Zum Thema Jean Zumstein Die Sünde im Johannesevangelium

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30.03.2009
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Jean Zumstein
Die Sünde im Johannesevangelium
Im Johannesevangelium kann die Frage nach der Krise geraten, es soll aber wiederhergestellt werSünde auf zwei verschiedenen Ebenen gestellt den. Offenbarung der Sünde und des Heils fallen
werden.1 Entweder steht die Thematik der Sünde zusammen. Der Prolog bringt diese Asymmetrie,
im Vordergrund. In diesem Fall wird untersucht, die für das vierte Evangelium typisch ist, zum
wie das vierte Evangelium das in die Krise gerate- Ausdruck, nämlich dass Gnade und Liebe größer
ne Verhältnis zwischen Gott und seinen Geschöp- als Sünde sind. Somit wird die menschliche Exisfen inszeniert. Aus dieser Perspektive wird die tenz nicht einem tragischen Verhängnis preisgegeAufmerksamkeit auf den plot des Evangeliums ben, sondern wird ganz im Gegenteil unter das
fokussiert. Die erzählte Geschichte Jesu wird zum Zeichen einer Lebensverheißung gestellt.
Rahmen, in welchem gleichzeitig die ManifestaDer Prolog ist ein Hymnus, der zum Repertion der Sünde und – als Alternative dazu – das toire der ersten Christen gehörte. Es geht um eine
Angebot des Heils thematisiert werden. Oder die retrospektive, bekennende Lektüre des HeilsgeUntersuchung konzentriert sich auf die Termino- schehens. In Bezug auf die Sünde sind zwei Elelogie der Sünde. Von diesem Gesichtspunkt her ist mente hervorzuheben. Der Prolog zeigt zuerst,
zu überprüfen, wie der Begriff »Sünde« je nach dass die Sünde bei Johannes ein relationaler
seinem literarischen Kontext inhaltlich zu bestim- Begriff ist. Es geht nicht in erster Linie um die
men ist.
Übertretung einer moralischen Norm, sondern
Werfen wir zuerst einen kurzen Blick auf den um den Bruch des Verhältnisses zwischen Gott
thematischen Aspekt. Der Prolog des Evangeliums und dem Menschen. In diesem Sinn steht der Sün(1,1-18) setzt auf programmatische Weise den debegriff im Zentrum des christologischen Plots,
hermeneutischen Rahmen fest, in welchem die der das Evangelium entfaltet. Zweitens: Die
Geschichte Jesu, und von daher die Thematik der Sünde gehört nicht nur zur Zeit der Inkarnation,
Sünde, verstanden werden soll. Dieser Hymnus, sondern sie kennzeichnet mit einer vergleichbaren
der der Erzählung vorangeht, lädt die Leserin und Relevanz die nachösterliche Zeit.
den Leser ein, in dem Schicksal des Nazareners
Auf dem Hintergrund dieser Gesamtperspekdas Kommen des göttlichen Logos in die Welt tive kann die klassische Terminologie der Sünde
2
wahrzunehmen. Diese Welt wird jedoch durch die nachgeprüft werden (vgl. den Begriff hamartia ).
Diese Begrifflichkeit erFinsternis beherrscht, so dass
»Der Prolog bringt diese
scheint nur auf beschränkte
das sich offenbarende Licht
Asymmetrie, die für das vierte
Weise im Johannesevangeliabgelehnt wird. Die Ablehum. Sie kommt in den folgennung ist die Manifestation der
Evangelium typisch ist, zum
den Kontexten vor:
Sünde. Mit anderen Worten:
Ausdruck, nämlich dass Gnade
– In der programmatiDas Kommen des Logos löst
und Liebe größer als Sünde
schen
Erklärung von 1,29 sagt
ein entscheidendes Geschesind.«
der Täufer: »Seht das Lamm
hen aus, nämlich die Sünde
bzw. den Aufstand gegen Gott, welcher Gestalt Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt«.
Diese Aussage weist auf die Passionsgeschichte
annimmt und manifestiert wird.
Diese Aussage über die Sünde ist keine objek- hin und stellt von vornherein die Sündenprobletive Feststellung. Nur der Glaube ermöglicht eine matik in einen Zusammenhang mit dem Kreuz.
– Die Sündeproblematik kommt dann in zwei
solche Interpretation der Menschenwelt. Diese
glaubende Perspektive impliziert aber, dass die Wundergeschichten vor. Zuerst im Kap. 5, wo das
Enthüllung der Sünde von dem Angebot einer Verhältnis zwischen Sünde und Tod angedeutet
Alternative nicht zu trennen ist: Das Verhältnis wird. Dann in der Wundererzählung von Kap. 9.
zwischen Gott und den Menschen ist zwar in eine Deren lange Entfaltung schildert zwar das EntsteZNT 23 (12. Jg. 2009)
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hen des Glaubens im geheilten Blinden, gleichzei- tes« eine Metapher ist, die als christologischer Titig aber auch das Aufkommen des Unglaubens in tel verstanden werden soll. Dieser Titel kommt
den Pharisäern. Der Gegensatz zwischen Blind- nur hier vor – dies gilt sowohl für das Johannessein und Sehen gipfelt in der berühmten Aussage: evangelium wie auch für die gesamte urchristliche
»Wäret ihr blind, hättet ihr keine Sünde. Jetzt Tradition (vgl. jedoch 1Kor 5,7-8 und Offb 17,14)
aber sagt ihr: Wir sehen. Darum bleibt eure Sün- und ist mit der Passion in Verbindung zu setzen.
de« (9,41).
Seine soteriologische Tragweite ist offensichtlich.
– Das 8. Kap. enthält in der AuseinandersetZwei alttestamentliche Traditionen tragen zur
zung zwischen Jesus und seinen jüdischen Wider- Entzifferung dieser Metapher: Die Passatradition
sachern eine argumentative Erklärung des johan- (Ex 18,28; 19,33.36 [Zitat von Jes 12,1-10.46]) und
neischen Christus. Sie beinhaltet in knapper Form das Motiv des »Gottesknechtes« in Jes 53,7 (der
die wesentlichen Elemente der johanneischen »leidende Knecht« wird mit einem Lamm in BeAuffassung des Sündenbegriffs.
ziehung gesetzt) und Jes 53,4.1112 (»Er hat die
– Das Vorkommen des Sündenbegriffs in den Sünden vieler getragen«). Diese beiden HinterAbschiedsreden (15,22.24; 16,8.9) ist von beson- gründe sind nicht als Alternative zu begreifen. Es
derem Interesse, weil es die nachösterliche Rele- ist auch nicht angebracht, in dieser Metapher eine
vanz dieser Problematik erhellt. Der erste Ab- profilierte Deutung des Todes Jesu hineinzulesen
schnitt handelt von der Gemeinschaft der Jünger, (Sühnetod!). Der entscheidende Punkt ist, dass
die mit dem Hass der Welt konfrontiert wird. (Va- die erste öffentliche und positive Bestimmung der
riation des Motivs: »Wäre ich nicht gekommen, so Identität Jesu auf das Kreuz hinweist (s. die
hätten sie keine Sünde«). Der zweite Abschnitt Inklusion mit 19,14). Erst die Fortsetzung der
enthält den vierten Parakletspruch und verkün- Erzählung wird enthüllen, wie dieser Tod zu
digt, dass der Paraklet wie Jesus das Kommen des interpretieren ist.
eschatologischen Gerichts vollzieht.
Die soteriologische Aussage, welche der Meta– In der Passions- und Ostergeschichte geht es pher »Lamm Gottes« folgt (»das die Sünde der
schließlich einerseits um die
Welt hinwegnimmt«), benutzt
»Der Auftrag des johanneischen
Sünde derjenigen, die Jesus an
das Wort »Sünde« im SinguChristus
besteht
in
der
Pilatus auslieferten (19,11),
lar. Selbstverständlich geht es
Wiederherstellung einer
und andererseits um die den
nicht um eine einzelne moraJüngern verliehene Ermächtilische Übertretung, sondern
gebrochenen Beziehung (…),
gung, Sünden zu vergeben
ganz grundsätzlich um das
und diese Verwandlung
(20,23).
gebrochene Verhältnis zwigeschieht am Kreuz.«
Ein kurzer Überblick über
schen Gott und der Mendiese Texte lässt entdecken, wie der implizite schenwelt. Der johanneische Christus wird somit
Autor den Sündebegriff ausgearbeitet hat.
programmatisch als derjenige dargestellt, der
einen neuen Zugang zu Gott eröffnet, indem er
die Welt von ihrer Schuld befreit. Dieses entschei1.
Der erste große Zeuge (1,29)
dende Zeugnis des Täufers skizziert auf Anhieb
den Horizont, vor welchem das Kommen des
Der erste Kontext, in welchem die Thematik der Logos zu interpretieren ist. Der Auftrag des
Sünde um Ausdruck kommt, ist besonders inte- johanneischen Christus besteht in der Wiederherressant, denn es handelt sich um den ersten Auf- stellung einer gebrochenen Beziehung (die Sünde
tritt des johanneischen Christus in der Erzählung. der Welt hinwegnehmen), und diese Verwandlung
Dieser Auftritt wird von Johannes dem Täufer geschieht am Kreuz.
begrüßt. Während dieser bis zu diesem narrativen
Zeitpunkt nur ein negatives Zeugnis abgelegt hatte (1,19-28), kommt er zu einer positiven und di- 2.
Die Sünde in den Wundergeschichten
rekten Erklärung: »Seht das Lamm Gottes, das die
(5,1-16; 9,1-38)
Sünde der Welt hinwegnimmt«. Von vornherein
versteht der Leser / die Leserin, dass »Lamm Got- Die Heilung am Teich Bethesda umfasst zwei
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Jean Zumstein
Die Sünde im Johannesevangelium
Jean Zumstein
Prof. Dr. Jean Zumstein, Jahrgang 1944, studierte Evangelische Theologie und war von 1975 bis
1990 Ordinarius für neutestamentliche Theologie an der Universität Neuchâtel/Schweiz. Seit
1990 ist er Ordinarius für neutestamentliche
Wissenschaft an der Universität Zürich/ Schweiz.
Zu seinen derzeitigen Forschungsgebieten zählen besonders das Johannesevangelium, neutestamentliche Hermeneutik sowie die Anwendung literaturwissenschaftlicher Modelle in der
neutestamentlichen Exegese. Zahlreiche Veröffentlichungen zu diesen Themen, darunter:
Kreative Erinnerung. Relecture und Auslegung
im Johannesevangelium (AThANT 84), 2. überarb. Aufl., Zürich 2004; L’Evangile selon Saint
Jean (13-21); CNT IVb, Genf 2007. Für weitere
Informationen:
http://www.theologie.uzh.ch/faecher/neuestestament/jean-zumstein.html
Momente. Während die V. 1-9a die Wunderhandlung schildern, wird in den V. 9b-16 die daraus
hervorgehende Kontroverse berichtet. Der johanneische Christus hat auf souveräne Weise die
Initiative der Heilung ergriffen, ohne dass der Gelähmte eine Bitte formuliert hätte. Übrigens gibt
es nach der Heilung seitens des Geheilten nicht
das geringste Zeichen der Dankbarkeit oder des
Glaubens. Die Aufmerksamkeit wird auf die Person Jesu fokussiert: das durchgeführte Zeichen
enthüllt seine Vollmacht über Leben und Tod.
Dieses Wunder löst jedoch eine Kontroverse
aus, weil es am Sabbat vollzogen wurde (V. 9b). In
der nomistischen Perspektive, die durch »die Juden« vertreten wird, ist die Heilung des Gelähmten gesetzeswidrig. Sie ist eine klare Übertretung
des Gotteswillens, weil sie einen entscheidenden
identity marker des jüdischen Glaubens ignoriert.
Konfrontiert mit dieser Situation lehnt der GeZNT 23 (12. Jg. 2009)
heilte eine etwaige Verantwortung ab und schiebt
»dem, den er nicht kennt« (V. 12) die Schuld zu.
Als Jesus wieder auftritt und den Geheilten
»findet« (V. 14), spricht er zu ihm dieses geheimnisvolle Wort: »Du siehst, du bist gesund geworden. Sündige nicht mehr, damit dir nicht etwa
Schlimmeres widerfährt!«. Jesus diskutiert zuerst
nicht die durch »die Juden« erhobene Anklage (s.
jedoch V. 17). Seine Mahnung ruft auch nicht zu
einem toratreuen Verhalten. Offensichtlich verlässt er die nomistische Auffassung der Sünde und
argumentiert auf einem anderen Niveau. Die wiedererlangte Gesundheit ist als das Zeichen des
neuen Lebens zu begreifen, ein echtes Leben, wo
die Sünde keinen Platz mehr hat, d.h. ein in Treue
vor Gott geführtes Leben. Sollte der geheilte Gelähmte gegen diesen Aufruf taub bleiben, würde
er die Gelegenheit nicht ergreifen, eine positive
Beziehung mit Gott zu knüpfen, dann wäre er in
Gefahr, etwas Schlimmeres zu erleiden: nämlich den
Tod. Hier erscheint für das erste Mal ein Motiv, das
in der Fortsetzung der Erzählung entfaltet wird,
nämlich das Verhältnis zwischen Sünde und Tod.
Die der Heilung des Blindgeborenen gewidmete große Sequenz (9,1-38) ist durch einen Plot
strukturiert, der den klassischen Sündebegriff umdeutet. Der Text geht von einer traditionellen
Auffassung der Sünde aus (die Sünde als Übertretung des Gesetzes, s. V. 9), um den Leser / die Leserin zu der spezifisch johanneischen Konzeption
der Sünde zu führen (die Sünde als Unglaube
bzw. als Ablehnung der christologischen Offenbarung). Diese Bedeutungsverschiebung ist für
die Adressaten hoch aktuell, insofern diese Wundergeschichte die österliche Zeit in zweifacher
Weise evoziert. Erstens – das ist das einzige Mal
im vierten Evangelium – findet der Konflikt über
die richtige Interpretation des Wunders in der
Abwesenheit Jesu statt (der johanneische Christus
verlässt die Szene im V. 7 und tritt erst in V. 35
wieder auf). Zweitens wird die Auseinandersetzung zwischen dem geheilten Blinden und den
theologischen Behörden, die zum Ausschluss des
Geheilten führt, durch einen Transparenzeffekt
gekennzeichnet: durch diese Episode des Lebens
Jesu hindurch wird die Konfrontation zwischen
den johanneischen Gemeinden und der Synagoge
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angedeutet.
Die traditionelle Auffassung der Sünde wird
auf doppelte Weise zum Ausdruck gebracht. Sie
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begegnet zuerst im Munde der Jünger (V. 2), die
Sünde und Krankheit assoziieren. Die Blindheit
wird als Folge der Sünde dargestellt. Für die Jünger besteht die einzige verbleibende Frage darin
zu wissen, wer gesündigt hat. Die Eltern? In diesem Fall wäre der Blindgeborene Opfer einer
Übertretung, die er nicht selbst begangen hätte.
Der Fluch würde durch die Generationen hindurchgehen. Oder der Blindgeborene selbst? In
diesem Fall würde er mit seiner Blindheit die
Schuld sühnen, für die er verantwortlich ist.
Der kleine hermeneutische Prolog der V. 3-5
zeigt, dass der johanneische Christus diese Logik
ablehnt. Das vorgetragene Argument verdient
Aufmerksamkeit. Jesus lehnt keineswegs die Realität der Blindheit ab, an der dieser Mann leidet,
und – wenn der Leser / die Leserin auf die metaphorische Ebene hinübergeht – Jesus bestreitet in
keiner Weise, dass die Menschen in der Finsternis
leben. Er verzichtet jedoch auf eine retrospektive
Erklärung, in welcher er das Verhältnis zwischen
Blindheit und Sünde thematisieren würde. Im Gegenteil besteht sein Auftrag darin, die befreiende
Präsenz Gottes zu verwirklichen und den Menschen aus dieser Entfremdung zu entreißen. Der
Akzent ist klar und eindeutig soteriologisch orientiert: Der johanneische Christus kommt nicht,
um die Sünde zu bestrafen, sondern um davon zu
befreien.
Die zweite traditionelle Auffassung der Sünde
erscheint in der ersten Konfrontation zwischen
dem geheilten Blindgeborenen und den Pharisäern (V. 13-17): Es geht um die nomistische Konzeption. Wie schon im Kap. 5 fand die Heilung an
einem Sabbat statt (V. 14). Gefährdet diese Übertretung das Verhältnis des Heilers mit Gott (V.
16)? Ist Jesus ein Sünder? Diese durch die Pharisäer gestellte Frage stellt die klassische Bindung
zwischen Gesetzesgehorsam und Verhältnis mit
Gott her. Die Spaltung unter den Geistern zeigt
aber, dass die Antwort auf diese Frage keineswegs
eindeutig und selbstverständlich ist.
Die zweite Konfrontation (9,24-34) wird als
Gerichtsszene konzipiert. Die »Juden« in der
Rolle der Richter erklären Jesus als »Sünder«
(V. 24). Sie entscheiden als Jünger Mose, der im
Namen Gottes gesprochen hat. Sie berufen sich
auf eine anerkannte Autorität, während die Legitimität Jesu – ihrer Meinung nach – nicht nachweisbar ist. Nach dem impliziten Autor begehen
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sie aber einen fatalen Irrtum, indem sie denken,
die Offenbarung nach ihren eigenen Kriterien bemessen zu können. Der geheilte Blinde lässt sich
aber nicht überzeugen – nicht, weil er die von den
theologischen Behörden angeführten Kriterien
widerlegen würde, sondern weil er sie auf eine andere Weise interpretiert. Er stellt eine Verbindung
zwischen der Schrift und der Handlung Jesu her.
Das vollzogene Wunder beweist, dass Jesus nicht
der Feind Gottes ist, sondern dass er seinen
Willen erfüllt und von daher mit seiner aktiven
Unterstützung rechnen kann. Die Legitimität der
alttestamentlichen Tradition wird nicht in Frage
gestellt, sondern sie wird kontrovers interpretiert.
Während die einen in ihr das Werkzeug der
Verurteilung Jesu sehen, ist sie für den Blinden die
Referenz, welche die Anerkennung des johanneischen Christus ermöglicht. In jedem Fall hat sich
aber der Schwerpunkt der Debatte verschoben.
Die Person Jesu wird zum Kriterium, wonach die
Frage der Sünde entschieden wird.
Die Endszene bestätigt diese Verlagerung.
Dem Bekenntnis des geheilten Blingeborenen
steht das Urteil Jesu über die Pharisäer entgegen
(V. 39-41). Das semantische Feld »sehen – nicht
sehen – blind sein« hat eine metaphorische Tragweite. Das Kommen Jesu weist eine eschatologische Bedeutung auf. In der Begegnung mit dem
Offenbarer enthüllt sich die Identität jedes
Menschen. »In der Finsternis sein« ist das
Geschick aller. Dagegen wird die Sünde zum Verhängnis für diejenigen, die behaupten zu sehen
und gleichzeitig den Gottesgesandten ablehnen.
Die Erzählung der Heilung des Blindgeborenen leistet eine erhebliche theologische Arbeit.
Auch wenn sie die Verlorenheit jeder menschlichen Existenz anerkennt, lässt sie die traditionelle
Auffassung der Sünde fallen – sei es die Konzeption, die einen klaren Zusammenhang zwischen Tat
und Ergehen herstellt, sei es die Sicht, welche
Sünde mit der Toraübertretung identifiziert. Die
ursprüngliche und grundlegende Auffassung der
Sünde, d.h. der Bruch des Verhältnisses zwischen
Gott und dem Menschen, wird in den Vordergrund gestellt.
Der implizite Autor macht jedoch einen zusätzlichen Schritt: Von nun an wird die Ablehnung Gottes mit der Ablehnung der christologischen Offenbarung gleichgesetzt. Der Sündebegriff wird eindeutig christologisiert. Von nun an
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Die Sünde im Johannesevangelium
kann die Sünde als Unglaube definiert werden.
Die christologische Offenbarung wird zur Stunde, wo die Sünde sich manifestiert. Diese Enthüllung setzt die Menschen vor eine Alternative:
Entweder nehmen sie das befreiende Kommen
Gottes im Glauben an oder sie lehnen die christologische Offenbarung ab. In diesem Fall wird die
Sünde zu einem destruktiven Verhängnis4.
Tod seine Rückkehr zu ihm ermöglicht, befindet
sich der Mensch nie in einer solchen vollendeten
Beziehung mit dem Schöpfer. Das unmittelbar
Verfügbare und Zugängliche, d.h. die weltliche
Wirklichkeit, die Immanenz, ist seine entscheidende Referenz. Indem sich der Mensch jedoch
von Gott trennt, trennt er sich gleichzeitig von
der Quelle des Lebens. Er ist zum Tod bestimmt.
»In der Sünde sterben« heißt sterben an der Trennung von Gott, der in der alttestamentlich-jüdi3.
Die Sünde in den Streitgesprächen
schen Tradition der Schöpfer ist.
Der Text macht jedoch noch einen zusätzDer Sündebegriff wird auf entscheidende Weise lichen Schritt: Wo ist dieser Gott, Quelle des
im Kap. 8 vertieft. In dieser Sequenz, die eine Rei- Lebens? Die Formel »Ich bin«, die im Alten
he von Streitgesprächen zwischen und Jesus und Testament den sich offenbarenden und lebens5
seinen Opponenten umfasst, wird die Sünde suk- spendenden Gott kennzeichnet, wird hier auf Jezessiv mit dem Tod (8,21-30), mit der Sklaverei sus angewendet (V. 24: »Wenn ihr nicht glaubt,
(8,31-36) und mit der Wahrheit (8,31-47) in dass ›Ich bin‹«). Die Gleichsetzung des göttlichen
Verbindung gesetzt.
Prädikats mit der Person Jesu bedeutet, dass sich
Sünde und Tod. In dem Streitgespräch über die Gestalt Gottes voll und endgültig in ihm maseine Herkunft und Bestimmung (8,21-30) eröff- nifestiert, dass der Zugang zum Leben von nun an
net Jesus die Debatte mit der Ankündigung seines sich von dem Glauben an ihn nicht trennen lässt.
bevorstehenden Todes (V. 21: »Ich gehe fort«).
Die Anfangsthese ist auf diese Weise ausführWährend sein Tod seine
lich begründet. Wer Jesus
Rückkehr zum Vater ermögsucht, ohne ihn zu finden,
»Die Sünde ist nicht in erster
licht, zeitigt er fatale Konsewer nicht in der Nachfolge
Linie Übertretung, sondern
quenzen für seine Gesprächssteht, ist von dem echten LeUnglaube.«
partner. Auf rätselhafte Weise
ben getrennt, er ist zum Tode
verweigert nämlich der johanbestimmt. Einmal mehr beneische Christus seinen Opponenten die Fähig- schreibt der Sündebegriff den Bruch des Verhältkeit, ihm zu folgen. Diese unmögliche Nachfolge nisses mit Gott. Nach dem vierten Evangelium erhat eine verhängnisvolle Konsequenz: »Ihr werdet liegt der Mensch nicht der Sünde und von daher
in eurer Sünde sterben« (8,21). Das nachstehende dem Tode, weil er das Gesetz übertreten hätte,
Missverständnis führt zu einer Klärung und Ver- sondern weil er sich verweigert, in der Person des
tiefung dieser Aussage. Seine Gesprächspartner johanneischen Christus die volle und lebensspensind nicht in der Lage, eine Beziehung mit ihm dende Präsenz Gottes anzuerkennen. Die Sünde
aufzunehmen, weil sie ein unterschiedliches »Wo- ist nicht in erster Linie Übertretung, sondern Unher« haben. Während Jesus von oben ist und nicht glaube.
zu dieser Welt gehört, sind seine Gegner von unSünde und Knechtschaft. In dem nachfolgenten und gehören zu dieser Welt. Es handelt sich den Streitgespräch (8,31-36) wird ein weiterer Asnicht um eine metaphysische Gegenüberstellung, pekt der Sünde zum Ausdruck gebracht: die
wobei das göttliche Wesen Jesu gepriesen und das Knechtschaft. Die vom johanneischen Christus
niedere Wesen der Menschen gebrandmarkt wäre. vertretene These besagt, dass die Sünde den MenIm Johannesevangelium bezeichnet das »Woher« schen versklavt. Es geht jedoch nicht um ein undas, worauf der Mensch sein Leben gründet, das, abwendbares Verhängnis, denn das Wort Christi,
worauf er sich verlassen kann. Wenn sich das Le- insofern es die Wahrheit mitbringt, bewirkt die
ben Jesu durch eine vollkommene Gemeinschaft Freiheit. Damit diese Debatte über Wahrheit,
mit Gott kennzeichnet, wenn der johanneische Knechtschaft und Sünde nicht falsch verstanden
Christus als Gesandter Gottes den Vater unter wird, muss sie in den richtigen sozial-religiösen
den Menschen vollkommen vertritt, wenn sein Zusammenhang eingeordnet werden.
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Zunächst ist an eine anthropologische Voraussetzung zu erinnern: Jeder Mensch strebt nach
Freiheit. Jedoch ist der im Text verwendete Freiheitsbegriff deutlich unterschieden von dem, was
die Moderne unter diesem Konzept versteht. Um
die Argumentation des johanneischen Christus
sachgemäß zu verstehen, soll der Leser / die Leserin zwei wichtige kulturelle Vorstellungen einbeziehen, die im Judentum von Bedeutung waren.
Zunächst sind für die Juden des ersten Jahr6
hunderts nobilitas und libertas nicht voneinander
zu trennen. Die Freiheit hängt von dem sozialen
Status ab, d.h. von der Zugehörigkeit zu einer anerkannten und respektierten Familie. Die Geburt
bestimmt die soziale Stellung einer Person und
von daher ihre Freiheit. Nun können alle Juden
behaupten, dass sie zu einem berühmten Geschlecht gehören, insofern sie die Nachkommen
eines eminenten Vorfahren sind, nämlich Abraham. Der Erzvater wurde von Gott als Gründer
des Gottesvolkes erwählt. Somit bleibt jedes Mitglied des Bundesvolkes, auch wenn es eine
bescheidene soziale Stellung hat oder politisch
unterdrückt ist, ein Sohn oder eine Tochter Abrahams und dadurch eine freie Person. Die Abrahamskindschaft garantiert nobilitas und libertas.
Zweitens wäre es jedoch ein Irrturm, diese gehobene Sohnschaft nur in einem genealogischen
Sinn zu verstehen. In der alttestamentlich-jüdischen Tradition ist Abraham der erste Anbeter
des einzigen Gottes, er steht am Ursprung des jüdischen Monotheismus. Als die Gesprächspartner
7
Jesu, die als »Juden, die an ihn glaubten« (8,31a)
kennzeichnet werden, erwidern: »Wir sind Nachkommen Abrahams und nie jemandes Sklaven
gewesen. Wie kannst du sagen: Ihr werdet frei
werden?«, berufen sie sich auf ihre religiöse Identität. Offensichtlich sind sie nicht im Begriff zu
behaupten, dass sie niemals politisch unterdrückt
worden sind. Ihre Knechtschaft in Ägypten, in
Babylon oder die derzeitige römische Besatzung
würde eine solche Behauptung lächerlich machen.
Sowohl Knechtschaft als auch Freiheit sind mit
dem monotheistischen Glauben in Verbindung zu
setzen. Die Mitglieder des »auserwählten Volkes«
sind frei, weil sie nie Götzen gedient haben, weil sie
immer Anbeter des wahren Gottes geblieben sind.
Wie kann sich Jesus einem solchen Glaubensbekenntnis widersetzen? Im Grunde stellt er nicht
das Faktum in Frage, dass, unter einem histori32
schen Gesichtspunkt, die »Juden« die Nachkommenschaft Abrahams sind. Hingegen bildet die
Art und Weise, wie dieses Erbe übernommen
wird, den springenden Punkt. Hier tritt die
Bruchstelle zwischen dem jüdischen und dem jesuanischen Monotheismus auf. Für den Nazarener heißt dies, dass derjenige, der sich in Wahrheit
auf Abraham beruft, nur seine Identität als Gottesgesandten anerkennen kann. Dass die meisten
seiner Gesprächspartner ihn verwerfen, beweist,
dass sie nicht mehr die Werke Abrahams erfüllen.
Sie haben sich von dem Gott, den sie öffentlich
verehren, entfernt, sie haben ihre Sohnschaft verspielt, sie sind Sklaven geworden. Nur die Anerkennung des Sohnes (8,36) kann ihnen die
Knechtschaft ersparen und sie in die Freiheit zurückführen.
Sünde und Wahrheit (8,31-47). In demselben
und in dem nachfolgenden Streitgespräch wird die
Sünde mit einem dritten Begriff, nämlich mit der
Wahrheit in Verbindung gebracht. Wie im Fall der
Freiheit, soll auch die johanneische Auffassung
der Wahrheit nicht im Sinne der griechischen Philosophie verstanden werden. In der alttestamentlich-jüdischen Tradition bezeichnet die Wahrheit
die wahre Grundlage aller Dinge, d.h. letztendlich
die göttliche Wirklichkeit. Somit wird die Wahrheit nicht durch eine geistige Anstrengung erreicht, die zu einer sachgemäßen Beschreibung
der Wirklichkeit führen würde, sondern sie geschieht als Offenbarung.
Die berühmte Aussage von 8,31-32 (»Wenn
ihr in meinem Wort bleibt, seid ihr wirklich meine
Jünger und ihr werdet die Wahrheit erkennen und
die Wahrheit wird euch frei machen«) setzt die
vorgeschlagene Überlegung zur Freiheit fort. Mit
dieser Ermahnung lädt der johanneische Christus
»die Juden, die an ihn geglaubt haben« ein, sich
sein Wort dauerhaft anzueignen und sich dadurch
dem Kommen der göttlichen Wirklichkeit zu öffnen. Nun ist es gerade die Aufnahme der göttlichen Wirklichkeit in ihrem Leben, die sie befreien
wird. Die Wahrheit ist also die Alternative zur
Sünde. Während die Sünde das gebrochene Verhältnis mit Gott kennzeichnet, vertritt die Wahrheit die
göttliche Wirklichkeit im Horizont der Welt.
Diese Wahrheit, die sich der Sünde gegenüberstellt, wird christologisiert. Wie 8,40 andeutet, ist
die durch Christus vermittelte Wahrheit diejenige,
die er bei Gott gehört hat. Somit ist sie mit der
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Die Sünde im Johannesevangelium
christologischen Offenbarung gleichzusetzen.
Von daher ist es nicht erstaunlich, dass im Streitgespräch der V. 39-47 der Teufel der Wahrheit
entgegengesetzt und mit der Lüge assoziiert wird.
Wie ist das Auftreten des Teufels in diesem Kontext zu verstehen?
Das Problem, mit dem sich der implizite Autor auseinandersetzt, besteht in dem folgenden
Dilemma: Wie ist es möglich, dass die Söhne
Abrahams, die Erben der Verheißung, die Vertreter des Glaubens an den einen Gott, sich weigern,
an den johanneischen Christus, der den Anspruch
hat, der Vertreter dieses Gottes zu sein, zu glauben? Wie ist es zu erklären, dass die Vertreter der
höchsten religiösen Tradition angeklagt werden,
das Verhältnis mit dem Gott, den sie vehement
beanspruchen, gebrochen zu haben und in der
Sünde zu leben? Die Gestalt des Teufels ermöglicht die Aufklärung dieser unverständlichen
Kehrtwendung, dieses plötzliche Aufkommen der
Negativität innerhalb des Glaubens.
Das Paradigma dieses Umschwungs ist die
Szene des Sündenfalles in Gen 2-3, worauf der
Text wahrscheinlich anspielt (8,44). Die Sünde
entsteht in dem Augenblick, in dem der Mensch
seine Selbständigkeit gegenüber dem Gott, den er
doch anerkennt, beansprucht. Dieser Autonomieanspruch führt zur Lüge. Sünde und Lüge sind
aber eng verbunden, denn in dem Moment, wo
sich der Mensch nicht mehr auf das stützt, was
seine Existenz wirklich trägt, ist er das Opfer einer Täuschung: Er nimmt die Wahrheit auf nicht
angemessene Weise wahr und lebt in der Lüge.
4.
Die Sünde in den Abschiedsreden
Die Thematik der Sünde taucht auf profilierte
Weise in der zweiten Abschiedsrede (15,1-16,33)
wieder auf. Diese Wiederaufnahme der Reflexion
über die Sünde ist von Bedeutung, denn sie enthüllt, wie sich die Sünde in der nachösterlichen
Zeit manifestiert. Sie erscheint in der berühmten
Passage über den Hass der Welt (15,18-25). In diesem Kontext wird die Sünde als konstitutives
Merkmal der »Welt« dargestellt.
Der Ausgangspunkt der Argumentation besteht in der folgenden Aussage: Die Ablehnung,
die den irdischen Jesus getroffen hat, wird sich
nach Ostern wiederholen. Der Hauptgrund der
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Verfolgung, welche die Jünger seitens der Welt erleben werden, besteht in ihrem christologischen
Glauben. Der Sündebegriff wird erneut christologisiert. Sünde wird als Ablehnung der Person Jesu
als Gottesgesandter und Inkarnation der göttlichen Wirklichkeit unter den Menschen, resp. der
nachösterlichen Missionare definiert.
Die V. 22-25 bestimmen die Sünde unter einem
doppelten Gesichtspunkt. Die Sünde (der Terminus wird immer im Singular benutzt) entsteht
durch die Entscheidung, die der Mensch der
christologischen Offenbarung gegenüber fasst.
Vor dem Kommen Jesu entbehrte die Rede über
die Sünde jeglicher Relevanz. Erst das durch den
Offenbarer ausgesprochene Wort führt auf eindeutige Weise zur Manifestation der Sünde. Die
Ablehnung des Christusgeschehens ist aber unentschuldbar, denn den Offenbarer abzulehnen,
heißt, Gott selbst zurückzuweisen.
Das zweite Element, das mit der Sünde verbunden wird, ist der Hass. Dieses Motiv ist wichtig, denn es zeigt, dass für Johannes die Sünde
nicht einfach eine falsche intellektuelle Einstellung und Entscheidung ist. Im Grunde genommen zerstört der Unglaube seinen Verfechter. Der
Hass nimmt Besitz von seiner Person und kennzeichnet sich durch einen Gewaltausbruch. Das
Zitat: »Sie haben mich ohne Grund gehasst«
(15,25) zeigt das Ausmaß der Entfremdung, die
durch die Sünde ausgelöst wird. Die Sünde verdunkelt die Einsicht in einem solchen Maß, dass
derjenige, der die Offenbarung ablehnt, nicht
mehr in der Lage ist, sein Verhalten zu regeln oder
zu rechtfertigen. Die Trennung von Gott – so
Johannes – führt zu einer radikalen Verschlimmerung der Existenz.
Das vierte Wort über den Parakleten (16,6-11)
unterstützt noch einmal die mehrmals in der Analyse aufgestellte Hypothese. Als Ankläger wird
der Paraklet die Welt ihrer Sünde überführen
(16,8). Diese Sünde ist nicht mit einer moralischen
Verfehlung in Verbindung gesetzt, sondern mit
dem Unglauben (16,9: »Sünde: dass sie an mich
nicht glauben«).
5.
Die Sünde in der Ostergeschichte
Der in 20,19-23 seinen Jüngern erscheinende
Christus eröffnet die österliche Zeit. Mit seiner
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Zum Thema
Lehre bestimmt er die Qualität der neu beginnenden Zeit – es handelt sich um eine unter das Zeichen des Friedens und der Freude gestellte Zeit –,
er bestimmt auch den den Jüngern anvertrauten
Auftrag. Seine Lehre umfasst drei Punkte. Erstens
werden die Jünger gesandt, um Christus in der
Welt zu vertreten. Wie der vom Vater Gesandte
Gott unter den Menschen zu vertreten hat, so
sind die Jünger dazu berufen, den johanneischen
Christus, wo immer sie leben, zu bezeugen. Zweitens werden die Jünger für den Vollzug dieses
Auftrags ihrem Schicksal nicht preisgegeben, sondern empfangen die Gabe des Heiligen Geistes,
um ihre neue Verantwortung auf sich zu nehmen.
Schließlich bekommen sie die Vergebungsvollmacht (s. auch Mt 16,19: 18,18).
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Diese überraschende Aussage, nämlich die Ermächtigung die Sünden zu vergeben, soll innerhalb des johanneischen Kontextes interpretiert
werden, was vier Konsequenzen mit einschließt.
Erstens: Unter dem Gesichtspunkt der Argumentation ist diese Vergebungsvollmacht die Verwirklichung des Sendungsauftrags und der Gabe des
Heiligen Geistes. Zweitens: Der Sündebegriff ist
nicht im traditionellen Sinne als moralische Übertretung, sondern als Ablehnung der christologischen Offenbarung zu verstehen. Drittens: Diese
johanneische »Schlüsselgewalt« ist Texten wie
3,19-21, 9,40-41, 15,22-24 näher zu bringen, wo es
um die Offenbarung des Heils und des Gerichtes
geht. Viertens: Diese »Schlüsselgewalt« ist nicht
einem Amt oder einer Institution vorbehalten,
sondern gehört allen Gläubigen.
Wie soll dann diese den Jüngern anvertraute
Vergebungsvollmacht verstanden werden? Wichtig ist festzustellen, dass nur das Prinzip vorgestellt wird, während die Anwendungsregeln nicht
definiert werden. Anstatt an eine institutionelle
Ausübung zu denken, ist es vernünftiger, diese
Vergebungsvollmacht mit der Proklamation der
christologischen Offenbarung unter den Menschen in Verbindung zu setzen. Indem die Jünger
die Welt mit der christologischen Offenbarung
konfrontieren, ermöglichen sie jedem Menschen,
entweder die Vergebung und das ewige Leben zu
empfangen, oder durch eine Ablehnung sich in
der Sünde einzuschließen. Indem die Jünger so
handeln, werden sie das Werk des johanneischen
Christus unter der Führung des Parakleten fortsetzen.
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6.
Schluss
Im Rahmen des Urchristentums hat die johanneische Schule die Reflexion über die Sünde auf profilierte Weise gefördert und weitergeführt. Hervorzuheben sind zuerst die literarischen Mittel,
die benutzt worden sind, um diese zentrale Frage
zum Ausdruck zu bringen. Das vierte Evangelium
schlägt keine thetischen und fertigen Definitionen
der Sünde vor, sondern die volkstümliche und traditionelle Auffassung wird im Rahmen größerer
Zusammenhänge geprüft, kritisiert und umgedeutet. Die beiden Wundergeschichten (Kap. 5 und
9), die Kontroversen des Kap. 8 oder die zweite
Abschiedsrede (Kap. 15-16) sind die besten
Beispiele dieser dynamischen Denkprozesse. Was
kommt dadurch zum Ausdruck?
Die erste große Leistung besteht in dem Verzicht auf die nomistische Auffassung der Sünde.
Diese wird nicht mehr in erster Linie als Übertretung einer moralischen Norm betrachtet, sondern
wird theozentrisch gedacht. Sie besteht in dem
Bruch des Verhältnisses zwischen Gott und den
Menschen. Diese radikale Krise zeitigt verheerende Wirkungen. Der von Gott getrennte Mensch
wird dem Tode ausgesetzt, er wird Opfer einer
falschen Wahrnehmung der Wirklichkeit, er verliert die Kontrolle über sein Leben, zerstört sich
selbst und seine Mitmenschen.
Die zweite große Leistung ist mit der Christologisierung des Begriffes gegeben. Im vierten
Evangelium kann Gott nicht mehr unabhängig
von seinem Vertreter inmitten der Welt getroffen
werden. Die Konsequenz liegt auf der Hand:
Das Verhältnis mit Gott und das Verhältnis mit
dem johanneischen Christus fallen zusammen,
so dass von nun an Sünde als Unglaube an die
christologische Offenbarung definiert werden
kann.
Der dritte große Gewinn besteht in der konsequenten Unterscheidung zwischen der Zeit der
Inkarnation und der nachösterlichen Zeit. Wenn
die Sünde als Ablehnung der christologischen Offenbarung konzipiert wird, was geschieht, wenn
der Offenbarer die Menschenwelt verlassen hat?
Wie vertreten die Jünger den abwesenden Christus und welches ist der Stellenwert der abgeschlossenen Offenbarung für die nächsten Generationen? Sowohl die zweite Abschiedsrede als
auch die Ostergeschichte zeigen, wie das PhänoZNT 23 (12. Jg. 2009)
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Jean Zumstein
Die Sünde im Johannesevangelium
men der Sünde in dieser neuen Situation wahrnehmbar und überwindbar wird.
Schließlich ist auf die berühmte johanneische
»Asymmetrie« hinzuweisen. Die Rede über die
Sünde ist immer in eine Heilsperspektive
integriert. Die Sünde wird zwar gebrandmarkt,
ihre Entlarvung ist aber nur die Kehrseite der
Manifestation der Gnade.
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Anmerkungen
Ein guter Überblick über die johanneische Auffassung
der Sünde ist bei R. Metzner, Das Verständnis der Sünde im Johannesevangelium (WUNT 122), Tübingen
2000, zu finden.
Zwei ergänzende Begriffe müssen hier noch hinzugefügt werden. Der Begriff »Sünder« (hamartōlos)
erscheint nur im Kap. 9 und ausschliesslich in polemischer Verwendung gegen Jesus. Cum grano salis ist
Christus die einzige Person, die im Johannesevangelium Sünder genannt wird. Im übrigen bezeichnet das
Verb »sündigen« (hamartanō) einerseits die sündige
Vergangenheit des Gelähmten am Teich Betesda, andererseits aber die vermutete Ursache der Erkrankung
des von Geburt an Blinden (9,2.3). Wir lassen 7,53-8,11
außer Acht, denn wie aus der Textkritik hervorgeht,
handelt es sich dabei um einen späteren Einschub in
den Text des Evangeliums.
Joh 9,22 evoziert den etwaigen Synagogenausschluss
der johanneischen Judenchristen (vgl. auch 12,42;
16,2). Während die Trennung zwischen den johanneischen Gemeinden und der pharisäischen Synagoge am
Ende des ersten Jahrhunderts außer Zweifel steht,
bleibt in der Forschung stark umstritten, ob ein Synagogenausschluss der Judenchristen beschlossen wurde,
und wenn ja, in welcher Form und an welchem Ort.
Im Kap. 8 wird zwar die Sünde mit ihren katastrophalen Wirkungen gebrandmarkt, aber die apokalyptische
Perspektive, d.h. die Drohung des Endgerichtes, spielt
keine Rolle in der Argumentation (s. zum Beispiel Joh
8,15!)
Der Begriff »Juden« wird in Joh 8,22.31.48.52.57 benutzt. Nirgendwo im Kap. 8 benennt er das jüdische
Volk als ethnische oder nationale Größe. Während dieser Terminus in V. 31 die »Judenchristen« (= »Juden,
die an ihn glaubten«) bezeichnet, verweist er in den anderen Passagen auf die theologischen Behörden.
Vgl. K. Berger, Art. Abraham, TRE I, 377-378.
In Bezug auf die Frage des etwaigen johanneischen
»Antijudaismus«, ist es von Bedeutung festzustellen,
dass das folgende Streitgespräch nicht Jesus den Vertretern der Synagoge frontal entgegensetzt, sondern dass
sich Jesus in dieser Diskussion mit seinen eigenen
Anhängern auseinandersetzt.
Der Ausdruck »die Sünden vergeben« erscheint nur
hier im Johannesevangelium.
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