Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung Pflegeleistungen für schwerbehinderte Asylbewerber unter besonderer Berücksichtigung aktueller gesetzgeberischer Initiativen und rechtlicher Vorgaben des Völkerrechts BACHELORARBEIT zur Erlangung des akademischen Grades Bachelor of Arts (B.A.) Vorgelegt von: Marc Jabbusch 1. Betreuerin: Prof. Dr. Gabriela Strada 2. Betreuerin: Prof. Britta Tammen Tag der Einreichung: 20.07.2015 URN: urn:nbn:de:gbv:519-thesis2015-0377-8 INHALTSVERZEICHNIS Abkürzungsverzeichnis Anhangsverzeichnis Einleitung 1 1. Rechtliche Grundlagen und Quellen 1.1 Rechtsquellen Asyl in Europa und im Völkerrecht 5 1.2 Rechtsquellen Asyl in Deutschland 6 1.3 Rechtsquellen Pflege in Deutschland 9 2. Versorgungslücken der §§ 4,6 AsylbLG 2.1 Traumata / PTBS 13 2.2 Folgen mangelnder Versorgung 15 2.3 Sozialämter als „Gutachter“ 16 2.4 Fehlende Integration 17 3. EU-Charta / UN-Konventionen 3.1 Charta der Grundrechte der Europäischen Union 19 3.2 UN-Kinderrechtskonvention 19 3.3 UN-Behindertenkonvention 21 4. Höchstrichterliche Rechtsprechung 22 5. Lösungsvorschläge 5.1 Aufnahmerichtlinie der EU vom 26.03.2013 23 5.2 Neue Gesetzesinitiativen 24 5.3 Gesundheitskarte „Bremer Modell“ 25 6. Fazit und Ausblick 27 Literaturverzeichnis 31 Online-Publikationen 33 ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS AGG Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz AEMR Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte AsylbLG Asylberwerberleistungsgesetz AsylVfG Asylverfahrensgesetz AufenthG Aufenthaltsgesetz BAMF Bundesamt für Migration und Flüchtlinge BGB Bürgerliches Gesetzbuch BRK UN-Behindertenkonvention BSG Bundessozialgericht BVerfG Bundesverfassungsgericht BVerwG Bundesverwaltungsgericht EMRK Europäische Menschenrechtskonvention EU Europäische Union GFK Genfer Flüchtlingskonvention GG Grundgesetz ICCPR Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Zivilpakt) ICESCR Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte KRK UN-Kinderrechtskonvention PTBS Posttraumatische Belastungsstörung RdNr. Randnummer SGB Sozialgesetzbuch WHO World Health Organization - Weltgesundheitsorganisation ANHANGSVERZEICHNIS Anhang 1 BAMF, Das Bundesamt in Zahlen 2014 Anhang 2 DIE WELT vom 14.07.2015 Anhang 3 Kleine Anfrage Thüringer Landtag vom 27.07.2011 Anhang 4 Tätigkeitsbericht der Bundesärztekammer zum 118. Deutschen Ärztetag im Mai 2015 Anhang 5 DER SPIEGEL 22/2014 Anhang 6 DIE WELT vom 02.03.2015 Anhang 7 Meldung des Bundestags-Gesundheitsausschusses vom 18.03.2015 zur Gesundheitskarte Anhang 8 BDP-Pressemeldung vom 18.06.2015 EINLEITUNG Europa erlebt derzeit einen Zustrom von Menschen in Not aus vielen Teilen dieser Welt, insbesondere aus den von Bürgerkriegen und religiösen Auseinandersetzungen gebeutelten Ländern im Nahen Osten, in von Armut und Hunger geprägten Staaten aus Nordafrika. Doch auch aus Europa selbst, aus den Ländern des Balkans, drängen viele Menschen in die wohlhabenden Länder West- und Nordeuropas. Der Zerfall staatlicher Strukturen in den Ursprungsländern dieser Flüchtlingsbewegung nach den Revolutionen des afrikanischen Frühlings, nach Schwächung alter Herrschaftsregime durch die Kriege im Irak und in Syrien, dem damit einhergehenden Aufleben und Erstarken des sogenannten Islamischen Staates mit seinem strukturellen und systematischen Terror gegen Andersgläubige und Minderheiten, führt zu großer Not weiter Bevölkerungsteile dieser Regionen. Für Europa bedeutet dies eine neue Herausforderung, um vor Ort in den Heimatgebieten den Menschen Schutz und Unterstützung zu bieten, jedoch auch denjenigen zu helfen, die als Flüchtlinge teils auf abenteuerlichen und lebensgefährlichen Wegen, zu Tausenden auch in rostigen, seeuntüchtigen Schiffen über das Mittelmeer, nach Europa gelangen und hier um Asyl bitten. Die mit dieser neuen „Völkerwanderung“ verbunden Problemlagen sind für die Gesellschaften der aufnehmenden Länder vielschichtig. Es bedarf der Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge, der Durchführung des Asylverfahrens, Integration der Ausländer im Aufnahmeland bezüglich Sprache, Ausbildung und den Zugang zum Arbeitsmarkt nach Anerkennung im Asylverfahren und Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Doch auch Asylbewerber, deren Antrag abgewiesen wurde, verbleiben oft im Aufnahmeland, weil der Abschiebung tatsächliche Hindernisse im Wege stehen, die Identität des Flüchtlings 1 nicht geklärt ist oder im Heimatland ein Bürgerkrieg tobt, der eine Rückkehr in die Heimat derzeit ausschließt. Dieser langwierige Prozess von Stellung des Asylantrags bis zur Integration in Deutschland oder bis zur freiwilligen oder erzwungenen Rückkehr in die Heimat stellt jedoch auch die Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen in Europa vor neue Aufgaben, um alle Flüchtlinge ausreichend zu betreuen. Fragestellung Diese Arbeit möchte daher fragen, welche rechtlichen Rahmenbedingungen insbesondere auf Grund internationaler Abkommen und Konven- tionen Deutschland in die Pflicht nehmen bei der Pflegerischen Versorgung von Asylbewerbern und nach Antworten suchen, wie es besser gelingen kann, diese Herausforderungen zu bewältigen und welche gesetzgeberischen Maßnahmen und Korrekturen eine menschenwürdige und den internationalen Normen entsprechende Versorgung der Asylbewerber in der Pflege sicherstellen können. Da in der Regel für die Asylbewerber keine Kranken- und Pflegeversicherung besteht, ist hier Handlungsbedarf. Die derzeitige unterschiedliche Behandlung der Asylbewerber, ihre rechtliche Schlechterstellung auch im Bereich der Gesundheitssorge und Pflege, ist im Lichte der völkerrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands und der sonstigen Rechtsquellen zu hinterfragen. Auch fordert die Situation der Flüchtlingskinder, oft durch Gewalt und Bürgerkrieg im Heimatland oder auf der Flucht traumarisiert, zu prüfen, ob an der derzeitigen Ungleichbehandlung der pflegerischen Versorgung und Rehabilitation von diesen besonders benachteiligten Personen länger festgehalten werden darf. Die Auswirkungen der eingeschränkten Gesundheits- und Pflegeversorgung der Asylbewerber soll betrachtet werden, um auch die Frage zu beantworten, 2 welche Folgeerscheinungen und Auswirkungen eine unzureichende Versorgung von Menschen mit Pflegebedarf für die Gesellschaft und für die Integration der Flüchtlinge haben kann. Die vorliegende Arbeit soll eine juristische Analyse sein, eine Hilfe auch für das sozialanwaltliche Mandat eines Sozialarbeiters, der sich für Asylbewerber einsetzt, keine politische Intervention. Unbestritten ist die zunehmende Zahl von Flüchtlingen Richtung Europa auch für viele Menschen in Deutschland ein brisantes Thema, wird mit scheinbaren oder tatsächlichen Problemen, die eine Integration von Tausenden neuen Bewohnern begleitet, gerade von rechtskonservativen und rechtspopulistischen Bewegungen interessengeleitete Politik versucht. Die Zahl von Straftaten wie Brandanschlägen gegen Asylunterkünfte, von Demonstrationen gegen „Überfremdung“ in deutschen Großstädten hat in den letzten Monaten zugenommen. Doch die vorliegende Arbeit wie auch eine zukunftsgewandte, verantwortungsvolle Politik folgen nicht populistischen Strömungen rechter Gesinnung, sondern Ziel der Analyse dieser Arbeit soll sein, die gesetzlichen Initiativen und Vorgaben aus völkerrechtlichen Quellen zusammen zu fassen für eine überarbeitete, neue Gesetzgebung in Deutschland, um im Interesse der Gesellschaft allen hier Lebenden eine menschenwürdige Versorgung und Behandlung zukommen zu lassen und neben den Belastungen auch die Chancen für das Land zu ergreifen, die sich aus dem Zustrom von Menschen mit unterschiedlichsten Biographien und Lebensvorstellungen ergeben können. Deutschland ist eine hochmoderne Gesellschaft, leidet jedoch an Symptomen, die die Menschen aus den Flüchtlingsländern nicht kennen. Die Überalterung des Landes, der demographische Wandel, die noch immer zunehmende Technologisierung der Industrie führen zu einem Fachkräftemangel und der Belastung der Sozialversicherungssysteme, die perspektivisch immer mehr leisten müssen für immer weniger Beitragszahler. Hier ist zu hinterfragen, ob die neuen Mitbewohner aus Ländern wie Syrien und dem Irak, aus Afghanis tan oder Libyen in den deutschen Arbeitsmarkt integriert werden können. 3 Die Fragestellung, wie eine bessere pflegerische Versorgung von schwerbehinderten, kranken Flüchtlingen durch die Gesetzgebung und die öffentliche, kommunale Verwaltung umgesetzt werden kann, ist daher möglicherweise auch eine Frage der sinnvollen Integration von Ausländern in Deutschland zum Wohle Deutschlands und zur Sicherung einer besseren Entwicklung der Gesellschaft. Aus der praktischen Arbeit des Autors als rechtlicher Betreuer für schwerbehinderte Menschen ist auch der Widerstand der Verwaltung gegen Veränderungen für eine bessere Integration von Asylbewerbern und die unzureichende gesetzliche Vorgabe im Asylbewerberleistungsgesetz bekannt. Doch zeigte sich in der beruflichen Praxis, dass mit einer guten Argumentationsbasis, mit Rückgriff auf Rechtsquellen wie die UN-Behindertenkonvention, die Grundrechtecharta der EU und die einhergehende Rechtsprechung des Bundessozialgerichts Veränderungen im Verhalten der kommunalen Verwaltung immer wieder, und auch nachhaltig, möglich wurden, so bei der Versorgung mit behindertengerechtem Wohnraum und beider Umsetzung der kostenlosen Wertmarke im öffentlichen Nahverkehr im Bundesland Vorpommern auch für schwerbehinderte Asylbewerber. 4 Mecklenburg- 1. Rechtliche Grundlagen und Quellen 1.1 Rechtsquellen Asyl in Europa und im Völkerrecht Das Recht auf Asyl ist ein Menschenrecht, das nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs mit Vertreibung und Völkermord in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UNO vom 10.12.1948 in Art. 14 Absatz 1 aufgenommen wurde. Nach Artikel 25 Absatz 1 ist die „soziale Betreuung“ ein Menschenrecht und beinhaltet (noch ohne völkerrechtliche Verbindlichkeit) einen Anspruch auf eine Lebenshaltung, die dem Betroffenen und seiner Familie Gesundheit und Wohlbefinden einschließlich Nahrung, Kleidung und ärztliche Betreuung und die notwendigen Leistungen der Fürsorge garantiert (Eichenhofer 2013, S. 31, RdNr. 31). Auch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) vom 04.11.1950 und die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) vom 28.07.1951 stärken das Asylrecht und regeln Inhalte und Umsetzung dieses Rechts der Verfolgten. Die EMRK weist als völkerrechtlicher Vertrag jedoch die Besonderheit auf, dass zwei judiziere Organe, die Europäische Kommission für Menschenrechte und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, errichtet worden sind, und sie subjektive Individualrechte enthält (Ulmer 1996, S. 67). Im Dublin III Abkommen aus dem Jahr 2014 wird unter anderem geregelt, wo der Asylbewerber in Europa seinen Antrag auf Asyl stellen muss; in der Regel in dem Land, das er zuerst in Europa betritt. Nach der sogenannten „Drittstaatenregelung“ wird derjenige nicht als asylberechtigt anerkannt, der über ein sicheres Drittland nach Deutschland einreist. Dazu zählen alle Nachbarstaaten Deutschlands (Fritz 2004, S. 3). Außerdem werden Verfahrensrechte be 5 stimmt, auch ein ergänzter Anspruch auf Information nach Artikel 4. Unbegleitete Kinder haben gemäß Artikel 6 Anspruch auf eine Vertretung durch eine qualifizierte Person und erhalten Hilfe bei der grenzüberschreitenden Familienzusammenführung. Die EU-Aufnahmerichtlinie beinhaltet in Artikel 7 eine Residenzpflicht. Der Zugang zum Arbeitsmarkt wird, bei Erfüllung der notwendigen Voraussetzungen, nach 9 Monaten eröffnet, für Deutschland gelten nur drei Monate, aber ein Vorbehalt für deutsche Fachkräfte. Oft ist auch die fehlende Identität des Asylbewerbers dafür ein Hindernis. Die neue Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU vom 26.06.2013 muss im Sommer 2015 von Deutschland ratifiziert werden und beinhaltet neue Regelungen im Bereich Pflege und Gesundheit, wie noch darzustellen ist. 1.2 Rechtsquellen Asyl in Deutschland Asyl (griechisch: Asylos) kann übersetzt werden als Zufluchtsstätte unter dem Schutz der Götter oder als Freistätte nach dem ursprünglicher Wortsinn. Menschen, die verfolgt oder bedroht werden, sollen Schutz erhalten. Das Aufenthaltsgesetz ist Kernstück des Zuwanderungsgesetzes für alle Ausländer, also nicht nur für Asylbewerber. Es regelt für Drittstaatsangehörige die Einreise, den Aufenthalt und die Niederlassung im Bundesgebiet sowie die Integration mit Sprachkursen und Fragen der Erwerbstätigkeit (Hailbronner 2008, S.13, RdNr. 16). Verschiedene Gesetze regeln in Deutschland den aufenthaltsrechtlichen Status der Flüchtlinge. Artikel 16 a Grundgesetz gewährt das Grundrecht auf Asyl für politisch Verfolgte. Das Aufenthaltsgesetz, das Asylverfahrensgesetz und 6 das hier insbesondere relevante Asylbewerberleistungsgesetz bestimmen im Einzelnen die Verfahrensabläufe, Aufenthaltserlaubnis oder Duldung, Abschiebung und die Ansprüche der Asylbewerber auf Versorgung mit Sachleistungen und finanziellen Mitteln. Das Recht auf Asyl im Sinne des Art. 16 a GG gewährt den Schutz vor politischer Verfolgung im Heimatland. Es bedeutet eine Aufenthaltserlaubnis für Deutschland und eine Arbeitserlaubnis. Doch auch die Kriterien für das kleine Asyl nach § 60 Absatz 1 AufenthG, das sich an der Genfer Flüchtlingskonvention, verabschiedet im Jahr 1951, orientiert, gewährt eine befristete Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Absatz 2 AufenthG iVm §§ 3, 4 AsylVfG. Weitere Gründe, die eine Abschiebung verhindern, sind drohende Folter, Todesstrafe, unmenschliche Behandlung und andere Gefahren für Leben oder Freiheit, die dem Antragsteller bei Abschiebung im Heimatland drohen (§ 60 Absatz 2,3,5 und 7 AufenthG). Auch Kriegsgeschehen wird als Grund einer Flucht anerkannt. Nach § 25 Absatz 4 AufenthG kann eine befristete Aufenthaltserlaubnis ebenso aus humanitären oder familiären Gründen erteilt werden. Dies ist gerade für schwerbehinderte Asylbewerber, die oft in ihrer Heimat nicht adäquat medizinisch versorgt werden könnten oder gar nicht reisefähig sein, ein Auffangtatbestand, um vor der Abschiebung bewahrt zu werden. Die Aufenthaltserlaubnis ist auf Dauer von maximal drei Jahren befristet und wird nach weiterer Prüfung, ob die Gründe für das Asyl bzw. die Aufenthaltserlaubnis noch vorliegen, in eine unbefristete Niederlassungserlaubnis umgewandelt. Die deutsche Asylgesetzgebung ist starken Änderungen unterworfen und bisher erkennbar abhängig von der Zahl der Asylsuchenden. Im Jahr 1992 war der bislang höchste Stand an Asylanträgen mit 438.191 Erstanträgen erreicht (vgl. BAMF 2015, 9, Anhang 1). Hingegen waren im Jahr 2007 nur noch 7 19.164 Erstanträge auf Asyl zu verzeichnen, im Jahr 2014 allerdings wieder eine Zahl von 173.072 (ebd.). Für das laufende Jahr wird diese Zahl erneut deutlich übertroffen und eine Zahl von bis zu 450.000 Asylanträgen erwartet. Allein im ersten Halbjahr 2015 wurden in Deutschland 179.037 Asylanträge gestellt (DIE WELT vom 14.07.2015, Anhang 2). Der Gesetzgeber versucht, die Leistungen für die Hilfebedürftigen einzuschränken, um Deutschland weniger attraktiv wirken zu lassen und so die Flüchtlingszahlen zu senken. Der Vorrang der Sach- vor Geldleistungen und die Ausgrenzung der Asylbewerber aus den Büchern I bis XII des Sozialgesetzbuchs waren offensichtlich eine politische Entscheidung nach Steigen der Asylanträge ab dem Jahr 1990. Im Jahr 1993 wurde entsprechend das Asylbewerberleistungsgesetz verabschiedet. Ein radikalerer Ansatz will prüfen, Asylverfahren in Aufnahmelagern noch außerhalb der europäischen Grenzen zu realisieren. Solche exterritorialen Aufnahmeeinrichtungen könnten vornehmlich im nordafrikanischen Bereich gelegen sein (Bröcker 2010, S. 25). 8 Ob es dabei nur um die Vermeidung der gefährlichen Überfahrt nach Europa im Interesse der Asylsuchenden geht, erscheint zumindest fraglich. 1.3 Rechtsquellen Pflege in Deutschland Pflege im Sinne des Sozialgesetzbuches (SGB XI, XII, IX, V) meint die „professionelle, an medizinisch-pflegerischen Standards ausgerichtete Versorgung und Unterstützung von Menschen mit eingeschränkter Selbstsorgefähigkeit (z.B. ältere, behinderte oder chronisch kranke Menschen)“ (Hoffer 2011, 645). Das Gesetz definiert den Begriff der Behinderung in § 2 SGB IX: „Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist.“ Diese Eigenschaft als behinderter Mensch wird unabhängig von einem Verwaltungsakt (bei der Gleichstellung erforderlich) definiert (Ritz 2014, S. 35 RdNr. 1). Die behördliche Anerkennung erfordert jedoch einen entsprechenden Antrag des Behinderten (§ 69 Absatz 1 SGB IX). Von Schwerbehinderung spricht § 2 Absatz 2 SGB IX, wenn ein Grad der Behinderung von wenigstens 50 vorliegt. Allgemein kann gelten: Menschen mit Pflegebedarf sind Menschen mit Behinderung. Das Grundgesetz fordert in Artikel 3: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ 9 Ausfluss dieses Grundrechts ist das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Als „Antidiskriminierungsgesetz“ soll es Benachteiligungen wegen der Herkunft, des Geschlechts, des Glaubens, einer Behinderung oder des Alters verhindern, insbesondere im Arbeitsleben, im Mietrecht und im öffentlichen Dienstrecht, spielt jedoch für die hier relevante Fragestellung zur Pflege von behinderten Menschen keine wesentliche Rolle. Die Pflegeleistungen sind in Deutschland im SGB XI normiert. § 23 Absatz 2 SGB XII schließt jedoch den Leistungsanspruch nach dem SGB XII aus für Leistungsberechtigte nach § 1 AsylbLG, korrespondierend mit § 9 AsylbLG. Da das Asylbewerberleistungsgesetz bewusst vom Gesetzgeber aus dem Bereich des Sozialgesetzbuchs ausgenommen ist, gelten die Vorschriften des SGB XI zur Pflegeversicherung nicht für Asylbewerber, denn nach § 1 Absatz 2 SGB XI ist die Mitgliedschaft in einer gesetzlichen Krankenversicherung Voraussetzung für die Leistungen nach dem SGB XI. Asylbewerber erhalten jedoch gemäß § 4 Absatz 1, 2 AsylbLG lediglich Leistungen zur Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände, bei Schwangerschaft und Geburt, nicht jedoch eine Versicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung, so dass auch eine Pflegeversicherung nicht besteht. § 4 Absatz 3 AsylbLG bestimmt die Zuständigkeit der Behörde für die ärztliche Versorgung der Asylbewerber und die Übernahme der Kosten der Gesundheitsversorgung. Zur Frage der fachlichen Qualifikation der Mitarbeiter der Sozialbehörden der Kommunen für die Gesundheit der Asylbewerber wird später noch einzugehen sein. Die Norm des § 4 AsylbLG bedeutet eine leistungsrechtliche Schlechterstellung im Bereich der medizinischen und pflegerischen Versorgung im Vergleich zum SGB XII (Sozialhilfe) und SGB II (Grundsicherung für Arbeitssuchende) (Fasselt 2009, § 1 a RdNr. 18). Die eingeschränkten Hilfen sind zudem vorrangig als Sachleistung zu erbringen (Hohm 2010, § 4 AsylbLG, RdNr. 1). 10 Der Umfang der zu übernehmenden Behandlungen ist in einzelnen Fragen umstritten, insbesondere in Bezug auf chronische und psychische Erkrankungen von Asylbewerbern. Auch insbesondere im Bereich des Zahnersatzes ist eine restriktive Auslegung des Leistungskatalogs medizinischer Versorgung bei Asylbewerbern die Praxis, und Zahnersatz wird nur in Ausnahmefällen übernommen (Hohm 2010, § 4 AsylbLG RdNr. 16; BT-Drucksache 12/4451, S. 9). Die unterschiedliche Handhabung dieser gesetzlichen Vorgaben belegt nach Information des Flüchtlingsrats Thüringen eine Kleine Anfrage im Thüringer Landesparlament für das Kalenderjahr 2010. Danach wurden den damals in Thüringen lebenden rund 2800 Asylbewerbern 300 Zähne gezogen und im Verhältnis somit erheblich öfter als bei gesetzlich versicherten Patienten, wobei sich regional im Bundesland Thüringen große Unterschiede offenbarten mit dem Ergebnis, dass in einigen Kreisen bis zu 50 % der defekten Zähne von Asylbewerbern gezogen wurden, in anderen Kreisen jedoch nahezu jeder Zahn behandelt und erhalten werden konnte (Kleine Anfrage vom 27.07.2011, Anhang 3). Im Bereich der Schwangerschaft und Geburt ist durch § 4 Absatz 2 AsylbLG eine umfassendere Hilfe geregelt. § 6 Absatz 1 AsylbLG gewährt daneben sonstige Leistungen im Einzelfall und bildet einen Auffangtatbestand für unerlässliche Bedarfe. Die tatbestandlich vorausgesetzte „Unerlässlichkeit“ einer Leistung muss durch den Facharzt beurteilt werden (Hohm 2010, § 6 AsylbLG, RdNr. 18). Leistungen nach § 6 Absatz 1 AsylbLG sind auch Pflegesachleistungen (BVerwG, Beschluss vom 20.07.2001 - 5 B 50/01; Hohm 2010, § 6 RdNr. 162). Pauschalisiertes Pflegegeld wird jedoch in der Regel nicht gewährt (BSG, Urteil vom 20.12.2012 - B 7 AY 1/11 R). Personen mit „besonderen Bedürfnissen“ wie unbegleitete Kinder und Opfer 11 von Folter, Vergewaltigung und anderer schwerer Gewalt erfahren durch § 6 Absatz 2 AsylbLG die notwendige Hilfe, doch gilt dies nur für den beschränkten Personenkreis nach § 24 Absatz 1 AufenthG, also für Ausländer, die nach EU-Richtlinie 2001/55/EG vorübergehend Schutz erhalten, nicht jedoch für Asylbewerber allgemein (vgl. § 24 Absatz 2 AufenthG). Gerade der hier vom Gesetzgeber eigentlich bereits aufgezeigte Bedarf für eine über die Akutbehandlung hinaus weitergehende Hilfen gerade bei Menschen mit besonderen Bedürfnissen hätte weiter gefasst werden müssen. Exemplarisch sind nachfolgend die Fachanweisungen zum AsylbLG (§ 6) der Hansestadt Hamburg in Auszügen abgedruckt: „§ 6 AsylbLG bietet die Möglichkeit, in besonderen Bedarfssituationen zusätzlich zu den Grundleistungen nach § 3 AsylbLG und zu den Leistungen nach § 4 AsylbLG ergänzende Leistungen zu gewähren. … Ambulante und stationäre Hilfen zur Pflege können gewährt werden, soweit die pflegebedürftige Person so hilflos ist, dass sie in erheblichem Umfang dauernder Pflege- und Versorgungsmaßnahmen bedarf. … Die Gewährung von Pflegegeld im Sinne von § 64 SGB XII ist ausgeschlossen. Eingliederungshilfen Eingliederungshilfe hat regelhaft eine soziale Integration des Leistungsberechtigten zum Ziel. Bei Grundleistungsbeziehern ist die Integrationskomponente wegen ihres regelmäßig nur vorübergehenden Aufenthaltes im Bundesgebiet nur sehr gering anzusehen, so dass deshalb die Gewährung von Eingliederungshilfe grundsätzlich ausgeschlossen ist. Dies gilt insbesondere bei Personen, die einer Leistungseinschränkung nach § 1a AsylbLG unterliegen, weil in diesen Fällen regelmäßig von einer baldmöglichen Beendigung des (weiteren) Aufenthaltes auszugehen ist. … 12 Im Hinblick auf den Ausnahmecharakter der Bewilligung „Sonstiger Leistungen“ nach § 6 AsylbLG sind an die Bedarfsprüfung nach Art und Umfang strenge Maßstäbe anzulegen. Dies gilt insbesondere für Personen, die der Leistungseinschränkung nach § 1a AsylbLG unterliegen. In diesen Fällen ist ein besonders strenger Prüfmaßstab anzulegen, als zusätzlich festzustellen ist, ob eine als „unerlässlich“, „gebotene“ oder „erforderliche“ eingestufte Leistung zugleich „unabweisbar geboten“ ist. … Die Gewährung der Leistungen erfolgt grundsätzlich bzw. wenn nichts anderes geregelt ist als Sachleistung oder im Rahmen von Einkaufsgutscheinen. … Leistungen nach § 6 Absatz 2 AsylbLG § 6 Abs. 2 AsylbLG findet in der Praxis derzeit keine Anwendung, weil die in § 6 Abs. 2 vorausgesetzte Aufenthaltserlaubnis gem. § 24 Abs. 1 AufenthG) derzeit nicht erteilt wird.“ (Quelle: http://www.hamburg.de/basfi/asylblg/3361430/fa-asylblg-6/) Ähnliche Fachanweisungen werden in den einzelnen Kommunen je nach Haushaltskasse unterschiedlich angewandt und führen in ihrer Vorgabe, nur unter „strengster Maßstäben“ lediglich Sachleistungen zu bewilligen, zu Fehlentscheidungen. Oft wird dann eigentlich notwendige Hilfe zur Pflege, für Hilfsmittel verweigert, bis der Betroffene nunmehr die Hilfe von Notärzten und Rettungsdienst braucht und stationäre Behandlung notwendig wird oder gar Folgeschäden eintreten. 2. Versorgungslücken der §§ 4, 6 AsylbLG 2.1 Traumata / PTBS Wie vorstehend erläutert, bezieht sich § 6 AsylbLG in Teilen auf Folgen von Gewalt und Krieg, auch für Minderjährige. Nach Angaben des Flüchtlingsrat 13 NRW e.V. leiden 40 % der Asylbewerber an einer posttraumatischen Belastungsstörung nach Untersuchung der Universität Konstanz (Gäbel et. al., 2005). Die WHO hat PTBS als Krankheit anerkannt nach IDC-10. Das Trauma ist meist Folge eines direkten persönlichen Erlebens oder Beobachten einer bedrohlichen Situation wie Gewalt, Vergewaltigung, Krieg oder Naturkatastrophe. Menschen, auch insbesondere Kinder, leiden an dieser posttraumatischen Belastungsstörung und „erleben“ immer wieder diese traumatischen Ereignisse in Form von Erinnerungen und Albträumen, oft ausgelöst nur durch Anblick einer Uniform oder durch ein Geräusch. Erinnerungen werden verdrängt, Situationen vermieden, die mit dem auslösenden Ereignis in Verbindung stehen und es kommt zu Schlafstörungen, Reizbarkeit, Wutausbrüchen (vgl. Birck, 2002, S. 27) Die Symptome können auch schwerwiegender ausgebildet sein und chronifizieren. Bei wiederholten traumatischen Ereignissen kann es zu Depressionen, Suizidgedanken, Bewusstseinsveränderungen und Amnesie kommen, einhergehend mit einer Veränderung des Wertgefühls und Bewusstseins und sozialer Isolation, verbunden auch mit somatischen Beschwerden, auch Schmerzen (vgl. Birck, S.27 ff.). Eine Asylantragstellerin konnte zumindest erreichen, dass die Gutachterkosten für die Erkrankung an PTBS vom Bundesamt für Migration und Flüchtlingshilfe (BAMF) zu tragen war. (VG Köln, KFB vom 15.01.2013, In: ANAZAR 2/2013, S. 19). Verlässt ein Mensch nach Erleben traumatischer Gewalt, Folter oder Vergewaltigung auch noch seine Heimat, so wirken die entstandenen Brüche und Verluste doppelt und schmerzhafter (vgl. Aycha, S.211, 217). Es ist daher besonders geboten, gerade Menschen unter erschwerten Rahmenbedingungen zu helfen, psychische Probleme ausreichend behandeln zu lassen, um Folgeschäden zu vermeiden. 14 2.2 Folgen mangelnder Versorgung Wie das beschriebene Problem der erlittene Traumata bei einer großen Zahl der Flüchtlinge sind auch andere Erkrankungen, die nur eine Akutbehandlung erfahren ohne Nachsorge, ohne Rehabilitation, dem Risiko einer Chronifizierung ausgeliefert. Diese weiterhin fehlende präventive Versorgung führt regelmäßig zu Mangelversorgung, Chronifizierung und später stationäre Behandlung, die bei rechtzeitiger und umfangreicher ärztlicher oder pflegerischer Intervention vermeidbar gewesen wäre. Dies kritisiert der 118. Deutsche Ärztetag im Mai 2015 und fordert den Gesetzgeber auf, umfangreiche Veränderungen für eine bessere medizinische Versorgung der Asylbewerber zu realisieren (Tätigkeitsbericht der Bundesärztekammer zum 118. Deutschen Ärztetag im Mai 2015, Anhang 4). Das Magazin DER SPIEGEL beschreibt in der Ausgabe 22/2014 (Anhang 5) schwere Erkrankungen und Todesfälle, die auf der Mangelversorgung im Gesundheits- und Pflegebereich nach § 4 AsylLG beruhen. Geschildert wird unter anderem der Fall eines schwer traumarisierten Asylbewerbers aus Uganda, der als ehemaliger Kindersoldat Kriegsgreuel direkt erleben musste und sich nach Ablehnung der ärztlich empfohlenen Traumatherapie - das Leben nahm. Die Integrationsministerin Rheinland-Pfalz, Irene Alt (Grüne), äußert sich im Artikel: „Das Asylbewerberleistungsgesetz ist völlig unzureichend und gehört ersatzlos abgeschafft“, um so die Flüchtlinge in die regulären Sozialsysteme zu integrieren und ihnen den Zugang zu uneingeschränkter medizinischer Versorgung zu gewähren (ebd.). Einen anderen - weniger dramatischen - Fall schildert DIE WELT am 02.03.2015 (Anhang 6). Die Masernepedemie in Berlin ging danach von einer Asylbewerberunterkunft aus, da in den Bürgerkriegswirren auf dem Balkan gerade in den 90er Jahren große Impflücken bestanden, die mit dem halbherzigen Ansatz einer Akutversorgung von Asylbewerbern offensichtlich nicht in den Griff zu bekommen ist, auch wenn § 4 Absatz 3 AsylbLG die Impfung im 15 Leistungskatalog für Asylbewerber umfasst. Pflegemittel werdend ebenso als „nicht lebensnotwendig“ vorenthalten. Dies betrifft Rollstühle für schwerbehinderte Asylbewerbern, ebenso Hörgeräte und Mittel zur Inkontinenzpflege (Vgl. Stellungnahme des Flüchtlingsrates Berlin vom 07.01.2012, Anhang I, S. 32 ff.). 2.3 Sozialämter als „Gutachter“ Wie unter 1.3 bereits erläutert, bestimmt § 4 Absatz 3 AsylbLG die Zuständigkeit der Behörde für die ärztliche Versorgung der Asylbewerber. Die Asylbewerber sind gezwungen, vor jedem Arztbesuch eine Zustimmung des örtlich zuständigen kommunalen Sozialamtes einzuholen, um dann erst den Hausarzt oder Facharzt besuchen zu dürfen. Nur unter dieser Voraussetzung vergütet die Kommune dem Arzt seine Leistungen. Dieser Umweg über die Ämter bedeutet ein Hemmnis für schnelle und unbürokratische medizinische Versorgung der Asylbewerber selbst bei schweren Erkrankungen. Zudem stellt sich die Frage, was die Mitarbeiter des Sozialamts - Fachbereich Asyl - für die Entscheidung qualifiziert, ob das gesundheitliche Leiden des Betroffenen eine Akutbehandlung erforderlich macht. Es bleibt offen, nach welchen Kriterien ein Verwaltungssachbearbeiter den Behandlungsbedarf überhaupt prüfen und dazu notwendige Diagnosen stellen kann, so dass der Antragsteller den Vorgang in der Regel als Schikane empfinden muss (Classen 2013, S. 743, RdNr. 120). Sicher werden die Behörden in schwerwiegenden und schwierigen Fällen den Amtsarzt konsultieren und können Asylbewerber in dringenden Notfällen auch direkt zum Arzt gehen, ohne vorher einen Überweisungsschein des Sozialamts einzuholen, doch die Flüchtlinge in fremder Umgebung versuchen, die behördlichen Vorgaben möglichst genau einzuhalten und warten drei Tage mit 16 dem Besuch des Facharztes, um zuvor im Sozialamt Asyl den Behandlungsschein anzufordern, auch wenn dies oftmals das Leiden verstärkt. Und Fehleinschätzungen der Mitarbeiter im Sozialamt sind für einen medizinischen Laien, der auch den Kostendruck seines Landkreises spürt, unvermeidbar. Hilfsmittel wie orthopädisches Schuhwerk bei einer einseitigen Beinverkürzung um acht Zentimeter, hochwertige Rollstühle und andere Hilfsmittel werden der Autor hat es selbst dienstlich recherchiert - abgelehnt oder der Medizinische Dienst der Krankenkassen zur vom betroffenen Asylbewerber beantragten Feststellung seiner Pflegestufe gar nicht erst beauftragt. Der 118. Ärztetag fordert die Behindertenbeauftragten der Bundesländer und der Bundesregierung auf, Belange der behinderten Flüchtlinge stärker zu berücksichtigen. Die Erstaufnahmeeinrichtungen sollten zum Teil behindertengerecht ausgestaltet sein, die medizinische und psychologische Versorgung sichergestellt und die Suche nach Angehörigen unterstützt werden (vgl. Tätigkeitsbericht der Bundesärztekammer zum 118. Deutschen Ärztetag im Mai 2015, S. 270, Anhang 4). 2.4 Fehlende Integration Nicht nur die behördliche Zuständigkeit für die Gesundheit und Pflege der Asylbewerber grenzt aus. Das tatsächliche bzw. faktische Arbeitsverbot, Verweigerung von Eingliederungshilfe und somit fehlende Förderung und Arbeitsmarktintegration nach SGB II und III hindern die Flüchtlinge, selbst für ihren Unterhalt zu sorgen. Solange nur Sachleistungen gewährt und Unterkunft, Essen, Pflegemittel, Kleidung quasi vom AsylbLG bestimmt werden, führt dies zu einer nachhaltigen Ausgrenzung der Asylbewerber mit der Gefahr dauerhafter psychischer und physischer Erkrankungen und Erwerbsunfähigkeit (vgl. Stellungnahme des Flüchtlingsrates Berlin vom 07.01.2012, S. 8) 17 Deutschland gefährdet die Gesundheit der Flüchtlinge durch seine restriktive Gesetzgebung und die nur lückenhaften Pflegeleistungen und Traumatherapien. Dies führt nur zu einer dauerhaften Alimentierung von erkrankten Asylbewerbern, statt fehlende Fachkräfte in den deutschen Arbeitsmarkt zu integrieren und zu Beitragszahlern für die Sozialversicherung zu machen und den Wirtschaftsstandort zu stärken. Schon eine internationalen Untersuchung über die 90er Jahre kam man zum Ergebnis, dass für Emigranten und Flüchtlinge der Zugang zu medizinischen und Pflegesystemen ein wesentliches Element sei für eine positive Anpassung an eine neue Gesellschaft und mit einem ungeklärten Aufenthaltsstatus auch oft ein begrenzter Zugang zur Gesundheitsversorgung verbunden war (Bollini 1992, 103). International erntet Deutschland folgerichtig Kritik an seiner derzeitigen Gesundheitsversorgung und Pflege für Asylbewerber. Deutschland ist an den WSK-Pakt („Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte“ von 1966 völkerrechtlich seit 1973 gebunden, bekannt auch als UNSozialpakt. Seit dem Jahr 2000 fordert der Pakt, dass die Staaten „jegliche unerlaubte Diskriminierung bei der Gesundheitsfürsorge und den Gesundheitsdiensten zu verhindern“ habe. Diese Rechte gelten auch ausdrücklich für Asylsuchende (Kaltenbach 2015, S. 161, 162). Mit seinem bislang letzten Bericht aus dem Jahr 2011 kritisiert der WSK-Ausschuss Deutschland, dass „lediglich eine medizinische Notfallversorgung gewährt werden muss“ (ebd., S. 164). Am 02.07.2015 hat der Bundestag aktuell zumindest für die berufliche Integration von jungen Asylbewerbern einen Weg eröffnet und beschlossen, dass für junge Ausländer in Ausbildung, die keine Aufenthaltserlaubnis haben, die Anordnung einer Abschiebung für die Zeit der Ausbildung ausgesetzt wird und der Betroffene auch Zeit erhält, einen Arbeitsplatz nach der Ausbildung in Deutschland zu suchen. 18 3. EU-Charta / UN-Konventionen 3.1 Charta der Grundrechte der Europäischen Union Vergleichbar mit dem zuvor zitierten UN-Sozialpakt hat auch die EU im Jahr 2000 durch den Europäische Rat, das Europäische Parlament und auch Deutschland durch Bundestag und Bundesrat die Charta der Grundrechte der Europäischen Union verabschiedet bzw. begrüßt. Hier sind die Grundrechte der EU umfassend und schriftlich formuliert. Insbesondere der Schutz vor Diskriminierung auch in Bezug auf Behinderung eines Menschen ist in Artikel 21 der Charta formuliert und weitreichender als in Artikel 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 26.02.2013 zum Verfahren C-617/10 wird der Wirkungsgrad vom Gerichtshof weit ausgelegt, soweit auch europäisches Recht tangiert wird und nicht nur nationales Recht. 3.2 UN-Kinderrechtskonvention Nach der UN-Kinderrechtskonvention (KRK) ist ein Grundrecht jedes Kindes „das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit“ (Artikel 24 Absatz 1 der UNKinderrechtskonvention). Das Gesetz darf hier durch §§ 4, 6 AsylbLG nicht Familien und Kinder von Asylbewerbern von der Gesundheitsversorgung ausgrenzen. Dies gilt auch für Kinder von Menschen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus, die aus Angst vor Verletzung des Datenschutzes um ihren Aufenthalt in Deutschland fürchten, wenn sie ein Krankenhaus beträten. Deutschland ratifizierte die UN-Kinderrechtskonvention im Jahr 1992, jedoch mit Einschränkungen. Deutschland meldete Vorbehalte an in Bezug auf Kinder ohne deutschen Pass. Im Jahr 1998 erfolgte die Gleichstellung von ehelichen und nicht-ehelichen Kindern, und Deutschland näherte sich dem Recht auf Gleichberechtigung der UN-Kinderrechtskonvention an. (vgl. Maywald 2009, S. 19) 19 Im Jahr 1998 kam es in Deutschland endlich zur Durchsetzung des Gewaltverbots in der Erziehung durch eine Neufassung des §1631 Absatz 2 BGB: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“ (ebd.) Die UN-Kinderrechtskonvention begründet jedoch keine individuellen und subjektiv einklagbaren Rechte, sondern verpflichtet die Staaten völkerrechtlich zum Handeln im Interesse der Kinder. Problematisch sind die Regelungen des § 12 AsylVfG und § 80 Absatz 1 Aufenthaltsgesetz im Verhältnis zu Artikel 1 KRK, da nach deutschen Recht schon Minderjährigen ab dem 16. Lebensjahr zu Verfahrenshandlungen befähigt werden, deutsche Minderjährige im selben Alter hingegen nicht (Schmahl 2013, Art. 1, RdNr. 12). In Artikel 6 KRK werden die Staaten verpflichtet, aktiv das Leben der Kinder zu schützen. Dies gilt umso mehr für behinderte Kinder, zumal diese oft aus Aberglauben in ihren Heimatländern ausgesetzt oder getötet werden. (ebd., Art. 6, RdNr. 3). Artikel 22 KRK schützt die Rechte von Kindern, die aus ihrer Heimat flüchten müssen. Sie brauchen besondere Hilfe, auch wenn sie nicht unbegleitet sind, also mit den Eltern fliehen konnten. Flüchtlingskinder dürfen nicht wegen ihres Status diskriminiert werden gegenüber inländischen Kindern (ebd., Art. 22, RdNr. 7). Hilfe bei der Familienzusammenführung ist ein besonderes Recht der Kinder und Minderjährigen und auch in nationales und europäisches Recht erwachsen (ebd., RdNr. 15). Pflegeleistungen für behinderte Kinder und Gesundheitsleistungen regelt die KRK in den Artikeln 23 und 24 deutlicher als in der EMRK. Diese Rechte gelten auch für Flüchtlingskinder. Es geht dabei um Anspruch auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit (ebd., Art. 24, RdNr. 5 unter Verweis auf Kirchhof). Da in Deutschland jedoch Kinder von Asylbewerbern lediglich die notwendigen 20 gesundheitlichen und pflegerischen Leistungen erhalten gemäß § 4 AsylbLG zur Behandlung von akuten Krankheiten und Schmerzen, ist eine Vereinbarkeit des § 4 AsylbLG mit Artikel 24 KRK nicht vertretbar und nach Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vom 18.07.2012, auf die nachfolgend noch vertiefend einzugehen ist, auch von der Sozialverwaltung nicht länger vertretbar (ebd., Art. 24, RdNr. 26). 3.3 UN-Behindertenkonvention Ähnlich wie bei der zuvor vorgestellten UN-Kinderrechtskonvention vermittelt auch die UN-Behindertenkonvention (BRK) nahezu keine Anspruchsgrundlagen für einen einzelnen Betroffenen, sondern verpflichtet die Gesellschaft, den öffentlichen Sektor. Sie ist in Deutschland geltendes Recht und im Bundesgesetzblatt 2008 Teil II Nr. 35 am 31.12.2008 veröffentlicht worden. Sie bleibt Völkerrecht, ist aber in der gesetzlichen Systematik in Deutschland nach der Ratifizierung nur einfaches Gesetz (Banafsche 2014, S. 137, RdNr. 6 f). Die BRK schafft keine neues Spezialrecht für Menschen mit Behinderungen, es geht vielmehr um eine Konkretisierung der allgemeinen Menschenrechte, die aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) vom 10.12.1948, dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) (Zivilpakt) und dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (ICESCR) bzw. WSK-Pakt (Sozialpakt) besteht (ebd., S. 136, RdNr. 4). Behinderung wird in Artikel 1 Satz 2 der BRK als Wechselwirkung gesehen zwischen langfristigen körperlichen, seelischen, geistigen oder Sinnesbeeinträchtigungen mit verschiedenen Barrieren, die die volle, gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft hindern können. Der Begriff wird daher dynamisch definiert, parallel zu den wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Weiterentwicklungen zum Wesen der Behinderung (Welti 2014, S. 149, RdNr. 7). 21 Die UN-Behindertenkonvention fordert die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung am Leben in der Gesellschaft und eine selbständige Lebensführung. Ziel ist die größtmögliche Unabhängigkeit im Sinne einer Selbstbestimmung (Artikel 20) und daher werden die Staaten verpflichtet, Mobilitätshilfen, Pflegemittel zur Verfügung zu stellen. Auch die unentgeltliche Beförderung von schwerbehinderten Menschen im öffentlichen Personennahverkehr dient der Selbstverwirklichung und Mobilität der behinderten Menschen. Die Staaten werden auch verpflichtet, umfassende Habilitations- und Rehabilitationsdienste und -programme zu organisieren und zu fördern. Es geht um Teilhabe (participation) und Inklusion (inclusion), wobei Inklusion sich an die Mehrheit wendet, eine passive Minderheit zu integrieren, die aktiv teilhaben will. Pflege und Rehabilitation sind für behinderte Menschen oft die Voraussetzung für Gesundheit, Beschäftigung, Bildung und Integration durch Teilhabe am Leben. Daher ist es schädlich für die Entwicklung unserer Gesellschaft, hunderttausende Menschen, darunter tausende schwerbehinderte und traumarisierte Menschen, auch Minderjährige, durch eine restriktive Gesundheitspolitik und fehlenden Zugang zu den Sozialversicherungssystemen auszuschließen, statt Teilhabe zu gewähren. 4. Höchstrichterliche Rechtsprechung Das Bundesverfassungsgericht entschied am 18.07.2012, dass die deutlich niedrigeren finanziellen Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz die in Artikel 1 Grundgesetz geschützte Menschenwürde der Flüchtlinge in Deutschland verletze, wenn dies aus migrationspolitischen Erwägungen erfolge. Im Jahr 2012 entsprachen die Leistungen nach dem AsylbLG nur etwa 60 % der Leistungen nach dem SGB II für Arbeitssuchende. Auch der Vorrang 22 der Sachleistungen nach dem AsylbLG wurde in Frage gestellt (BVerfG, Beschluss vom 18.07.2012 - 1 BvL 10/10). Nach dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts umfasst die Menschenwürde auch die „physische Existenz“ des Menschen. Und allein wegen des Migrationshintergrundes eines Menschen darf keine unterschiedliche Behandlung länger zulässig sein. Auch das Bundessozialgericht hatte, wie bereits zitiert, mit einem Urteil vom 06.10.2011 die Rechte der Asylbewerber gestärkt und erklärt, dass eine Schlechterstellung der Asylbewerber für den Bereich des Schwerbehindertenrechts nicht berechtigt sei. Das AsylbLG sei materiell-rechtlich dem „System des Sozialhilferechts“ zuzuordnen (BSG, Urteil vom 06.10.2011 - B 9 SB 7/10). Nun sollte der Gesetzgeber beginnen, diese höchstrichterliche Rechtsprechung im Zusammenhang auch mit der Kritik der Sozialverbände und der Bundesärztekammer und des UN-Sozialpaktes im Interesse einer modernen Flüchtlingspolitik umzusetzen. Dazu sollen abschließend einige Lösungsansätze und erste Umsetzungen besprochen werden. 5. Lösungsmodelle 5.1 Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU der EU vom 26.03.2013 Ein wichtiger Ansatzpunkt aktuell für eine menschenwürdige Verbesserung der Versorgung mit Pflegeleistungen und Gesundheitsversorgung ist die notwendige Umsetzung der Aufnahmerichtlinie der EU 2013/33/EU aus dem Jahr 2013. Sie regelt grundsätzlich einheitliche Normen für die Aufnahme von Asylbewerbern zur Vereinheitlichung der Asyl- und Flüchtlingspolitik innerhalb der EU. 23 Darin heißt es in Artikel 19 Absatz 1 neu, dass neben der Notversorgung auch die Behandlung von schweren psychischen Störungen umfasst sei. Absatz 2 des Artikel 19 will den Antragstellern mit „besonderen Bedürfnissen“ die medizinische und sonstige Hilfe einschließlich einer geeigneten psychologischen Betreuung zukommen lassen. Durch die zwingend notwendige Umsetzung der EU-Aufnahmerichtlinie in geltendes deutsches Recht bis August 2015 durch den Bundestag wird eine wichtige Versorgungslücke in der Pflege- und Gesundheitsversorgung zumindest im Gesetz geschlossen und bedarf dann einer entsprechenden Umsetzung durch die Verwaltung. Dazu fordert der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) vom Gesetzgeber eine verbesserte Umsetzung der gesundheitlichen Versorgung von Flüchtlingen mit einer Stellungnahme vom 18.06.2015 (Anhang 7). Notwendig sei eine Öffnung der Regelversorgung für die Flüchtlinge, um die Hilfe nicht überforderten Spezialeinrichtungen allein zu überlassen. Vielmehr sollten bestehende Versorgungssysteme besser genutzt werden. Ebenso seien zusätzlich Dolmetscher und Therapeuten notwendig (ebd.) 5.2 Weitere Gesetzesinitiativen Die benannte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 18.07.2012 ist wesentlich für das neue, bereits verbesserte Asylrecht. Am 18.03.2015 wurde eine erste Gesetzesnovelle für das Asylbewerberleistungsgesetz verabschiedet, so dass nunmehr deutlich höhere finanzielle Leistungen für Asylbewerber gewährt werden. Auch der Zugang zu medizinischen Leistungen nach nunmehr 15 Monaten (statt zuvor 48 Monaten) konfliktfreier Aufenthaltsdauer ist ein wesentlicher Fortschritt für die Betroffenen. Doch noch immer sind viele der derzeit ca. 250.000 Menschen mit Anspruch nach dem Asylbewerberleistungsgesetz von einem Zugang zur Krankenversicherung und somit zur Pflegeversicherung ausgeschlossen. 24 Auch die Partei Bündnis90/Die Grünen forderte in einem Gesetzesentwurf mit Antrag vom 01.10.2012 (Bundesratsdrucksache 576/12) und erneut mit Bundestagsdrucksache 17/1428 vom 21.04.2010 die Abschaffung des AsylbLG. Hier ist das aktuell laufende Gesetzgebungsverfahren abzuwarten, das die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts konkretisieren und die EUAufnahmerichtlinie umsetzen will. Dieser Forderung der Partei Bündnis90/Die Grünen haben sich auch Sozialverbände angeschlossen, so die Caritas (Caritas 2014). Der Ausschuss für Gesundheit im Bundestag will die bürokratischen Hürden für Asylbewerber zusätzlich senken durch Einführung einer Gesundheitskarte für alle Flüchtlinge nach dem „Bremer Modell“. Dieses Modell aus dem Bundesland Bremen soll nachfolgend kurz vorgestellt werden. 5.3 Gesundheitskarte „Bremer Modell“ Einen guten Weg zur Verbesserung des Zugangs zu den Leistungen der Gesundheitssorge beschreitet seit dem Jahr 2005 das Bundesland Bremen, begleitet seit 2012 auch von Hamburg. Hier erhalten alle Asylbewerber eine Gesundheitskarte, so dass der erste Weg bei Beschwerden nicht zum Sozialamt führen muss, sondern gleich eine fachärztliche Begutachtung ermöglicht wird. Die Krankenkasse geht dabei finanziell in Vorleistung und erhält eine Erstattung durch den kommunalen Träger. Folgeschäden der Patienten werden besser vereitelt, und die Stadt Bremen spart jährlich mehr als eine Million EUR an Verwaltungskosten ein. Die Gesundheitskarte des Patienten lässt auf den ersten Blick nicht auf den eingeschränkten Behandlungsanspruch nach dem AsylbLG schließen, nur eine Kennnummer lässt es für den Arzt erkennen. Das Land Bremen spart so die Abrechnungsstelle der Arztkosten, die häufige zusätzliche Begutachtung der Asylbewerber durch den eigenen Amtsarzt, die 25 Administration der Krankenhilfe bei den Ämtern. Classen prüfte und recherchierte verschiedene Quellen aus dem Bundesgebiet zu den Kosten und Vorteilen der Einführung einer Gesundheitskarte und empfiehlt diese bundesweit in einer Stellungnahme des Flüchtlingsrats Berlin (vgl. Classen 2012). Nach seinen Ergebnissen verursacht ein Asylbewerber mit Gesundheitskarte monatliche Kosten für Leistungen nach §§ 4,6 AsylbLG in Höhe von 109 EUR monatlich, ein Asylbewerber ohne Gesundheitskarte von monatlich 189 EUR für die Prüfung in Berlin im Jahr 2008. Tendenziell ähnliche Ergebnisse waren bundesweit zu beobachten (ebd.). Da stellt sich die Frage, welchen Sinn die restriktiven Vorgaben der Fachanweisungen der Kommunen für die Sozialämter zur Anwendung der §§ 4, 6 AsylbLG machen, wenn die Asylbewerber mit Gesundheitskarte weniger Leistungen in Anspruch nehmen. Es zeigt, dass offensichtlich durch die laienhafte Entscheidung zur Ausgabe von Behandlungsscheinen für Gesundheitsdienste unter starkem Kostendruck oft solange mit kurzfristigen Hilfen für die Asylbewerber gewartet wird, bis der kostenintensive Rettungsdienst eingreifen muss. Die gesamte Bremer Studie kann hier nicht vorgestellt werden, die langjährigen Ergebnisse hat das Gesundheitsamt Bremen jedoch online gestellt: http://www.gesundheitsamt.bremen.de/sixcms/media.php/13/3_GBE_Gesund heitsversorgung_Asylsuchender.pdf Auch in Mecklenburg-Vorpommern wurde die Einführung bereits im Landtag in den Ausschüssen besprochen und positiv bewertet. Die Stadt Rostock hatte bereits Verhandlungen mit der AOK geführt, um hier Erleichterungen für die Verwaltung und die Asylbewerber gleichermaßen umzusetzen. Nunmehr wird in Mecklenburg-Vorpommern jedoch auf eine bundesweit abgestimmte Lösung dieser Sachfrage gewartet. 26 Am 18.03.2015 verkündete der Ausschuss des Bundestags für Gesundheit, dass „möglicherweise schon bald“ mit der Einführung einer einheitlichen Gesundheitskarte für alle Asylbewerber zu rechnen sei, um so eine Verbesserung der Gesundheitsversorgung der Betroffenen zu realisieren (Anhang 8). 6. Fazit und Ausblick „Man kann das Asylrecht nur halten, wenn man die Bestimmung ganz einfach und schlicht faßt: Politisch Verfolgte genießen Asyl.“ Zitat Hermann von Mangold (CDU) 1949 auf den Vorschlag, Beschränkungen in den Artikel 16 Absatz 2 Satz 2 GG a.F. aufzunehmen. Nach mehr als zwanzig Jahren des Bestehens des Asylbewerberleistungsgesetzes ist es Zeit für eine grundsätzliche Reform des Asylrechts. Eine Neuregelung ohne das Asylbewerberleistungsgesetz ist möglicherweise der richtige Ansatz. Simplifizierung im Sinne von Herrn Mangold. In der Erwartung, dass eine Asylpolitik nicht nur eine Abwehrpolitik sein muss, eine Exklusion durch die Mehrheit gegenüber einer schwer leidenden, nicht immer behinderten oder kranken Minderheit, aber doch eine Gruppe von unterschiedlichen Menschen, die ihr Leben auf das Spiel setzen, ihr letztes Geld investieren, um vor Folter, Mord und Krieg zu entfliehen. Nicht nur das Bundesverfassungsgericht, auch die internationalen Verträge und das Völkerrecht beantworten die Ausgangsfrage dieser Arbeit konsequent und erlauben keine diskriminierende Schlechterstellung von Ausländern oder Flüchtlingen allein wegen ihres Migrationshintergrunds. Der Anspruch auf eine über die Behandlung von akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen hinausgehende Versorgung mit gesundheitlichen Diensten und Pflegeleistungen, mit ausreichender zahnärztlicher Versorgung ohne das Ziehen aller er 27 krankten Zähne, die Bereitstellung aller seit Jahrzehnten für „Inländer“ gewohnten modernen Pflegemittel sollte für ein wohlhabendes Land wie Deutschland selbstverständlich sein. Die Meldungen der Presse und vom Flüchtlingsrat offenbaren, wie schnell bei fehlendem Zugang zu einem Arzt oder Krankenhaus Menschenleben in Gefahr geraten können. Es kann nicht im Sinne der Betroffenen sein, dass vor dem Arztbesuch erst eine Sachbearbeiterin des Sozialamts ohne medizinische Grundausbildung über den Arztbesuch entscheiden muss. Insbesondere in den ersten 15 Monaten nach Antrag auf Asyl sind Asylbewerber von wesentlicher Gesundheitsversorgung abgeschnitten, auch deren Kinder entgegen der Vorgaben der UN-Kinderrechtskonvention. Eine Integration von Menschen kann so nur schwerlich gelingen. Flüchtlinge sollte Deutschland als Chance begreifen, Fachkräftemangel und Nachteile im demographischen Wandel auszugleichen. Mehrfach hat die IHK vorgeschlagen, Asylbewerbern eine Arbeitserlaubnis zu gewähren. Solange man den Asylbewerbern grundsätzlich die Arbeitserlaubnis verweigert, drängt man sie in die Illegalität ab, in Schwarzarbeit, so dass erneut keine Beitragszahlungen in die Sozialversicherungskassen erfolgen. Integration gelingt aber am besten durch Arbeit, durch versicherungspflichtige und sozial abgesicherte Arbeitsverhältnisse. Deutschland hat den Bedarf an Fachkräften in vielen Bereichen, ob Ingenieure oder Pflegekräfte. Auch schwerbehinderte Asylbewerber können Teilhabe erlangen. Inklusion ist ein internationales Wort und Wunsch vieler Flüchtlinge, die in katastrophalen Wohnverhältnissen auf wenigen Quadratmetern in Asylunterkünften hausen. Für Teilhabe und Förderung und Mitarbeit in den Werkstätten für Behinderte sind gesetzliche Hindernisse für Asylbewerbe aufzuheben. Auch die jetzt zugereisten Menschen werden, wenn sie zum Teil dauerhaft in Deutschland bleiben, selbst einmal zu Pflegefällen. Da ist es sinnvoll, vorher auch diese Hunderttausende in die Pflegekasse einzahlen zu lassen und eini28 ge von Ihnen zu Pflegekräften um zu schulen. Der Gesetzgeber hat im Jahr 2015 bereits reagiert mit der Gesetzesnovelle vom 15.03.2015 für das Asylbewerberleistungsgesetz und mit dem Beschluss vom 02.07.2015 für die Erleichterung der Ausbildung junger Flüchtlinge durch Sicherung der Duldung für die Zeit der Ausbildung. Ein weiterer kurzfristiger Schritt kann die Ratifizierung der neuen EUAufnahmerichtlinie vom 26.06.2013 sein, die den Fokus auf die Flüchtlinge mit besonderen Bedürfnissen legt. Schwerbehinderte und traumarisierte Asylbewerber bedürfen spezieller Betreuung und Therapie. Dies gilt umso mehr für die Kinder der Flüchtlinge und für unbegleitete Minderjährige, die zunehmend als Waisen aus Krisengebieten nach Europa gelangen. Hunderttausende Asylbewerber kehren nach kurzer Zeit oder nach Jahren zurück in ihre Heimat, nach Afrika oder in den Nahen Osten. Welches Bild vermitteln sie von der Gastfreundschaft und der Fürsorge des christlichen Europa, der Demokratie und Menschenrechte, wenn selbst Kinder, die dem Tod in ihrem Heimatort und auf der langen Flucht mehrfach nur knapp entkamen, in Deutschland keine therapeutische und ausreichende Behandlung erfahren? Gleichzeitig sollte sich Deutschland auch für Anreize einsetzen, die eine Rückkehr in die Heimat attraktiv werden lässt für die Flüchtlinge, durch Diplomatie, durch Wirtschaftshilfe, durch Fördermaßnahmen und Mini-Kredite. Denn es kann nicht im Interesse der Heimatländer sein, dass deren mobile und qualifizierte Bewohner nach Europa auswandern und im Heimatland auch nach dem Ende der aktuellen Kriege kein schneller Aufbau mehr möglich wäre. Diese politischen Betrachtungen sind aber nicht Gegenstand dieser Arbeit. Für eine notwendige Versorgung von traumatisierten Flüchtlingen, für nachhaltige gesundheitliche Versorgung von Erkrankungen und zur Vermeidung von sonst verstärkt drohendem Pflegebedarf und zur Realisierung von Rehabilita29 tion und Pflege, soweit der Bedarf bereits besteht, bedarf es kurzfristiger gesetzlicher Korrekturen. Asylbewerber sollten in die vorhandenen Sozialversicherungen und die bestehende Struktur von Versorgungssystemen integriert werden. Die Ausgabe einer Gesundheitskarte und die Erstellung eines angemessenen Katalogs von notwendigen medizinischen Leistungen auch zur Prävention, zur Aufklärung und Verhütung und zur Rehabilitation und Pflege können kurzfristig umgesetzt werden und den Weg in weitere gesetzgeberische Reformen eröffnen. 30 LITERATURVERZEICHNIS Aycha, Abduljawad: Behandlungsmöglichkeiten traumarisierter Flüchtlinge in Deutschland. In: Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (Hg.): Asylpraxis, Band 7, Kronach 2001 Birck, A., Traumatisierte Flüchtlinge. Wie glaubhaft sind ihre Aussagen?, Heidelberg 2002 Bröcker, Herrmann-Matthias: Die externen Dimensionen des EU-Asyl- und Flüchtlingsrechts im Lichte der Menschenrechte und des Völkerrechts, Hamburg 2010 Classen, Georg. In: Bereit, Conradis, Sartorius (Hg.): Existenzsicherungsrecht, 2. Aufl. Baden-Baden 2013 Eichenhofer, Eberhard. In: Bereit, Conradis, Sartorius (Hg.): Existenzsicherungsrecht, 2. Aufl. Baden-Baden 2013 Fasselt, Ursula. 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Baden-Baden 2014 Schmahl, Stefanie: Kinderrechtskonvention. Baden-Baden 2013 Ulmer, Matthias: Asylrecht und Menschenwürde. Frankfurt am Main 1996 Wahrendorf, Volker: §§ 1-13 AsylbLG. In: Grube, Christian; Wahrendorff, Volker (Hg.): SGB XII Sozialhilfe mit Asylbewerberlesitungsgesetz. Kommentar. 3. Aufl. München 2010 Welti, Felix. In: Deinert, Olaf; Welti, Felix (Hg.): Behindertenrecht. BadenBaden 2014 32 ONLINE–PUBLIKATIONEN BAMF (Hrsg.). Das Bundesamt in Zahlen 2014, Broschüre: http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/Broschueren/bros chuere-bundesamt-in-zahlen-2014-asyl.pdf?__blob=publicationFile [Zugriff: 09.07.2015] Bollini, P.: Health Policies for Immigrant Populations in the 1990s. In: International Migration. June 1992, S. 103. http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/j.1468-2435.1992.tb00778.x/abstract [Zugriff: 09.07.2015] Caritas. 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ANA-ZAR 2/2013, Zeitschrift: http://dav-auslaender-und-asylrecht.de/diverse/ANA-ZAR [Zugriff: 09.07.2015] 34 SELBSTÄNDIGKEITSERKLÄRUNG Hiermit versichere ich an Eides statt, dass ich die vorliegende Bachelorarbeit selbstständig verfasste und keine anderen als die angegebenen Quellen und erlaubten Hilfsmittel verwendete. Ich habe die Bachelorarbeit in gleicher oder ähnlicher Form keiner anderen Prüfungsbehörde vorgelegt. Neubrandenburg, 20.07.2015 35