fassung) Verschiedene Fälle, die in letzter Zeit publik wurden, zeigen es: Kinder und Jugendliche können überall dort, wo sie Erwachsenen anvertraut sind, sexuell ausgebeutet werden – in Schulen, Heimen, in der Kirche, im Sportverein, im Musikunterricht, im Pfadilager oder in der Jugendgruppe. Dass sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen in Spitälern oder Kliniken ebenso vorkommt wie in anderen Einrichtungen, davon ist auszugehen. Entsprechende Fälle sind bis heute jedoch kaum öffentlich bekannt. Stärker noch als anderswo ist sexuelle Ausbeutung innerhalb professioneller Beziehungen in der Medizin tabuisiert. Das ist wohl unter anderem auf den hohen Status und den Nimbus des moralisch Unfehlbaren zurückzuführen, welche verbunden sind mit den medizinischen Berufen, insbesondere mit dem des Arztes (und teilweise auch der Ärztin). Innerhalb der Ärzteschaft wird das Thema erst allmählich diskutiert und ähnlich der Kirche werden viele Fälle standesintern geregelt, obwohl sie eigentlich in die Hände der Justiz gehörten. Drei-Perspektiven-Modell Welche Faktoren nun tragen dazu bei, das Risiko sexueller Ausbeutung in einer Institution im Allgemeinen und der Institution Spital im Speziellen zu erhöhen bzw. zu senken? Ulrike Brockhaus und Maren Kolshorn haben dazu ein Modell entwickelt, das so genannte Drei-Perspektiven-Modell (vgl. Brockhaus und Kolshorn 1998/2 und 2002), welches auf den Erkenntnissen zu den Ursachen sexueller Gewalt basiert und einen Rahmen zur Analyse der Faktoren liefert, die sexuelle Gewalt begünstigen bzw. hemmen. Die beiden WissenschaftlerInnen gehen von einer Kosten-Nutzen-Abwägung aus und fragen nach den Kosten bzw. dem Nutzen von Handlungen auf drei verschiedenen Ebenen, nämlich derjenigen des Täters, des Opfers und des intervenierenden Umfeldes: 5 • Welche Faktoren begünstigen oder erschweren die Initiierung und Fortsetzung sexuell gewalttätiger Handlungen seitens der Täter? • Welche Bedingungen begünstigen oder erschweren effektiven Widerstand seitens der Opfer? • Welche Faktoren begünstigen oder erschweren adäquate Interventionen seitens des Umfelds? plizit zur Sprache kommen. Richtlinien und Zusätze im Arbeitsvertrag, die bei der Einstellung unterschrieben werden müssen, legen fest, dass bereits bei einem Verdacht der Sache nachgegangen wird und gewisse Verhaltensweisen von vornherein nicht toleriert werden. Alles Festgeschriebene erleichtert es dem Arbeitgeber, zu handeln und somit die Kosten für die Ausübung sexueller Gewalt zu erhöhen. Nach diesem Modell wird jede Massnahme, welche die Kosten der Ausübung sexueller Gewalt erhöht oder die von Intervention und Widerstand senkt, die Wahrscheinlichkeit sexueller Gewalt verringern – und somit präventiv wirken. Beispielsweise bringt Machterleben dem Täter Nutzen, Widerstand seitens des Opfers erhöht die Kosten für die Ausübung eines Missbrauchs, der Nutzen von Gegenwehr für das Opfer ist das Ende des Missbrauchs, hingegen bedeutet das Auseinanderbrechen der Familie hohe Kosten für die Betroffenen. Ein spitalinternes Reglement zum Umgang mit sexueller Belästigung oder die Schaffung einer Anlaufstelle verschieben nach diesem Modell das Kosten-NutzenVerhältnis zu Gunsten der Opfer und zu Ungunsten potenzieller Täter(innen). Ein zweiter, gewichtiger Risikofaktor liegt in der Autoritätsstellung des möglichen Täters. Die Reputation eines Arztes bzw. seines Berufsstandes und seine fachliche Autoritätsstellung bilden ein besonderes Risiko, indem sie ein bereits bestehendes Machtgefälle wie dasjenige zwischen Erwachsenen und Kindern noch zusätzlich vergrössern. Selbstverständlich besteht dieser Machtvorsprung gegenüber den PatientInnen auch beim Pflegepersonal und den therapeutische Fachpersonen, wenn auch nicht im gleichen Ausmass. Diese Autoritätsstellung bietet einen hohen Schutz vor Aufdeckung von missbräuchlichen Handlungen, denn ein pädosexuell motivierter Arzt verfügt unter anderem genau deswegen über weit mehr ideelle und materielle Ressourcen als seine (potentiellen) Opfer. «Gegen den Willen eines anderen Menschen die eigenen Interessen behaupten – das kann nur, wer mächtiger ist, wer über mehr Mittel verfügt, die er (oder sie) einsetzen kann, um das eigene Ziel durchzusetzen» (Brockhaus & Kolshorn 1998/2, S. 95). Um diesen Risikofaktor zu verringern, braucht es tief greifende Massnahmen wie eine Entmystifizierung des Bildes vom «Halbgott in Weiss» hin zu einem realistischen Bild einer Fachperson, die auch Fehler begeht und gewisse Pflichten gegenüber ihrem Klientel hat. Interne Anlaufstellen für PatientInnen bzw. deren Angehörige garantieren zudem Beschwerdemöglichkeiten bei Konflikten und Missbräuchen und erhöhen ebenfalls die Kosten für die Ausübung sexueller Gewalt. Risiken und Massnahmen auf der Täterebene Täter mit pädosexuellen Interessen suchen sich gezielt Arbeitsorte aus, an denen sie die Möglichkeit haben, Kontakte zu Kindern und Jugendlichen zu knüpfen. Auch in Kinderspitälern und anderen medizinischen Einrichtungen, die Kinder und Jugendliche betreuen, bewegen sich mit hoher Wahrscheinlichkeit Personen mit pädosexuellen Interessen. So stellt sich die Frage, welche Massnahmen für den Täter die Kosten im Vergleich zum Nutzen erhöhen und somit risikomindernd bezüglich der Ausübung von sexuellem Missbrauch wirken. Schon bei der Einstellung sollten gewisse Hürden eingebaut und damit signalisiert werden, dass in der betreffenden Institution ein Problembewusstsein vorhanden ist und nicht gezögert wird, entsprechende Interventionen und Sanktionen zu tätigen. Mittlerweile wird vielerorts vor einer Anstellung ein Strafregisterauszug verlangt und das Thema «Grenzüberschreitungen» (Art. 4 der Standesordnung der Ärzteschaft) sollte in einem Anstellungsgespräch ex- 6 In dieser Hinsicht ist die Medizin vergleichbar mit der Kirche: Dort zeigen die vielen publik gewordenen Fälle von sexueller Ausbeutung, dass eine starke interne Hierarchie, verbunden mit dem Ruf moralischer Unfehlbarkeit, Missbräuchen wie sexueller Ausbeutung und Belästigung Tür und Tor öffnen! Um dem entgegenzuwirken, ist ein reflektierter und verantwortungsbewusster Umgang mit Machtunterschieden notwendig, der von Transparenz, Team7 geist und Kritikfähigkeit geprägt ist. Das ist letztendlich eine Frage der Institutionskultur, die sich nicht mit ein paar Massnahmen von heute auf morgen umgestalten lässt, sondern vielmehr einen längerfristigen Wandlungprozess voraussetzt. Ein weiteres Risiko nebst der Motivation eines potentiellen Täters liegt in der für die Medizin typischen Situation der Untersuchung und des medizinischen Eingriffs. Sie bieten einem potentiellen Täter vielfältige Möglichkeiten, seinen Wissensvorsprung und seine Stellung auszunutzen zur Befriedigung eigener Bedürfnisse und einen sexuellen Missbrauch gezielt zu arrangieren. Spitalintern werden deshalb Bestimmungen, die Untersuchungssituationen regeln, einen präventiven Effekt haben. So besteht bereits in vielen Spitälern die Regelung, dass Untersuchungen im Intimbereich nur in Anwesenheit einer zweiten Person getätigt werden. Klare Bestimmungen erhöhen den Schutz potentieller Opfer vor Übergriffen – vorausgesetzt, sie bzw. ihre Angehörigen sind darüber informiert. Ausserdem erhöhen übersichtliche Raumverhältnisse und institutionalisierte Kontrollmöglichkeiten durch Mitarbeitende die Kosten zur Ausübung eines Missbrauchs bzw. senken sie für eine Intervention seitens des Umfeldes. Ein weiterer Risikofaktor bildet der nahe Körperkontakt, der sich sowohl aus einer Untersuchungssituation wie auch infolge pflegerischer Handlungen ergibt. Besonders heikel sind Körperkontakte zu PatientInnen, die sich nur schlecht wehren können, entweder weil sie schwer behindert oder narkotisiert sind. Der Nutzen oder die Notwendigkeit einer pflegerischen oder medizinischen Handlung steht im Spital häufig a priori über dem Interesse des Klientels und es besteht ein grosses Risiko, eine grenzverletzende Handlung mit eben dieser Notwendigkeit zu begründen – gegen den Willen oder die fachlichen Bedenken der untersuchten Person. Gerade bei Menschen mit einer Behinderung entsteht infolge ihrer Krankheitsgeschichte oft eine eigentliche Desensibilisierung gegenüber unerwünschten Berührungen. Sie sind sich daran «gewöhnt» und werden kaum Widerstand leisten. Auch ein Kind ist in der Regel nicht in der Lage, die fachliche Notwendigkeit einer bestimmten Handlung abzuschätzen und sich somit gegen deren Ausübung zu wehren. Diesen Schritt schafft schon ein Grossteil der Erwachsenen nicht! 8 Um dieses Risiko zu senken, ist es einerseits nötig, Themen wie Umgang mit Körperkontakt, Grenzverletzungen und sexuelle Belästigung bereits in der Ausbildung vertieft zu reflektieren. Auch interne Weiterbildungen und Reglemente tragen dazu bei, die Sensibilisierung gegenüber solchen Situationen zu erhöhen und einen bewussteren Umgang damit zu finden. Generell müssen Strukturen gegeben sein, die es dem Umfeld ermöglichen, Rückfragen zu stellen und nötigenfalls Kontrolle auszuüben. Klare Abläufe und Zuständigkeiten erleichtern eine Intervention im Falle eines Verdachts und senken somit deren Kosten. In der Literatur über sexuelle Missbraucher wird immer wieder herausgestellt, wie umfassend von diesen die Verantwortung für ihr Handeln durch Verleugnungen, Verharmlosungen, Rechtfertigungen und Schuldverschiebungen abgewehrt wird (vgl. Deegener 1995). Diesem umfassenden VerantwortungsAbwehr-System muss eine Institution Rechnung tragen, indem Richtlinien erstellt werden, wie bei einem Verdacht vorgegangen wird und wie das Verhalten gegenüber einem Angeschuldigten ist. So kann vermieden werden, dass die Leugnung einer Tat automatisch zur Entlastung des Angeschuldigten führt, sondern der Fall seriös untersucht wird. Klaren Vorgehensweisen und Sanktionen bei Verdacht bzw. konkreten Hinweisen ist der Vorzug zu geben vor rein therapeutischen bzw. helfenden Ansätzen, denn diese haben nur bei gleichzeitiger Verantwortungsübernahme und Selbstkontrolle den erwünschten Effekt der Rückfallvermeidung. Aus dieser Überlegung heraus ist es in vielen Fällen durchaus sinnvoll, Strafanzeige zu erstatten und die Untersuchungsbehörden einzuschalten. Eine Institution wie ein Spital hat diesbezüglich eine grosse Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit und ihrem Klientel. Sie ist dafür verantwortlich, dass es – auch ausserhalb ihrer Mauern – keine weiteren Opfer des selben Täters mehr gibt. Deshalb ist es zweifelhaft, ob rein disziplinarische Massnahmen genügen, um einen Rückfall zu verhindern und einen Täter zur Einsicht zu bewegen. Vielmehr sollten solche Taten weitreichendere Konsequenzen wie Inhaftierung und Berufsverbot nach sich ziehen. 9 Risiken und Massnahmen auf der Ebene der Opfer Das Opfer wird vom Täter angegriffen und ist damit im Zwang zu reagieren. Effektive Gegenwehr kann einen sexuellen Übergriff oder zumindest seine Wiederholung vereiteln. Aus der Perspektive des Opfers muss daher betrachtet werden, welche Bedingungen effektiven Widerstand begünstigen oder erschweren. Meist bedeutet dies, dass ein Kind in der Lage ist, sich Unterstützung von aussen zu holen (vgl. Brockhaus & Kolshorn 1998/2). Seitens der Opfer decken sich die Risiken zu einem Teil mit denjenigen hinsichtlich eines potentiellen Täters. Bei sexueller Gewalt handelt es sich um ein Machtphänomen und in diesem Geschehen sind potentielle Opfer in einem Spital, im Besonderen kindliche Opfer, in dreifacher Hinsicht unterlegen: • Erstens verfügen sie aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung über deutlich weniger materielle wie immaterielle Ressourcen (z.B. wird ihre Glaubwürdigkeit in vielen Fällen angezweifelt i.G. zu derjenigen eines Angeschuldigten). • Das wird bei Mädchen, die zwei- bis dreimal so häufig wie Jungen von sexueller Ausbeutung betroffen sind, noch verstärkt durch die allen Gesellschaftssystemen immanente Geschlechtshierarchie. • Drittens, und das ist für die Institution Spital bedeutsam, kommt die Abhängigkeit von der fachlichen Beurteilung oder Handlung eines Arztes (oder auch Pflegers) hinzu. Diese Faktoren erschweren effektiven Widerstand seitens der Opfer ungemein bzw. machen es einem Kind oder Jugendlichen sozusagen unmöglich, sich direkt zu wehren. Der Täter verfügt über weit mehr Wissen, Erfahrung, Autorität, Geld, Status und Einflussmöglichkeiten als sein Opfer. Aus der Perspektive der Betroffenen fehlt es, um sich wirksam gegen sexuelle Gewalt zur Wehr setzen zu können, an Ressourcen und an Wissen, über das, was gerade geschieht und über Hilfsangebote sowie an realer sozialer Unterstützung (vgl. Brockhaus & Kolshorn 2002, S. 59). Direkte Opferprävention kann die Position der möglichen Opfer stärken – indem sie über mögliche Ausbeutungssituationen aufgeklärt, über ihre Rechte 10 und Hilfsangebote informiert und allgemein in ihrer Position gestärkt werden. Darüber hinaus ist eine Institution verpflichtet, jeden Verdacht oder Hinweis ernst zu nehmen, interne Anlaufstellen oder -personen zu ernennen, die mit dem Thema der sexuellen Gewalt vertraut sind, über diese Hilfsangebote zu informieren und die weiteren Abläufe und Zuständigkeiten klar zu regeln. Es gilt, für Betroffene die Schwellen niedriger zu machen, sich im Falle sexueller Übergriffe Hilfe zu suchen und somit die Kosten gegenüber dem Nutzen von Widerstand zu senken. In Basel z.B. existiert seit einiger Zeit eine niederschwellige Patientenanlauf- und Beratungssstelle, bei der sich bisher mehrheitlich Patientinnen wegen sexueller Übergriffe im fachlichen Kontext gemeldet haben (vgl. Medizinische Gesellschaft Basel 2002). Ein weiteres Risiko für mögliche Opfer, insbesondere Mädchen und Frauen, besteht in traditionellen Rollen- und Wertvorstellungen. Widerstandsstrategien, die mit der traditionellen weiblichen Rolle konform gehen – z.B. sich dem Schutz bekannter Männer anzuvertrauen, sich bloss nicht massiv wehren, höflich bleiben etc. – sind weitaus ineffektiver als aus der weiblichen Rolle zu fallen und den Täter bspw. lautstark anzubrüllen oder sich massiv körperlich zu wehren. Das belegen empirische Untersuchungen über sexuelle Gewalt an Frauen. Nun kommt im Spital bzw. in der Beziehung zum Arzt noch ein weiteres traditionelles Bild hinzu, nämlich dasjenige des allwissenden, gütigen und helfenden Doktors, dem unbedingt zu vertrauen und zu gehorchen ist. Dieses Bild ändert sich erst allmählich und viele Ärzte und Ärztinnen tun sich schwer damit, dass ihre PatientInnen mündiger, kritischer und «aufmüpfiger» werden. Genau solch ein Verhalten aber wirkt sich präventiv aus! Selbstredend fällt es einem Kind weitaus schwerer als einer erwachsenen Person, sich den Anordnungen eines Arztes zu widersetzen. Deshalb müssen in präventiver Hinsicht auch die Eltern einbezogen und ihre Position gestärkt werden, denn der Schutz von Kindern vor Gewalt liegt letztendlich in der Verantwortung der Erwachsenen. Für Kinder und Jugendliche, die bereits als von sexueller Gewalt Betroffene in eine Institution eingewiesen werden, besteht ein zusätzliches Risiko, erneut Opfer zu werden. Ihr oftmals stark sexualisiertes und distanzloses Verhalten kann von einem möglichen Täter umgedeutet und als Aufforderung zu einer sexuellen Annäherung erneut missbraucht werden. Die Gefahr einer wieder11 holten Ausbeutung erfordert einen sehr reflektierten und klar geregelten Umgang mit den Betroffenen. Zusätzlich sind tertiäre Präventionsmassnahmen wie Therapie und andere Hilfsmassnahmen vonnöten, um die Wiederholungsgefahr durchbrechen zu können. Dasselbe gilt übrigens auch für tätliche Jugendliche, wie sie teilweise in der Psychiatrie betreut werden. Therapieprogramme für jugendliche Sexualstraftäter tragen dazu bei, das Rückfallrisiko zu verringern und einer Verfestigung des Gewaltverhaltens entgegenzuwirken. Ein weiterer Risikofaktor besteht in der ambivalenten Beziehung des Opfers zum Täter. In den meisten Fällen schafft der Täter eine Vertrauens- und Abhängigkeitsbeziehung zum Opfer, indem er dieses bevorzugt und/oder dessen Bedürftigkeit durch Aufmerksamkeit, Geschenke, emotionale Zuwendung und vieles mehr befriedigt. Pädosexuelle Täter haben ein ausgeprägtes Sensorium für Kinder und Jugendliche, die emotionale und andere Defizite aufweisen und die sich aufgrund dieser starken Bedürftigkeit leicht gewinnen und in eine Ausbeutungsbeziehung verwickeln lassen (vgl. Deegener, 1995). Bei einem Kind im Spital kommt hinzu, dass es in einer extremen Notsituation und gleichzeitig aus seiner vertrauten Umgebung heraus gerissen ist. Das wiederum erhöht seine emotionale Bedürftigkeit um ein Vielfaches. Diese Ambivalenz bzw. der drohende Verlust der positiven Aspekte in der Beziehung zum Täter erhöhen die Kosten von Gegenwehr für die Opfer deutlich. Aus all diesen Gründen sind von sexueller Ausbeutung Betroffene auf die Hilfe und Unterstützung von aussen angewiesen. Es ist notwendig, dass die Personen im Umfeld eines Opfers hinreichende Kenntnisse über die Dynamik des Missbrauchsgeschehens haben, die Ambivalenzen der Betroffenen erkennen und professionell damit umgehen können. Risiken und Massnahmen auf der Ebene des Umfeldes Auf der Ebene des Umfeldes liegt die grösste Verantwortung sowie der breiteste präventive Handlungsbedarf einer Institution. Der Schutz vor sexueller Gewalt kann und darf nicht an die möglichen Opfer delegiert werden, sondern muss von der Institution bzw. den verantwortlichen Erwachsene wahrgenommen und umgesetzt werden. Der entsprechende juristische Begriff der 12 «Garantenpflicht» umschreibt diese Verpflichtung einer Institution, zum Schutze ihres Klientels alle notwendigen Schritte und Massnahmen zu unternehmen, wenn eine Gefährdung desselben vorliegt. Das Unterlassen von Hilfeleistungen kann als Straftatbestand bewertet und eine Institution haftbar gemacht werden für die Folgekosten. Sogar dann, wenn konkrete Hinweise seitens Betroffener gegeben werden, reagiert das Umfeld häufig nicht oder unprofessionell. Offenbar scheint die Bagatellisierung jedes noch so deutlichen Hinweises zu helfen, den Nutzen einer Intervention gegenüber den hohen Kosten, die sie persönlich und im Kollegium verursachen würde, klein zu halten. Darin besteht ein erstes, grosses Risiko im Umfeld: Sexuelle Gewalt wird nicht oder nur von Einzelnen wahrgenommen – der Täter wendet ja auch einiges an Strategien an, um das Umfeld zu täuschen und ein Eingreifen auszuschliessen. Nach Frank Urbaniok haben Personen im Umfeld eines Täters die Tendenz, sich unbewusst mit diesem zu identifizieren. Die Identifikation mit dem Opfer heisst Gefühle von Hilflosigkeit, Ohnmacht und Scham mit diesem zu teilen, und unbewusst wollen die meisten Menschen ebendies vermeiden (ebd. in Lukesch & Ramstein 2000, S. 119). Hinzu kommt, dass es meist wesentlich leichter fällt, eine Ausbeutung in einem fremden System als im eigenen wahrzunehmen. Das erleben Mütter bei innerfamiliärem Missbrauch ebenso wie Fachpersonen bei sexueller Ausbeutung durch einen Kollegen. Personen aus dem sozialen Umfeld verspüren nur dann die Neigung zu intervenieren, wenn sie eine Notwendigkeit dazu erkennen. Das setzt voraus, dass sie die sexuelle Gewalt überhaupt wahrnehmen und als etwas, was nicht sein darf, werten. Das wiederum hängt wesentlich von ihren Normen und ihrem Wissen ab. Personen mit traditioneller Geschlechtsrollen-Orientierung neigen dazu, Schilderungen sexueller Gewalt zu Ungunsten des Opfers und zu Gunsten des Täters zu beurteilen. Deshalb braucht es nebst einem Basiswissen über sexuelle Gewalt ebenso die Reflexion und Überwindung traditioneller Wert- und Normvorstellungen, um diesen Mechanismen wirkungsvoll begegnen zu können. Wiederum sichern auch hier klar festgelegte interne Abläufe und Zuständigkeiten, dass Hinweise ernst genommen und in jedem Fall abgeklärt werden durch die Verantwortlichen, nötigenfalls auch die Justiz. 13 Ein weiterer Risikofaktor im Umfeld einer sexuellen Ausbeutung bildet das Institutionsklima. In einer Institutionskultur, die geprägt ist von mangelndem gegenseitigen Respekt, rigiden Führungsstrukturen und von Konkurrenz- und Zeitdruck, ist es weitaus schwieriger, auf etwaige Missstände hinzuweisen als in einem Klima, in dem gegenseitige Achtung, Respekt und Teamgeist gepflegt werden. Das ist nicht nur eine Frage des Führungsstils. Eine klare, festgeschriebene Haltung auch gegenüber leichten (z.B. verbalen) sexuellen Übergriffen gegen Frauen und Kinder hat eine deutliche Signalwirkung und erleichtert Interventionen bzw. senkt die Kosten für das Umfeld und erhöht sie für den Täter. In der Regel wird diese Haltung im Leitbild einer Institution und/oder ethischen Richtlinien festgehalten. Im medizinischen Bereich existieren bereits viele Richtlinien und Leitbilder. Deshalb ist besonders darauf zu achten, wie diese im medizinischen Alltag durchgesetzt und verankert werden. Sexuelle Gewalt gegen Frauen und Kinder kommt überall dort häufiger vor, wo traditionelle Arbeitsteilung und Geschlechtsrollen vorherrschen – seien das nun Gesellschaften, Familien oder eben auch Institutionen. Darin liegt ein weiterer Risikofaktor für eine Institution. Oder anders ausgedrückt: Je gleichberechtigter Frauen (und Kinder) in einem System sind und je egalitärer die Rollenteilung zwischen den Geschlechtern ist, umso geringer wird auch das Risiko (sexueller) Gewaltausübung durch Männer. Somit wirkt sich eine konsequente Gleichstellung der Geschlechter innerhalb einer Institution auch gewaltpräventiv aus. Werden Frauen auf allen Führungsstufen einer Institution einbezogen und erhalten mehr Zugang zu materiellen und ideellen Ressourcen, so werden für diese die Kosten von Widerstand gesenkt und ihre Motivation zur Intervention erhöht. Selbstverständlich bietet eine Frau an sich noch keine Garantie, dass keine Gewalt ausgeübt wird, doch der stärkere Einbezug von Frauen auf allen Ebenen einer Institution senkt erwiesenermassen das Risiko sexueller Gewalt. Bei der Einrichtung Spital kann man sich nicht des Eindrucks erwehren, dass nach wie vor ein gewisser Handlungsbedarf besteht – je höher die Position innerhalb der Spitalhierarchie umso seltener sind Frauen und umso häufiger Männer anzutreffen. Frauen sind demgegenüber im klassischen Bereich der Pflege in der Überzahl. Frauen- bzw. familienfreundliche Arbeitszeitmodelle und flexible 14 Karrierebedingungen wirken sich ebenso präventiv aus wie alle Massnahmen, die eine betriebliche Gleichstellung und transparente, geschlechtsneutrale Lohnsysteme garantieren. Auch die Führungsstrukturen einer Institution haben einen Einfluss darauf, ob sich die Kosten für die Ausübung sexueller Ausbeutung für den Täter senken und für das Umfeld erhöhen. Strukturen, bei denen die Entscheide rigide von oben und ohne Einbezug der Mitarbeitenden gefällt werden, bergen ein hohes Risiko für Machtmissbrauch und damit auch für sexuelle Ausbeutung. Doch auch diffuse Führungsstrukturen bilden ein gewisses Risiko. Wenn Entscheide entsprechend wechselnder, informeller Machtverhältnisse getroffen werden, so wird fachliche und menschliche Kontrolle erschwert und die Kosten für eine Intervention erhöht. Demgegenüber sind Institutionen mit klaren, transparenten Führungsstrukturen und einem demokratischen Führungsstil eher in der Lage, verantwortungsvoll mit Macht umzugehen und ein Umfeld zu schaffen, in dem sexuelle Ausbeutung verhindert bwz. frühzeitig erkannt und gestoppt werden kann. Die Möglichkeit, fachliche und menschliche Anliegen einbringen und allenfalls Kritik üben zu können, senkt für die Personen im Umfeld die Kosten von Widerstand und Intervention. Ein weiterer, gewichtiger Risikofaktor besteht in der mangelnden Offenheit und Transparenz einer Institution. Gibt es in einer Institution Tabuthemen wie Sexualität, Macht und Gewalt, so erhöht das die Kosten für eine Offenlegung von sexueller Ausbeutung sowohl für die Opfer als auch für das Umfeld ungemein – hingegen senkt es sie auf der Seite des Täters. Das zeigen die Fälle von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche deutlich. Schottet sich eine Institution zudem noch nach aussen ab und versucht, alle Schwierigkeiten und Missstände intern zu regeln, so wird es sowohl für Betroffene wie auch das Umfeld beinahe unmöglich, sich Hilfe zu holen bzw. diese Hilfestellung zu geben. Zu gross ist das Risiko, isoliert und kaltgestellt zu werden. Hingegen tragen Vernetzung und Interdisziplinarität mit der damit verbundenen Öffnung nach aussen dazu bei, dass Entscheide aufgrund fachlicher Überlegungen und nicht aufgrund der Machtstellung Einzelner getroffen werden und ein gewisses Mass an gegenseitiger Kontrolle besteht. 15 Schlussbemerkungen Verwendete Literatur Diese Ausführungen haben hoffentlich verdeutlicht, wie sehr Prävention sexueller Ausbeutung ein prozesshaftes Geschehen ist, bei dem alle Ebenen einer Institution einbezogen werden müssen. Das kostet Zeit und Geld. Nicht nur müssen eigene mögliche Missstände angegangen werden, sondern es werden auch zeitliche und finanzielle Ressourcen benötigt, um Prävention nachhaltig auf allen institutionellen Ebenen verankern zu können. Brockhaus, Ulrike & Kolshorn, Maren: Die Ursachen sexueller Gewalt, in: Ammann & Wipplinger (Hg.): Sexueller Missbrauch, 1998 (2. Auflage), S. 89-105 Daneben ist es ausserordentlich wichtig, Prävention nicht oder nicht ausschliesslich an die (potentiellen) Opfer zu delegieren. Die Verantwortung liegt, gerade hinsichtlich innerinstitutioneller Ausbeutung, klar bei den Erwachsenen und der Leitung. Von sexueller Gewalt betroffene Kinder und Jugendliche benötigen eine konsequente Parteinahme und einen ebenso konsequenten Opferschutz. Prävention heisst aber auch, die Ursachen sexueller Gewalt genau zu analysieren: «Die Antworten, die darauf gegeben werden, bestimmen, wie mit dem Problem umgegangen wird, welche Massnahmen zur Prävention und Intervention ergriffen werden und damit letztlich, ob es gelingen kann, Ausmass und Auswirkungen sexueller Gewalt einzudämmen». (Brockhaus & Kolshorn 1998/2, S. 89). Mit der Betonung gesellschaftlicher Aspekte sexueller Gewalt soll keinesfalls die Bedeutung individueller Faktoren negiert werden – ihr Einfluss muss jedoch immer im sozialen und kulturellen Gesamtzusammenhang gesehen werden. Doch letztendlich bleiben individuelle Handlungsspielräume, die Entscheidungen fordern – für oder gegen Gewalt. Brockhaus, Ulrike & Kolshorn, Maren: - Drei-Perspektiven-Modell. Ein feministisches Ursachenmodell (S. 55ff.) - Feministisches Ursachenverständnis (S. 109ff.) - Modell der vier Voraussetzungen - David Finkelhors Ursachenmodell (S. 363ff.) - Mythen über sexuelle Gewalt (S. 373ff.) in: Bange, Dirk & Körner, Wilhelm (Hg.): Handwörterbuch sexueller Missbrauch. Göttingen: Hogrefe 2002 Deegener, Günther: Sexueller Missbrauch: Die Täter. Weinheim: Beltz, PsychologieVerlagsUnion 1995 Lukesch, Barbara & Ramstein, Ruth: Sexueller Missbrauch. Der Fall Möriken und seine Folgen, Zürich: Beobachter-Buchverlag 2000 (Interview mit Frank Urbaniok S. 118ff.) Medizinische Gesellschaft Basel: Arbeitsgruppe «Umgang mit Tätern». Empfehlungen zu Handen des Vorstandes. Basel 2002 Corina Elmer 16 17