Süddeutsche Zeitung vom 24.05.2012 Seite: 11 Auflage: Ressort: Gattung: Feuilleton Tageszeitung Reichweite: 535.777 (gedruckt) 431.756 (verkauft) 439.700 (verbreitet) 1,41 (in Mio.) Freiheit als Dilemma Ein wenig Demokratie schadet Diktaturen nicht – vom Siegeszug der Wahlautokratien / Von Alexander Schmotz Es ist das jüngste Beispiel eines weitverbreiteten Missverständnisses: Am 1. April konnte in Myanmar die Nationale Liga für Demokratie (NLD) der Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi Nachwahlen zum Parlament mit überwältigender Mehrheit für sich entscheiden. Der Wahlsieg ist bemerkenswert – mit Demokratisierung hat er indes nur wenig zu tun. Vorbei sind die Zeiten, in denen die sogenannte Gründungswahl den erfolgreichen Endpunkt des Übergangs zur Demokratie markierte. Als 1974 in Portugal, 1985 in Brasilien oder 1989 in Polen die ersten freien Wahlen abgehalten wurden, war man aus dem Gröbsten heraus. Die Gründungswahl war das Ergebnis der Verhandlungen über die politische Zukunft und die Geburtsstunde der Demokratie. Neuerdings ist es oft der Diktator selbst, der Wahlen veranlasst. In der Regel trifft er Vorkehrungen, nicht zu verlieren. Nur selten steht ihm der Sinn nach Demokratie. In Myanmar standen nur 45 von insgesamt 664 Mandaten in Ober- und Unterhaus zur Wahl. Deren frühere Inhaber waren in Regierungspositionen berufen worden, und die Verfassung Myanmars verbietet die gleichzeitige Mitgliedschaft in Parlament und Regierung. Zum anderen können die 2008 eingeleiteten Reformen zur „Zivilisierung“ des Militärregimes nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Generäle nach wie vor das Sagen im Land haben. Ganz im Geiste der Zivilisierung gründeten sie die Partei Union Solidarität und Entwicklung (USDP), die bei den Parlamentswahlen 2010 wenig überraschend einen Erdrutschsieg davontrug. Auch jetzt hält sie noch etwa 80 Prozent der Sitze. Thein Sein, der im Februar vergangenen Jahres als erster Präsident vom Parlament gewählt wurde, war zum Zeitpunkt seiner Wahl die Nummer vier in der Kommandokette der Junta. Und doch wurden die Wahlen in Myanmar vom demokratischen Rest der Welt als großer Erfolg gefeiert. Tatsächlich gibt es heute nur noch wenige Autokratien, die gar keine Wahlen abhalten. Selbst China, eine der letzten verbliebenen Einparteiendiktaturen alter Schule, experimentiert auf regionaler Ebene und mit Dorfwahlen. Regierten 1973 in 64 Ländern nicht gewählte Herrscher oder Parlamente (oder beides), waren es 2008 gerade noch 25 (so die Zahlen eines Forscherteams um die amerikanische Politologin Jennifer Gandhi). Weitere zehn Länder konnten 2008 zwar gewählte Regierungen und Parlamente vorweisen, bei deren Wahlen war aber nur eine Partei angetreten. Hier liegt der Fall klar: Man hat es mit Fassadenwahlen wie in der DDR zu tun, bei denen die Partei Ulbrichts und Honeckers jahrzehntelang regel- und planmäßige Zustimmungen von 99 Prozent erntete. Die verbleibenden 157 Regimes ließen unlängst mehrere Parteien zur Wahl zu. Auch in Myanmar traten am 1. April 176 Kandidaten von 17 Parteien zur Wahl an, offenbar unter akzeptablen Bedingungen. Internationale Wahlbeobachter, unter ihnen der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Markus Löning, hatten „in den Wahllokalen keine größeren Unregelmäßigkeiten“ zu beanstanden. Das amerikanische Institut Freedom House bewertet 52 der 157 Mehrparteienregimes als nur „teilweise frei“, 18 gar als „nicht frei“. Die Politikwissenschaft bezeichnet solche politischen Mischformen als defekte Demokratien, hybride Regime, oder Wahl- und Wettbewerbsautokratien. Sie stellen heute die häufigste Form nichtdemokratischen Regierens dar. Unter den sogenannten geschlossenen Autokratien galt Myanmar bis vor Kurzem als eine der rigidesten. Der Wandel zur Wahlautokratie ist die Reaktion auf eine veränderte Welt: Militärdiktaturen sind aus der Mode gekommen. Ein Wechsel des Typs autokratischer Herrschaft ist nichts Ungewöhnliches. Die schwedischen Autokratieforscher Axel Hadenius und Jan Teorell stellten 2007 in einer Studie fest, dass sich gerade Militärdiktaturen häufig in Wahlautokratien verwandeln – ohne dass auf diese Veränderung notwendigerweise eine Demokratisierung folgen müsste. Natürlich war der Wahlsieg der NLD für die Führung in der Hauptstadt Naypyitaw keine Überraschung. Man wusste, dass Suu Kyi gewinnen würde, und man hat sie gewinnen lassen. Warum gibt sich das Regime diese Blöße? Wir beobachten in solchen Fällen eine perfide Strategie des Machterhalts. Eine Reihe von Studien gelangte in den vergangenen Jahren zu einem verblüffenden Ergebnis: Diktaturen überleben länger, wenn sie Wahlen abhalten, Parteien zulassen und Parlamente einrichten. Wahlen dienen dem Informationsaustausch. Die Regimespitze erfühlt Stimmungen in der Bevölkerung; sie kann abschätzen, wie sich ihre Statthalter in den Provinzen schlagen; und sie signalisiert potenziellen Dissidenten: Seht her, wir sind stark, wir genießen das Wohlwollen der Wähler, oder können dies zumindest ungestraft behaupten. Wahlen binden außerdem die eigene Gefolgschaft. Der Diktator fürchtet nichts mehr als die Palastrevolte, seine Gefolgschaft nichts mehr, als fallengelassen zu werden. In diesem Klima gegenseitigen Misstrauens stiften Parteiämter und Parlamentsmandate ein Mindestmaß an beiderseitiger Verbindlichkeit. Wahlen hegen die Opposition ein. Gezähmt, auf den Parlamentsbänken ist sie der Führung allemal lieber als auf der Straße oder im Untergrund. Für die Opposition bedeuten autokratische Wahlen wiederum ein Dilemma: Kandidatur oder Boykott? Die Beteiligung an unfairen Wahlen wird ihr immer auch als Anerkennung der Prozedur und damit des Regimes ausgelegt werden. Boykott mag hier die stärkere Botschaft senden, bedeutet aber auch den Ver- zicht auf die Plattform, die selbst ein entmachtetes Parlament bietet. Nicht selten gelingt es der Führung, die Herausforderer in der Antrittsfrage zu spalten. Noch 2010 hatte die NLD zum Boykott der ersten Wahlen seit 20 Jahren aufgerufen. Zwei Splittergruppen der Partei, die Nationale Demokratische Kraft (NDF) und die Demokratische Partei (NP), entschieden sich dennoch für die Teilnahme, konnten den landesweit über 1000 Kandidaten der Regimepartei aber nur 207 entgegenstellen. Die Erfolgschancen einer geteilten Opposition gehen gegen null, sei es in Wahlkampf oder Protest. Andreas Schedler vom Centro de Investigación y Docencia Económicas (CIDE) in Mexiko City beschreibt Wahlen in Autokratien als Spiel auf zwei Ebenen: Herrscher und Herausforderer konkurrieren einerseits um (echte und gefälschte) Wählerstimmen. Gleichzeitig aber wird erbittert um die Regeln Wörter: Urheberinformation: © 2012 PMG Presse-Monitor GmbH des Wettkampfs selbst gekämpft. Ob Wahlen zu einer Öffnung führen oder die Herrschaft des Diktators stützen, wird in diesem doppelten Spiel entschieden. Und nur wer beide Spiele beherrscht, kann erfolgreich sein. Einen ersten Sieg hat das Regime bereits davongetragen: Als Reaktion auf die Wahlen setzte die EU die meisten der über Myanmar verhängten Wirtschaftssanktionen aus. Myanmar erhielt von Freedom House 2011 das Prädikat „nicht frei“. Daran werden auch die jüngsten Wahlen nichts ändern. Dasselbe gilt natürlich für Syrien, wo am 7. Mai ein Parlament gewählt wurde. Drei Tage später, am 10. Mai, fanden in Algerien Parlamentswahlen statt. In Kongo ist für Juni ein Urnengang vorgesehen. Hongkong wählt im September 30 der 60 Abgeordneten des Legislativrates. (Die verbleibenden 30 werden von der Kommunistischen Partei Chinas bestimmt). In dieser Woche traten in Ägypten sechs Kandidaten zur mit Spannung erwarteten ersten Runde der Präsidentschaftswahlen an. Mit dem Militärrat in unangefochtener Position hatte die Parlamentswahl zu Beginn des Jahres nicht das Zeug zur Gründungswahl. Ob es um die anstehende Abstimmung für das Präsidentenamt anders bestellt sein wird, ist eine der entscheidenden Fragen im autokratischen Superwahljahr 2012. Der Autor ist Politikwissenschaftler am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und dort Mitarbeiter im Forschungsprojekt Critical Junctures and the Survival of Dictatorships. Für ein sogenanntes hybrides Regime sind Wahlen ein Mittel zum Machterhalt Für die Opposition stellt sich immer die Spaltfrage: Kandidatur oder Boykott? 1106 DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München