Der literarische Text – eine Fiktion

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Henrik Nikula
Der literarische Text –
eine Fiktion
Aspekte der ästhetischen Kommunikation
durch Sprache
Der literarische Text – eine Fiktion
Henrik Nikula
Der literarische Text –
eine Fiktion
Aspekte der ästhetischen Kommunikation
durch Sprache
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E-Mail: [email protected]
Satz: Nagelsatz, Reutlingen
Printed in Germany
ISBN 978-3-7720-8470-6
Inhalt
1
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2
Zum Textbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
2.1
2.2
2.3
2.4
Textualität: Sinn und Kohärenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Zum Textsortenbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Das Verhältnis zwischen Text und Bild . . . . . . . . . . . . . . . .
Textbegriff: Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3
Das Ästhetische als linguistischer Begriff und das
„Ausdrucksdefizit“ der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
3.1
3.2
3.3
Das Janusgesicht des sprachlichen Zeichens . . . . . . . . . . . .
Digital und analog bzw. ästhetisch und aisthetisch . . . . . . .
Zur Verwendung des sprachlichen Zeichens:
Meinen und Verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Das Ästhetische als Textfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Die Ausdrückbarkeit von Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Der literarische Text als Metapher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Das Ästhetische: Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.4
3.5
3.6
3.7
7
14
16
19
22
29
35
44
52
58
69
75
4
Fiktivität, Fiktionalität, Fiktionalisierung
und Fingieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76
4.1
4.1.1
4.1.2
4.2
4.3
4.4
Fiktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76
Reales im Fiktiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80
Fiktivität als unterscheidendes Kriterium . . . . . . . . . . . . . . 89
Fiktionalität und Fiktionalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
Fingieren: „Als-ob-Kommunikation“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102
Fiktivität: Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
5
Fiktionalisierung als Entkontextualisierung . . . . . . . . 104
5.1
Entkontextualisierung als allgemeine kommunikative
Strategie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
Entkontextualisierung und Modalität . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
De dicto vs. de re . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112
Der literarische Text als „Angebot“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
Die „Janusartigkeit“ der Fiktionalisierung . . . . . . . . . . . . . . 118
5.1.1
5.1.2
5.1.3
5.1.4
6
5.2
5.3
5.4
Inhalt
5.5
Ästhetisierung durch Entkontextualisierung . . . . . . . . . . . . 120
Entinstrumentalisierung durch Entkontextualisierung . . . . 122
Fiktionalität als notwendiges Merkmal literarischer
Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
Entkontextualisierung: Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . 130
6
„Formale“ Aspekte des Literarischen . . . . . . . . . . . . . . 131
6.1
6.2.5
6.2.6
Poetische Sprache und Normativität –
Abweichungspoetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
Stil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
Stil und Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
Stil und Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146
Beispielanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
Zum Stil des literarischen Textes am Beispiel von
Minimalpaaranalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152
Zum Stil eines literarischen Textes oder zur Sprache
des „Exotischen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160
Zum Stil des nichtliterarischen Textes am Beispiel
eines Reportagetextes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
Stil als persuasives Mittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
Stil als persuasives Mittel in nichtliterarischer
Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168
Stil als persuasives Mittel in literarischer
Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
Trivialliteratur versus seriöse Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . 177
Stil: Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186
7
Zur Übersetzung von literarischen Texten . . . . . . . . . . 188
7.1
7.2
Zum Problem der Übersetzbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
Übersetzung von literarischen Texten:
Beispielanalyse von zwei Gedichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199
Übersetzung von literarischen Texten:
Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212
6.2
6.2.1
6.2.2
6.2.3
6.2.3.1
6.2.3.2
6.2.3.3
6.2.4
6.2.4.1
6.2.4.2
7.3
8
Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218
1
Einführung
Simone Winko schreibt in ihrem Artikel „Auf der Suche nach der Weltformel. Literarizität und Poezität in der neueren literatuttheoretischen
Diskussion“ Folgendes, Winko (2009: 374f.):
Gibt es immanente Eigenschaften oder Funktionen von Texten, die sie zu
literarischen machen? Gibt es textexterne Kriterien, nach denen sich literarische von nicht-literarischen Texten unterscheiden lassen? Die Frage nach
dem alle literarischen Texte zusammenhaltenden Literaritätskriterium gleicht
der Suche nach der Weltformel: Gäbe es sie und wäre sie akzeptiert, dann
wäre alles einfacher. Entsprechend hätte es auch die Literaturwissenschaft
erheblich leichter mit der Bestimmung ihres Gegenstandes, ihrer Verfahren
und letztlich auch mit ihrer Fachidentität, wenn sie auf distinkte und akzeptierte Literarizitätskriterien zurückgreifen könnte. […] Auffällig ist jedoch,
dass die Skepsis gegenüber solchen Kriterien einer Intuition zu widersprechen scheint, die den Umgang der ‚Normalleser‘ mit Literatur kennzeichnet, und auch in professionellen Kontexten ist die Unterscheidung
immer dann unproblematisch, wenn keine Begründungen gefragt sind. So
werden z.B. in literaturwissenschaftlichen Seminaren ungebrochen sichere
Antworten auf die Frage gegeben, was Literatur auszeichne, etwa Literatur
behandle Erfundenes und sei gut geschrieben. Die theoretisch schwierig oder
auch gar nicht zu leistende klare Abgrenzung literarischer Texte von nichtliterarischen stellt im ‚täglichen Umgang‘ mit diesen Texten offenbar kein
Problem dar. Die Grenzen verlaufen erkennbar, und sie werden mit Bezug
auf Textqualitäten begründet.
Gibt es den literarischen Text oder ist er nur eine Fiktion? Das zentrale
Ziel dieses Buches besteht darin zu untersuchen, was unter dem Begriff
des literarischen Textes und unter literarischer Kommunikation überhaupt linguistisch verstanden werden könnte. Wenn bestimmte Erscheinungen in literarischen Texten unter Bezug auf die Literarizität
linguistisch beschrieben werden, müsste mit linguistischen Mitteln erfasst
werden können, was es bedeutet, einen Text als „literarisch“ zu bezeichnen. In vielen linguistischen Untersuchungen von literarischen Texten
scheint man aber davon auszugehen, dass es genügt, dass der zu untersuchende Text irgendwie als zur „Literatur“ gehörend aufgefasst wird.1
Dabei wird zwar nicht selten auf bestimmte Eigenschaften des Textes
1 Linguistische oder sprachwissenschaftliche Untersuchungen – die Termini Linguistik
und Sprachwissenschaft werden hier synonym verwendet.
8
1 Einführung
hingewiesen, die als typisch für literarische Texte betrachtet werden, wie
etwa Fiktionalität, Fiktivität, Kreativität, Formgebundenheit, Ästhetizität,
Abweichung von der Norm, Stil, Polyfunktionalität, Autoreflexivität
usw., aber häufig ohne dass näher darauf eingegangen wird, was unter
diesen Begriffen linguistisch zu verstehen sei und welche Konsequenzen
es hat, wenn Eigenschaften wie diese als „textsortentypisch“ betrachtet
werden. Vor allem der zentrale Begriff des Ästhetischen scheint keiner
Erklärung zu bedürfen. Und auch wenn man in der Sprachwissenschaft
sich schon lange für die besonderen Eigenschaften der literarischen
Sprache interessiert hat,2 werden bei der Darstellung der Textklassifizierung in textlinguistischen Arbeiten die literarischen Texte recht stiefmütterlich behandelt (wenn sie überhaupt behandelt werden)3, wobei die
Klassifizierung der literarischen Texte (Gattungen und Genres), wie auch
die Unterscheidung zwischen literarischen und nicht-literarischen Texten
mehr oder weniger explizit der Literaturwissenschaft überlassen wird.
Dabei wird auch die Frage kaum thematisiert, ob die literaturwissenschaftlichen Kriterien der Klassifikation überhaupt mit den sprachwissenschaftlichen vereinbar sind.
Jakobson (1987: 63) schreibt: „Poetics deals primarily with the question ,What makes a verbal message a work of art?‘“ Dies ist auch eine
zentrale Frage der vorliegenden Arbeit. Allerdings geht es hier um
Sprachwissenschaft, aber Jakobson (1987: 63) schreibt selbst weiter:
„Since linguistics is the global science of verbal structure, poetics may be
regarded as an integral part of linguistics.“
Zentraler Gegenstand der Literaturwissenschaft sind die literarischen
Texte, Gegenstand der Sprachwissenschaft oder Linguistik sind sprachliche Texte überhaupt. Dies bedeutet nicht, dass die Literaturwissenschaft
als Teilbereich der Linguistik (oder der Textlinguistik) betrachtet werden
2 Wellmann (2003, 346f.) ist allerdings der Meinung, dass die Textlinguistik sich allzu
wenig für den literarischen Text als Textsorte interessiert hat. Vgl. aber etwa Adamzik
(2004, 13): „[...], dass zu den frühesten textlinguistischen Arbeiten solche gehören,
die literarischer Sprache gewidmet sind und dass auch die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts gerade in diesem Bereich besonders fruchtbar waren. Inwieweit die Analyse
literarischer Texte allerdings zum Bereich der Text-Linguistik gehört, ist immer
umstritten gewesen und wird es wohl auch bleiben.“ Vgl. weiter Oomen (1979, 178):
„Neben Strukturalismus und Transformationsgrammatik war es die Textlinguistik, die
Impulse für die Entwicklung einer linguistischen Poetik lieferte.“
3 Vgl. auch Einführungen wie etwa Adamzik (2004), de Beaugrande/Dressler (1981),
Brinker (2010), Eroms (2008), Heinemann/Heinemann (2002), Heinemann/Viehweger (1991). Z.B. Gansel/Jürgens (2007) und Gansel (2011) schenken aber dem
Unterschied zwischen literarischen und nichtliterarischen Texten ein wenig mehr
Aufmerksamkeit.
1 Einführung
9
könnte, denn die Ziele und Methoden der Literaturwissenschaft und der
Linguistik sind deutlich verschieden, auch wenn ihre Objekte zum Teil
dieselben sind. Auch kann der Linguist viel von den Einsichten der
Literaturwissenschaft lernen, aber die Begriffe der Literaturwissenschaft
können nicht ohne weiteres von der Linguistik übernommen werden,
denn schon so zentrale Begriffe wie „Sprache“‘ „Text“, „Interpretation“,
„Kommunikation“ usw. werden in der Literaturwissenschaft nicht selten
in einer Weise verwendet, die mit „entsprechenden“ linguistischen
Begriffen nicht ohne weiteres kompatibel ist.4 Breuer, U. (2002b: 185)
schreibt:
Es sollte deutlich geworden sein, dass Linguistik und Literaturwissenschaft
gleichermaßen von einem Textbegriff ausgehen, der sich durch die Kriterien
der abgeschlossenen Form und der kommunikativen Funktion auszeichnet.
Die Linguistik interessiert sich dabei eher für die allgemeinen Eigenschaften
eines abstrakten Textes, die Literaturwissenschaft dagegen für das Verstehen
einzelner Textexemplare.
Typisch für nicht wenige linguistische Arbeiten, die sich mit literarischen
Texten befassen, scheint zu sein, dass man sich dem Literarischen oder
„Poetischen“ mit einer gewissen Ehrfurcht nähert, vgl. dazu auch Jannidis/Lauer/Winko (2009: 28). Eine solche Ehrfurcht mag an sich berechtigt sein, stellt aber kaum einen geeigneten Ausgangspunkt einer linguistischen Analyse dar, wo subjektive Wertungen wenigstens eher keine
Rolle spielen sollten. Ganz wertungsfrei lässt es sich natürlich auch
linguistisch nicht arbeiten, da z.B. schon die Auswahl der zu analysierenden Beispieltexte leicht ein gewisses Moment der subjektiven Wertung
beinhalten kann.5
Gansel/Jürgens (2007: 65) thematisieren einen wichtigen Aspekt der
hier zu behandelnden Fragestellungen, wenn sie schreiben:
Der Begriff der Textsorte hat sich in der jüngeren Vergangenheit als Klassifikationsterminus für Gebrauchstexte weitgehend durchgesetzt und grenzt sich
von dem literaturwissenschaftlichen Begriff der künstlerischen Gattung ab.
Beide Begriffe liegen in ihrer bisherigen inhaltlichen Fassung durch die zwei
Disziplinen etwa auf einer Abstraktionsebene und konnten sich wohl so auf
dieser Grundlage nebeneinander behaupten. Sie ermöglichen gleichermaßen
die gegenständliche Differenzierung von literarischen Texten und Gebrauchstexten.
4 Zum Textbegriff, vgl. u.a. Breuer, U. (2002 u. 2003), Fix (2003a).
5 Die Motivation, überhaupt etwas zu tun, ist natürlich letzten Endes von subjektiver
Wertung abhängig, vgl. auch Abschn. 3.5.
10
1 Einführung
Aber auch, wenn die Begriffe Textsorte und Gattung „etwa auf einer
Abstraktionsebene“ liegen mögen, können sie nicht gleichgesetzt werden.
Wichtig ist nämlich, dass die Linguistik ausgehend von ihren eigenen
Kriterien sämtliche Typen von Texten klassifizieren können muss, d.h.
Gegenstand der Linguistik können nicht nur die Gebrauchstexte sein,
schon weil man als Linguist nicht sagen kann, was ein Gebrauchstext ist,
wenn man ihn nicht von den literarischen Texten mit linguistischen
Kriterien zu unterscheiden vermag. „Gebrauchstexte sind alle nichtliterarischen Texte“ ist dabei natürlich kein ausreichendes Kriterium, wie
folglich auch nicht etwa „Gebrauchtexte sind Texte, die nicht Gegenstand
der Literaturwissenschaft sind“. Ausgehend von einem systemtheoretischen Standpunkt schreiben Gansel/Jürgens (2007: 81): „Textsorten
lassen sich von einer Dominante – dem sozialen System/Kommunikationsbereich – her klassifizieren.“ Als literarische Texte wären dabei Texte
des Kommunikationsbereichs bzw. des Systems der Kunst, genauer der
Literatur, zu betrachten, vgl. auch Gansel (2011:79ff.), Plumpe (2002),
Plumpe/Werber (1993), Schmidt, S.J. (1993). Es ist deutlich, dass ausgehend von der Systemtheorie wichtige Aspekte zur Unterscheidung zwischen literarischen und nichtliterarischen Texten beschrieben werden
können, weshalb die Systemtheorie berücksichtigt werden muss, auch
wenn diese Untersuchung keine systemtheoretische ist, vgl. Abschn. 2.2,
3.3, 5.1.3, 5.1.4.6
Eine zentrale Frage der vorliegenden Arbeit ist, in welcher Weise sich
literarische Kommunikation zeichentheoretisch von nichtliterarischer
unterscheidet. Es kann notiert werden, dass man sich in der heutigen
Literaturwissenschaft nicht nur für die traditionellen literarischen Gattungen interessiert, sondern auch für Biografien, Autobiografien, Memoiren und ähnliche Texte, was dazu führt, dass die Grenze zwischen literarischen und nichtliterarischen Textsorten unscharf wird.7 Es entsteht
dabei die Frage, ob die Beziehung zwischen dem „Literarischen“ und den
„literarischen Textsorten“ so einfach ist, wie hier angedeutet, d.h. dass alle
Texte, die ausgehend von gewissen Merkmalen als zu den literarischen
Textsorten gehörig klassifiziert werden können, auch als „literarisch“ zu
betrachten sind, wie auch, dass alle Texte nichtliterarischer Textsorten
auch als „nichtliterarisch“ anzusehen sind, d.h. es geht um die Frage der
Beziehung zwischen Textsorte, Literarizität und Ästhetizität.
6 Zur Rezeption der Systemtheorie und systemtheoretischer Operationen in der Literaturwissenschaft, vgl. Böhm (2011).
7 So nennt z.B. Wagner-Egelhaaf (2000) die Autobiographie ein „gattungswiderständiges Phänomen“.
1 Einführung
11
In den folgenden Abschnitten werden also bestimmte, in der Linguistik und der Literaturwissenschaft größtenteils bekannte Aspekte und
Begriffe vorgestellt und untersucht, die zur Unterscheidung zwischen
literarischen und nichtliterarischen Texten bzw. literarischer und nichtliterarischer Kommunikation dienen könnten. Es wird dabei versucht,
Beziehungen und Abhängigkeiten zwischen diesen Begriffen zu finden,
die zu einer linguistischen Präzisierung des Begriffs des Literarischen
führen könnten. Es wird darauf verzichtet, eine Übersicht über die Forschungsgeschichte der Bemühungen zur Charakterisierung der besonderen Eigenschaften literarischer Texte in der Linguistik und in der Literaturwissenschaft zu geben, u.a. weil dies den Rahmen der vorliegenden
Arbeit ganz offenbar sprengen würde. Die einschlägige linguistische
Literatur ist vielleicht noch irgendwie überschaubar, die literaturwissenschaftliche aber nicht; schon die deutschsprachige literaturwissenschaftliche Literatur zu dem in diesem Zusammenhang wichtigen Begriff der
Fiktionalität ist äußerst umfassend, vgl. etwa Zipfel (2001). Der Verzicht
auf eine Forschungsübersicht sollte aber nicht so verstanden werden,
dass der Wert der früheren Forschung nicht anerkannt würde. Das meiste, vielleicht alles, was früher zum Begriff des literarischen Textes gesagt
und geschrieben worden ist, muss unter Berücksichtigung der gegebenen
Voraussetzungen als relevant angesehen werden und vieles davon ist von
entscheidender Bedeutung für diese Arbeit. Es wird aber erst unmittelbar
im Zusammenhang mit der Behandlung der verschiedenen Aspekte des
„Literarischen“ auf einschlägige wissenschaftliche Literatur und Forschungsergebnisse hingewiesen.8
Die Tatsache, dass es um Aspekte literarischer Kommunikation geht,
bedeutet, dass das Thema ausgehend von verschiedenen Blickwinkeln
betrachtet wird, was bestimmte Wiederholungen bedeutet und auch der
Darstellung zuweilen den Eindruck einer gewissen Heterogenität verleihen mag. Der alles zusammenhaltende Aspekt ist aber der sprachwissenschaftlich-zeichentheoretische Ausgangspunkt, der somit eine
kohärenzstiftende Funktion hat. Sehr zentral wird dabei das Ästhetische
als linguistischer Begriff sein.
8 Zum Verhältnis zwischen Literaturwissenschaft und Linguistik, vgl. etwa Breuer, U.
(2002a u. 2003), Fix (2003a), Fleischer, W. (1978), Link (2008), Hausendorf (2008),
Hess-Lüttich (2003), Hoffmann (2003), Hoffmann/ Keßler (2003), Schiewer (2003).
2
Zum Textbegriff
Als Hintergrund für die weitere Darstellung muss hier zuerst kurz auf
den Begriff „Text“ eingegangen werden. Es kann dabei nicht darum
gehen, dass eine vollständige, abgeschlossene Textdefinition vorgelegt
würde, denn das Ziel dieser Arbeit kann nur sein, einen kleinen Beitrag
zur Entwicklung der Texttheorie zu liefern. Es wird jetzt lediglich versucht, den allgemeinen texttheoretischen Rahmen darzustellen, der
hinter den Überlegungen steht. Der Textbegriff wird aber in der weiteren
Diskussion vertieft.
Texte können medial akustisch (gesprochen), visuell (geschriebene
Sprache bzw. Zeichensprache der Gehörlosen) oder haptisch/taktil (Blindenschrift, wie auch die Sprache der Taubblinden) realisiert werden. In
diesem Beitrag wird primär der geschriebene Text behandelt, was nicht
bedeutet, dass an die anderen Realisierungsmodi, v.a. an die gesprochenen Texte, nicht gedacht worden ist. Unter „Text“ wird auch nicht nur
die reine Textoberfläche im Sinne von physikalischen Reizen verstanden,
die auf unsere Sinneswahrnehmungen einwirken, etwa Reihen von
graphischen Zeichen als visuell Wahrnehmbarem oder Folgen von
Sprachlauten als auditiv Wahrnehmbarem. Es geht in diesen Fällen nur
um als Texte potentiell interpretierbare Erscheinungen als eine Art
„Interpretationsangebote“. Textoberfläche ist auch nicht mit Textoberflächenstruktur gleichzusetzen, denn das, was als Textoberflächenstruktur aufgefasst wird, ist schon als (sprachliche) Struktur interpretiert
worden, d.h. jemand hat ausgehend von bestimmten Reizen eine bestimmte sprachliche Struktur (re)konstruiert. Ein Text „entsteht“ erst,
indem ein Rezipient1 ausgehend von Wahrnehmungen und mit Hilfe von
„Regeln“, die zum Teil angeboren sein mögen, zu einem großen Teil aber
im Verlaufe der Sozialisierung erworben sind, ein „Gebilde“ konstruiert,
das er als Text betrachtet; wichtige Bedingungen dabei sind, dass dieses
Gebilde kommunikativ relevant erscheint, dass es als kohärent aufgefasst
werden kann und vor allem, was mit den schon erwähnten Bedingungen
eng zusammenhängt, dass es „Sinn macht“, als sinnvoll interpretierbar
ist.
Visuelle Reize als graphische Buchstabenzeichen bzw. Laute als
Sprachlaute zu erkennen, setzt schon bestimmte Kenntnisse und Fertig-
1 Auch der Sprachproduzent kann in gewissem Sinne als Rezipient betrachtet werden.
2 Zum Textbegriff
13
keiten voraus. Ausgehend von seinen früheren Erfahrungen und seinem
Wissen kann ein Rezipient z.B. bestimmte visuelle Reize als potentielle
Schriftzeichen deuten und annehmen, dass ihre Gesamtmenge einen
Text darstellen soll, aber das Angebot an Reizen kann noch keinen Text
im eigentlichen Sinne für den Rezipienten darstellen, weil er höchstens
annehmen kann, dass das Ganze möglicherweise Sinn machen könnte.
Damit ein Rezipient eine potentielle „Textoberfläche“ als Text interpretieren und verstehen kann, muss er sehr große Mengen von Wissen,
Kenntnissen und Fertigkeiten besitzen, u.a. sprachliches Wissen, enzyklopädisches Wissen, kommunikatives Wissen usw. Wenn davon
ausgegangen wird, dass als Text nur das betrachtet wird, was Sinn für
jemanden macht, bedeutet dies nicht nur, dass als Texte produzierte
Gebilde aus sehr verschiedenen Gründen als Texte rezipiert werden,
sondern auch, dass etwas, was von einem Rezipienten als Text rezipiert
wird, von einem anderen als sinnlos abgelehnt werden kann, wobei das
„Angebot“ für diesen Rezipienten keinen Text darstellt, auch wenn er
annimmt, dass das Gebilde als Text gemeint war. In verschiedenen Richtungen der Literatur, vor allem wohl in der Dichtung, lassen sich leicht
Beispiele finden, wo der eine sagt: „dies ist ein sehr schöner Text“, der
andere aber: „ich verstehe nichts“, oder: „das ist total sinnlos“. Ähnliche
Beispiele könnte man z.B. in der Werbung finden. Zudem muss beachtet
werden, dass eine sprachliche Struktur für einen Rezipienten durchaus
sinnvoll sein kann und somit „Text“, auch wenn er vielleicht nicht alles
verstanden hat. Wesentlich ist, dass der Rezipient den Text so gut verstanden hat, wie er es selbst für nötig hält. Dies kann bei verschiedenen
Rezipienten desselben Textangebots stark variieren.2 – Der Textproduzent
wiederum muss, damit die Kommunikation glückt, seinen Text so formulieren, dass er wenigstens in irgendeiner Weise als sinnvoll rezipiert
werden kann und somit als Text überhaupt rezipierbar ist. SchwarzFriesel (2004: 85) schreibt: „Ziel des Sprachverstehens ist es, Sinn zu
erzeugen.“
2 de Beaugrande/Dressler (1981: 47) sprechen hier von einer „Abschluss-Schwelle“,
wobei sie auch eine entsprechende Abschluss-Schwelle für den Textproduzenten
annehmen, d.h. für den Textproduzenten gibt es einen Punkt, wo er der Meinung ist,
dass der Text gut genug ist, auch wenn er ihn im Prinzip beliebig lange hätte weiter
bearbeiten können, vgl. de Beaugrande/Dressler (1981: 36).
14
2.1
2 Zum Textbegriff
Textualität: Sinn und Kohärenz
Oben wurde die Zentralität des Begriffs „Sinn“ angesprochen. Monika
Schwarz-Friesel (2006) macht darauf aufmerksam, dass in der Textlinguistik die Begriffe Sinn und Kohärenz häufig gleichgesetzt werden,
wobei Kohärenz als die grundlegende Bedingung für Textualität betrachtet wird. Nach Schwarz-Friesel (2006: 64) sei es aber notwendig, „eine
klare Trennung zwischen inhaltlichem Zusammenhang und interpretativer Sinnerzeugung“ zu ziehen. Da im Normalfall ein sinnvoller Text auch
kohärent bzw. ein kohärenter Text auch sinnvoll ist, ist es nicht verwunderlich, dass die von Schwarz-Friesel (2006) geforderte „klare Trennung“
häufig nicht gemacht wird.
Der Begriff der Kohärenz wird von Schwarz-Friesel (2006: 64) in
folgender Weise definiert:
Kohärenz wird von mir als inhaltlicher Zusammenhang, genauer als
semantisch-konzeptuelle Kontinuität definiert, d.h. es geht um alle im Text
enthaltenen Relationen expliziter und impliziter Art, die den inhaltlichen
Zusammenhang und damit die konzeptuelle Kontinuität eines Textes konstituieren […].
Schwarz-Friesel (2006: 70f.) stellt anhand eines Gedichts fest, dass „auch
als nicht-kohärent bewertete Texte einen Textsinn erhalten können.“
Schwarz-Friesel (2006: 73) stellt weiter in ihren „Schlussbemerkungen“
fest: „Die Menge der kohärenten Texte ist nicht identisch mit der Menge
der interpretierbaren Texte.“
Die Argumentation von Schwarz-Friesel (2006) scheint überzeugend.
Ihre Definition von Kohärenz oben zeigt, dass es bei der Kohärenz um
eine Relation zwischen Rezipienten und Text geht, d.h. der Rezipient
ordnet bei der Sinnsuche ausgehend von seinem sprachlichen und außersprachlichen Wissen dem Text Kohärenz zu. Diese Kohärenzzuordnung kann mehr oder weniger unbewusst und automatisch, bei schwierigeren Texten aber bewusst verlaufen. In Fällen, wo der Rezipient z.B. mit
der Thematik sehr vertraut ist und die Interpretation eher top-down
verläuft, brauchen sogar nicht alle inhaltlich relevanten Elemente prozessiert zu werden, d.h. eine Kohärenz wird dabei weniger ermittelt, sondern
eher angenommen oder vorausgesetzt, wobei also sogar ein nicht ganz
kohärenter Text in einer bestimmten Kommunikationssituation als
sinnvoll interpretiert werden kann. Für den Textsinn ist somit die Relation
zwischen (Text-)Rezipienten und Welt zentral, d.h. es geht um die Bedeutung des Text(inhalt)s in derjenigen Kommunikationssituation, deren
Teil der Rezipient selbst darstellt.
2.1 Textualität: Sinn und Kohärenz
15
Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch, dass es bei der Ermittlung
von Kohärenz um einen kognitiven Prozess geht, um die Konstruktion
von „konzeptueller Kontinuität“, vgl. das Zitat aus Schwarz-Friesel (2006:
64) oben. In Texten aber, die die Grenzen der Textualität herausfordern,
etwa in der Dichtung, Stichworte „konkrete Poesie“, „hermetische Dichtung“, „absolute Lyrik“ usw., wird die Kohärenz im Sinne von konzeptueller Kontinuität in den Hintergrund verschoben, während sinnlich
Erlebtes als Gestalt in den Vordergrund gerückt wird. So lange es um
Textualität und somit um Sprache geht, ist kognitives Wissen ein grundlegender Faktor bei der Textrezeption, wobei aber in den angegebenen
Fällen das emotive Wissen sogar dominierend werden kann, und somit
die „Gestalt“ im Sinne von „vorkognitiv“ Gestaltetem wichtiger als die
Kohärenz bei der Sinnsuche sein kann, vgl. auch Abschn. 3.5.3
Durch den Begriff der Kohärenz wird die Tatsache erfasst, dass sehr
vieles in einem Text ausgehend von den Teilen und deren Beziehungen
abgeleitet werden kann. Es gibt aber auch Bedeutungsaspekte in Texten,
die „emergent“ sind, die also nicht ausgehend von den Teilen und deren
Beziehungen erfasst werden können, vgl. Abschn. 3.6. Diese Zusammenhänge, die also nicht kognitiv-analytisch greifbar sind, werden hier durch
den Begriff der Gestaltung des Textes erfasst, vgl. auch Fix (1996).
Der Terminus (Text-)Gestaltung wird im Weiteren für Strukturierung
oder Formgebung überhaupt verwendet, also für Kohärenz und Gestalt,
aber auch für die Formulierung des rein formalen, physisch Wahrnehmbaren des Textes. Die Gestaltung betrifft somit sowohl Form als auch
Inhalt. Die Gestaltung, und somit auch der „Stil“, ist bei jedem Text
bedeutungstragend, aber in einer viel deutlicheren Weise bei literarischer
als bei nichtliterarischer Kommunikation, vgl. Abschn. 3.6 u. 6.2.
Einen Text verstehen bedeutet diesem Text einen Sinn zuzuordnen.
Es bedeutet gleichzeitig, dass die Textualität dieses Textes anerkannt
wird, dass einem potentiellen Text der Status eines Texts zugeordnet
wird. Einen Text missverstehen bedeutet dabei, diesem Text einen anderen Sinn als den vom Textproduzenten intendierten zuzuordnen. Bei
literarischer Kommunikation kann dabei nicht festgelegt werden, ob
das Verstehen eigentlich ein Missverstehen ist oder nicht, vgl. Abschn.
3.3.
3 Unsere unmittelbaren Sinneswahrnehmungen erleben wir ja normalerweise nicht als
ein amorphes Chaos, sondern eben als eine irgendwie „geformte“ Ganzheit. Zur
Bedeutung der Begriffe „Gestalt“ und „Gestalten“ für die Linguistik vgl. auch Fix
(1996).
16
2.2
2 Zum Textbegriff
Zum Textsortenbegriff
Da sich diese Arbeit als Aufgabe gestellt hat zu untersuchen, ob es den
literarischen Text gibt, oder ob er, wenigstens linguistisch gesehen, eine
Fiktion darstellt, muss schon an dieser Stelle kurz auf die Klassifizierung
von Texten überhaupt eingegangen werden. Es geht dabei nicht darum,
in Frage zu stellen, ob die Unterscheidungen zwischen den verschiedenen Textsorten innerhalb der Klasse von Texten, die in der Literarturwissenschaft als „literarisch“ bezeichnet werden, adäquat sind, etwa wie die
Gattungen Epik, Lyrik und Dramatik unterschieden werden, oder wie
Genres wie Erzählung, Kurzgeschichte und Novelle definiert werden,
sondern ob und mit welchen Begründungen eine umfassende Klasse von
literarischen Texten aus der Gesamtklasse aller Typen von Texten sich als
literarisch aussondern lässt. Gibt es z.B. nicht eine in vieler Hinsicht
größere Ähnlichkeit zwischen einer Kurzgeschichte und einer Reportage
als zwischen einer Kurzgeschichte und einem Gedicht? Und weist nicht
in Bezug auf die starke Konventionalisierung mittels einer großen Menge
von Merkmalen eine Gedichtform wie etwa „Sonett“ eine stärkere Verwandtschaft auf mit der in dieser Hinsicht stark konventionalisierten
Textsorte „Wetterbericht“ als mit der literarischen Textsorte „Kurzgeschichte“, die eine mit der Reportage vergleichbare relativ niedrige
Zahl von konventionellen und somit erwartbaren Merkmalen aufweist?
Wenn dies der Fall ist, könnte man annehmen, dass das Merkmal „literarisch“ kein besonders dominantes wäre, wobei als literarisch charakterisierte Textsorten wie Kurzgeschichte, Erzählung und Novelle einen ganz
anderen Platz in der Textsortenhierarchie besetzen würden (vorausgesetzt, dass die Beziehungen zwischen Textsorten überhaupt hierarchisch
dargestellt werden können), als wenn man die „Literarizität“ als oberstes
unterscheidendes Merkmal ansetzt. Eine wesentliche Frage in diesem
Zusammenhang ist, ob ein solches Textsortenmerkmal überhaupt anzunehmen ist. Wenn dies aber begründet zu sein scheint, ist die folgende
grundsätzliche Frage, worin diese Literarizität besteht: geht es etwa um
eine besondere „literarische oder poetische Funktion“, oder geht es nur
darum, dass bestimmte Typen von Texten konventionell als literarisch
klassifiziert werden, etwa davon ausgehend, dass sie im systemtheoretischen Sinne Texte des Kommunikationsbereichs bzw. des Systems der
Literatur sind?
Heinemann (2000: 17) unterscheidet terminologisch zwischen Texttyp
(abstrakteste Ebene), Textsortenklasse, Textsorte und Textsortenvariante
(konkreteste Ebene), was aber die Zahl der möglichen Ebenen im Voraus
zunächst ein wenig willkürlich zu beschränken scheint. Heinemann/
2.2 Zum Textsortenbegriff
17
Heinemann (2002:143) unterscheiden wiederum zwischen Text-Typ,
Textsortenklasse 2, Textsortenklasse 1, TEXTSORTE und Textsortenvariante.
Wenn aber gezeigt werden könnte, dass eine derartige Einteilung in vier
oder fünf, oder überhaupt in eine bestimmte Zahl von relativ wenigen
Ebenen, sprachlich motiviert werden kann, stellt dies natürlich ein wichtiges sprachwissenschaftliches Ergebnis dar. In der vorliegenden Arbeit
werden aber keine derartigen Ergebnisse angestrebt, sondern der Terminus Textsorte wird für alle denkbaren Typen von Texten verwendet, auch
für sogenannte „literarische Texte“. In einer formalen Textsortenhierarchie hätten wir also ganz oben den Begriff „Text“, wobei jeder der
Knoten bis zum untersten Knoten im hierarchischen Textsortenbaum
durch Textsorte zu etikettieren wäre. Dabei stellen sämtliche Textsorten,
von der untersten im Baum abgesehen, zugleich Textsortenklassen dar.
Eine andere Frage ist, ob sich durch eine derartige hierarchische Baumstruktur die Beziehungen zwischen den verschiedenen Textsorten überhaupt adäquat abbilden lassen.
Es gibt beachtenswerte Gründe, die für eine Hierachisierung irgendeiner Art sprechen. Bei der Klassifizierung von Texten scheint die allgemeine Tendenz die zu sein, dass man als höhere Kriterien „externe“
(kommunikative) Kriterien, d.h. Funktion, Situation und Verfahren oder
Strategien ansetzt, während „interne“, d.h. auf die reine Sprachstruktur
bezogene Kriterien, wie die Textstrukturierung und die Formulierungsmuster, niedrigere Kriterien in der Hierarchie bilden; so z.B. und zwar in
dieser Reihenfolge im Mehrebenenmodell von Heinemann/Viehweger
(1991: 145ff.). Das Verfahren ist in dem Sinne einleuchtend, dass es ja
darum geht zu zeigen, wie bestimmte Funktionen und Inhalte unter
bestimmten Umständen versprachlicht werden können. Das Verfahren
kann noch dadurch begründet werden, dass die allgemeinen kommunikativen Funktionen sich wenig mit der Zeit verändern und dass sie
deshalb auch nicht oder sehr wenig kulturabhängig sind, während die
textuellen Strukturierungen von Texten veränderlich und sprach- und
kulturabhängig sind – und somit auch die Textsorten.
Gansel/Jürgen (2007: 69) definieren Texttypen „als auf linguistischen
Kriterien beruhende Zusammenfassungen von Texten, die quer zu den
Textsorten in verschiedenen Kommunikationsbereichen verlaufen“. Als
Textklasse wird von ihnen „das vorkommen einer Menge von Texten in
einem abgegrenzten, durch situativ-funktionale und soziale Merkmale
definierten kommunikativen Bereich, in dem sie Textsorten ausdifferenzieren. Textsorten sind nicht nur durch den Kommunikationsbereich
determiniert, sie konstituieren ihn gleichfalls“, Gansel/Jürgen (2007: 70).
Die Textsorten definieren Gansel/Jürgen (2007: 80f.) folgendermaßen:
18
2 Zum Textbegriff
Textsorten stehen in einem engen Zusammenhang zu sozialen Systemen,
in denen sie spezifische Leistungen übernehmen. Textsorten konstituieren soziale Systeme und differenzieren sich unter den strukturellen Bedingungen des Systems aus, sie bilden innerhalb des Systems konventionalisierte, institutionalisierte Anschlusskommunikationen und sie sichern die
strukturelle Kopplung zu anderen sozialen oder psychischen Systemen. Als
Resultate kommunikativer und sozialer Handlungen sind Textsorten an
bestimmte soziale Handlungsrollen gebunden. Textsorten lassen sich von
einer Dominante – dem sozialen System/Kommunikationsbereich – her
klassifizieren.
Der in dieser Arbeit verwendete Begriff der Textsorte dürfte wenig mit
dem von Gansel/Jürgen (2007) definierten systemtheoretischen Textsortenbegriff übereinstimmen, könnte aber trotzdem mit diesem kompatibel
sein. Es geht hier vor allem um zeichentheoretische Aspekte literarischer
Kommunikation, weshalb die Begriffe „Kommunikationsbereich“ oder
„soziales System“ nicht unmittelbar aktuell sind. Als Textsorten werden
hier in der Kommunikation relevante Klassen von Texten betrachtet, die
durch bestimmte kommunikativ relevante Eigenschaften oder Merkmale
gekennzeichnet sind. Die Textsorten sind kulturgebundene, historische
Erscheinungen und zum Teil mehr oder weniger deutlich institutionalisiert, d.h. sie sind mehr oder weniger deutlich durch Konventionen und
gesellschaftlich festgelegte Normen gekennzeichnet. Zur kommunikativen Kompetenz gehört die Fähigkeit, Textsorten zu erkennen und die
geeignete Textsorte in der aktuellen Kommunikationssituation zu produzieren. Das Wissen, das dabei notwendig ist, könnte in Anlehnung an
etwa Heinemann (2000: 19ff.) Textmusterwissen genannt werden. Die
allgemeinen Textfunktionen sind keine inhärenten Eigenschaften von
Texten und somit keine definierenden Merkmale von Textsorten. Jede in
dieser Weise definierte Textsorte kann im Prinzip, wenn auch wohl nicht
in der Praxis, jede beliebige Textfunktion erfüllen, in jedem kommunikativen Bereich bzw. innerhalb jedem sozialen System verwendet werden.4
Die Klasse aller konventionellen literarischen Textsorten könnte man den
literarischen Texttyp nennen, während dabei die übrigen Textsorten den
Texttyp der nichtliterarischen Texte konstituieren.
Wichtig zu notieren ist, dass die Grenzen zwischen den verschiedenen
Textsorten nicht scharf zu sein brauchen (eine E-Mail z.B. ist zugleich
auch eine Art Brief), was dafür spricht, dass die Textsorten eher ausgehend von dem Begriff des Prototyps betrachtet werden sollten. Es gibt
4 „Soziales System“ im Sinne der Systemtheorie. Zur Textsortenproblematik und
Systemtheorie vgl. Gansel/Jürgens (2007: 53–112) wie auch Gansel (2011).
2.3 Das Verhältnis zwischen Text und Bild
19
Repräsentanten von Textsorten, die viel „typischere“ Exemplare als
andere in dem Sinne sind, dass sie wenigstens sämtliche unterscheidende
Merkmale aufweisen, während andere sogar recht stark „abweichend“
sein können, vgl. etwa einen Geschäftsbrief und einen informellen Privatbrief als Repräsentanten der Textsorte Brief. Vielleicht sollten also die
Beziehungen zwischen den Textsorten nicht nur als Hierarchie, sondern
auch ausgehend von dem Begriff der Familienähnlichkeit beschrieben
werden, vgl. auch Gansel/Jürgens (2007:71). Die Frage ist also, ob Texten
überhaupt generell eine eindeutig dominierende Hauptfunktion zugeordnet werden können, die wie etwa in Heinemann (2000) als texttypenkonstituierend betrachtet werden kann.
Die Kompetenz, literarische Textsorten (Roman, Kurzgeschichte,
Gedicht usw.) zu erkennen, stellt einen Sonderfall der Kompetenz dar,
Textsorten überhaupt unterscheiden zu können, und ist somit etwas, was
man als Teil der allgemeinen und somit auch sprachlichen Sozialisierung
lernt. Ob die Kompetenz, mit Sprache „ästhetisch“ umzugehen, in gleicher Weise wie das Erlernen von Konventionen betrachtet werden kann,
d.h. ob „Literarizität“ als Textsortenmerkmal neben anderen anzusehen
ist, kann dagegen in Frage gestellt werden. Wenn z.B. Zimmermann, J.
(1975: 309) meint, dass „das Poetische“ bzw. „die Poetizität“ oder „Literarizität“ kein empirisches sondern ein hermeneutisches Faktum sei, deutet
er in der Tat indirekt darauf hin, dass „literarische Textsorte“ und „Literarizität“ Begriffe ganz verschiedener Art sein könnten. Die Wahl einer
literarischen Textsorte durch den Textproduzenten könnte dabei als
Hinweis an den Rezipienten aufgefasst werden, den Text „literarisch“ zu
rezipieren.
2.3
Das Verhältnis zwischen Text und Bild
Text und Bild treten häufig zusammen auf und bilden ein kommunikatives Ganzes, und weiter können Bilder in einer mehr oder weniger
konventionalisierten Weise allein als kommunikative Mittel verwendet werden. Auch die reine Textoberfläche kann in vielen Texten, sowohl in literarischen als auch in nichtliterarischen, visuell so gestaltet
werden, dass sie eine den Bildern ähnliche Funktion bekommt.5 Es
5 Ein geschriebener Text kann im Sinne von „Lesefläche“ als Bild rezipiert werden wie
z.B. in der Werbung oder in bestimmten Richtungen der Poesie, vgl. etwa Gross
(1994). Vgl. weiter auch Lehtonen (2002: 56ff.).
20
2 Zum Textbegriff
ist deshalb wichtig, kurz auf die Beziehungen zwischen Text und Bild
einzugehen.6
Es gibt einige allgemeine, grundlegende Ähnlichkeiten zwischen
sprachlichen Zeichen und Bildern als Zeichen. Sowohl Bilder als auch
Wörter können als Mittel der menschlichen Kommunikation verwendet
werden. Geschriebene Wörter werden genau wie Bilder visuell rezipiert.
Auch Bilder können als konventionelle Zeichen verwendet werden, z.B.
bestimmte Verkehrszeichen (vgl. etwa Krampen 1983, Nikula, K. 1985),
Zeichen auf Toilettentüren (vgl. etwa Fenk 1999) usw. In der Tat gibt es
Forscher, die wegen der Ähnlichkeit zwischen Bildern und sprachlichen
Zeichen von Bildern als Texten sprechen möchten, vgl. etwaKress/
Loewen (2006), die sogar von „The Grammar of Visual Design“sprechen, was aus sprachwissenschaftlicher Sicht vollkommen unhaltbar
ist – oder bestenfalls als eine schlechte Metapher betrachtet werden
muss.7 Eine andere Sache ist, dass das Verstehen von Bildern stark durch
die Sprache beeinflusst wird, vgl. auch Meyer (2010: 51).
Es gibt nämlich auch grundlegende Unterschiede zwischen Bildern
und sprachlichen Zeichen. Der zentrale Unterschied besteht darin, dass
die Beziehung zwischen Inhalt und Ausdruck beim sprachlichen Zeichen
immer konventionell und somit notwendigerweise auch immer arbiträr
ist, vgl. Keller (1995: 146–159), während das Bild in dieser Hinsicht
immer ikonisch und somit auch immer motiviert ist, d.h. irgendeine
Ähnlichkeitsbeziehung mit dem Bezeichneten muss durch den Rezipienten konstruierbar sein.8 Die grundlegende Voraussetzung für die Kommunikation durch Sprache ist also die der Konventionalität, während die
grundlegende Voraussetzung für Kommunikation mit Hilfe von Bildern
6 Texte können natürlich auch zusammen mit anderen Medien wie etwa der Musik ein
Ganzes darstellen, vgl. etwa Brandstätter (2008).
7 Dies schließt natürlich nicht aus, dass die Bildanalysen von Kress/Loewen (2000) an
sich auch linguistisch gesehen äußerst interessant sind. Kress (2010) zieht übrigens
den Terminus (semiotic) resources dem Terminus grammar vor, vgl. Kress (2010: 6–8).
8 Bierman (1962) bestreitet die Existenz ikonischer Zeichen. Ausgehend von Biermans
Auffassung davon, was ein ikonisches Zeichen ist, muss wohl seine Argumentation als
stichhaltig zu betrachten sein, aber sie berücksichtigt nicht – oder akzeptiert nicht –
die pragmatisch-kognitive Dimension, d.h. dass der Interpretierende selbst die Ähnlichkeitsbeziehungen festlegt, wobei sicherlich sowohl gelernte Konventionen als
auch angeborene Dispositionen eine Rolle spielen. Die Relation der Ähnlichkeit mag
somit logisch gesehen symmetrisch sein (vgl. Bierman 1962: 247f.), ist es aber nicht
notwendigerweise pragmatisch-kognitiv gesehen. Man kann z. B. behaupten, „Die
geographische Form Italiens ähnelt einem Stiefel“, weniger wahrscheinlich wäre aber
„Ein Stiefel ähnelt der geografischen Form Italiens“. Objektive Ähnlichkeiten an sich
gibt es also nicht. Vgl. auch Sonessons Kritik an Bierman, Sonesson (1992: 130f.)
2.3 Das Verhältnis zwischen Text und Bild
21
die der Ikonizität ist. Dies schließt nicht aus, dass ein sprachliches Zeichen ikonisch oder in anderer Weise motiviert sein kann, wie auch nicht,
dass ein Bild konventionell als Zeichen verwendet werden kann, was ja
in der Tat sehr üblich ist. Auch das, was wir als Ähnlichkeit auffassen,
kann wenigstens zum Teil konventionell bedingt sein, vgl. etwa Sjölin
(1993: 75–84). Der Unterschied zwischen einem Bild und einem sprachlichen Zeichen könnte folgendermaßen zusammengefasst werden: Ein
sprachliches, lexikalisches Zeichen ist immer ein Symbol, ein Bild ist
immer ein Ikon.9 Dies kann auch so ausgedrückt werden, dass die Sprache einen stark „digitalen“, das Bild dagegen einen „analogen“ Charakter
hat, vgl. weiter unten Abschn. 3.1 u. 3.2 zum sprachlichen Zeichen. Die
hier angesprochenen Eigenschaften von Bildern und Texten erklären
auch, warum Bilder im Gegensatz zu Texten generell unübersetzbar sind,
vgl. auch Abschn. 7.1.
Zwischen Bildern und Texten gibt es des Weiteren den grundlegenden
Unterschied, dass ein Text aus relativ einfach unterscheidbaren Zeichen
besteht, d.h. aus Morphemen und Wörtern, während Vergleichbares
nicht bei visuellen Bildern zu finden ist, auch wenn bestimmte konventionalisierte Elemente beobachtbar sein können. Ein Bild hat außerdem
ein Oben und ein Unten, ein Links und ein Rechts, während ein sprachlicher Text aus einem primär temporalen und bei geschriebenen Texten
räumlichen Nacheinander besteht; in einem geschriebenen Satz wie Hans
schläft steht also Hans nicht links von schläft, sondern vor schläft (d.h. bei
sprachlicher Produktion und Rezeption dieses Satzes). Diese Eigenschaften beeinflussen die Produktion und Rezeption von Texten, eine Tatsache, die die Ausdrucksmöglichkeiten von Texten im Vergleich zu
visuellen Bildern prägt. Kognitiv-perzeptiv gesehen verläuft die Verarbeitung von Sprache, auch von geschriebener Sprache, anders als von
Bildern, vgl. etwa Schnotz (2001). Der besondere Charakter von Sprache
kommt auch darin zum Ausdruck, dass Sprache nicht an ein einziges
Medium gebunden ist, wobei noch die sogenannte „doppelte Artikulation“ die Sprache von anderen Zeichensystemen unterscheidet10.
9 Es sollte wohl noch an dieser Stelle hervorgehoben werden, dass, auch wenn das
sprachliche Zeichen arbiträr ist, die mit der Sprache eng verknüpfte Kategorisierung
der Welt nicht arbiträr sein kann, da sie unmittelbar von unserer Perzeption der
Welt als biologischer Wesen abhängig ist.
10 Die menschliche Sprache ist bekanntlich im Gegensatz zu Bildern durch das Prinzip
der „doppelten Artikulation“ geprägt, d.h. es kann zwischen kleinsten bedeutungstragenden Elementen (Morphemen) und kleinsten bedeutungsunterscheidenden
Elementen (Phonemen bzw. Graphemen) unterschieden werden, vgl. etwa Martinet
22
2 Zum Textbegriff
Aber auch wenn Texte und Bilder in vieler Hinsicht grundverschieden
sind, bilden sie, wie anfangs notiert wurde, häufig zusammen eine kommunikative Einheit, wobei schon terminologisch Schwierigkeiten entstehen, wenn die Gesamtheit „Text“ genannt wird, und man folglich den
sprachlichen Teil den „sprachlichen“ oder „verbalen“ Text nennen muss.
Eventuell könnte man den Terminus Kommunikat von S.J. Schmidt
übernehmen, aber jetzt nicht nur als übergreifende Bezeichnung für
„Text“ im hier verwendeten Sinne, sondern auch für alle multimedialen
Medien in kommunikativer Funktion, wie auch für Bilder ohne Text, für
Musik usw., vgl. etwa Schmidt/Groeben (1988).11
2.4
Textbegriff: Zusammenfassung
Texte können in verschiedener Weise realisiert werden: akustisch, haptisch/taktil oder visuell. In diesem Beitrag wird primär der visuell realisierte, d.h. der geschriebene Text behandelt. Es wurde dabei hervorgehoben, dass eine Folge von visuell wahrnehmbaren Reizen erst dann
als Text betrachtet werden kann, wenn diese Reize als zeichenbildend
interpretiert und ihnen von dem Interpretierenden (dem Textproduzenten und/oder Rezipienten) Sinn zugeordnet wird. Einen Text verstehen
bedeutet somit, diesem Text einen Sinn zuzuordnen. Es bedeutet gleichzeitig, dass die Textualität dieses Textes anerkannt wird, d.h. dass einem
potentiellen Text der Status eines Texts zugeordnet wird. Da es hier vor
allem um visuell rezipierte Texte geht und da heute häufig auch Bilder
bzw. Sprache und Bild im Verbund als Texte bezeichnet werden, wurde
auf grundsätzliche Unterschiede zwischen „sprachlichen Texten“ und
Bildern oder Illustrationen aufmerksam gemacht, d.h. darauf, dass die
grundlegende Voraussetzung für sprachliche Kommunikation die der
Konventionalität, die grundlegende Voraussetzung für Kommunikation
durch Bilder die der Ikonizität ist. Es wurde darüber hinaus behauptet,
dass „literarische Textsorte“ und „Literarizität“ Begriffe ganz verschiedener Art darstellen.
(1964). – Vgl. weiter unten zum sprachlichen Zeichen, Abschn. 3.1, wie auch Nikula
(1996, 2003a u. b, 2004b).
11 Der in der Übersetzungstheorie in Anlehnung an Holz-Mänttäri (1984) häufig
verwendete Terminus Botschaftsträger ist nicht ganz geeignet, weil er fälschlicherweise suggeriert, dass irgendwelche „Botschaften“ mit Hilfe von Texten vom Textproduzenten zum Rezipienten „transportiert“ würden, vgl. Nikula (1991). Vgl. auch
Chesterman (2010) und seine Kritik an der Skopos-Theorie.
3
Das Ästhetische als linguistischer Begriff
und das „Ausdrucksdefizit“ der Sprache
In vielen linguistischen Arbeiten, die Eigenschaften literarischer Texte
beschreiben, wird der Begriff des Ästhetischen verwendet. Dies ist an sich
ganz natürlich, denn offenbar geht es im Falle der literarischen Texte um
„Kunst“, um „sprachliche Kunstwerke“; auch wird zuweilen neben dem
Begriff des „literarischen Textes“ der Begriff des „ästhetischen Textes“
verwendet.1 Als Bezeichnungen für Literatur finden wir auch Termini
wie Belletristik und schöne Literatur. Der Begriff des Ästhetischen selbst
wird ja auch i.A. mit dem Begriff der Schönheit in Beziehung gesetzt.
Urteile und Wertungen bezüglich der Schönheit können zwar häufig
irgendwie begründet werden, aber letzten Endes geht es um etwas stark
Subjektives, und wenn der Begriff des Ästhetischen von subjektiven
Werturteilen abhängig gemacht wird, ist er für eine Verwendung als
linguistischer Begriff der Analyse nicht geeignet.2 Auch ist es nicht
möglich, Kunst generell mit dem Begriff der Schönheit zu verbinden, vgl.
auch Fricke (1981: 202 und 2000: 68f.).
Wenn man aber Literatur als eine Form von Kunst neben anderen
Erscheinungen der Kunst betrachten möchte, kann schwerlich auf den
Begriff des Ästhetischen verzichtet werden. Rühling (1996: 26) schreibt:
Theorien der sprachlichen Fiktionalität und der Poetizität sind daher eigentlich nur Teilgebiet einer allgemeinen Fiktionalitätstheorie und einer allgemeinen Ästhetik. Daraus ergibt sich die Forderung, daß ihre Ergebnisse mit
denen entsprechender Überlegungen zu den außerliterarischen Kunstgattungen jedenfalls nicht unverträglich sein sollten.
Die Arbeit Gesetz und Freiheit. Eine Philosophie der Kunst (2000) des Literaturwissenschaftlers Harald Fricke stellt einen Versuch dar, die in seiner
Arbeit Norm und Abweichung. Eine Philosophie der Literatur (1981) vorgestellte Theorie der Literatur auf alle Arten der Kunst zu übertragen.
Um dies zu ermöglichen, werden die sprachbezogenen Begriffe „Norm“
und „Abweichung“ durch die mit ihnen verwandten Begriffe „Gesetz“
1 Systemtheoretisch geht es um das soziale System „Kunst“, vgl. etwa Gansel (2011:
81).
2 Eine ganz andere Sache ist, dass das Ästhetische als Gegenstand der Analyse offensichtlich etwas Erlebtes und somit Subjektives darstellt. Zum Begriff der Wertung vgl. auch
Abschn. 3.5 unten sowie Piecha (2002).
24
3 Das Ästhetische als linguistischer Begriff
bzw. „Freiheit“ erweitert, Fricke (2000: 39). In der vorliegenden Arbeit
bildet der literarische Text den zentralen Forschungsgegenstand, aber ein
Ausgangspunkt ist, dass eine Definition von „Literatur“ wenn möglich
mit der Definition anderer Arten der Kunst kompatibel oder wenigstens
„nicht unverträglich“ sein sollte. Der Begriff des Ästhetischen scheint
eine derartige Verbindung zwischen dem Literarischen und anderen
Formen von Kunst zu ermöglichen. Fricke (1981) ist allerdings anderer
Meinung. Fricke (1981: 191) schreibt: „Denn die landläufig unter ‚ästhetisch‘ subsumierten Erlebnisse eines Gemäldes, einer Sonate und eines
Romans sind untereinander kaum vergleichbar.“ Es geht unbestreitbar
um verschiedene Erlebnisse. Der zentrale Punkt ist aber, dass es in jedem
Falle um Erlebnisse geht.3 In gewissem Sinne ist auch wahr, dass z.B. das
Erlebnis bei der Lektüre eines Romans dem Erlebnis bei der Lektüre eines
Sachbuchs ähnlicher ist als dem Erlebnis beim Hören einer Sonate oder
beim Betrachten eines Gemäldes, vgl. weiter Fricke (1981, 191). Die
Rezeption eines Textes ist nicht in der Weise wie das Betrachten eines
Gemäldes oder das Hören einer Sonate4 unmittelbar mit nur einer bestimmten Art der Sinneswahrnehmung verknüpft und somit „aisthetisch
reduziert“, vgl. Degler (2003), denn sprachliche Texte können mit Hilfe
von verschiedenen Medien realisiert werden, d.h. nicht nur als geschriebene, visuell zu rezipierende Texte, sondern können alternativ etwa
auditiv (Vorlesen) oder haptisch/taktil (Blindenschrift) rezipiert werden.5
Wenn aber von dem „Kanal“ abgesehen wird, ist deutlich, dass ein Roman in ganz anderer Weise „erlebt“ wird als ein Sachbuch; der primäre
Sinn etwa einer Gebrauchsanweisung ist nicht, erlebt zu werden, sondern verstanden zu werden, und zwar in der Weise, dass der Rezipient
in einer bestimmten Weise beeinflusst wird. In diesem Sinne ist die
Lektüre eines Romans eher mit dem Betrachten eines Gemäldes vergleichbar, während die Lektüre eines Sachbuchs etwa mit dem Betrachten der Illustrationen einer technischen Gebrauchsanweisung verglichen
werden könnte. Ein nichtliterarischer Text soll also verstanden, ein literarischer Text dagegen erlebt werden. In einem weiteren Sinne sollen
3 Vgl. auch den Begriff des „empathischen Verstehens“ bei Hermanns (2003: 146–148).
4 Beim Lesen der Noten einer Sonate ist es sicherlich möglich, die Sonate als „Musik“
zu erleben. Der Notentext selbst „ist“ aber keine Musik, sondern stellt einen Text
einer Sprache dar, die mit einer natürlichen Sprache in gewisser Hinsicht vergleichbar
ist.
5 Abraham, W. (1998: 167ff.) betont stark die „Strukturdualität“, d.h. die „doppelte
Artikulation“, als unterscheidendes Merkmal der Literatur gegenüber anderen
Erscheinungsformen von Kunst.
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