2. Perspektiven auf die Entstehung und Herstellung von

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2.
Perspektiven auf die Entstehung und Herstellung
von Zugehörigkeit und Differenz
Die Analyse von Prozessen der Entstehung und Herstellung von Zugehörigkeit und Differenz kann, wie bereits in der Einleitung angedeutet
wurde, sehr unterschiedlichen forschungsleitenden oder paradigmatischen Perspektiven folgen. In diesem Kapitel steht daher die Frage im
Zentrum, mit welchen Grundbegrifflichkeiten diese Perspektiven jeweils
verbunden sind. Es geht dabei insofern um die Begründung eines metatheoretischen Analyserahmens, als diese forschungsleitenden oder paradigmatischen Perspektiven den Status der sozialen Tatsachen begründen,
die eine Forschungsarbeit überhaupt in den Blick nehmen kann. Mit dem
folgenden Kapitel wird also die „Aspektstruktur“ der Erkenntnis (Mannheim 1952|1929: 234) der vorliegenden Untersuchung deutlich gemacht,
die, da sie paradigmatisch bedingt ist, noch vor jeglicher Empirie liegt
und durch diese nicht mehr kontrolliert zu werden vermag (vgl. Bohnsack 2007a: 48).9 Ich setze mich dazu im Folgenden sowohl mit interpretativen als auch mit rekonstruktiven Ansätzen aus dem Bereich der empirischen Sozialforschung auseinander und stelle dar, auf welche Bereiche sozialen Handelns oder auf welche Analyseebenen sie den Blick lenken. Zunächst geht es um die Untersuchungen Erving Goffmans, in denen der Aspekt der Herstellung von Zugehörigkeit und Differenz in sozialen Interaktionen zentral ist, und die Ethnomethodologie nach Harold
Garfinkel, der auf die Bedeutung der interaktiven und situativen Herstellung von sozialen Tatsachen aufmerksam macht (2.1). Zweitens erläutere
ich Ansätze, die die Objektivierung dieser sozialen Tatsachen zu erklären
versuchen, und beziehe mich dabei vor allem auf das Konzept der Institutionalisierung in der Sozialphänomenologie nach Alfred Schütz und in
der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie nach Peter Berger und
9
Anders als in hypothesenprüfenden Verfahren, bei denen die Empirie der Theorie
deduktiv nachgeordnet ist, wird in der vorliegenden Arbeit allerdings von einem
heuristischen Wechselverhältnis von Empirie und Theorie ausgegangen (vgl. auch
Bohnsack 2008). Den meta-theoretischen Analyserahmen zu explizieren, dient insofern
auch dazu, diesen im Lichte der empirischen Ergebnisse und der Erfahrungen in der
Forschungspraxis zu diskutieren. Damit entsteht ein zirkuläres Wechselverhältnis zwischen Metatheorie oder formaler Theorie, empirischer Rekonstruktion und Gegenstandstheorie.
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S. Amling, Peergroups und Zugehörigkeit, DOI 10.1007/978-3-658-09013-5_2,
© Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
Thomas Luckmann (2.2). Anschließend skizziere ich kurz den Ansatz
Pierre Bourdieus, in dem die Differenz zwischen einer situativen Herstellung von Zugehörigkeit und einer durch soziale Institutionen bedingten Kollektivität im Konzept des Habitus aufgehoben wird (2.3), und stelle zum
Schluss die Perspektive einer praxeologischen Wissenssoziologie vor, die
sich auf Bourdieu, darüber hinaus aber auch auf die Arbeiten Karl
Mannheims bezieht (2.4). Am Ende des Kapitels fasse ich die Ergebnisse
der Sichtung dieser unterschiedlichen Ansätze und Perspektiven zusammen und konstatiere, welche für die Entstehung von Zugehörigkeit
und Differenz relevanten Ebenen die vorliegende Arbeit in den Blick
nimmt (2.5).
2.1 Alltagspraxis und soziale Interaktion
Die Arbeiten Erving Goffmans zur Herstellung und Stabilisierung gesellschaftlicher Normalität richten den Blick auf die Ebene sozialer Interaktion als Ursprung von Zugehörigkeit und Individualität (vgl. etwa Goffman 2012|1963; 1972|1961; 2001|1994). Goffman interessiert sich in erster Linie dafür, wie sich Menschen in sozialen Situationen darstellen
oder inszenieren, wie sie ihre Darstellungen und Inszenierungen wechselseitig wahrnehmen und wie sie sie aufeinander abstimmen. Er nimmt
in seinen Arbeiten dazu die in jeder sozialen Situation ablaufenden Prozesse der Selbst- und Fremdzuschreibung des Individuums in den Blick.
Dabei kann Goffman zeigen, dass sich Interaktionspartner in einem ersten Schritt der sozialen Klassifikation oder der „Image-Bildung“ (Goffman 2001|1994: 56 und 58f.) kategorial identifizieren: Sie schreiben sich
wechselseitig die Zugehörigkeit zu Struktur- und Statuskategorien zu,
die Goffman „soziale Identitäten“ (Goffman 2012|1963: 9ff) nennt. Die
Selbst- und Fremdzuschreibung einer ,sozialen Identität’ oder mehrerer
,sozialer Identitäten’ ist dabei immer mit (stereotypen) Verhaltenserwartungen verknüpft. Erst in einem zweiten Schritt identifizieren sich die Interaktionspartner dann gewissermaßen personal: Sie weisen sich in Relation zu den Standarderwartungen, die sich aus der Zuordnung zu Struktur- und Statuskategorien ergeben (und das heißt, in Relation zur vorgenommenen Verortung über ,soziale Identitäten’), einen besonderen sozialen Platz zu. In diesem zweiten Schritt wird also eine „Spezifizität“ oder
„Einzigartigkeit“ des Individuums festgestellt und diesem eine „persönliche Identität“ (Goffman 2012|1963: 72ff.) zugeschrieben. Die ,persönliche Identität’ hebt die Unverwechselbarkeit jeder Einzelperson hervor,
die sich an ihrer körperlichen Erscheinung, an ihrem Namen, an der besonderen Kombination und Ausprägung von bestimmten Merkmalen
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,sozialer Identität(en)’ und vor allem an der Biographie festmachen lässt
– sie ist, wie Goffman es ausdrückt, eine „einzigartige Kombination von
Daten der Lebensgeschichte“ (ebd.: 74).
Goffman fasst nun ,soziale’ und ,persönliche Identität’ als Effekte von
Zuschreibungsprozessen, von Selbst- und Fremdidentifizierungen in Interaktionssituationen: ,Soziale’ und ,persönliche Identität’ sind insofern
„zuallererst Teil der Interessen und Definitionen anderer Personen hinsichtlich des Individuums, dessen Identität in Frage steht“ (ebd.: 132).10
In dieser Fokussierung auf die Prozesse der wechselseitigen Zuschreibung
und damit verknüpften Verhaltenserwartungen gibt es Übereinstimmungen mit der Perspektive der Ethnomethodologie Harold Garfinkels.
In Auseinandersetzung mit der Sozialtheorie Talcott Parsons stellt nämlich Garfinkel die Annahme in Frage, dass es ausreiche, Normen und Regeln zu benennen, um zu erklären, warum sich Menschen in konkreten
Situationen so und nicht anders verhalten. Dazu müssten vielmehr „die
komplexen Deliberationsprozesse, in die sich Akteure begeben müssen,
um überhaupt einer Norm folgen zu können“ (Joas/Knöbl 2004: 223), berücksichtigt werden. In Garfinkels Arbeiten rückt daher die Frage in den
Blick, in welcher Weise soziale Akteure sich auf Normen oder soziale Klassifikationen beziehen bzw. auf welcher Ebene die Mechanismen zu suchen sind, auf die sie sich beziehen, um sich im Alltag ihrer Wirklichkeit
zu versichern. Garfinkel stellt mithin den routinierten Vollzug in den Mittelpunkt seiner Analyse und fokussiert in seinen Analysen die Alltagstätigkeiten oder die alltägliche Handlungspraxis der sozialen Akteure. Seine Untersuchungen können dann die Bedeutung der in der Handlungspraxis erfolgenden Prozesse der Herstellung sozialer Tatsachen unterstreichen. In seiner Perspektive ist die Alltagswirklichkeit ein „endless,
ongoing, contingent accomplishment“ (Garfinkel 1967: 1), d.h. auch Zugehörigkeiten werden in den Handlungen der Akteure stetig hervorgebracht.
Die Arbeiten Goffmans und Garfinkels machen deutlich, dass eine
Analyse der Prozesse der Entstehung von Zugehörigkeit und Differenz
die tatsächlichen sozialen Interaktionen berücksichtigen und von der Rekonstruktion der Handlungspraxis der Akteure ausgehen muss. So weist Garfinkel zwar auf die Verantwortlichkeit der handelnden Akteure hin, die
Sinnhaftigkeit ihres Handelns zu erklären und zu bestätigen – er prägt
dafür den Begriff der „accountability“ (vgl. Garfinkel 1967). Er kann aber
10 Der Begriff der „Ich-Identität“ ist davon noch einmal zu unterscheiden. Diese entsteht
in Goffmans Verständnis als ein Verhältnis zu sich selbst erst in der Auseinandersetzung
mit erfahrenen Zuschreibungen und Erwartungen auf der Ebene der ,persönlichen’ wie
der ,sozialen Identität’ (vgl. Goffman 2012|1963: 132ff.).
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an seinem empirischen Material zeigen, dass das „doing accounts“ mehr
eine nachträgliche Rechtfertigung und Rationalisierung bereits erfolgter
Handlungen ist und nicht der Entwurf für zukünftiges Handeln.11 Und
auch wenn Goffman in seinen Arbeiten den Fokus auf die kommunikative
und reflektierte Aushandlung von Identität legt, deutet er im Begriff des
„Rahmens“ an, dass die Akteure ein weitgehend implizites Wissen an die
Situationen herantragen, in denen die genannten Prozesse der Selbstund Fremdzuschreibung erfolgen. Goffman hält dazu fest, dass „der
Einzelne in unserer westlichen Gesellschaft“ dazu neigt, „seine Reaktion
faktisch von einem oder mehreren Rahmen oder Interpretationsschemata
bestimmen zu lassen, und zwar von solchen, die man primäre nennen
könnte“ (Goffman 1980|1974: 31). Die Organisationseigenschaften dieser
primären (Interpretations-)Rahmen sind allerdings „im allgemeinen nicht
bewußt “ (ebd.), wie er bemerkt.
In beiden Ansätzen bleibt nun unklar, wie die Regelhaftigkeit der sozialen Praxis der Selbst- und Fremdzuschreibung zu erklären ist. So macht
Garfinkel u.a. in seinen „Krisenexperimenten“ (Garfinkel 1967: 35-75) vor
allem darauf aufmerksam, „wie zerbrechlich, prekär die Kommunikation
bereits im normalen Alltag sein kann“ (Bohnsack 2008: 20).12 Auch die
Zugehörigkeit zu einer Gruppe kann in dieser Perspektive nur als immer
wieder in Frage stehendes Ergebnis der in konkreten Situationen ablaufenden Interaktion und kommunikativen Aushandlung verstanden werden.13 Die Annahme eines im Kern „contingent accomplishment“ ermöglicht ja gerade nicht, die Dauer und Stabilität von Zugehörigkeitskonstruktionen und Differenzfiktionen begrifflich zu fassen. In Frage steht dabei gerade mit Blick auf eine ungleichheitstheoretisch informierte Analyse, wie es
möglich ist, zwar im Sinne der Adäquanz von begrifflich-theoretischer
Konstruktion und empirischem Sachverhalt den Fokus auf die Handlungspraxis der sozialen Akteure oder ihr Handeln in der konkreten In11 Das Konzept der „accountability“ bezieht sich allerdings auch auf die implizite Alltagsrationalität, die der alltäglichen Kommunikation unterliegt, wie Garfinkel in seinen
Krisenexperimenten herausarbeiten kann (vgl. Garfinkel 1967: 35-75).
12 In diesen Experimenten verhielten sich die Experimentatoren den Versuchspersonen
gegenüber wie (kulturell) Fremde, das heißt, sie ordneten „den sprachlichen Äußerungen die vom Sprecher gemeinten, intendierten Auslegungsschemata, Sinngehalte, semantischen Gehalte nicht [zu]“ (Bohnsack 2008: 21). Die in den Experimenten aufscheinende Kontextabhängigkeit der Bedeutung von Begriffen wird von Garfinkel und Sacks
mit dem Begriff der „Indexikalität“ gekennzeichnet (vgl. Garfinkel/Sacks 1976|1970).
13 Allerdings stellt Knoblauch in Bezug auf die Arbeiten Goffmans fest, dass dieser nicht
der Auffassung ist, dass die Interaktionsordnung „wirklicher“ sei als die Sozialstruktur:
„Auch wenn er [Goffman] das Reich der Interaktion als Untersuchungsgegenstand in
eigenem Recht heraushebt, plädiert er doch für die Suche nach den Verbindungen
dieses weitgehend eigenständigen Bereichs zur Gesamtgesellschaft [...].“ (Knoblauch
2001: 7).
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teraktions-Situation zu legen, gleichzeitig aber nicht die Dauerhaftigkeit
entsprechender Prozesse der sozialen Differenzierung aus dem Auge zu
verlieren bzw. auch die diese Situation rahmenden oder bedingenden sozialen Strukturen und materiellen Realitäten in den empirischen Analysen auszublenden.
2.2 Die Institutionalisierung von Alltagswissen
Um die Frage nach der Dauer und Stabilität von Differenzierungs- und
dann auch Hierarchisierungsprozessen zu beantworten, beziehen sich
eine Reihe von Ansätzen im Bereich der empirischen Sozialforschung auf
den Begriff der sozialen Institution. Als soziale Institutionen werden soziale Normen oder „Regulativmuster menschlichen Handelns und menschlichen Zusammenlebens [bezeichnet] [...], und zwar insbesondere solche,
die durch eine Verankerung in den Handlungsorientierungen und Sinngebungsmustern der Gesellschaftsmitglieder gekennzeichnet sind“ (Gildemeister/Wetterer 1995: 237; vgl. auch Hirschauer 2001). Es geht mithin
um allgemeine, aber weitgehend implizite Verhaltenserwartungen, die
der Interaktion in einer konkreten sozialen Situation vorausgehen. Ganz
in diesem Sinne verweist wie gezeigt schon Goffman in seinen Arbeiten
darauf, dass die Selbst- und Fremdidentifizierungen, die die Akteure
vornehmen, durch ein spezifisches Wissen (mit)bedingt sind, welches er
„Rahmenwissen“ nennt (Goffman 1980|1974). Mit Hilfe von Rahmen
wird die „Organisation von Erfahrung“ (Knoblauch 2001: 26) und von
Interaktionen geregelt, sie sind „Interpretationsschemata“, die „einen
sonst sinnlosen Aspekt der Szene zu etwas Sinnvollem“ machen können
(Goffman 1980|1974: 31f.). „Rahmen“ stellen in dieser Perspektive „bestimmte Maßstäbe zur Verfügung, auf deren Grundlage soziale Beurteilungen getroffen werden“ (Jungwirth 2007: 325) – sie können daher als
soziale Institutionen gelten.14
Insbesondere in den Arbeiten von Alfred Schütz (vgl. etwa Schütz
1971|1962; Schütz/Luckmann 2003|1975) und im Anschluss daran von
Berger und Luckmann (1999|1969) wird der Frage nachgegangen, wie
die Entstehung eines solchen Rahmenwissens oder besser: die Entstehung
sozialer Institutionen zu erklären ist. Bei Schütz wird dazu an zentraler
Stelle der Begriff der „natürlichen Einstellung des Alltags“ (Schütz
14 Zwischen dem ,Rahmenwissen’ und den in konkreten Situationen erfolgenden
Zuschreibungsprozessen besteht nach Goffman allerdings nur eine lose Verbindung
oder ein „loose coupling“ (vgl. Goffman 1981|1979). Ausführlicher zur „institutional
reflexivity“ in Goffman 2001|1994.
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1971|1962: 278ff.) eingeführt. Der Blick richtet sich hier, ähnlich wie in
den Arbeiten Garfinkels und Goffmans, zunächst auf die konkrete Interaktionssituation. Schütz arbeitet heraus, dass die Akteure, um im Alltag
handlungsfähig zu sein, eine Reihe von „Idealisierungen“ vornehmen
müssen. Er unterscheidet zwei Formen, die „Idealisierung der Vertauschbarkeit der Standorte“ und die „Idealisierung der Kongruenz der
Relevanzsysteme“ (ebd.: 13). Damit bringt Schütz zum Ausdruck, dass
die sozialen Akteure in der „natürlichen Einstellung des Alltags“ fraglos
annehmen, dass, erstens, ihre Gegenüber mit einem ähnlichen Bewusstsein ausgestattet sind wie sie selbst, und dass, zweitens, alle Akteure in
eine gemeinsame Sozial- und Kulturwelt eingebunden sind, die einen
kommunikativen Austausch überhaupt erst ermöglicht. Schließlich haben die Akteure, drittens, ein Wissen davon, dass ihr eigenes Bewusstsein schon aufgrund der unterschiedlichen biographischen Erfahrungen
nicht mit dem Bewusstsein ihrer Gegenüber identisch sein kann. In konkreten Interaktionssituationen erfolgt nun auf der Basis dieser Idealisierungen eine permanente Konstruktion von Sinn, die von Schütz als intentionaler und wechselseitiger Prozess verstanden wird, in dem die sozialen Akteure das eigene Handeln und das Handeln ihres Gegenübers interpretieren und typisieren. Diese wechselseitigen Sinnzuschreibungen –
die in etwa den Selbst- und Fremdzuschreibungen bei Goffman entsprechen, wenn sie auch über die Zuschreibung ,sozialer’ und ,persönlicher
Identität’ hinausgehen – beschreibt Schütz als Unterstellung oder Attribuierung von Motiven, die auf einer dritten Idealisierung basieren, der
„Idealisierung der Reziprozität der Motive“ (ebd.: 26).
Im Anschluss an Schütz haben nun Berger und Luckmann herausgearbeitet, dass durch die Wiederholung von Interaktionen und der darin ablaufenden Prozesse der wechselseitigen Typisierung oder der Sinn- und
Motivzuschreibung eine Habitualisierung des Verhaltens der Interaktionspartner einsetzt. Die Handlungen des jeweils anderen werden
damit im Laufe der Zeit voraussehbar (vgl. Berger/Luckmann 1999|
1969: 61). Die in der Habitualisierung angelegte Institutionalisierung vollendet sich schließlich, wenn das habitualisierte Wissen um Typisierungen und Motivzuschreibungen, das zunächst an das konkrete Individuum gebunden ist, an die nächste Generation weitergereicht wird, sich also vom konkreten Individuum löst. Das Wissen weist dann nicht nur
über die Situation, sondern auch über die Erfahrung des einzelnen Akteurs
hinaus, es geht mit anderen Worten um „Wissenselemente, die sich nicht
auf spezifische Gegenstände und Personen beziehen, sondern auf typische Aspekte und Attribute von Gegenständen, Personen und Vorgängen“ (Schütz/Luckmann 2003: 204).
26
Diese hier nur in Stichworten skizzierte Perspektive richtet den Blick
auf eine weitere, für die Analyse von Prozessen der Entstehung von Zugehörigkeit und Differenz relevante Ebene: Die genannten Arbeiten machen darauf aufmerksam, dass diese Prozesse durch soziale Institutionen
im Sinne kollektiver oder sozial geteilter Wissensbestände gerahmt oder
bedingt werden. Auf diese Wissensbestände beziehen sich die Akteure in
ihren Selbst- und Fremdzuschreibungen und sie können jenseits der
konkreten Interaktionen eine Eigenlogik haben und soziales Handeln
ermöglichen oder beschränken. Es stellt sich nun allerdings zunächst ein
forschungspraktisches Problem: So wird die Entstehung von Institutionen bei Berger und Luckmann unmittelbar aus Interaktionen abgeleitet,
ihr Ursprung liegt demnach in der Wiederholung und Gewöhnung, das
heißt, in der Habitualisierung von Typisierungen oder von Motiv- und
Sinnzuschreibungen. In den Arbeiten von Berger und Luckmann kommt
nun der Rollenanalyse eine besondere Bedeutung zu, „weil sie die Brücken zwischen Makro-Sinnwelten einer Gesellschaft und den Formen, in
denen diese Sinnwelten für den Einzelnen Wirklichkeitscharakter erhalten, sichtbar macht“ (Berger/Luckmann 1999|1969: 83). Mit anderen
Worten: Sobald der Prozess der Institutionalisierung abgeschlossen ist,
stehen die in sozialen Institutionen geronnenen Wissensbestände zu Typisierungen und Konventionen dem einzelnen Individuum als Rollen(erwartungen) gegenüber, mit Hilfe derer die Institutionen der individuellen Erfahrung einverleibt werden. Die Frage, wie sich die Wissensbestände in Form von Rollenerwartungen in die Alltagspraxis der gesellschaftlichen Akteure übersetzen, führt aber die Analyse „wieder zurück
auf die Ebene der Interaktion – denn auf dieser Ebene wird soziale Wirklichkeit reproduziert“ (Gildemeister 2001: 75; Herv. im Original). Hier
wird nun auch ein theoretisch-konzeptionelles Problem der skizzierten
Ansätze deutlich, denn es steht in Frage, wie eine Perspektive auf Prozesse der Entstehung von Zugehörigkeit und Differenz aussehen kann, die
sowohl die Alltagspraxis der sozialen Akteure als Ausgangspunkt der
empirischen Analyse nimmt, als auch die Rahmung dieser Praxis durch
soziale Institutionen berücksichtigen kann. Es geht letztlich um eine theoretisch-konzeptionelle Verbindung von Makroebene (Rollenerwartungen, Zugehörigkeitsordnungen, Diskurse) und Mikroebene (Alltagspraxis, Zuschreibungsprozesse, interaktive Herstellung von Zugehörigkeit).
2.3 Der Habitus als modus operandi
Die Forschungsansätze einer Theorie der Praxis (vgl. Bourdieu
1997|1979; Schatzki 1996; als Überblick: Reckwitz 2003 und 2009) versu27
chen, diese Dichotomie zwischen Mikro- und Makroebene zu überwinden, indem sie die Wirkung gesellschaftlicher Strukturen im Handeln der
Akteure aufzeigen. Damit ist eine Aufwertung der Analyse des so genannten „impliziten Wissens“ (vgl. Loenhoff 2012) verbunden. Es ist in
erster Linie der von Bourdieu auf der Grundlage empirischer Erhebungen ausgearbeitete Habitus-Begriff, der für eine Verbindung von sozialer
Struktur und (individueller wie kollektiver) Handlungspraxis steht, die
ohne eine Vermittlung oder Übersetzung auskommt (Bourdieu 2009|
1972; 1997|1979; 1993|1980; 1998|1984). Wie Bourdieu ausführt, erklärt
der Habitus, „wie Verhaltensweisen geregelt sein können, ohne dass
ihnen eine Befolgung von Regeln zugrunde liegt“ (Bourdieu 1996|1992:
86). Bourdieu nimmt an, dass das Verhalten der gesellschaftlichen Akteure eine gewisse Regelhaftigkeit hat, die sich nicht nur unter Bezugnahme
auf allgemeingültige Mechanismen der Alltagskommunikation erklären
lässt, wie sie etwa Garfinkel herausarbeitet. Die „geregelte“ Praxis beruht
in Bourdieus Verständnis andererseits auch nicht darauf, dass die Akteure formalisierte Verhaltenserwartungen, die in Rollenerwartungen, Institutionen oder Diskursen abgelegt sind, befolgen, sie übersetzen oder sich
zu ihnen bewusst verhalten. Zwar hat auch Bourdieu einen Begriff von Institutionen, er fasst sie aber nur als eine (nachrangige) Form der Objektivierung, denn erst der Habitus erlaubt es, „Institutionen zu bewohnen
(habiter), sie sich praktisch anzueignen und sie damit in Funktion, am Leben, in Kraft zu halten“ (Bourdieu 1987|1980: 107; Herv. im Original).
Das Verstehen einer Situation oder darin präsenter Handlungserwartungen oder die Auslegung von Rollenerwartungen erfolgt in dieser Perspektive nicht in einem Akt der bewussten Zuwendung, sondern ist integraler Teil des Handelns in der Situation selbst (vgl. auch Meuser 2007:
210). Der Habitus fungiert dabei als „praktischer“, im Wesentlichen unbewusster und gewissermaßen einverleibter „gesellschaftlicher Orientierungssinn“ (Bourdieu 1997|1979: 728), das habituelle Wissen ist insofern
ein „Wissen ohne Bewusstsein“ (Meuser 2007: 210) und Bourdieu bezeichnet es auch als „modus operandi“ (Bourdieu 1997|1979: 281).15
Bourdieu nimmt nun an, dass strukturgleiche Lebenslagen oder Existenzbedingungen zur Erzeugung homologer Habitusformen führen, die
sich in „Lebensstilen“ (Bourdieu 1987|1980: 98) dokumentieren. Mit anderen Worten: Die Zugehörigkeit zu einer sozialen Lage – weiter differenziert über die Ausstattung mit Kapitalien (vgl. Bourdieu 1992|1983) –
schlägt sich in den Modi der Welterfahrung nieder (vgl. Meuser 2007:
15 Oder wie Reckwitz es formuliert: Der modus operandi ist die Art und Weise der
„subjektiven Transformation von Welt in eine sinnhafte und im Handeln bearbeitbare
Wirkungssphäre“ (Reckwitz 2000: 318).
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209). Damit ist allerdings kein einfaches Ableitungsverhältnis beschrieben: Das habituelle oder Handlungs-Wissen ist mit Bourdieu zwar durch
soziale Strukturen (und d.h. durch die auf der Kapitaldistribution basierende soziale Positionierung der Akteure) bedingt, diese aber gleichzeitig
bedingendes, der Habitus fungiert als „strukturierte“ und „strukturierende Struktur“ (Bourdieu 1997|1979: 279). Zudem ist der Habitus im
Sinne einer „sozialen Grammatik“ nicht handlungsdeterminierend, sondern Grundlage für „geregelte Improvisationen“ (Bourdieu 2009|1972:
170) – nicht zuletzt weist Bourdieu darauf hin, dass der Habitus in der
Regel unter sozialen Umständen angewendet wird, die nicht den Umständen seiner Erzeugung gleichen (vgl. Bourdieu 1987|1980: 117).16
Die Habitus-Konzeption Bourdieus ermöglicht eine Perspektive auf
Prozesse der Entstehung von Zugehörigkeit und Differenz, die einige der
Schwierigkeiten der in den vorangegangenen Abschnitten skizzierten
Ansätze umgeht. Bourdieu hebt erstens die Bedeutung eines impliziten
oder habitualisierten Wissens hervor, das aus der Inkorporierung sozialer Strukturen resultiert, und fokussiert insofern anders als die Ethnomethodologie Garfinkels oder der Sozialkonstruktivismus von Berger und
Luckmann die Wirkung gesellschaftlicher Strukturen im Handeln der
Akteure selbst. Zudem liegt seinen Arbeiten zweitens die Annahme zugrunde, dass Zugehörigkeit auf Gemeinsamkeiten in den Formen habitualisierten Wissens beruht, über die die Akteure verfügen, und das heißt,
auf Gemeinsamkeiten in Wahrnehmungs-, Handlungs- und Denkschemata. Mit Blick auf eine rekonstruktive Forschung, die die Alltagspraxis
der Akteure als Ausgangspunkt der Analyse nimmt, stellt allerdings
schon Matthiesen mit Blick auf den Stil der Bourdieu’schen Methodologie fest, dass dieser im Grunde weniger eine Rekonstruktion der Habitusformen, sondern vielmehr eine Konstruktion betreibe (Matthiesen 1989;
vgl. auch Meuser 2007), insofern Bourdieu aufgrund der statistischen
Verteilung von über standardisierte Indikatoren erhobenen Daten zu Lebensstilen rückwirkend auf die in diesen Daten zum Ausdruck gebrachten Unterschiede in Habitusformationen schließt. Das ist insofern von
Bedeutung, als ein Zugang zur Alltagspraxis der Akteure, wie ihn hinsichtlich der Untersuchung der Prozesse der Entstehung von Zugehörigkeit und Differenz insbesondere die referierten Arbeiten von Goffman
und Garfinkel nahelegen, hier an eine Grenze stößt: Die Verbindung von
mittels standardisierter Verfahren erhobener Daten mit empirischen Rekonstruktionen kann zwar Korrespondenzen aufweisen, die Frage, ob und
16 Weitere Aspekte der Theorie Bourdieus und insbesondere seine Ausführungen zur
Feldanalyse, die sich an die hier vorgestellten Überlegungen anschließen, diskutiere ich
in Kapitel 9.2 mit Blick auf meine empirischen Rekonstruktionen.
29
in welcher Weise etwa die Verfügung über bestimmte Kapitalien für die
Akteure tatsächlich handlungspraktisch relevant wird, ist damit aber noch
nicht geklärt. Zudem setzt Bourdieus Habitus-Konzept ein gesellschaftstheoretisches Modell voraus, das die Erklärung des Zusammenhangs von
Lebensstilen und Kapitalverteilungen ermöglicht: Soziale Ordnung ist in
dieser Perspektive immer schon klassenbezogen, der Begriff des (sozialen) Milieus, der bei Bourdieu den Zusammenhang zwischen Akteuren
mit homologen Habitusformationen bezeichnet, bezieht sich immer
schon auf die Gemeinsamkeit zwischen Klassen. Bohnsack stellt daher
fest, dass Bourdieu seinen Forschungsgegenstand nur eindimensional erfasse, auch wenn er prinzipiell die Bedeutung von „Geschlechts- und
Generations-‚Klassen’“ durchaus anerkenne (Bohnsack 2008: 152f.).17
2.4 Konjunktives Wissen und konjunktive Erfahrung
In Frage steht also die Möglichkeit einer empirischen Rekonstruktion der
Alltagspraxis der sozialen Akteure, die von einer Wirkung gesellschaftlicher Strukturen im Handeln der Akteure ausgeht – und die Alltagspraxis
damit auch als kollektive fasst –, und die zugleich die Mehrdimensionalität der Bedingtheit sozialer Praxis nicht ausblendet. Hierzu finden sich
Hinweise vor allem in den Arbeiten Karl Mannheims (1980|1922;
1964a|1921-22; 1964b|1928; 1952|1929), auf die sich die praxeologische
Wissenssoziologie bezieht (vgl. Bohnsack/Nohl 1998; insbesondere
Bohnsack 2003b; 2006a; 2005; 2008; 2014a). Mannheim unterscheidet zunächst zwei Ebenen des Wissens und Erkennens: Ein explizites oder
„kommunikativ-generalisiertes Wissen“ oder Erkennen einerseits und
ein implizites oder „konjunktives Wissen“ und Erkennen andererseits
(Mannheim 1980|1922: 264ff.). Das konjunktive Wissen ermöglicht ein
unbewusstes „Erkennen auf Grund verwandter Ausgangspunkte“ (ebd.:
211), es ermöglicht also ein unmittelbares, intuitives Erfassen einer Situation auf Grundlage geteilter konjunktiver Erfahrungen. Bohnsack hat
dieses intuitive Erfassen als „Verstehen“ bezeichnet, das vom „Interpretieren“ unterschieden werden muss (Bohnsack 2008: 129ff.). Mit dem Begriff des „Interpretierens“ verweist Bohnsack darauf, dass in Interaktionen zwischen Akteuren, denen eine konjunktive Erfahrung gerade nicht
zugrunde liegt, eine wechselseitige kommunikative Explikation dessen,
17 Es gibt allerdings Ansätze, die ausgehend von den Arbeiten Bourdieus zum „symbolischen Kapital“ die Frage aufwerfen, inwiefern sich die in symbolischen Grenzziehungen aufscheinenden Wissensbestände etwa zu ethno-nationaler Zugehörigkeit als relevantes Kapital und damit auch als relevant für die Genese des Habitus erweisen können (vgl. Weiß 2001; Mecheril 2003).
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http://www.springer.com/978-3-658-09012-8
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